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Full text of "Jahresbericht über die Fortschritte der klassischen Altertumswissenschaft"

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JAHRESBERICHT 

über  die 

Fortschritte  der  klassischen 

Altertumswissenschaft 

begründet  von 

Conrad  Bursian 

herausgegeben  von 

A.  Körte. 


Hunderteinundneunzigster  Band. 
Achtundvierzigster  Jahrgang  1922. 
Erste  Abteilung. 

GRIECHISCHE  AUTOREN. 


I 


9 


LEIPZIG. 

O.   R.   REISLAND. 
1923. 


Alle  Rechte  vorbehalten. 


3 

-TS 


Altenburg,  S.-A. 

Piererache  Hofbuchdruckerei 

Stephan  Geibel  &  (Jo. 


Inhaltsverzeichnis 

des  hunderte inundneunzigsten  Bandes. 


Seita 

Bericht  über  Herodot  1915—1920.    Von  J.  Sit  zier  in 

Freiburg  i.  Br 1 — 26 

Bericht  über  die  griechischen  Lyriker  (mit  Ausnahme 
des  Pindar  und  Bakchylides) ,  die  Bukoliker,  die 
Anthologia  Palatina  und  die  Epigrammsammlungen 
für  1917 — 1920.    Von  J.  Sitzler  in  Freiburg  i.  Br.     27—78 

Bericht  über  die  in  den  letzten  Jahrzehnten  über  Piaton 
erschienenen  Arbeiten.  Von  Constantin  Ritter 
in  Tübingen.     (Fortsetzung) 79 — 305 


Bericht  üöer  Herodot  1915—1920. 

Von 
J.  Sitzler  in  Freiburg  i.  Br. 


Vorbemerkung. 

Die  zur  Zeit  herrschenden  Verhältnisse  brachten  es  mit  sich, 
daß  die  im  Ausland  erschienenen  Bücher  und  Zeitschriften  in  dem 
folgenden  Berichte  nur  in  beschränktem  Umfange  berücksichtigt 
werden  konnten.  Was  mir  zugänglich  war ,  auch  wenn  es  aus 
zweiter  Hand  stammte,  verzeichnete  ich,  vieles  freilich  nur  ganz 
kurz  oder  auch  nur  unter  Angabe  des  Titels. 


I.   Handschriften  und  Ausgaben. 

Ausgaben,  die  in  Betracht  kämen,  sind  mir  nicht  bekannt  ge- 
worden; dagegen  brachten  die 

Oxyrhynchus-Papyri.     Part  X.  XI  und  XIII 
wieder   neue  Stücke    des  Herodot-Textes ,    die    außer  einigen  text- 
lichen Verbesserungen    auch    über   die    hs.  Überlieferung  Herodots 
wertvolle  Aufschlüsse  geben. 

Der  10.  Bd.  der  Ox3Th.-Pap.  enthält  Stücke  aus  Buch  I  105 
bis  108  unter  Nr.  1244.  Stücke  aus  I  105  und  106  wurden  schon 
im  1.  Bd.  der  Oxyrh.-Pap.  unter  Nr.  18  veröffentlicht.  Beide  Pap., 
Nr.  1244  und  Nr.  18,  haben  in  Kap.  105  die  Lesart  irtoxr^iliEv  /] 
x^eoi;,  wofür  unsere  Hs.  6  ^£og  bieten.  Paj).  1244  liest  Kap.  107 
mit  der  Hs.-Kl.  ß  ^OTvdyr^g  ö  Kva^ägew  jra/c,  während  die  Hs.- 
Kl.  a  den  Art.  6  ausläßt.  Im  folg.  hat  der  Pap.  tvr£^^c'«£voc,  wie 
Schäfer,  nicht  H.  Stephanus,  den  Holder  irrtümlicherweise 
nennt,  st.  des  hs.  vTtoi^^usvog  verbesserte. 

Bd.  XI  Pap.  1375  aus  dem  Anfang  des  2.  Jahi-h.  n.  Chr.  bietet 
Herod,  VII  166 — 167.  In  Kap.  166  stellt  er  KaQyj^dovicov  vor, 
nicht  wie  unsere  Hs.  nach  xar'  aidgayai^hp'.  dann  hat  er  ij  avu- 
ßoX?j  te  sysiveco,  wo  unsere  Hs.  ayiiexo,  S  eyerevo  lesen,  ferner 
7^aa(ijTo  st.  i-GOOiTO  der  Hs.    In  Kap.  167  stimmt  er  in  der  Lesung 

Jahresbericht  für  Altertumäwissenschaft.   Bd.  191  (1922.  I).  1 


\ 


2  J.  Sitzler. 


iv  rfi  ^ixeXii]  e[.taxovTO   mit  a  überein,    während  ß  iv  Tjj  2iY.eXii] 
nicht  hat,  ebenso  in  den  Lesungen  xoaovxo  und  XiyETai. 

Das  bedeutendste  Bruchstück  enthält  Pap.  1619  des  13.  Bandes, 
nämlich  III  26 — 72,  freilich  teilweise  sehr  lückenhaft.  Es  stammt 
aus  den  Jahren  50 — 150  n.  Chr.  und  besteht  aus  ungefähr  220  Zeilen 
in  Kolumnen  zu  39 — 40  Zeilen,  die  Zeile  zu  21 — 27,  durchschnitt- 
lich 23 — 24  Buchstaben.  Über  den  Linien  hat  der  Schreiber  Kor- 
rekturen und  abweichende  Lesarten  eingefügt.  Neben  der  Haupt- 
hand unterscheiden  die  Herausgeber  noch  zwei  Nebenhände,  die  mit 
der  Haupthand  ungefähr  gleichzeitig  sind ;  sie  nahmen  eine  Revision 
vor,  von  der  die  Noten  auf  dem  oberen  Rande  und  zwischen  den 
Kolumnen   zur  Verbesserung  und  Erklärung  des  Textes  herrühren. 

Der  Papyrus  stimmt  im  Text  teils  mit  a,  teils  mit  ß  überein, 
hat  aber  auch  eigene ,  von  beiden  Hs.-Kl.  abweichende  Lesarten. 
Kap.  29  hat  der  Pap.  oQchj  /niv  ötj,  wie  unsere  Hs. ;  Schäfer  ver- 
besserte rj  OQxij  fifv  ötj  xtA.  ;  das  Ursprüngliche  war  wohl  t}  /.liv 
ö^  ogrij  xtA.  —  30 :  xat  ^cQiZxa  fitv  ti/jv  zaxwr,  wie  unsere  Hs. ; 
T(ji)v  xaxwv  hat  Stein  getilgt.  —  31:  l7tianoiAivi]v ,  wie  R.  — 
32:  adehfEov  arToD  aXXov  a'/,vXctv.a,  wie  die  Hs.-Kl.  a;  Naber 
hat  alXov  axtAaxa  eingeklammert,  kaum  mit  Recht,  da  auTor  wohl 
später  eingedrungen  ist.  Es  wird  aöeXffeov  tövra  aXXov  ox.  zu  lesen 
sein.  —  Im  folg.  läßt  der  Pap.  tovg  GAvXayiag  zwischen  ol'rw  Stj 
und  eTtey.QaTr^oai  mit  Recht  aus.  —  33:  eg  roig  olyi[£]i[TaTOvg 
mit  ß,  orKTjlovg  a.  —  Im  folg.  läßt  der  Pap.  mit  a  xayiä  zwischen 
avi^QioTiovg  und  v.aza'kaf.ißüvEiv  aus,  hat  aber  mit  ß  xal  i/.  yevefjg.  — 
34 :  täds  eg  zovg  xrA.  mit  übergeschriebenem  de  zwischen  rdöe  und 
€g-,  ß  zdÖE  6^  sg,  a  xd  öi  eg.  —  Dann  iq^dges,  wie  unsere  Hs.; 
wofür  Naber  taEcpoQEE  vermutete.  —  Auch  7toög  xov  Ttaxeqa  xeXtaai 
KvQOv  hat  der  Pap.,  woraus  ich  folgere,  daß  man  doch  wohl  xeXeaai 
mit  Unrecht  ausschließen  will;  eher  scheint  Kvqov  aus  einer  Er- 
klärung eingedrungen  zu  sein  und  ein  Substantiv  wie  egya  ver- 
drängt zu  haben,  vgl.  Hom.  ß  272.  —  Am  Ende  des  Kapitels  dy.ovaag 
mit  ß ;  in  a  fehlt  das  Wort ;  aber  etwas  vorher  mit  a  7CQoaey,xijad^ai, 
xfj  yiQtOEi,  ohne  yivoi^avi],  und  xdöe.  —  Ferner  Ttgög  xov  KafjßcGf]v 
st.  des  hs.  Kai-ißiosa.  —  35:  ßaXeeiv  wie  unsere  Hs.  —  36:  noD.dJ 
f.iExt7tEixa  XQovip,  ohne  vaxEQOv,  das  unsere  Hs.  beifügen.  Zur  Les- 
art des  Pap.  vergleichen  die  Herausgeber  VII  7,  wo  auch  /.lEXETtEixa 
mit  Dativ  ohne  vgieqov  steht. 

49  hat  der  Pap.  ebenso  lückenhaft,  wie  unsere  Hs.,  slal  aXXr^- 
XoLGi  öidtpoQOi ;  die  Herausgeber  merken  an,  daß  der  Wortlaut  im 
Pap.  kürzer  war  als  die  vorgeschlagenen  Ergänzungen.    Es  scheint 


Bericht  über  Herodot  1915—1920.  3 

sich  also  um  eine  alte  Korruptel  zu  handeln.  —  Dann  fehlt  im 
Pap.  wv  zwischen  zovitov  eivekev.  —  Im  folg.  weist  der  Pap.  auf 
iTtt^ne,  wie  die  Hs.-Kl.  ß  hat,  schreibt  aber  mit  a  TipiioQEVfievog.  — 
52  stimmt  der  Pap.  in  oi/.teiqe  und  xat  ayaO^a  za  vvv  mit  unseren 
Hs.  überein.  —  Im  folg.  scheint  er  Krügers  Schreibung  ytyovE 
st.  lyEyovEE  oder  lyytyövEEv  zu  bestätigen.  —  53  spricht  der  Pap. 
für  d/tiifi  und  (piXoriijiin  ohne  /;,  wie  a  hat,  aber  für  yeQcov  t€  di] 
st.  i^ÖE  mit  ß.  —  54  steht  zu  fnl  lijg  Qaxiog  rod  OQEog  als  Er- 
klärung auf  dem  Rande  i^cl  rov  a/.Qiorrjqlov.  —  Im  folg.  ey.cEivor ' 
si  (.liv  vvv  xrA.  mit  a.  —  Dann  avvEGnEö6viEg\  a  avvEiöJtEOovTEQ^ 
ß  avunEOovTEg.  —  56  :  ovtcd  öij  anaXXäaoEai^ai  mit  a,  aber  TigtoTi^v 
mit  ß;  ebenso  y1uy.EÖai!.tovioioi.  —  59:  tr^g  l^i^rivaitjg  zfjg  i^)' 
^lylvTß\  unsere  Hs.  iv  ^lyivrj  ohne  zT^g.  Die  Herausgeber  ver- 
gleichen V  82  zfj  l^i^rjvair]  ze  zrj  noXiäöi  und  VII  43  zij  L^if-rjvair] 
zij  ^Ihddi ,  Beispiele ,  die  doch  wieder  anderer  Art  sind ,  weil  es 
sich  bei  ihnen  um  Adjektive,  nicht  präpositionale  Bestimmungen 
handelt.  —  Im  folg,  ycQOiEooL  mit  a;  ß  tiqozeqov. 

60 :  dQ%izi/.zL>jv  ÖE  zov  OQvyf-iazog  zovzov  mit  a,  ß  stellt  zovzov 
vor  zov  OQvyi-iaTog.  —  Dann  /W/tm  iv  d^aXdaarj  ßd&og  ytazd  Eiy.oat 
OQyviEiüv,  wie  unsere  Hs.  Gewöhnlich  ändert  man  mit  Eltz  xar« 
in  xat;  richtiger  ersetzen  die  Herausgeber  ogyviECJv  durch  ogyvidg, 
nur  ist  so  die  Verschreibung  in  ogyviEiov  nicht  erklärt.  Dies  ge- 
schieht, wenn  man  ogyvidg  eov  liest,  woraus  oQyvieiov  wurde.  — 
68.  Der  Pap.  hatte  ohne  Zweifel  die  Worte  örj  zaizrjv  Eiy^E  zote, 
die  ß  ausläßt.  —  72  hat  der  Pap.  tzeqiJooi-iev  mit  a;  ß  TtEigrjaoiAEv.  — 
Der  Satz  agyov  di  ovösv  drt^  avztov  Xaf.i7tQdv  yivezai  war  im  Pajj. 
kürzer  gefaßt;  es  fehlte  wohl  yivEzat  oder  cctv^  avzdiv.  —  Dann 
zoLoJvÖE  mit  ß,  a  zoicov. 

Der  Pap.  1619  stimmt,  wie  man  sieht,  an  vielen  Stellen  mit 
der  Hs.-Kl.  a,  seltener  mit  der  Hs.-Kl.  ß  überein,  bietet  aber  auch 
Eigenes,  darunter  einiges  Wertvolle.  Er  läßt  sich  in  dieser  Hinsicht 
mit  den  Pap.  ,19,  1092  und  1244  zusammenstellen.  Die  Heraus- 
geber vermuten,  daß  diese  Papyri  älter  seien  als  die  Trennung 
der  Hs.  in  die  Florentiner-  und  Romanusgruppe,  vgl.  auch  vorigen 
Jahresb.  Bd.  CLXX  (1915.  1)  S.  292.  Ich  halte  es  für  richtiger, 
darin  eine  dritte,  neben  a  und  ß  stehende  Überlieferung  zu  sehen, 
der  auch  P  und  der  von  L.  Weber  in  den  Analecta  Herodotea. 
Philologus  Suppl.  XII  S.  133  f.  behandelte  cod.  D  angehörte.  Auf 
eine  weitere  Rezension  deutet  eine  Marginalnote  des  Pap.  1092. 
Die  Entstehung  der  Rezensionen  a  und  ß  setzen  die  Herausgeber 
frühestens    in  das  4.  Jahrh.  n.  Chr.     Vgl.  auch  B.  E.  Grenfell, 

1* 


4  J.  Sitzler. 

The  value  of  Papyri  for  the  textual  Criticism  ofex- 
tant  Greek  Authors.  A  paper  read  to  the  Hellenic  Society, 
May  7,  1918.  Journal  of  Hell.  Stud.  XXXIX  (1919)  S.  16  f.  Sie 
wird  aber  wohl  in  noch  spätere  Zeit  fallen;  nach  J.  Groegera 
Untersuchungen  benützte  auch  Eustathius  einen  Herodot-codex,  der 
Lesarten  beider  Hs. -Klassen  in  sich  vereinigte,  vgl.  vorigen  Jahresb. 
a.  a.  0.  S.  296.  Vielleicht  bringt  ein  glücklicher  Papyrusfund  einmal 
auch  die  Lösung  dieser  Frage. 

Als  Übersetzung  erwähne  ich 

Herodot,  Orientalische  Königsgeschichte.    Hrsg. 
von  P.  Ernst. 

Die  Übersetzung  rührt  von  Goldfaden  (im  18.  Jahrh.)  her; 
sie  wird  als  genau  und  sehr  lesbar  gerühmt  in  Sokrates  V  S.  490. 

n.  Kritische  und  exegetische  Beiträge. 
1.  Text. 

Mit  der  Verbesserung  und  Erklärung  des  Textes  befassen  sich 
folgende  Arbeiten: 

1.  W.  Nestle,  Herodot  I  32.  Berl.  phil.  Wochenschr.  1916, 
Sp.  261. 

2.  P.  Shorey,  Herodot  I  60.     Class.  PhÜologj^  XV  S.  88. 

3.  F.  Jacoby,  Herodot  Interpolation  aus  ^vd  laxd. 
Hermes  51  (1916)  S.  477   [I  71]. 

4.  C.  F.  Lehmann-Haupt,  Gewichte.  Pauly-Wissowa-KroU, 
Suppl.  in  Sp.  644  [Herod.  I  178].  —  Ebenda  Sp.  596  f.  [III  89]. 

ö.  C.  Bonner,  The  sacred  bond.  Americ.  Philolog.  Asso- 
ciation.    Transactions  1913,  S.  233  f.  [I  26.   199]. 

6.  E-.  Rödiger,  Neue  Lesungen  in  griechischen 
Schriftstellern.     Sokrates  IV  S.  229  [II  2]. 

7.  Guielm.  Vollgraff,  Ad  Plutarchum  et  Herodotum. 
Maemosyne  44  S.  337   [III  51j. 

8.  St.  Casson,  Herodot  IV  109.  Class.  Review  XXXIV 
S.  30  f.  —  The  dispersal  legend.  Ebenda  Jahrg.  1913, 
S.  153  f.  [IV  191.  V  13.  VII  91]. 

9.  E.  Washburn  Hopkins,  Epic  Mythology  (=  Grundriß 
der  indo  -  arischen  Philologie  und  Altertumskunde  III.  Bd. 
Heft  1  B).    Straßburg  1915.    277  S.    [IV  62]. 

10.    E.   Aßmann,    Herodot  V   33,    2    und    die    &aXufxiaL. 
Berl,  philol.  Wochenschr.  1919,  Sp.  277  f. 


Bericht  über  Herodot  1915—1920.  5 

11.  S.  Eitrem,  Beiträge  zur  griechischen  Religions- 
ge schichte.  II.  Kathartisches  und  Rituelles.  Kristiania 
1917.  50  S.  (=  Videnskapsselskapets  Skrifter  II.  Hist.-Filol. 
Kl.  1917,  Nr.  2)  [Herod.  VII  39]. 

Aus  diesen  Arbeiten  hebe  ich  folgendes  hervor.  Nestle 
wendet  sich  gegen  C.  P.  Gunning,  De  sophistis  Graeciae 
praeceptoribus.  Diss.  Amstelodami  1915,  welcher  I  32:  xa 
näita  f-itv  yi'v  tavxa  ovXXaßnv  y.xX.  aus  einer  Vergleichung  des 
Sämanns  mit  dem  Erzieher  erklären  wül.  Demgegenüber  hält 
Nestle  an  seiner  schon  N.  Jahrb.  1909,  S.  11  ausgesprochenen 
Ansicht  fest ,  daß  der  BegriiF  alzdQKrjg  auf  einen  Zusammenhang 
unserer  Stelle  mit  dem  Sophisten  Hippias  hinweise.  —  Jacoby 
sieht  in  I  71 :  ovrojACx  oi  i\v  ^dvdavig  eine  Beischrift  aus  den 
Scholien,  die  vielleicht  aus  Xanthos  stammt.  Die  auffallende  Stellung 
der  Worte  spricht  für  Jacobys  Vermutung;  freilich  könnten  sie 
auch  ursprünglich  vergessen  und  auf  dem  Rande  nachgetragen  ge- 
wesen und  so  an  unrechter  Stelle  in  den  Text  eingedrungen  sein. 
Ihr  Platz  wäre  nach  xtov  xig  ytvdiöv.  —  Lehmann-Haupt  weist 
darauf  hin,  daß  sich  Herodot  I  178  ungenau  ausdrückt,  wenn  er 
sagt:  6  öe  ßaaiXr^Log  ^tjx^'S  '^ov  ^etqIov  iozl  yiijx^og  f.tiLtov  xQial 
da/.TvXoioi ;  er  hätte  2f  st.  3  sagen  müssen;  denn  26|- :  24  =  80  :  72 
=  10  :  9,  das  Verhältnis  der  königlichen  Elle  zur  gewöhnlichen  in 
Fingerbreiten.  —  Bonner  bespricht  die  Sitte,  durch  ein  Band, 
wie  z.  B.  einen  Strick  oder  eine  Kette,  äußerlich  anzudeuten,  daß 
die  gebundene  Person  oder  Sache  zu  einer  Gottheit  in  Beziehung 
steht,  sei  es  als  Schützling  oder  Geweihter.  So  erklärt  er  es,  daß 
die  Ephesier  nach  Herod.  I  26,  als  ihre  Stadt  von  Krösus  belagert 
wurde,  vermittels  eines  langen  Seiles  ihre  Verbindung  mit  dem 
Tempel  der  Artemis  herstellten.  In  gleicher  Weise  ist  der  Kranz 
ans  Stricken,  den  nach  I  199  die  Frauen  in  Babylon  tragen,  ein 
Anzeichen  dafür,  daß  sie  im  Dienste  der  Mj^litta  stehen:  während 
der  Dauer  ihres  Gelübdes  sind  sie  gebunden,  nach  Erfüllung  des 
Gelübdes  von  ihrer  Verpflichtung  gelöst. 

Lehmann-Haupt  hält  an  seiner  Lösung  der  in  HI  89  f.  vor- 
liegenden Schwierigkeiten  gegen  Weißbachs  und  Nestles  Ein- 
wendungen fest,  vgl.  vorigen  Jahresb.  Bd.  CLXX  (1915.  I)  S.  301  f. 
Er  nimmt  die  Summe  von  7600  babylonischen  Silbertalenten,  die 
sich  aus  der  Addierung  der  aufgezählten  Tribute  ergibt,  und  die 
Summe  von  9880  Silbertalenten,  die  übrig  bleibt,  wenn  man  von 
der  Gesamtsumme  von  14  560  die  in  Gold  bezahlten  Tribute  im 
Werte  von  4680  Silbertalenten  abzieht,   als  feststehend  an;    7600 


g  ;  J,  Sitzler. 

babylonische  ergeben  aber  9880  euböische  Silbertalente  nur,  wenn 
60  babj^lonische  gleich  78  euböischen  sind.  Demnach  lägen  zwei 
Versehen  bei  Herodot  vor;  statt  9540,  wie  unsere  Hs.  haben,  muß 
mit  Mommsen  und  Brandis  9880  geschrieben  werden,  was 
Lehmann-Haupt  befürwortet,  und  Herodots  Angabe,  60  baby- 
lonische Silbertalente  seien  gleich  70  euböischen,  müßte  dahin  be- 
richtigt werden,  daß  78  an  die  Stelle  von  70  träte.  Diese  Änderung 
empfiehlt  Lehmann-Haupt  nicht  mehr;  er  glaubt  jetzt,  daß 
Herodot  selbst  diesen  Irrtum  begangen  habe;  seine  Gewährsmänner 
—  Hekataios  oder  Dionj'sios  —  hätten  zwar  nach  dem  Verhältnis 
60  :  78  gerechnet,  er  habe  aber  60  :  70  geschrieben,  weil  es  wirk- 
lich ein  babylonisches  Talent  gegeben  habe,  das  dem  Gewicht  von 
70  euböischen  Minen  so  gut  wie  gleichgekommen  sei,  nämlich  das 
Talent  der  ^leichten  königlichen  Gewichtsmine  Form  B,  vgl.  a.  a.  0. 
S.  635  f.  —  Dieselben  Fragen  behandelt  auch  0.  Viedebantt, 
Forschungen  zur  Metrologie  des  Altertums.  Akad.  d. 
Kön.  Sachs.  Ges.  d.  Wiss.  Phil.-hist.  Kl.  Bd.  34  (1917)  Nr.  3,  be- 
sonders im  9.  Abschnitt,  vielfach  abweichend  von  Lehmann- 
Haupt,  aber  gekünstelt  und  daher  wenig  überzeugend.  —  Die 
Worte  Kap.  96  xo  d^  I'ti  tovtwv  Dmooov  aTrieig  ov  Xeyo)  faßt 
Lehmann-Haupt  ebenso  wie  ich  im  vorigen  Jahresbericht  a.  a.  0. 

Casson  vermutet,  daß  die  IV  109  erwähnte  Xt/uvrj  ^eydXr]  re 
laai  7ToX?.)j  das  Kaspische  Meer  sei.  —  Bei  Herodot  findet  sich 
wiederholt  der  Ausdruck  ol  £x  Tgoirjg  von  eingeborenen  Trojanern, 
die  ihre  Heimat  verlassen  mußten.  So  IV  191,  wo  von  den  Maxyes 
in  Libyen  die  Rede  ist ;  auch  der  Gebrauch  des  /.lilzog,  der  ihnen 
zugeschrieben  wird,  deutet  nach  Casson  auf  Asien  hin.  Dann  V  13, 
wo  über  die  Päonier  gesprochen  wird.  Weiter  VII  91  bei  Er- 
wähnung der  Pamphylier.  Aus  diesen  Stellen  schließt  Casson, 
daß  einmal  in  alter  Zeit  die  Vertreibung  und  Zerstreuung  eines 
asiatischen  Volksstammes  in  entlegene  Länder  stattgefunden  habe. 
I)ie  Kunde  von  diesem  Ereignis  sei  in  der  griechischen  Über- 
lieferung mit  der  Sage  vom  Trojanischen  Krieg  verschmolzen;  in 
Wirklichkeit  aber  habe  es  früher  stattgefunden.  In  dieser  Ansicht 
wird  Casson  durch  das ,  was  Thukyd.  VI  2  von  den  Elymeru 
berichtet,  bestärkt.  Er  denkt  an  eine  Auswanderung  infolge  des 
Einfalls  der  Hittiter.  —  Washburn  Hopkins  vergleicht  mit  der 
IV  62  berichteten  Verehi'ung  des  Schwertes  durch  die  Skythen  die 
, göttliche  Verehrung  des  Schwertes  Mahäbhärata  12,  166,  87. 

Herodot  erzählt  V  33,  daß  Megabates  den  Myndier  Skylax, 
der  nicht  für  die  Bewachung  seines  Schiffes  gesorgt  hatte,  dadurch 


Bericht  über  Herodot  1915—1920.  7 

bestrafte,  daß  er  ihn  so  öiä  d^aXafiir^g  z^g  veog  steckte,  daß  der 
Kopf  außen,  der  Leib  aber  innen  im  Schiffe  war.  Gewöhnlich  versteht 
man  unter  i^aXa^iiiq  eine  mannskopfgroße  Rojepforte  der  untersten 
Remenreihe ;  so  L  ü  b  e  c  k ,  Seewesen  der  Griechen  und  Römer  2,  2, 
Torr,  Ancient  ships  43  f.,  Eins  im  Danziger  Gymnasialprogramm 
1896,  S.  11.  Dies  kann  Tarn,  Journal  of  Hell.  Stud.  XXV  155. 
213.  217  nicht  glauben  und  bestreitet  daher,  daß  daXa^ulrj  etwas 
mit  den  Thalamiten  zu  tun  habe;  es  bezeichne  vieiraehr  jede  Öffnung, 
hier  eine  längliche  Pforte  nach  Art  der  mittelalterlichen  Zenzile- 
Galeeren,  worin  drei  Remen  einer  Gruppe  auf  gleicher  Höhe  neben- 
einander lagen.  Diese  Annahme  widerlegt  Aß  mann  und  zeigt,  daß 
eine  etwa  20  cm  große  Rojeupforte  wohl  möglich,  ja  sogar  vorteil- 
haft sei;  die  Prora  von  Samothrake,  ein  in  wirklicher  Größe  aus 
Marmor  nachgebildeter  Zweireiher  der  Diadochenzeit,  habe  Rojen- 
pforten  von  9  cm  Höhe  und  13,5 — 16  cm  Länge.  Auch  verlange 
die  ganze  Art  der  Strafe,  an  eine  Rqjenpforte  der  Thalamiten  zu 
denken ,  die  oft  kaum  0,25  m  über  dem  Meeresspiegel  lagen ;  so 
werde  die  Strafe  erst  zu  einer  recht  grausamen. 

Eitrem  vermutet,  Xerxes  habe  sein  Heer  durch  die  beiden, 
auf  beiden  Seiten  des  Weges  aufgestellten  Hälften  des  Leichnams 
des  ältesten  Sohnes  des  Pythes  hindurchgeführt,  um  es  durch  diesen 
Ritus  zu  reinigen  (VII  39).  Ich  kann  diese  Vermutung  nicht  teilen; 
von  einer  Verunreinigung  oder  Befleckung  der  Truppen  ist  nirgends 
die  Rede.  Wenn  Eitrem  meint,  die  von  Herodot  erwähnte  Sonnen- 
finsternis sei  ein  Unglückszeichen  gewesen,  so  widerspricht  dem 
die  Deutung  der  Magier;  aber  auch  wenn  man  das  zugibt,  besteht 
darin  doch  keine  Befleckung  des  Heeres.  Aus  der  ganzen  Erzählung 
geht  klar  hervor,  daß  Xerxes  mit  dieser  Tat  abschrecken  wollte. 
Zugleich  woUte  Herodot  mit  dieser  Erzählung  aber  auch  den  Des- 
potismus der  orientalischen  Herrscher  charakterisieren.  Ähnlicher 
Art  ist  die  Grausamkeit  des  Dareios  gegen  Oiobazos  IV  84. 

2.   Grammatik  und  Lexikologie. 

Beiträge  zur  Flexionslehre  der  griechischen  Sprache  Hefert 
H.  Kallenberg,    Bausteine    für   eine   historische 
Grammatik  der  griechischen  Sprache.    Rhein.  Mus.  72 
S.  481  f.  und  73  S.  324  f. 

Es  sind  im  ganzen  fünf  Untersuchungen,  im  Bd.  72  vier,  die 
sich  auf  die  Deklination  der  Pronom.  interrogat.  und  indefin.  be- 
ziehen, im  Bd.  73  eine,  welche  die  Formen  von  öuo  feststellt.  Die 
letztere  brinü;t  für  Herodot  nichts  Neues.    Aus  den  ersteren  ersieht 


8  J.  Sitzler. 

man,  daß  Herodot  von  dem  Fragepronomen  im  Gen.  und  Dativ  fast 
nur  die  kürzeren  Formen  rev  und  tho  gebraucht;  Tivog  findet  sich 
nur  VI  80,  rivi  nur  III  08,  wo  W.  Dindorf  rtii)  dafür  einsetzen 
wollte,  ohne  genügenden  Grund.  Vom  Indefinitpronomen  sind  die 
Genetivformen  tev  und  tivog  ungefähr  gleich  häufig,  aber  im  Dativ 
kommt  zeoj  viel  öfter  vor  als  rivi-^  rivL  steht  fast  nur  in  Ver- 
bindung mit  einem  Femininum  und  außerdem  noch  I  114:  tw  de 
Tivt  Tag  ayyeXiag  xtA.,  um  das  Zusammentreffen  von  t(Jj  und  tso) 
zu  umgehen.  Auch  im  Gen.  und  Dativ  Plural  verwendet  Herodot 
die  kurzen  Formen,  selbst  beim  Femininum;  xiviov  findet  sich  nie, 
xiai  nur  IX  113.  Das  Neutrum  Plural  arra  oder  ziva  kommt  bei 
Herodot  nicht  vor;  denn  IX  91:  eX  zira  oqui]to  Xiyeiv  6  '^Hyrjai- 
axQaxog  ist  "koyov  aus  dem  Vorhergehenden  zu  Tivä  zu  ergänzen. 
Von  oOTig  lauten  die  Gen.  und  Dative  bei  Herodot  orey,  otbi^  und 
OTEiov,  bzeoiai,  das  Neutr.  Plur.  aaoa. 

Die  Konstruktion  des  Verbums  juekkeiv  behandelt 

A.  Kocevalov,  De  (leX^Eiv  verbi  constructione 
apud  Graecitatis  classicae  scriptores.  Diss.  Charkow 
1917.     82  S. 

Nach  Kocevalovs  Untersuchungen  hat  Herodot  (xtXXEiy  mit 
dem  Infinitiv  76 mal,  und  zwar  65  mal  mit  dem  Infinitiv  Futuri, 
11  mal  mit  dem  Infin.  Praesentis,  beidemal  in  gleicher  Bedeutung. 
Der  Infin.  Aor.  steht  nur  I  34 :  twv  f-ieXlovrcuv  yevtai^ai  xaxwv  xaiä 
Tov  Ttaiöa'^  demnach  wird  an  dieser  Stelle  mit  Kallenberg 
yivEod^ai  oder  vielleicht  richtiger  yevr^aeaitai  zu  schreiben  sein. 

J.  Schmitt,  De  parenthesis  usu  Hippocratico, 
Herodoteo,  Thucydideo,  Xenophonteo.  Diss.  Greifs- 
wald 1913, 
behandelt  die  Parenthese  bei  Herodot  in  fünf  Kapiteln.  Im  ersten 
stellt  er  fest,  wo  sie  sich  findet.  Hier  bietet  Herodot  nichts  Be- 
sonderes. Wichtiger  ist  das  2.  Kapitel,  das  die  Partikeln  aufzählt, 
mit  denen  die  Parenthesen  eingeführt  werden;  es  sind  yog^  y.aif 
y.al  yccQ,  olöt  .  .  .  de  (I  143  am  Ende),  oiö^  luv  ovöe  (V  98);  ohne 
einleitende  Partikel  nur  V  76 :  oviog  6  azoXog  xrA.  Das  nächste 
Kapitel  zeigt,  daß  die  Parenthesen  in  der  Regel  nur  aus  einem 
Hauptsatze  bestehen ,  daneben  auch  aus  Haupt-  und  Nebensatz ; 
größere  Parenthesen  finden  sich  nur  in  VIII  136:  AXt^avÖQOV  yag 
adeXcper]v  atX.  und  IX  110:  rovio  de  xö  öeijivov  xr A.  Im  4.  Kapitel 
werden  die  Störungen  dargelegt,  welche  die  Parenthese  in  der 
Konstruktion    des  Satzes    bewirkt.     Häufig  wird  nach  ihr  ein  Teil 


Bericht  über  Herodot  1915—1920.  9 

des  Satzes  wieder  aufgenommen,  um  das  Weitere  daran  anzufügen. 
Bei  einer  solchen  Epanalepsis  verwendet  Herodot  teils  Partikeln, 
wie  (jüv  —  dies  scheint  Schmitt  allerdings  in  Abrede  zu  stellen, 
aber  vgl.  III  97.  IV  72.  V  99.  VI  76,  wo  a  freilich  d'  wv  hat  — , 
auch  in  Verbindung  mit  dtj  (I  174),  dann  dtj  II  124.  IV  76.  V  92  v. 
103.  IX  108,  endlich  de  z.  B.  VII  95.  VIII  67,  teils  das  Pronom. 
ottog  ohne  Partikel  vgl.  177.  IX  89.  Häufig  verursachen  die  Paren- 
thesen Änderungen  in  der  begonnenen  Satzkonstruktion,  auch  in 
der  Weise,  daß  das  folgende  an  die  Parenthese  angeschlossen  wird. 
Das  letzte  Kapitel  betrachtet  den  Inhalt  der  Parenthesen,  die  teils 
Erklärungen,  teils  Beweise  zum  ganzen  Satz  oder  einem  Teü  des- 
selben sind.  Was  ihre  Stellung  dem  zugehörigen  Satze  gegenüber 
anbelangt,  so  sind  sie  diesem  in  der  Regel  angefügt,  doch  fehlt  es 
auch  nicht  an  Fällen,  wo  sie  ihm  vorausgehen,  wie  B.  I  8.  12.  Den 
Ursprung  der  Parenthesen  leitet  Schmitt  mit  J.  0.  Weis  sen- 
feis, Zeitschrift  f.  Gymnasialw.  N.  F.  19  (1885)  S.  100  f.,  aus  der 
Umgangssprache  her;  aber  während  sie  hier  nur  der  Befriedigung 
eines  natürlichen  Bedürfnisses  dient,  ist  sie  in  der  Literatursprache 
weiter   ausgebaiit   und   zu    einem  Kunstmittel   umgestaltet  worden. 

Über  die  Bildung  der  Adjektive  auf  aiog  handelt 

G.  Sand  Joe,    Die  Adjektive    auf  aiog.     Studien  zur 
griechischen  Stammbildungslehre.     Diss.  Uppsala  1918.     115  S. 

Das  Material  aus  Herodot  stellt  Sandjoe  Abschnitt  IV  S.  8  f. 
zusammen,  seine  Ansicht  über  die  Bildung  dieser  Adjektive  legt  er 
S.  88  f.  dar.  Unter  Verwerfung  der  bisher  aufgestellten  Erklärungen 
nimmt  er  an,  daß  es  Wortbildungen  nach  Art  des  ai.  deya  gab,  wie 
ßlaiog,  ayalog,  i/ciyaiog]  von  hier  aus  habe  sich  dann  die  Kate- 
gorie der  mit  den  ö-Stämmen  zusammenhängenden  atog -Ableitungen 
entwickelt. 

In  das  Gebiet  der  Lexikologie  schlagen  ein: 

1.  J.  M.  Linforth,  Ol  ad-avar itovxeg.  Class.  Philolog. 
XIII  (1918)  S.  23  f. 

2.  W.  W.  How,  On  the  meaning  of  B^JHN  and  JPO- 
31QI  in  Greek  historians  of  the  fifth  Century. 
Class.  Quarterly  XIII  S.  40  f. 

3.  K.  Brugmann,  EIqtjvi].  Ber.  d.  Sachs.  Gesellsch.  der 
Wissensch.  68  (1916)  S.  1  f. 

Herod.  IV  93.  94.  V  4  gibt  den  Geten  den  Beinamen  01  a&a- 
vatiLovreg,  den  man  gewöhnlich  erklärt:  „die  an  Unsterblichkeit 
glauben".     Linforth   hält    diese  Deutung   nicht   für  ausreichend; 


10  J-  Sitzler. 

er  versteht  unter  oi  ai^avaxitovTeg:  „who  practise  deification" , 
und  man  wird  ihm  beistimmen  müssen;  denn  diese  Erklärung  paßt 
besser  zu  a^avatiZw  „unsterblich  machen",  also  zu  einem  Gott, 
und  stimmt  mit  Herodots  Ausführungen  und  mit  der  Auffassung 
Piatons  Charm.  p.  156  D  und  Lukians  Skyth.  1  und  deor.  conc.  9- 

How  weist  daraufhin,  daß  ögouio  Herod.  IX  59  „at  the  double", 
„im  Sturmschritt"  bedeutet,  während  es  III  77  und  VI  112  nur 
„im  Laufe"  heißt,  im  Gegensatz  zu  ßadi]v. 

Brugmann  hält  Valckenaers  Änderung  des  IX  85  über- 
lieferten iQtEg  in  igeveg  für  unwahrscheinlich,  weil  für  das  Be- 
gräbnis nicht  die  Altersstufe,  sondern  nur  die  aQiazeia  in  der 
Schlacht  maßgebend  gewesen  sein  könne.  D  i  e  1  s  Vermutung,  iQaeg 
sei  gleich  r^geeg  von  ^]Qr^g  oder  r^QEvg  =  ^^giog  in  dem  allgemeinen 
Sinn  von  avdgeg  ayad^ol,  erscheint  ihm  gewagt,  weil  die  Etymologie 
von  rjgiog  noch  unaufgeklärt  sei.  Brugmann  selbst  nimmt  an, 
daß  iQSvg  der  lakonische  Ausdruck  für  agiOTEvg  sei;  ccQiatog  und 
ageiiov  seien  aber  ohne  Zweifel  Sippengenossen  von  dgagiaxcOf 
ageiij  usw.  Er  weicht  also  nur  in  der  Form  und  Ableitung  des 
"Wortes  von  Diels  ab,  nicht  in  der  Bedeutung,  und  doch  scheint 
mir  diese  in  unsern  Zusammenhang  nicht  zu  passen.  Ich  sehe 
dabei  von  dem  Satze  l'ti}a  i-iev  .  .  .  KaXXiv.Qc'iT^^g  ab,  der  offenbar 
später  eingeschoben  ist,  da  er  den  Zusammenhang  stört  und  weder 
zu  igieg  =  ccQiaiEvoavieg  noch  zu  Iqiveg  stimmt;  denn  als  uqiovev- 
aavieg  gibt  Herodot  nur  Poseidonios,  Amompharetos  und  Philokyon 
an,  während  hier  nicht  nur  Kallikrates  beigefügt  ist,  sondern  mit 
dem  Relativ  rwr  noch  auf  viele  andere  hingewiesen  wh'd;  zu  den 
iQiVEg  gehören  die  Genannten  aber  sicher  nicht.  Abgesehen  also 
von  diesem  Satz  kann  ich  mich  nicht  davon  überzeugen ,  daß  die 
ccQioreia,  wie  Brugmann  will,  für  das  Begräbnis  in  Betracht  ge- 
kommen wäre ;  wenigstens  findet  sich  Ahnliches  sonst  nicht.  Viel 
wahrscheinlicher  ist  es  mir,  daß  man  beim  Begräbnis  die  lotveg  von 
den  älteren  Bürgern  trennte,  wenn  man  nicht  ein  großes  Massen- 
grab für  alle  herstellen  wollte.  Auffallend  bleibt  dann  aber,  daß 
die  7CEQior/.OL  nicht  erwähnt  werden;  sie  müßten  auch  in  die  aAAot 
^rcaQTiTjiai  miteingeschlossen  sein,  eine  Annahme,  die  nicht  ohne 
Bedenken  ist. 

Zum  Schlüsse  teile  ich  noch  mit,  daß  das  im  vorigen  Jahres- 
bericht a.  a.  0.  S.  310  erwähnte  lexicon  Herodoteum  von 
W.  Aly  im  Manuskript  beendigt  und  im  Freiburger  philologischen 
Seminar  zu  allgemeinem  Gebrauch  für  alle  Fachgenossen  auf- 
gestellt ist. 


Bericht  über  Herodot  1915—1920.  H 

3.   Geschichte  und  Geographie. 

Über  die  lydischen  Könige  aus  dem  Geschlechte 
•der  Mermnaden  und  ihre  Regierungszeit  handelt 

G.  Hü  sing   in  der  Orient.  Literaturzeitung  XVIII  (1915): 

Kroisos    (555  —  541)    S.   177f.    —    Saduattes    S.  205  f.  — 

Gügu  (678—643)  S.  299  f. 
Er  hält  die  für  die  Regierung  des  Kroisos  angenommenen  Jahre 
555 — 541,  mit  denen  auch  das  Marmor  Parium  übereinstimme,  für 
richtig.  Kroisos'  Vater  war  Walweiates,  bei  Herodot  Alyattes  ge- 
nannt, der  zwei  Jahre  vor  seinem  Tode  (555)  die  Schlacht  gegen 
Kyaxares  schlug,  während  der  eine  Sonnenfinsternis  eintrat,  vgl. 
Herod.  I  16  und  103.  Saduattes,  eine  andere  Sprachform  für  AU- 
attes,  ist  von  Herodot  oder  seiner  Quelle  eingeschoben.  Dieselbe 
Ansicht  sprach  Leigh  Alexander  aus,  vgl.  vorigen  Jahresb. 
a.  a.  0.  S.  312.  Walweiates  regierte  von  605 — 555,  sein  Vorgänger 
Ardys,  der  den  Krieg  gegen  Milet  begann,  von  643 — 605  und  Gügu 
(Gyges),  der  erste  Mermnade,  von  678 — 643. 

Gegen  H ü s i n g  wendet  sich  mit  Erfolg  Lehmann-Haupt, 
Der  Tod  des  Gyges.  Klio  XVII  S.  113  f.  Anschließend  an 
seine  früheren  Arbeiten  Verh.  Berl.  Archäol.  Ges.  April  1898  = 
Archäolog.  Anzeiger  1898  S.  122.  Klio  II  344,  betont  er,  daß  das 
einzige  absolut  feststehende  Datum  der  lydischen  Geschichte  die 
Eroberung  von  Sardes  durch  Kyros  und  damit  das  Ende  der  Re- 
gierung des  Kroisos  im  J.  546  v.  Chr.  sei.  Der  Tod  des  Gyges 
kann  nicht,  wie  er  nachweist,  nach  652/651  erfolgt  sein,  ein  Datum, 
das  Eusebios'  Chronik  bestätigt,  die  dafür  das  Jahr  652  angibt. 
Der  Kimmeriereinfall  im  7.  Jahre  des  Ardys  fand  etwa  um  646  statt. 

K.  Robert,  Archäologische  Miszellen.  Kleobis 
und  Biton.  Sitzungsber.  d.  Bayer.  Akad,  d.  Wiss.  Phü.-hist.  Kl. 
1916.  2.  Abh.  S.  If., 
sucht  die  Sage  von  Kleobis  und  Biton,  deren  bei  Herod.  I  31  er- 
wähnte Standbilder  mit  Inschrift  in  Delphi  aufgefunden  worden  sind, 
vgl.  vorigen  Jahresb.  a.  a.  0.  S.  811,  aufzuhellen.  Da  auf  dem 
Wagen  nur  die  Götter  und  ihre  Bilder  gefahren  werden,  vermutet 
er,  daß  auch  die  hier  auf  dem  Wagen  befindliche  /.idrrjQ  nicht  die 
Mutter  des  Kleobis  und  Biton  gewesen  sei,  sondern  eine  göttliche 
fiOTrjQ,  die  sich  leider  nicht  näher  bestimmen  lasse,  vielleicht  Leto 
oder  Demeter.  In  dem  Fall  müßte  man  annehmen ,  daß  Kleobis 
nnd  Biton  den  Kult  einer  BldrrjQ  in  Delphi  neu  eingeführt  hätten. 


12  J.  Sitzler. 

Daß  ihren  Namen  das  Ethnikon  nicht  beigefügt  ist,  würde  darauf 
hindeuten,  daß  sie  Delphier  waren,  und  damit  wären  auch  das 
phokische  Alphabet  und  der  phokische  Dialekt  der  Inschrift  erklärt. 
Soweit  wäre  alles  wohl  verständlich;  Schwierigkeit  macht  nur  de. 
Umstand,  daß  diese  Delphier  in  der  Sage  als  Argiver  erscheinen, 
und  diese  Schwierigkeit  kann  auch  Robert  nicht  beseitigen.  Er 
weist  darauf  hin ,  daß  der  Bildhauer ,  der  die  Statuen  verfertigte, 
Polymedes,  ein  Argiver  war;  aber  da  erhebt  sich  sofort  die  weitere 
Frage,  wie  die  Delphier  dazu  kamen,  einem  Argiver  die  Anfertigung 
der  Bildwerke  zu  übertragen.  Ebensowenig  bietet  die  andere  Tat- 
sache, die  Robert  anführt,  nämlich  daß  auf  dem  Markt  in  Argos 
ein  anderer  Biton  mit  einem  Stier  auf  der  Schulter  stand,  vgl. 
Paus.  II  19,  5,  wie  er  selbst  zugibt,  ein  sicheres  Fundament  für 
seine  Hypothese,  weil  das  Zeugnis  für  diesen  Biton  zu  jung  ist, 
um  jene  alte  Übertragung  des  Ethnikons  auf  den  Delphier  damit 
zu  begründen. 

Mit  der  Aufhellung  der  Geschichte  der  Semiramis  hat  sieb 
C.  F.  Lehmann-Haupt  schon  wiederholt  beschäftigt,  vgl.  vorigen 
Jahresber.  a.  a.  0.  S.  214.  Jetzt  wurde  im  Museum  in  Konstantinopel 
ein  neues  Denkmal,  das  sie  betriift,  entdeckt  und  von  E.  Unger 
in  den  Publikationen  der  Kais.  Osmanischen  Museen  II  unter  der 
Überschrift:  Reliefs  tele  Adadniraris  III  aus  Sabaa  und 
Semiramis.  Mit  7  Tafeln.  Konstantinopel  1916,  herausgegeben. 
Diesen  Fund  bespricht 

C.  F.  Lehmann-Haupt,  Semiramis  und  Sammuramat. 
Klio  XV  (1918)  S.  243  f. 
Es  geht  daraus  hervor,  daß  Semiramis  tatsächlich  eine  Zeitlang  die 
Regierung  geführt  hat.  Unger  zeigt,  daß  das  nur  in  den  Jahren 
811 — 806  gewesen  sein  kann,  in  dem  sie  die  Vormundschaft  über 
ihren  Sohn  hatte,  und  Lehmann-Haupt  stimmt  ihm  bei.  So 
wird  auch  dieser  Zug  der  Semiramis-Sage  als  historisch  erwiesen, 
und  damit  verliert  der  Gedanke,  die  Semiramis  der  Sage  habe  mit 
der  geschichtlichen  Persönlichkeit  nur  zufällig  den  Namen  gemein- 
sam, seinen  letzten  Halt.  Lehmann-Haupt  hebt  noch  hervor, 
daß  sie  auch  in  der  Reihe  der  Königstelen  von  Assur  mit  einem 
eigenen  Monument  vertreten  sei.  Ihre  Vermählung  mit  Samsi-Adad 
setzt  er  etwa  in  das  Jahr  823  und  weist  darauf  hin,  daß  sie  jeden- 
falls keine  Kriegsgefangene  war,  die  der  König  ihrer  Schönheit 
wegen  geheiratet  habe ,  wenn  wir  auch  nichts  Genaueres  hierüber 
wissen. 


Bericht  über  Herodot  1915—1920.  13 

Die  babylonischen  Nachrichten  Herodots  unterzieht 
Fr,  Delitzsch,  Zxi  Herodots  babylonischen  Nach- 
richten.   Festschrift  E.  S  ach  au  zum  70.  Geburtstage  gewidmet 
von  Freunden  und  Schülern.    Hrsg.  von  G.  Weil  1915,  S.  87  f., 
einer  kritischen  Prüfung  auf  Grund  der  Ergebnisse  der  Ausgrabungen. 
In  Betracht  kommen  die  Kap.  I  178 — 199  bzw.  200.    Das  Ergebnis 
faßt    er   in   die  Worte    zusammen:    „Soweit  Herodots  Mitteilungen 
auf  Autopsie  beruhen,    können  sie  im  großen  und  ganzen  ungefähr 
als  ^richtig   gelten  5    soweit    sie    auf  Hörensagen   beruhen ,    sind  sie 
durchweg   falsch    und  haben  infolgedessen  bis  auf  diesen  Tag  Irr- 
tümer über  Irrtümer,  zum  Teil  schwerer  Art,  verschuldet." 

Dies  sucht  Delitzsch  im  einzelnen  nachzuweisen.  Die  An- 
gaben in  Kap.  193  über  Agrikultur  und  Fruchtbarkeit  des  Landes 
erkennt  er  als  richtig  an,  jedoch  mit  der  Einschränkung,  daß  trotz 
Herodots  gegenteiliger  Behauptung  auch  der  Weinstock  vorkomme 
und  auch  das  Öl ,  allerdings  von  auswärts  eingeführt ,  schon  seit 
den  ältesten  Zeiten  bekannt  sei.  Auch  was  Kap.  192  über  die 
pekuniäre  Leistungsfähigkeit  Babyloniens  gesagt  wird,  entspricht 
nach  ihm  der  Wahrheit,  und  ebensowenig  bieten  die  Mitteilungen 
in  Kap.  195  über  Kleidung  „einstweilen"  Anlaß  zu  begründeten 
Zweifeln.  Aber  in  Kap.  194  vermengt  Herodot  die  runden  Fahr- 
zeuge, die  sog.  Kuffen,  auf  denen  man  keine  großen  Warenlasten 
unterbringen  könnte ,  mit  den  auf  aufgeblasenen  Hammelshäuten 
schwimmenden  Keleks,  die  noch  heute  gebraucht  werden.  Die  Er- 
zählungen Herodots  über  Geschichte  des  Landes,  Sitten  und  Ge- 
bräuche bewahrheiten  sich  nach  Delitzsch  nicht;  er  meint,  hier 
sei  unser  Geschichtschreiber  das  Opfer  orientalischen  Fabulierens 
geworden.  So  schreibe  er  einer  Königin  Nitokris  zu,  was  inschrift- 
lich dem  Nebukaduezar  zukomme.  Sein  Bericht  über  die  Eroberung 
Babylons  durch  Kyros,  der  offenbar  auf  Perser  zurückgehe  (Kap.  188 
bis  191),  sei  vollständig  erfunden;  nach  der  Niederlage  bei  Opis 
habe  sich  das  babylonische  Heer  unter  dem  Kronprinzen  Belsazar 
fluchtähnlich  in  die  Hauptstadt  zurückgezogen,  die  dann  durch 
Verrat  den  Feinden  in  die  Hände  gefallen  sei.  Auch  das ,  was 
III  151  f.  über  die  zweite  Eroberung  der  Stadt  durch  Dareios 
Hystaspes  berichtet  werde,  gehöre  ins  Bereich  der  Fabel;  denn  die 
Belagerung  könne  nicht  lange  gedauert  haben,  da  Dareios  fast  un- 
mittelbar nach  der  entscheidenden  Schlacht  bei  Zazannu  in  Babylon 
eingezogen  sei.  Ebensowenig  hielten  die  Angaben  über  den  Mädchen- 
markt Kap.  196,  über  Tempelbordelle  199,  über  Krankenbehandlung 
und  Ärzte  197  der  Kritik  stand. 


14  J.  Sitzler. 

Herodots  Beschreibung  der  Stadt  bezeichnet  Delitzsch  als 
reines  Phantasiegebilde.  Damit  geht  er  entschieden  zu  weit; 
wenigstens  sagt  R.  Koldewey,  Das  Stadtbild  von  Babylon 
nach  den  bisherigen  Ausgrabungen.  Archäolog.  Anzeiger 
1918  Sp.  73  f.:  „Die  Beschreibung,  die  Herodot  von  Babylon  ge- 
geben hat,  entspricht  in  den  großen  Zügen  der  Wirklichkeit  gut; 
nur  die  Maße  sind  übertrieben."  Dies  geht  auch  aus  Delitzsch's 
Ausführungen  selbst  hervor.  Er  tadelt  zwar,  daß  Herodot  Babylon 
und  Borsippa  zu  einem  Ganzen  vereinigt,  muß  aber  zugeben,  daß 
der  von  ihm  erwähnte  Graben  vor  der  Stadt  tatsächlich  vorhanden 
und  die  von  ihm  beschriebene  Herstellungsweise  der  Ziegel  und 
Ziegelbauten  richtig  sei,  wenn  auch  die  Maße  der  Mauern  märchen- 
haft anmuten.  In  dem  Kap.  181  genannten  Tempel  erkennt  auch 
er,  wie  schon  andere  vor  ihm,  den  des  Bel-Nebo  in  Borsippa. 
Der  in  demselben  Kapitel  erwähnte  innere  Mauerzug  wurde  in  der 
doppelten  Lehmziegelmauer ,  dem  Düru  Imgur-Ellil  und  dem  ihm 
vorgelagerten  Salbu  Nimitti-Ellil,  aufgefunden,  ebenso  die  Kaimauer 
mit  den  eherneu  Pförtchen  —  nur  hinsichtlich  der  Ausdehnung  dieser 
irrt  sich  der  Geschichtschreiber  —  und  die  in  Kap.  186  genannte 
zweite  Euphratmauer.  Als  auffallend  bezeichnet  es  Delitzsch, 
daß  Herodot  die  königliche  Burg  in  Kap.  181  so  kurz  abfertigt  und 
sowohl  über  die  löwengeschmückte  Prozessionsstraße  als  auch  über 
den  dritten  Palast  Nebukadnezars,  dessen  Ruine  Babil  heute  noch 
das  ganze  Stadtgebiet  überragt,  kein  Wort  sagt.  Mit  dem  künst- 
lichen Meer  Kap.  185  und  186  und  der  Euphratbrücke  hat  es  seine 
Richtigkeit;  freilich  ist  das  erstere  wieder  zu  groß  angegeben  und 
die  Beschreibung  der  letzteren  mit  dem  Märchen  von  dem  allabend- 
lichen Wegräumen  der  schweren  Brückenbalken  und  dem  Grunde 
dieser  Maßregel  ausgeschmückt.  Das  schwerste  Rätsel  bilden  nach 
Delitzsch  die  drei-  und  vierstöckigen  Häuser,  von  denen  in 
Kap.  180  gesprochen  wird;  er  vermutet,  daß  darunter  vielleicht 
Häuser  zu  verstehen  seien,  auf  deren  flachen  Dächern  sich  hölzerne 
Söller  übereinander  erhoben;  aber  die  Häuser  selbst  seien  jeden- 
falls nur  einstöckig  gewesen. 

Nur  kurz  erwähne  ich 

W.  Leonard  King,  A  history  of  Babylon  from 
the  foundation  of  the  monarchy  to  the  Persian 
conquest.    1915.    XXIV,  340  S.    8. 

Darin  ist  auch  die  einschlägige  Literatur  in  großer  Voll- 
ständigkeit zusammengestellt. 


Bericht  über  Herodot  1915—1920.  15 

Die  Titel  der  persischen  Könige  sammelt 

R.  Dick  Wilson,  Titles  of  the  Persian  Kings. 
Festschrift  E.  S  ach  au  zum  70.  Geburtstage  gewidmet  von 
Freunden  und  Schülern.  Hrsg.  von  G.  Weil.  1915.  S.  179  f. 
aus  den  Inschriften  und  Schriftstellern ,  sowohl  nichtgriechischen 
als  auch  griechischen.  Das  bei  Herodot  vorliegende  Material  ver- 
zeichnet er  S.  191  f.  übersichtlich  geordnet.  Darunter  sind  zwei 
Inschriften,  eine  auf  dem  Maudrokles-Gemälde  IV  88,  wo  es  Jageiov 
ßaailiog,  und  die  andere  auf  der  Tearos- Säule  IV  91,  wo  es 
JaqEiog  6  'Yazda/reOi;,  IleQOtcov  le  xai  7xct.Gi,g  itjg  r^jceiQOv  ßaoiXevc:, 
heißt.  Herodot  selbst  gebraucht  bald  den  Namen,  bald  den  Titel, 
bald  den  Namen  mit  dem  Titel,  manchmal  mit  Beifügung  der  Ab- 
stammung, Titel  und  Abstammung  teils  vor,  teils  nach  dem  Namen 
gestellt.  An  andern  Stellen  hat  er  die  Bezeichnung  Perser  oder 
König  der  Perser  bzw.  von  Persien,  wozu  bisweilen  noch  der  Name 
gesetzt  wird ,  oder  Meder  und  König  der  Meder  oder  der  große 
König.    Die  Anrede  lautet  auch  w  ötG/tOTa,  wie  III  34.  35.  62  usw. 

Die  Nachrichten  über  Kambyses,  sowohl  den  Vater  als  auch 
den  Sohn  des  Kyros,  behandelt 

C.  F.  Lehmann-Haupt,  Kambyses.  Pauly - Wissowa- 
Kroll  Realenzykl.  Bd.  X  Sp.  1810  f. 
ausführlich.  Der  ältere  Kambyses,  über  den  Herodot  I  107  f.  spricht, 
hatte  den  Titel  „der  große  König,  der  König  von  AnSan",  einer 
Landschaft  um  Susa.  Lehmann -Haupt  entwirft  den  Stamm- 
baum der  Achämeniden,  der  Herod.  VII  11  fehlerhaft  angegeben  ist; 
richtig  würde  er  lauten:  f.irj  yccQ  el'vjV  hc  ^aqeiov  tov  ''Yoräoneog 
%ov  viQaäfxeog  tov  ^giagdureco  tov  TetoTtEog  (;/.al  i^  l^Toaarjg 
Ttjgy  KvQov  TOV  Kaußvaect)  {tov  Kvoov)  tov  Teioneog  tov  ^A^ch- 
fieveog  yeyovcog.  Jedoch  nimmt  er  keine  Textverderbnis  bei  Herodot 
an,  sondern  glaubt,  er  oder  seine  Quelle  habe  sich  gein-t;  so  seien 
Kambyses  und  Kyros  unter  die  direkten  Vorfahren  des  Xerxes  ge- 
kommen und  vor  das  erste  Mitglied  der  jüngeren  Linie,  Ariaramnes, 
gesetzt  worden,  was  dann  die  Doppelsetzung  des  Teispes  zur  Folge 
gehabt  habe.  Daß  Astyages  seine  Tochter  Mandane  infolge  des 
bekannten  Traumes  dem  Kambyses  zur  Frau  gegeben  habe,  erklärt 
er  mit  Recht  für  Sage. 

Der  jüngere  Kambyses ,  der  von  529 — 522  Perserkönig  war, 
hatte  nach  Herod.  II  1.  III  2.  3  Kassandane ,  die  Tochter  des 
Achämeniden  Pharnaspes,  zur  Mutter,  und  daran  hält  Lehmann- 
Haupt  gegen  Ktesias,  der  Amytis,  die  Tochter  des  Astyages,  als 


16  J.  Sitzler. 

seine  Mutter  nennt,  fest.  Aber  als  unrichtig  bezeichnet  er  es,  wenn 
Herodot  berichtet,  Kambyses'  Bruder  Bardiya-Smerdis  sei  mit  nach 
Ägypten  gezogen  und  dann  von  da  wieder  nach  Susa  zurück- 
geschickt worden,  wo  er  auf  Befehl  des  Kambyses  von  Prexaspes 
getötet  worden  sei.  Lehmann-Haupt  verlegt  die  Ermordung 
in  die  Zeit  vor  dem  ägyptischen  Feldzug.  Auch  was  Herodot  zur 
Begründung  dieser  Tat  anführt,  erscheint  ihm  als  Nebensache;  er 
findet  den  Hauptgrund  in  dem  politischen  Verhalten  des  Bardiya, 
das  ihn  dem  Kambyses  als  gefährlichen  Nebenbuhler  verdächtig 
machte.  Er  vermutet  nämlich ,  daß  Bardiya  an  den  Aufständen 
gegen  Kambyses,  auf  die  III  88  hinweist,  beteiligt  gewesen  und 
sogar  von  Atossa  dabei  unterstützt  worden  sei.  Die  Wahrheit  des 
Herodotischen  Berichtes  über  den  Untergang  des  nach  der  Ammons- 
Oase  gesandten  Heeres  zweifelt  er  nicht  an,  erweist  aber  die  An- 
gabe ,  Kambyses  habe  infolge  seines  Wahnsinns  den  Zug  nach 
Nubien  ohne  genügende  Vorkehrungen  füi-  Ernähi'uug  und  Zufuhr 
unternommen,  als  Irrtum  Herodots;  denn  der  äthiopische  König 
Nastesen  rühmt  sich  in  einer  von  ihm  gesetzten  Inschrift,  daß  er 
das  Heer  des  Kambyses  geschlagen  und  der  Herden,  die  es  zu 
seiner  Ernährung  mit  sich  führte,  beraubt  habe.  Die  von  Herodot 
erwähnte  Schwierigkeit  in  der  Versorgung  des  Heeres  rührt  also 
von  dieser  Niederlage  her.  Übrigens  war  der  Zug  nicht  so  erfolglos, 
wie  es  Herodot  nach  ägyptischen  Quellen  darstellt;  denn  er  sagt 
selbst ,  daß  die  an  Ägypten  grenzenden  Äthioper  von  Kambyses 
unterworfen  worden  seien  (III  97);  nach  dieser  Stelle  bringen  sie 
auch  unter  Dareios  Geschenke  als  regelmäßigen  Tribut  und  nach 
VII  69  f.  leisten  sie  Xerxes  Heeresfolge.  Die  Tötung  des  Apis, 
welche  die  Apisstelen  bestätigen,  betrachtet  Lehmann-Haupt 
als  historisch ,  ebenso  die  Zerstörung  ägj^ptischer  Tempel ,  in  der 
er  einen  Racheakt  des  Kambyses  an  den  Priestern  sieht,  die  er 
für  die  Urheber  des  gegen  ihn  im  Lande  ausgebrochenen  Aufstandes 
hielt.  Unwahr  ist  nach  Lehmann-Haupt  die  Schändung  der 
Leiche  des  Amasis  (III  16)  und  der  Selbstmord  Psammenits  (III  15), 
der  übrigens  bei  Herodot  infolge  eines  Irrtums  an  die  Stelle  Psam- 
metichs  III.  trat;  aber  auch  dieser  hat  sich  nicht  selbst  getötet, 
sondern  wurde  nach  dem  Mißlingen  des  Aufstandes  seines  Postens 
als  Verwalter  Ägj^ptens  enthoben  und  nach  Susa  gesandt.  Die 
Um'uhen  in  Ägypten  hielten  den  König  längei'e  Zeit  dort  zurück; 
erst  die  Nachricht  von  der  Empörung  der  Magier  zwang  ihn  zur 
Rückkehr  nach  Persien.  Die  Seele  dieses  Abfalls  war  nach  Herod. 
III  61.  63    nicht   der   auf  den   Thron    erhobene  Gaumäta-Smerdis, 


Bericht  über  Herodot  1915—1920.  17 

sondern  dessen  Bruder  Patizeithes.  Da  dieser  Name  „Regent"  be- 
deutet, so  vermutet  Lehmann-Haupt,  daß  er  der  von  Kambyses 
bei  seinem  Weggang  eingesetzte  ßeichsverweser  gewesen  sei,  der 
naturgemäß  um  die  Ermordung  des  Bardiya  gewußt  habe.  In  der 
Erklärung  der  Nachrichten  über  die  Todesart  des  Kambyses  schließt 
sich  Lehmann-Haupt  an  W.  Schulze  au,  vgl.  vor.  Jahresb. 
a.  a.  0.  S.  318. 

Die  Satrapienliste  (III  89),  die  schon  wiederholt  Gegen- 
stand der  Untersuchung  war,  behandelt 

C.  F.  Lehmann-Haupt,  Die  Liste  der  Satrapien 
des  Dareios.  Pauly-Wissowa-Ki-oll -Witte  Realenzykl.  II  A 
S.  91  f.  ' 

Er  weist  durch  Vergleichung  mit  I  192  nach,  daß  sie  inhaltlich 
unvollständig  ist,  da  die  Satrapien  außer  dem  Tribut  auch  noch 
andere  Leistungen  zu  erfüllen  hatten,  und  zieht  daraus  den  Schluß, 
daß  wir  es  hier  nur  mit  einem  Ausschnitt  oder  Auszug  aus  einer 
vollständigen  Liste  zu  tun  haben.  Diesen  Auszug  entnahm  Herodot 
seiner  Ansicht  nach  nicht  selbst  den  persischen  Akten,  sondern 
den  TleQüiKa  des  Dionysios  von  Milet,  der  ihn  seinerseits  wieder 
von  Hekataios  erhalten  habe.  Dieser  habe  ihn  nämlich  als  Unter- 
lage für  seinen  Vortrag  bei  der  Beratung  der  lonier  über  den 
Abfall  vom  Perserkönig  (V  36)  aus  Akten  im  Archiv  der  Satrapie 
in  Milet  angefertigt  und,  da  er  ihn  seiner  Beschaflfenheit  nach  in 
seinem  eigenen  Werke  nicht  verwenden  konnte,  nach  der  Benützung 
seinem  Landsmanne  überlassen.  Aus  dem  Zweck,  den  Hekataios 
verfolgte,  nämlich  die  lonier  vom  Kriege  abzuhalten,  erkläre  sich 
der  Inhalt  der  Satrapienliste ,  die  nur  die  övraf-iig  des  Großkönigs 
nachweisen  wolle  und  daher  von  der  Heeresliste  (VII  61  f.),  die 
Herodot  ebenfalls  aus  Dionysios  von  Milet  entnommen  habe,  ver- 
schieden sei.  Auch  werde  die  Umrechnung  der  Tribute  in  euböische 
Talente  nicht  auffallend  erscheinen,  wenn  man  bedenke,  daß  Heka- 
taios zu  loniern  sprach.  Der  Liste  selbst  habe  Hekataios  noch  einen 
Anhang  beigefügt,  der  Einkünfte  aus  Europa  und  andern  Gegenden, 
die  zu  den  schon  genannten  hinzukommen,  enthalten  habe.  Diesen 
habe  Herodot  weggelassen,  und  darauf  bezögen  sich  die  Worte  am 
Schlüsse  von  III  95  :  xo  6*  an  tovtcov  xr/l. 

Diese  Hypothese,  so  scharfsinnig  sie  auch  unter  Berück- 
sichtigung aller  in  Betracht  kommenden  Umstände  ausgedacht  ist, 
muß  einstweilen  Hypothese  bleiben ;  beweisen  läßt  sie  sich  ebenso- 
wenig wie  die  andere,  die  gerade  in  letzter  Zeit  so  oft  wiederholt 

Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft.    Bd.  191  (1922.  I).  2 


-[g  J.  Sitzler. 

wird,  daß  Herodot  die  IlEQaL/.d  des  Dionysios  von  Milet  benützt 
habe,  Aucli  über  das  Verhältnis  des  Hekataios  zu  Dionysios  wissen 
wir  nichts.  Daß  Hekataios,  der  so  weit  gereist  war  und  dabei  so 
viel  gesehen  und  gehört  hatte,  für  seinen  Vortrag  in  der  Versamm- 
lung der  lonier  nötig  hatte ,  noch  besondere  Studien  im  Satrapie- 
Archiv  von  Milet  zu  machen,  wii'd  manchem  wenig  glaubwürdig 
erscheinen;  ja  man  kann  bezweifeln,  ob  ihm  dieses  überhaupt  zu- 
gänglich war.  Auch  wäre  es  meiner  Meinung  nach  zweckdienlicher 
gewesen,  wenn  er,  um  die  lonier  vom  Kriege  abzuschrecken,  bei 
der  Aufzählung  all  der  Völkerschaften  jeweils  die  Größe  der  Streit- 
macht der  einzelnen  anstatt  die  Summe  des  Tributes  angegeben 
hätte.  Doch  mag  dem  sein,  wie  ihm  wolle,  soviel  steht  fest,  daß 
Herodot  die  Liste  irgendwoher  entnommen  und  für  seinen  Zweck 
verwendet  hat.  Ihm  gehören  nach  Lehmann-Haupt  Kap.  89: 
xoiaL  fiiv  aiTOJv  aQyvqiov  bis  zum  Schlüsse  des  Kapitels  {jidvia 
i/.iT]xavijaaTo)^  wo  er  mit  der  Angabe,  das  babylonische  Talent  ver- 
halte sich  zum  euböischeu  wie  70:60,  in  Widerspruch  mit  der 
Umrechnung  in  der  Liste  gerät,  die  78  :  60  zugrunde  legt,  vgl.  oben 
S.  6.  Ebenso  hat  er  in  Kap.  91  die  Sätze:  fiaoe^  xov  e/.  cr^g 
MoiQiog  Xi(xvi]g  bis  xat  xoIgl  tovtiov  EnLy.ovQOioi  wegen  II  149 
eingeschoben.  Zur  9.  Satrapie  (Kap.  92)  bemerkt  Lehmanu- 
Haupt,  daß  die  Vereinigung  von  Babylonien  und  Assyrien  den 
Dareios  nicht  lange  überdauert  habe ;  daher  seien  die  Schriftsteller, 
die  später  davon  sprechen,  von  den  unter  Dareios  schreibenden 
Logographen  abhängig;  so  Herodot  selbst,  der  I  77  Labynetos  als 
König  von  Babylon  kenne,    ihn  aber  I  188  als  Assyrer  bezeichne. 

Herodot  erwähnt  I  201.  IV  13  f.  die  Issedoneu;  über  diesen 
Volksstamm  spricht 

A.  Herrmann.  Issedoi.  Pauly-Wiss. -Kroll  Realenzykl. 
IX  Sp.  2235  f. 
Er  sieht  in  ihm  ein  indo-germanisches  Nomadenvolk,  das  östlich 
vom  Ural  in  den  Flußgebieten  des  noch  heute  nach  ihnen  benannten 
Iset  und  des  unteren  Tobol  wohnte.  Herodot  (I  201)  nimmt  ihnen 
gegenüber  die  Wohnsitze  der  Massageten  an.  Dies  erklärt  sich  nach 
Herrmann  am  einfachsten  daraus,  daß  er  „infolge  der  neueren 
Nachrichten  über  den  Weg  zu  den  Issedoi  sich  veranlaßt  sah,  den 
rings  umschließenden  Okeanos  auszuscheiden  und  das  Kaspische 
Meer  als  Binnensee  darzustellen.  Auf  diese  Weise  kamen  Völker- 
namen, die  er  auf  dem  Weg  durch  Persien  erfahren  hatte,  südhch 
von  den  Issedoi  und  x\riraaspen  zu  liegen'*'.    Über  das  Kaspi  sehe 


Bericht  über  Herodot  1915—1920.  19 

Meer,  für  dessen  Geschlossenheit  sich  Herodot  zuerst  ausspricht, 
allerdings  nicht  infolge  authentischer  Nachrichten ,  sondern  auf 
Grund  theoretischer  Erwägungen  über  die  Verteilung  von  Wasser 
und  Land,  vgl.  A.  Herrmanns  Ai-tikel  a.  a.  0.  Bd.  X  Sp.  2275  f. 

Mit  den  Volksstämmen  Skythiens  beschäftigen  sich: 
1.    H.  Zij  derhand ,  Her  od.  lib.  IV  und  die  uralischeii 

Völker.     Tidsskrift    gesch.,    iknd    en    völkerk.    29    (1914) 

S.  222  f. 
■j.    Vogel    in    der  Festschrift  E.   Hahn    zum    60.  Geburtstage 

dargebracht    von    Freunden    und    Schülern   =   Studien    und 

Forschungen    zur    Menschen-    und    Völkerkunde    hrsg.    von 

G.  Buschan  1919. 

Über  Zijderhands  Arbeit  kann  ich  nicht  berichten,  da  sie 
mir  nicht  zur  Verfügung  stand. 

Vogel  spricht  über  die  ^/.L&ai  ctQOTtjQsg  und  die  ^y.vdai 
yeiogyol  (IV  17 — 19);  unter  den  ersteren  versteht  er  die  Pflugbau- 
Skythen,  unter  den  letzteren  die  Hackbau- Skj-then.  Der  Hackbau, 
die  Bearbeitung  des  Feldes  mit  Hacke  oder  Grabstock,  ist  die  Vor- 
stufe des  Pflugbaus ,  der  erst  nach  der  Zähmung  von  Zugtieren 
stattfinden  kann.  Diese  Erklärung  stützt  er  zunächst  durch  den 
Hinweis  auf  die  Wohnsitze  der  beiden  Skythenstämme.  Geht  mau 
nämlich  vom  Bug  zum  Dnjepr,  so  kommt  man  zuerst  in  die  Hylaia, 
das  Gehölzland  oder  den  Galeriewald  im  unteren  Dnjeprtal;  von  da 
bis  etwa  nach  Alexandrowsk  reicht  das  Gebiet  der  Hackbau- Skythen. 
Von  Olbia  den  Bug  aufwärts  wohnen  zunächst  die  Kallipiden,  dann 
die  Alizonen,  und  an  diese  reihen  sich  die  Pflugbau-Skythen  an, 
deren  Nachbarn  die  Neuren  sind;  die  Pflugbau- Skythen  sitzen  also 
in  Südostpodolieu  in  der  Gegend  von  Ulman  im  Gou%'eruement  Kiew. 
Dann  geht  Vogel  ziu"  Betrachtung  der  Funde  und  Gräber  über, 
die  seine  Ansicht  ebenfalls  bestätigen.  Die  eine  Hauptgruppe  er- 
streckt sich  dem  unteren  Dnjepr  entlang  bis  zu  den  Stromschnellen 
und  befindet  sich  auf  beiden  Seiten  des  Flusses.  Die  Königsgräber 
(IV  71)  lassen  sich  noch  in  den  Hügehi  bei  Alexandrowsk  bis  zum 
Buzuluk  erkennen,  während  die  Gräber  der  Hackbau- Skythen  von 
da  bis  Nikopol  und  Borislaw,  also  in  der  Südhälfte  des  großen 
Dnjeprknies  zu  suchen  sind.  Endlich  weist  Vogel  zum  Beweise 
noch  auf  die  Verschiedenheit  der  beiden  Siedlungsgebiete  hinsicht- 
lich der  Bodengestalt,  Bodenbeschaffenheit,  der  Vegetation  und  des 
Klimas  hin;  die  Gegend  um  das  Dnjeprknie,  wo  die  2Kv&at  yecogyol 
wohnen,  gehört  nach  Klima  und  Bodenbeschaffenheit  noch  der  Hirse- 

2* 


20  J-  Sitzler. 

Zone  an,  aber  das  Land  um  Kiew,  die  Heimat  der  ^x.  agov^gesi 
hat  kälteres  Klima  und  eignet  sich  daher  für  den  Anbau  von  Winter- 
weizen (aiTog) ;  jedoch  bauen  ihn  die  Bewohner  ot-jt  STtl  aiTijai, 
all'  hti  TtQiqoi^  sie  verkaufen  also,  wie  die  russischen  Bauern  noch 
heute ,  den  teuren  Weizen  und  nähren  sich  von  der  ßispenhirse. 
tSo  halten  sie ,  was  ihre  Ernährung  betrifft ,  an  der  alten  Lebens- 
weise fest,  gingen  aber  für  Handelszwecke  zum  Pflugbau  über. 

In  der  Frage  über  die  Burgtempel  in  Athen  ist  eine 
Einigung  immer  noch  nicht  ei'zielt.  Zu  meinem  früheren  Bericht 
muß  ich,  wie  ich  aus  Wochenschr.  f.  kl.  Philol.  1917  Sp.  38  er- 
sehe, noch 

Fr.  Groh,  Über  einige  Streitfragen  der  Topo- 
graphie von  Athen.  Listy  filologicke  XXXI  S.  1  f . 
nachtragen,  der  auf  die  Seite  derer  tritt,  die  to  (.liyaqov  xo  Ttgög 
kofrsQTjv  TeTQaf.i(.isvov  (V  77)  auf  das  ältere  Erechtheion  beziehen, 
und  der  Meinung  ist,  daß  die  Ketten  der  böotischen  und  chalki- 
dischen  Gefangenen  an  der  nördHchen  Burgmauer  gegenüber  dem 
westlichen  Teil  dieses  Tempels  aufgehängt  worden  seien.  Dem 
widerspricht 

W.  Dörpfeld,  DasHekatompedon  in  Athen.  Jahrb. 
d.  deutsch.  Archäol.  Instituts  34  (1919)  S.  1  f , 
Nach  ihm  bezeichnet  das  V  72  erwähnte  advTOv,  in  das  der  Dorer 
Kleomenes  nicht  eintreten  durfte ,  und  das  nach  Osten  gerichtete 
Megaron,  in  das  die  Verteidiger  der  Burg  flüchteten  (VIII  53), 
denselben  Tempelraum,  in  dem  das  Bild  der  Athene  stand,  nämlich 
die  östliche  Zella  des  Hekatompedons.  Herodot  kennt  noch  ein 
zweites  nach  Westen  gerichtetes  Megaron  (V  77);  das  war  das 
Schatzhaus  des  Hekatompedons,  wie  Dörpfeld  weiter  ausführt. 
Das  xed^QiTinov  xdly.eov  zum  Andenken  an  den  Sieg  der 
Athener  über  die  Böotier  und  Chalkidier  wurde  nach  Groh  nach 
den  Perserkriegen  vor  den  Mnesikleischen  Propyläen  aufgestellt, 
wahrscheinlich  da,  wo  jetzt  das  Agrippamonument  sich  erhebt. 

Eine  neue  Lösung  der  Frage  über  die  Burgtempel  in  Athen 
versucht 

Fr.  Weilbach,  Der  alte  Athenatempel  auf  der 
Burg.  Jahrb.  d.  deutsch.  Archäol.  Instituts  32  (1917)  S.  105  f. 
Er  vermag  weder  Döfpfeld  zuzustimmen,  der  den  alten  Tempel 
der  Athena  Polias  auf  der  Burg  in  dem  Hekatompedon  erkennt  und 
dieses  bis  zum  Ende  des  Altertums  bestehen  läßt,  noch  dessen 
Gegnern,    die    das    Hekatompedon    am    Ende    des    5.   Jahrh.    vor- 


Bericht  über  Herodot  1915—1920.  21 

schwinden  lassen  und  den  alten  Tempel  der  Inschrift  des  4.  Jahrh. 
und  den  Polias-Tempel  des  Tansanias  im  Erechtheion  wiederfinden 
wollen.  Seiner  Meinung  nach  bestand  der  alte  Tempel  der  Athena 
Polias  neben  dem  Hekatompedon,  Erechtheion  und  Parthenon  noch 
weiter;  er  hatte  mit  dem  Erechtheion  einen  gemeinsamen  Tempel- 
hof, aber  trotzdem  hatte  das  Erechtheion  neben  ihm  eine  relative 
Selbständigkeit,  wie  sich  aus  Herod.  VIII  55  ergibt.  Das  Pandro- 
seion ,  unmittelbar  westlich  vom  Erechtheion ,  wai'  vermutlich  nur 
eine  kleine  Kapelle,  die  sich  auf  den  Tempelhof  öffnete. 

Diese  Ansicht  Weilbachs  erklärt  Dörpfeld  a.  a.  0.,  vgl. 
auch  Archäol.  Anzeiger  1918  Sp.  84  f.,  als  unhaltbar;  er  weist 
nach,  daß  ein  vierter  Tempel  neben  Hekatompedon,  Erechtheion 
und  Parthenon  auf  der  Burg  gar  keinen  Platz  habe  und  von  einem 
solchen  auch  keine  Spur  vorhanden  sei.  In  der  Zeit  vor  den 
Perserki'iegen  habe  es  neben  dem  alten  Hekatompedon  und  dem 
Parthenon  keinen  andern  Tempel  der  Athena  auf  der  Burg  ge- 
geben, wohl  aber  noch  einen  Tempel  des  Erechtheus-Poseidon,  in 
dem  neben  den  Kultmalen  beider  nach  Herod.  VIII  55  auch  der 
heilige  Ölbaum  der  Athena  stand,  und  einen  Tempel  der  Pandrosos 
(Pausan.  I  27,  2).  Das  Hekatompedon  habe  neben  dem  jüngeren 
Parthenon  seinen  Namen  „alter  Tempel"  behalten,  die  Benennung 
Hekatompedon  aber  verloren,  weil  im  Parthenon  die  Zella  allein 
schon  hundertfüßig  war. 

Die  Schlacht  bei  Platää  behandeln : 

1.  J.  Vanök,  Herodot  und  die  Schlacht  bei  Platää. 
Mit  2  Karten.     Listy  filolog.  39  S.  335  f.,  401  f. 

2.  R.  T.  Clark,  Darstellung  des  Feldzugs  von  Pla- 
taiai  479  v.  Chr.  nach  dem  9.  Buch  des  Herodot. 
Hierzu  mehrere  topographische  Skizzen.  Class.  Philology  XII 
(1917)  S.  30  f. 

Keine  der  beiden  Arbeiten  war  mir  zugänglich.  Über  Van  ek 3 
Aufsatz  lese  ich  in  Wochenschr.  f.  klass.  Philologie  1917  Sp.  426  f., 
daß  er  eine  kritische  Prüfung  des  herodotischen  Berichtes  und  der 
modernen  Forschung  über  die  Schlacht  sei  und  den  Versuch  mache, 
den  wirklichen  Verlauf  der  Schlacht  darzustellen;  dafür  bleibe  der 
Bericht  Herodots  die  Grundlage ,  müsse  aber  in  einigen  Punkten 
verbessert  und  ergänzt  werden. 

0.  Viedebannt,  der  früher  schon  das  der  Berechnung  der 
Länge  der  Königsstraße  (V  53  f.)  zugrunde  gelegte  Stadion  fest- 
stellte, vgl.  vor.  Jahresb.  CLXX  (1915.  I)  S.  356,  führt  im  3.  Ex- 


22  J.  Sitzler. 

kurs  zu  seiner  Abhandlung  über  Poseidonios,  Marinos,  Ptolemaios. 
Klio  XVI  S.  94  f.  seine  Untersuchung  weiter;  er  bespricht  hier  die 
aus  Herodot  für  ein  Stadion  von  148,85  m  beigebrachten  Stellen 
und  zeigt,  daß  sie  zum  Beweise  nicht  genügen.  Das  altgeographische 
Stadion  maß  157,5  (159,8)  m. 

in.   Herodots  Leben  und  Gescliiclitsvverk. 

H.  Froidevaux,   Herodots   ägyptische  Reise.    La 

Geographie  29  S.  130  f., 
Stand  mir  nicht  zur  Verfügung. 

Zur  vielerörterten  Frage  der  '^Aoovqloi  Köyoi  äußert  sich 
C.   F.   Lehmann-Haupt,    Satrap.     Pauly-Wiss.- Kroll 

ßealenzukl.  IIA  Sp.  108  f. 
Er  stellt  sich  auf  Seite  derer,  die  glauben,  Herodot  habe  sie  seinem 
Werke  einverleiben  wollen,   sei  aber  daran  gehindert  worden,   vgl. 
vor.  Jahresb.  a.  a.  0.  S.  347  f. ",  sie  enthielten  nach  seiner  Meinung 
vornehmlich  Nachrichten  über  Babylon  und  die  Babylonier. 

Fr.  P fister,    Tacitus    als  Historiker.    Wochenschr. 

f.  klass.  Philol.  1917  Sp.  833  f.,  899  f., 
kommt  S.  899  f.  auch  auf  die  Stellung  zu  sj^rechen,  die  Herodot  in 
der  Historiographie  einnimmt;  er  meint,  unser  Geschichtschreiber 
stehe  am  Endpunkt  einer  langen  Entwicklung,  nicht  aber  am  Anfang 
einer  neuen  als  „Vater  der  Geschichte'".  Dieses  Urteil  wird  der 
Bedeutung  Herodots  in  keiner  Weise  gerecht.  Schon  im  Ethno- 
logisch-Geographischen, worin  er  sich  mit  seinen  Vorgängern  be- 
rührt, schreitet  er  über  sie  hinaus,  indem  er  nüchternen  Empirismus 
an  die  Stelle  ionischer  Spekulation  und  das  wirkliche  Weltbild  an 
die  Stelle  des  konstruktiven  des  Hekataios  setzt ;  ganz  neue  Bahnen 
weist  er  aber  der  Geschichtschreibung  durch  seine  Auswahl  des 
Stoffes,  seine  Art  der  Behandlung  und  Darstellung,  seine  Ver- 
bindung des  Ethnologischen,  Geographischen  und  Historischen  zu 
einem  Gesamtbilde  des  Volkes ,  wodurch  erst  ein  Geschichtswerk 
in  unserem  Sinne  entsteht.  So  führt  er  trotz  aller  ihm  noch  an- 
haftenden Mängel  doch  mit  vollem  Recht  den  Namen  „Vater  der 
Geschichte". 

Daß   Herodots   Geschichtswerk    auch    für   die   Geologie    be- 
deutungsvoll werde,  zeigt 

B.  Schweitzer,  Eine  geologische  Entdeckung  des 

Altertums   und  ihre  Wiederentdeckung  in  neuerer 

Zeit.     Sokrates  VI  S.  342. 


Bericht  über  Herodot  1915—1920.  23 

Er  weist  auf  die  Beschreibung  des  Nillandes  (IT  10 — 12)  hin,  wo 
Herodot  Kenntnis  des  Wesens  der  Versteinerungen  und  der  im 
Laufe  der  Zeit  eingetretenen  Veränderungen  der  Erdoberfläche  ver- 
rät. Diese  kann  nur  das  Ergebnis  genauer  Einzelbeobachtung  und 
darauf  beruhender  Induktionsschlüsse  sein,  und  da  sie  sich  auch 
in  den  rein  deduktiven  Systemen  der  ionischen  Naturphilosophen 
als  Beweismittel  verwendet  findet,  so  schließt  Schweitzer  mit 
Recht,  daß  schon  im  6.  Jahrh.  v.  Chr.  in  lonien  die  Anfänge  der 
exakten  Natur\vissenschaften  vorhanden  waren ,  die  im  Keime  die 
moderne  Geologie  und  Paläontologie  umfaßten.  Darüber  kam  das 
Altertum  und  auch  das  Mittelalter  nicht  hinaus.  Erst  Lionardo 
da  Vinci  hat,  von  Herodot,  dessen  Werk  damals  gerade  in  latei- 
nischer Übersetzung  erschienen  wai*,  angeregt,  das  Problem  wieder 
aufgenommen  und  erfolgreich  weitergeführt  und  ist  so  der  Vater 
der  modernen  Paläontologie  geworden. 

Zu   Herodots    geographischer   Kenntnis    und    An- 
schauung liefert 

J.  Part  seh,  Die  Grenzen  der  Menschheit.    I.  Teil : 

Die    antike    Oikumene.     Ber.    d.   Kgl.    Sachs.  Gesellsch.   d. 

Wiss.  in  Leipzig.  Phil.-hist.  Kl.  Bd.  68  (1916).  2.  Heft.  S.  1  f., 
einen  Beitrag.  Er  macht  darauf  aufmerksam ,  daß  der  Begriff  der 
Oikumene  gewiß  schon  alt  sei,  aber  zufällig  erst  bei  Herodot  zum 
erstenmal  begegne  (III  106  f.).  Herodot  legt  an  dieser  Stelle  dar, 
daß  die  äußersten  Ränder  der  bewohnten  Erde  mit  den  kostbarsten 
Gütern  ausgestattet  seien,  ist  also  noch  vollständig  in  dem  die 
ganze  alte  Welt  beherrschenden  Wahne  von  der  Glückseligkeit 
dieser  Gegenden  befangen.  Dabei  ist  er  sich  aber  „vollkommen 
klar  darüber,  daß  er  die  Grenzen  der  bewohnbaren  Welt  nur  zum 
Teil  kenne,  daß  er  sie  nicht  allseitig  durch  sicher  erkundete  Küsten, 
sondern  vorläufig  durch  dünn  bevölkerte  Landstriche  zu  bezeichnen 
vermöge,  in  denen  die  sichere  Kenntnis  in  allmählichem  Übergang 
verschwimme  mit  dem  Bereich  der  Fabelwelt".  Zu  den  äußersten 
Völkern  gehören  die  Ichthyophagen,  über  die  Herodot  III  19  f- 
spricht;  nach  Parts  ch  sollte  man  diese  Bezeichnung  nicht  mit 
.,Fischesser"  übersetzen,  sondern  eher  mit  „Kostkinder  des  Meeres", 
vgl.  Agatharchides  46:  oi  h.  zt^g  ^aldzTrjg  aixovfxevoi.  Bartsch 
behandelt  ausführlich  diese  auf  der  tiefsten  Kulturstufe  stehenden 
Völkerschaften.  In  Nordafrika  ist  dem  Herodot  die  Zonengliederung 
—  Landbauern  und  Nomaden,  tierreiches  Gebiet,  Wüste  —  m'cht 
entgangen,  vgl.  IV  181.  185.   II  32. 


24  J.  Sitzler. 

Unsere  Kenntnis  der  Quellen  Herodots  fördern : 

1.  A.  Hausrath,  Die  ionische  Novellistik.  N.  Jahrb. 
f.  d.  klass.  Altertum  1914  S.  441  f. 

2.  C.F.Lehmann-Haupt,  Pausanias,  Heros  Ktistes 
von  Byzanz.     Klio  XVII  S.  59  f. 

3.  H.  Pomptow,  Delphische  Neufunde  III.  Klio  XV 
S.  303  f. 

4.  W.  W.  How,  Cornelius  Nepos  on  Marathon  and 
Paros.     Journal  of  Hell.  Studies   XXXIX  (1919)   S.  48  f. 

5.  A.  G.  Laird,  The  source  of  Herodotus'  know- 
ledge  of  Artabazus.  In  Class.  Studies  in  honour  of 
Ch.  Forster  Smith  by  his  colleagues.  University  of 
Wisconsin  Studies  in  Language  and  Literature  N»  3.    1919. 

Hausrath  ist  der  Meinung,  daß  bei  Herodot  noch  unver- 
stümmelte  Proben  der  ionischen  Novellistik,  der  Erzählungen  der 
koyoTtoiol  vor  dem  Volke  in  der  Lesche,  vorhanden  sind,  und  zwar 
in  vollendeter  Technik,  ein  Beweis  dafür,  daß  sie  auf  einer  lang- 
jährigen Übung  beruhen.  Dahin  rechnet  er  die  Erzählung  vom 
Ursprung  der  Skythen  (IV  8 — 10),  für  welche  die  Augenbhcks- 
motivierung  bezeichnend  sei ,  daß  Herakles  zwei  Bogen  mit-,  sich 
führe.  Auf  dieser  ionischen  Novellistik  baut  sich  nach  Hausrath 
Herodots  Erzählerkunst  auf,  so  in  den  Geschichten  von  Gyges  und 
Kandaules,  von  Kypselos  und  Periander,  von  der  Brautwerbung  des 
Hippokieides  und  vom  Meisterdieb.  Das  Charakteristische  dieser 
Erzählerkunst  findet  er  in  der  Freude  am  Gegenständlichen,  in  der 
naiven  Unbekümmertheit,  mit  der  alle  Züge  bis  ins  Märchenhafte 
gesteigert  sind ,  in  der  liebevollen  Versenkung  ins  Detail  und  in 
der  heiteren  Lebenslust  und  Frische  des  Erzählers.  Das  Interesse 
haftet  ganz  am  Stofflichen ;  bei  dem  Bestreben ,  möglichst  viele 
wunderbare  Geschichten  auf  eine  Persönlichkeit  zu  häufen ,  wird 
ihre  einheitliche  Charakterisierung  nicht  einmal  angestrebt.  Die 
sprachliche  Form  dieser  Erzählungen  ist  die  ke^tg  €iQO/.tevr]  der 
älteren  Prosa.  Als  weiteres  Kennzeichen  kommt  noch  die  naive 
Freude  am  Geschlechthchen  hinzu,  so  in  den  Träumen  des  Astyages 
(I  102.  108),  in  den  Worten  des  Schattens  der  Melissa  an  Periander 
(V  97,  7),  in  der  Aufklärung,  die  Demaratos  von  seiner  Mutter 
über  seine  Geburt  erhält  (VI  68.  69). 

Lehmann-Haupt  wendet  sich  S.  62  Anm.  3  und  S.  63  Anm,  1 
gegen  Beloch,  der  in  seiner  griechischen  Geschichte  II ^  2  S.  61  f. 
die  Schlangensäule  (Herod.  IX  81)  als  alleinige  Quelle  für  Herodots 


Bericht  über  Herodot  1915—1920.  25 

Angaben  über  die  Beteiligung  der  Griechen  an  den  Kämpfen  bei 
Artemision,  Salamis  und  Platää  annimmt,  und  zeigt,  daß  Herodot 
noch  andere  Quellen  gehabt  haben  müsse.  Ob  freilich  unter  diesen. 
wie  er  meint,  Dionysios  von  Milet  war,  muß  dahin  gestellt  bleiben, 
da  überzeugende  Beweise  dafür  bis  jetzt  nicht  beigebracht  werden 
konnten, 

Pomptow  behandelt  den  Text  des  Presbeutikos  im  Pseudo- 
hippokratischen  Korpus  und  stellt  in  ihm  eine  Quelle  für  den  ersten 
Heiligen  Ki'ieg  fest,  die  älter  ist  als  Herodot. 

How  kommt  in  seiner  Untersuchung  zu  dem  Ergebnis,  daß 
Herodot  glaubwürdiger  als  Cornelius  Nepos  sei ,  der  sich  auf  den 
ganz  unzuverlässigen  Ephoros  stütze. 

Lairds  Abhandlung  war  mir  nicht  zugänglich. 

Abhängigkeit  des  Sophokles  von  Herodot  nimmt 
Max  C.  P.  Schmidt  Berl.  phil.  Wochenschr.  1916  Sp.  86 
in  der  Beschreibung  der  Höhle  des  Philoktet  auf  Lemnos  an ;  dabei 
sei  dem  Dichter  nämlich  die  Schilderung  des  Tunnels  des  Eupahnos 
auf  Samos  (Herod.  III  60)  vorgeschwebt.  Er  vergleicht  OQvyficc 
af.tq)iaTOua  mit  diorof-iog  nixqa  und  ^i  a/LKfiTg^rog  avXiov.  Frei- 
lich sei  die  Höhle  von  Osten  nach  Westen,  der  Tunnel  von  Norden 
nach  Süden  gerichtet,  aber  dies  stehe  seiner  Annahme  kaum  im 
Wege.  Wenn  man  für  Sophokles'  Beschreibung  ein  Vorbild  suchen 
müßte ,  was  ich  für  überflüssig  halte ,  so  scheint  es  mir  näher  zu 
liegen,  an  die  Hom.  v  103  f.  geschilderte  Höhle  beim  Phorkys-Hafen 
in  Ithaka  zu  denken,  der  auch  zwei  Eingänge,  ein  nördlicher  und 
ein  südlicher,  gegeben  werden. 

Zum  Schlüsse  erwähne  ich  noch: 

Marj^  V.  Young,  Apology  f or  Herodotus.    Colonnade 
1916  (August). 

Stand  mir  nicht  zur  Verfügung. 

G.  Raddatz,  Herodots  Bedeutung  für  die  Gegen- 
wart.    Deutsches  Philologenblatt  1916  Nr.  23. 

R.  Herrle,  Eine  pädagogische  Auswertung  Hero- 
dots.    N.  Jahrb.  f.  klass.  Altert.  XXIII.  2.  Abt.  S.  206  f. 
Empfehlenswerte    Ratschläge    für    die    Herodotlektüre    in    der 
Schule. 


fiericht  über  die  griechiscben  Lyriker  (mit  Ausnalime  des 

Pindar  und  Bakchylides),  die  Bukoliker,  die  Antiiologia 

Palatina  und  die  Epigrammsammlungen  für  1917—1920. 

Von 

J.  Sitzler  in  Freibui-o-  i.  Br. 


Vorbemerkung. 

Die  ausländischen  Zeitschriften  konnten  nur  in  geringem  Um- 
fange benutzt  werden;  der  Inhalt  der  darin  erschienenen  Arbeiten 
wurde  soweit  als  möglich  wenigstens  aus  zweiter  Hand  angegeben. 


A.   Arbeiten,  die  sieb  auf  das  ganze  Gebiet 
erstrecken. 

An  Ausgaben  liegt  nur 

Anthologie  aus  den  grie  chischen  Lyrikern.  Nach 
Text  und  Kommentar  getrennte  Ausgabe  für  den  Schulgebrauch 
von  Fr.  Buch  er  er.  Gotha  1920.  Text:  VI  u.  90  S.,  Kom- 
mentar: 97  B. 

in  zweiter  Auflage  vor.  Sie  ist  zwar  für  den  Schulgebrauch  be- 
stimmt, bringt  aber  auch  einige  beachtenswerte  Textverbesserungen 
und  neue  Erklärungen.  Beigefügt  ist  ihr  jetzt  noch  als  Anhang 
eine  Auswahl  aus 

Theokrit    und    Herondas,     ebenfalls    nach    Text    und 
Kommentar  getx-ennt,  je  19  S., 
Theokrit  lU,  VII,  XI  und  XV,  Herondas  III  enthaltend. 

Auch    die    Sprache    der   Lyriker    berücksichtigen    nur    zwei 
Arbeiten : 

G.  Sand  Joe,    Die  Adjektive    auf  ai.og.     Studien   zur 

griechischen  Stammbildungslehre.  Diss.  Uppsala  1918.  115  S.,  und 

K.  Svoboda,  Die  verschränkte  Wortstellung  der 

Substantiva  und  Adjektiva  bei  den  alten  Dichtern. 

Listy  filol.  XLIV  (1917)  S.  21  f.  und  95  f. 


28  J-  Sitzler. 

Sandjoe  geht  von  Wortbildungen  nach  der  Art  des  ai.  deya 
aus,  wie  ßlmog,  ayatog,  STtiyaiog,  und  leitet  davon  die  Gruppe  der 
mit  den  ä- Stämmen  zusammengehörigen  Adjektiven  auf  aiog  ab.  Die 
bei  den  Lyrikern  vorhandene  Zahl  solcher  Adjektive  ist  nur  klein. 

S  V  0  b  o  d  a  weist  darauf  hin ,  daß  die  Redner  der  asiatischen 
Richtung,  die  alexandrinischen  Dichter  und  die  griechischen  und 
römischen  Dichter  der  Kaiserzeit  darauf  ausgingen ,  jedem  Sub- 
stantiv ein  Adjektiv  beizufügen,  um  so  den  Ausdruck  voller  und  die 
Satzglieder  symmetrisch  zu  machen.  Er  mustert  diese  Erscheinung 
von  Homer  an  bis  auf  die  Kaiserzeit  herab  durch.  Dabei  zeigt  sich 
nicht  nur  bei  den  lateinischen  Dichtern,  sondern  auch  schon  in  der 
alexandrinischen  Poesie  eine  unnatürliche,  gekünstelte  Wortstellung, 
die  nach  ihm  auf  die  Gewohnheit  der  Elegiker  zurückgeht,  Substantiv 
und  zugehöriges  Adjektiv  vor  die  Hauptzäsur  und  an  das  Versende 
zu  stellen.  Aus  diesem  Streben  erklärt  sich  auch  die  Hypallage  des 
Adjektivs  sowie  der  Gebrauch  eines  Adjektivs  statt  eines  Adverbs. 

Zahlreicher  sind  die  Arbeiten,  die  sich  mit  Rhythmik  und 
Metrik  beschäftigen.  Zunächst  ist  es  die  Bedeutung  des  Wortes 
Rhythmus,  die  man  festzustellen  sucht.     Hierher  gehören: 

1.  0.  Sehr oe der,  "Pvd^^og.     Hermes  53  (1918).    S.^324f. 

2.  Fr.  Novotny,  ^Pvi^(.i6g.  Ein  semasiologischer  Beitrag. 
Listy  filolog.  XLV  (1918).    S.  328  f. 

3.  Th.  Plüß,  Die  Deutung  des  Wortes  Rhythmus 
nach  griechischer  Wortbildung.  Wochenschr.  f.  kl. 
Philologie  1920  Sp.  18  f. 

Über  die  Bedeutung  des  Wortes  qvd^^og  hat  schon  E.  Petersen 
in  den  Abhandlungen  d.  kgl.  Gesellschaft  d.  Wiss.  zu  Göttingen 
phil.-hist.  Kl.  N.  F.  Nr.  5  (1917)  S.  9  f.  gesprochen.  Die  Erörterung 
setzt  0.  Schroeder  fort.  Er  untersucht,  wie  das  Wort  bei  den 
griechischen  Schriftstellern  (Archiloch.  66.  Anakreon  7-1.  Theognis 
964  vergHchen  mit  Herodot.  VI  128.  Aeschyl.  fr.  78  N^)  gebraucht 
ist,  und  findet,  daß  seine  metaphorische  Anwendung  auf  die  Vor- 
stellung von  der  Bewegung  des  Meeres  bzw.  eines  flüssigen  Ele- 
mentes zurückgeht:  „Gewoge,  Taktschlag";  es  liege  demnach  der 
Begriff  eines  in  sich  gegliederten  und  motivartig  sich  wiederholenden 
Gebildes  darin.  Dem  widerspricht  Novotny,  aber  was  er  selbst 
zur  Erklärung  beibringt ,  genügt  nicht  5  er  meint  nämlich ,  Qvd^fiog 
bedeute  nicht  nur  „das  Rinnen",  sondern  auch  den  Ort  des  Rinnens, 
„den  Wasserweg",  woraus  sich  dann  die  allgemeine  Bedeutung 
„Bahn,  Ordnung"  entwickelt  habe.    Aber  die  Bedeutung  „Wasser- 


Bericht  über  die  griechischen  Lyi-iker  usw.  für  1917 — 1920.         29 

weg'',  „Bahn",  „OrdnuDg"  für  Qvi>f.i6g  läßt  sich  einerseits  nicht  be- 
legen, andererseits  reicht  sie  nicht  aus,  da  gerade  der  Begriff  des 
Geregelten,  Wiederkehrenden,  der  für  den  metaphorischen  Gebrauch 
wesentlich  ist,  darin  fehlt.  Plüß  geht  von  der  Betrachtuno-  der 
Endung  -i^fiog  (ai^og)  aus  im  Anschluß  an  F.  S  o  1  m  s  e  n  in  Kuhns 
Ztschr.  f.  vgl.  Sprachwissenschaft  XXIX  117  f.  In  dieser  Endung 
kommt  nach  ihm  der  Begriff  des  geregelt  Wiederholten  zum  Aus- 
druck; Qvd^fuog  bezeichnet  also  die  ebenmäßig  gegliederte  Bewegung. 
Über  den  Rhythmus  im  Verse  handelt 

P.  von  der  Mühll,  Der  Rhythmus  im  antiken  Vers. 

Vortrag    gehalten     auf    d.     55.    Jahresversammlung    d.    Vereins 

Schweizerischer  Gyinnasiallehi-er  in  Baden.     Aarau   1918.     20  S. 

(^=  46.  Jahrb.  d.  Vereins  Schweiz.  Gymnasiall.). 

Er  nimmt  den  sog.  Auftakt  in  Schutz,  betrachtet  die  beiden  Kürzen 

im  Choriambus  als  daktylische  Senkung  —  die  metrischen  SchoHen 

sprechen    von    daxri'Aog  Jtat   avllaß?j  —   und    erklärt    sich   gegen 

silbenzählende    Verse    im    Griechischen ,    selbst   bei   den    äolischen 

Dichtern :  lauter  Dinge,  denen  ich  nicht  beistimmen  kann.    Richtig 

und    zeitgemäß  ist  aber  die  Mahnung,    die  er  gibt,    daß  man  beim 

Lesen  der  Verse  die  Länge,  auch  wenn  sie  unter  dem  Iktus  steht, 

als  Länge  zum  Ausdruck  bringen  müsse.    Das  Bestreben  der  Dichter, 

das  man  in  seinen  Anfängen  schon  bei  Homer  wahrnimmt,  dasselbe 

Wort  in  demselben  Verse  rhythmisch  zu  variieren,  legt  er  klar  und 

anschaulich  dar. 

Die  Lösung  einzelner  metrischer  Fragen  versuchen : 

1.  E.  Fränkel,  Lyrische  Daktylen.  Rhein.  Museum  72 
(1918)  S.  161  f.,  321  f. 

2.  K.  Münscher,  Metrische  Beiträge.  I.  Das  Ithy- 
phallikon  —  ein  Vier  hebe  r.  Hermes  54(1919)  S.  If.  — 
II.  Erstarrte  Formen  im  Versbau  der  Aioler. 
Ebenda  56  (1921)  S.  66  f. 

3.  H,  Draheim,  Bildliche  Darstellung  des  Vers- 
und  Strophenbaues.  Wochenschr.  f.  klass.  Phüol.  1919 
Sp.  214  f. 

Fränkel  stellt  im  1.  Abschnitt  des  ersten  Teiles  seiner  Unter- 
suchungen das  Allgemeine  über  daktj^lische  Verse  zusammen  und 
bespricht  die  rein  daktylischen  Lieder.  Im  2.  Abschnitt  behandelt 
er  die  iambisch-daktylischen,  im  3.  die  trochäisch-daktylischen  Lieder. 
Daran  schließt  sich  ein  Exkurs ,  der  sich  mit  den  QvÜ^f.tiKOi  bei 
Dionysios    von  Halikarnass    über    die  Daktylen   beschäftigt.     Diese 


30 


J.  Sitzler. 


stehen  zu  Aristoxenos  und  der  von  ihm  beheiTSchten  Vulgata  der 
rhythmischen  Theorie  des  Altertums  im  Gegensatz;  sie  betrachten 
die  Verse  des  Stesichoros ,  die  mit  zwei  Kürzen  beginnen  und 
daktylisch  weitergehen,  als  Daktylen  und  nehmen  auch  die  aloyoi, 
in  ihnen  an,  trennen  sie  also  von  den  echten  Anai^ästen.  Der  zweite 
und  dritte  Teil  untersucht  die  iambisch-daktylischen  und  trochäisch-. 
daktylischen  Eeihen. 

Im  einzelnen  führe  ich  daraus  an,  daß  Frank el  das  alkäische 
Dekasyllabon  für  daktylisch  hält,  indem  er  in  dem  letzten  Trochäus 
einen  verkürzten  Daktylos  erblickt.  In  dem  archilochischen  Verse 
toXoQ  yctQ  ffiXoTYjTOs  '/.zL  (fr-  103)  nimmt  er  4  +  5  Hebungen  an. 
Das  Praxilleion  (und  Archebuleion)  betrachtet  er  als  ein  um  einen 
Daktylos  erweitertes  alkäisches  Dekasj^llabon.  Ferner  läßt  er  beim 
alkäischen  Dekasyllabon  eine  Vorsilbe,  beim  iambischen  Monometron 
und  DimetroD  eine  Nachsilbe  zu-,  auch  Daktjden  läßt  er  mit  Vor- 
silben versehen  sein,  selbst  in  dem  Falle,  wenn  sie  mit  Nachsilbe 
schließen.  Ebenso  glaubt  er  an  richtig  fallende  Daktylen  mit  3, 
5  und  7  Hebungen.  Die  Daktyloepitriten  erklärt  er  nach  Herkunft 
und  Gestalt  für  Daktylen.  Alle  diese  Annahmen  sind  unhaltbar, 
vgl.  0.  S  c  h  r  0  e  d  e  r  Berl.  phil.  Wochenschrift  1919  Sp.  776  f.  Aber 
die  Abhandlung  enthält  auch  viel  Gutes  und  Richtiges,  was  ich  aus- 
drücklich erwähne,  um  kein  unrichtiges  Urteil  über  sie  aufkommen 
zu  lassen.     Die  freiere  E,esponsion  läßt  der  Verf.  zu. 

M  ü  n  s  c  h  e  r  leitet  das  Ithyphallikon  aus  dem  Lekythion  ab  ; 
es  ist  also  wirklich  ein  Vierheber,  wie  es  ja  auch  von  den  ionischen 
und  äolischen  Dichtern  gebraucht  wird.  Im  2.  Abschnitt  seiner 
Arbeit  behandelt  M  ü  n  s  c  h  e  r  ausführlich  das  Glykoneion ,  Ana- 
kreonteion,  Enhophon,  Telesilleion  und  Reizianum,  insofern  diese 
erstarrten  Formen  zur  Versbildung  benutzt  werden. 

D  r  a  h  e  i  m  stellt  die  alkäische  und  sapphische  Strophe  graphisch 
dar,  um  sie  dem  Auge  noch  deutlicher  zu  machen  als  durch  die 
metrischen  Schemata. 

Eine  Geschichte  der  griechischenLyrik  erschien  von 
E.  Bethe,  Griechische  Lyrik.  Aus  Natui' und  Geiste s- 
welt  Bd.  736.  Leipzig  1920.  104  S. 
Das  Buch  ist  für  einen  größeren  Leserkreis  geschrieben,  wie  man 
schon  daraus  ersieht,  daß  es  der  Sammlung  „Aus  Natur  und  Geistes- 
welt" angehört.  Die  auf  uns  gekommenen  biogi^aphischen  Notizen, 
die  zum  Teil  unsicher  oder  auch  geradezu  unrichtig  sind,  treten 
zurück  5  dagegen  war  der  Verf.  bestrebt,  die  großen  Lyriker  um  so 


Bericht  über  die  griechischen  Lyriker  usw.  für  1917 — 1920.         31 

schärfer  und  anschaulicher  zu  zeichnen,  wozu  er  auch  besonders 
bedeutsame  Verse  aus  ihren  Gedichten  in  Übersetzung  benützt. 
Daß  bei  Stesichoros  ein  Hinweis  auf  seine  bukolischen  Gedichte 
fehlt,  erklärt  sich  wohl  daraus,  daß  diese  streng  genommen  nicht 
zur  Lyrik  gerechnet  werden  können ;  aber  auf  die  Verdienste  des 
Simonides  um  die  Ausbildung  des  Epigramms  hätte  nachdrücklicher 
hingewiesen  werden  sollen.  Die  LjTik  läßt  der  Verf.  aus  dem 
Rhythmus  entstehen;  aber  der  Rhythmus  ist  doch  nur  die  Form, 
die  sie  sich  zu  ihrem  Ausdruck  schafft;  üiren  Inhalt  bilden  die 
Gefühle  und  Empfindungen  des  menschlichen  Herzens,  und  das  Be- 
dürfnis, diese  zu  äußern  und  mitzuteilen,  erzeugt  sie.  So  entsteht 
die  Lyrik,  ebenso  wie  die  andern  Arten  der  Poesie,  wie  die  Musik 
und  Orchestik  und  auch  andere  Kunstschöpfungen ;  sie  alle  kleiden 
sich  in  rhjH:hmische  Formen,  jede  ihrem  inneren  Wesen  entsprechend. 
Auch  sonst  fordert  die  und  jene  Meinung  des  Verf.  den  Wider- 
spruch heraus,  so  wenn  er  in  Archilochos  auch  einen  gemütlichen 
Erzähler  sieht ,  wenn  er  dem  Alkäos  jedes  höhere  Streben  ab- 
spricht, wenn  er  die  2.  Ode  der  Sappho :  (paivExai  (.toi  x^vog  l'oog 
d^Eoloiv  xtA.  trotz  Form  und  Inhalt  für  ein  Hochzeitslied  erklärt, 
wenn  er  behauptet,  die  Sänger  seien  bei  Homer  in  geringer  Achtung 
gestanden,  wenn  er  Archilochos,  Mimnermos,  Hipponax  die  Dicht- 
kunst zum  Erwerb  ausüben  läßt,  wenn  er  behauptet,  die  kriegerische 
Elegie  sei  unter  dem  Namen  des  Tyrtäos  zusammengefaßt  und  seine 
Verse  unpersönlich  findet  u.  a.  m.  Unrichtig  ist  die  Angabe,  daß 
Aristodamos,  von  dem  das  Wort  yf^Qr^^iax  avtJQ  stammt  (Alkäos  49), 
der  bekannte  Spartanerkönig  gewesen  sei;  Find.  J.  II  17  nennt  ihn 
einen  Argiver  und  charakterisiert  ihn  als  -/.zedvcüv  d'  a^ia  Xeicfd^eig 
y.ai  q)LXcüv,  vgl.  auch  Schol.  zu  d.  Stelle.  Er  war  einer  der  Sieben 
Weisen,  vgl.  F.  E.  Bohren,  De  septem  sapientibus.  Diss.  Bonn 
1867  S.  30.  Sapph.  -34  /.axagig  bedeutet  nicht  ., anmutlos",  sondern 
övTtco  ya(.uüv  e'xovaav  coQav,  wie  Plut.  erot.  5  erklärt.  Aus  Bakchyl. 
V  16  f.  geht  nicht  hervor,  daß  sieh  der  Dichter  mit  einem  Adler 
vergleicht;  nur  sein  Gebiet  ist  so  weit  wie  das  des  Adlers.  Un- 
schön und  für  die  Mädchen  wenig  schmeichelhaft  ist  Alkman  23,  47 
die  Übersetzung:  ein  Rennpferd  unter  die  Kuhherde.  Ein  Versehen 
ist  Korinna  1  unterlaufen;    der  Sieger  ist  Kithäron,  nicht  Helikon. 

Für  die  Schule  bestimmt  ist 

K.  Belau,  Griechisch-römische  Lyrik  in  ihren 
Beziehungen  zur  Gegenwart.  Monatsschrift  f.  höhere 
Schulen  17,  S.  347  f. 


32  J-  Sitzler. 

Der  Verf.  zeigt,  wie  die  griechisch-römischen  L}'Tiker  im  Anschluß 
an  den  Weltkrieg  zur  Belebung  der  Vaterlandsliebe  verwertet  werden 
können,  und  fügt  zum  Beweis  Übersetzungen  aus  Kallinos,  T3rrtäos, 
Simonides,  Theognis,  Solon,  Bakchylides,  Archilochos  (CatuU,  Ovid, 
Martial)  bei. 

Schließlich  erwähne  ich  noch 

H.  Blümner,  Die  Schilderung  des  Sterbens  in 
der  griechischen  Dichtkunst.  N.  Jahrb.  f.  d.  klass.  Alter- 
tum XXXIX  (1918)  S.  499  f. 
Aus  seinen  Darlegungen  ersieht  man,  wie  wenig  Material  zur  Be- 
handlung dieser  Frage  die  Lyrik  liefert  und  wie  auch  dieses  wenige 
sich  ganz  in  den  Formeln  des  Epos  hält.  Etwas  Neues  bringt  nur 
Tyrt.  X  23  f.,  wo  geschildert  wird,  wie  der  Sterbende  mit  seiner 
Hand  nach  seiner  Scham  greift,  wie  Blümner  mit  andern  meint, 
um  auch  im  Tode  den  Anstand  zu  wahren,  in  Wahrheit,  weil  sich 
die  Verwundung  an  dieser  Stelle  befindet,  wie  die  Beifügung  von 
aifAazoevTa  zu  alddla  zeigt.  Theokrit  behandelt  den  Tod  des 
Daphnis  nur  kurz  und  den  des  Pentheus  (XXVI)  im  Anschluß  an 
Euripides  Bakchen  in  der  gewöhnlichen  Weise.  Bion  weiß  in  seiner 
Beschreibung  des  toten  Adonis  alles  Häßliche  und  Abstoßende  zu 
vermeiden. 

B.   Die  eiiizehien  Gattungen  der  Poesie. 
I.   Elegiker  uud  Jam1)ographeii. 

Kallinos. 

Fr.  5.    Strabon  XIII  627  überliefert,  daß  sich  Kallisthenes  für 

seine  Angabe,  Sardes  sei  schon  vor  seiner  Eroberung  durch  Kyros 

zweimal  eingenommen  worden,  das  erste  Mal  von  den  Kimmeriern, 

das  zweite  Mal  von  den  Treren  und  Lykiern,  auf  Kallinos  berufen 

habe.    Man  hat  die  Richtigkeit  dieser  Angabe  angezweifelt;  jetzt  tritt 

C.  F.  Lehmann-Haupt,  Zur  Chronik  der  Kimmerier- 

e  in  fälle,     a)  Der  Tod  des  Gyges.    Klio  XVII  S.  119,  11 

dafür  ein  und  weist  sie  als  durchaus  einwandfrei  nach.    Vgl.  auch 

Pauly-Wissowa-KroUs  Realenzyklop.  s.  v.  EÜmmerier  Sp.  418  §  37. 

Ar  chilo  cho  s. 

L.Weber,  ^YKAEmEPMHL    L     Philologus  74  S.  92  f. 

behandelt  fr.  6  und  74.    Fr.  6  hält  er  für  ein  Epigi-amm,  worin  ich 

ihm   nicht    beistimmen  kann.     Zur  Zeit  des  Archilochos  waren  die 

Epigramme  wirkliche  Aufschriften ;  worauf  sollen  aber  unsere  Verse 


Bericht  über  die  griecliisclien  Lyriker  usw.  für  1917 — 1920.         33 

eine  Aufschrift  sein?  Dagegen  hat  er  recht,  wenn  er  Vv.  3  f.  die 
Fassung  des  Aristophanes ,  die  von  den  bei  Bergk  *  angeführten 
Schriftstellern  bestätigt  und  ergänzt  wird,  der  des  Plutarchos  und 
Sext,  Empir.  vorzieht,  wie  es  schon  andere  vor  ihm  getan  haben; 
nur  muß  man  dann  tL  ixol  f.UXei  aortig  i'/.elv7]  verbinden ,  damit 
iQQiTiü  kräftig  hervortritt.  —  Fr.  74  sind  nach  Weber  nicht  Worte 
des  Lykambes,  trotzdem  Aristoteles  dies  ausdrücklich  sagt,  sondern 
Worte  des  Dichters  selbst.  Ich  glaube  nicht,  daß  sich  das  Zeugnis 
des  Aristoteles  so  leicht  abtun  läßt,  zumal  da  wir  von  dem  Gedichte 
nichts  weiter  erhalten  haben.  Webers  Rekonstruktion  des  Ge- 
dankengangs kann  keinen  Ersatz  für  diesen  Verlust  bieten.  Neue 
Vermutungen  zur  Verbesserung  des  Textes  werden  nicht  vorgebracht. 

S  emonide  s. 
J.  Sitzler   in    der  Philolog.  Wochenschrift  1921  Sp.  1053  f. 
bespricht  fr.  1,  9  f.,  12  und  15  f.    und    schlägt  Verbesserungen   zu 
diesen  Versen  vor. 

Tyrtäos. 

Zu  Tyrtäos  liefern  Beiträge: 

1.  F.Klnge,  TvQTalog.    Indogerm.  Forsch.  XXXIX  S.  129. 

2.  F.  Jacoby,    Studien  zu  den  älteren  griechischen 
Elegikern.    I.  Zu  Tyrtäos.    Hermes  LIII  (1918)  S.  1  f. 

Kluge  wül  den  Namen  Tyrtäos,  über  dessen  Herleitung  und 
Bedeutung  Dunkel  schwebt,  als  „der  Vierte"  deuten,  was  sowohl 
nach  der  Form  als  der  Bedeutung  wenig  wahrscheinlich  ist.  Jacoby 
und  E.  Fränkel  in  einem  Briefe  an  Jacob}^  nehmen  richtiger 
kleinasiatischen  Ursprung  des  Namens  an ,  da  der  Dichter  aller 
Wahrscheinlichkeit  nach  von  dorther  nach  Sparta  kam.  Wenn  aber 
Jacoby  zur  Stütze  dieser  Vermutung  behauptet,  daß  Namen  von 
Menschen  auf  aiog  in  Lakonien  fehlten,  so  trifft  das  nicht  zu-,  auch 
hier  kommen  solche  vor,  wenn  auch  selten,  vgl.  Kleoöaiog,  Bevaiog 
auf  einer  Inschrift,  Tifuaia  die  Gemahlin  des  Königs  Agis.  Ebenso- 
wenig läßt  sich  mit  der  Sicherheit ,  wie  es  Jacoby  tut ,  sagen, 
daß  Tyrtäos  seinen  Namen  in  seinen  Gedichten  nicht  genannt  habe. 
Solon  hat  dies  getan  und  auch  Theognis. 

Über  die  Lebensumstände  des  Tyrtäos  sind  wir  nur  ganz 
mangelhaft  unterrichtet.  Die  paar  auf  uns  gekommenen  Notizen 
bespricht  Jacoby,  ohne  an  sicheren  Ergebnissen  über  das  schon 
Bekannte  hinauszukommen.  Den  Angaben  der  Alten  steht  er  zu 
skeptisch  gegenüber,  weü  er  von  der  Meinung  beherrscht  wird, 
sie    hätten   nur   aus    den  Gedichten    geschöpft.     Angenommen  nun, 

Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft.    Bd.  191  (1922.  I).  3 


34 


J.  Sitzler. 


daß  dem  wirklich  so  wäre,  so  lagen  diese  ihnen  immerhin  in  voll- 
ständigerem und  ursprünglicherem  Zustande  vor,  so  daß  sie  richtigere 
Schlüsse  daraus  ziehen  konnten.  Aber  dazu  kam  dann  noch,  was  an 
mündlicher  Überlieferung  über  ihn  in  Sparta  weiterlebte.  Demnach 
darf  man  den  Nachrichten  der  alten  Schriftsteller  den  Glauben  nur 
versagen,  wenn  gewichtige  Gründe  gegen  sie  sprechen.  Die  Be- 
schenkung  des  Tyrtäos  mit  dem  lakonischen  Bürgerrecht  ist  gut 
bezeugt,  an  sich  glaubhaft  und  außerdem  durch  die  erhaltenen  Bruch- 
stücke bestätigt.  Aber  wenn  er  auch  nicht  spartanischer  Bürger 
wurde,  besaß  er  als  in  der  Not  von  ihnen  herbeigerufener  Helfer 
die  Berechtigung,  sich  als  zu  ihnen  gehörig  zu  betrachten  und 
autoritätvoll  sich  an  sie  zu  wenden.  Ein  Grund,  ihm  die  Eunomia 
und  die  andern  aus  der  Zeit  des  Messenierkrieges  stammenden 
Stücke  abzusprechen,  liegt  nicht  vor.  Die  Überlieferung,  daß  er 
Stratege  gewesen  sei,  war  ursprünglich  gewiß  nicht  in  militärischem 
Sinne  gemeint,  sondern  nur  in  moralischem,  weil  er  sie  wieder  zu 
mutigem,  siegreichem  Kampfe  führte.  Die  Analogie,  die  Jacoby 
aus  der  Stellung  des  Tisamenos  (Herod.  IX  33)  für  Tyrtäos'  Stellung 
in  Sparta  entnehmen  will,  paßt  insofern  nicht,  als  Tyrtäos  kein 
uavTig  war  wie  Tisamenos;  er  konnte  nur  durch  seine  anfeuernden 
und  begeisternden  Lieder  wirken.  Was  übrigens  die  Geschichte 
des  Tisamenos  und  seines  Bruders  selbst  betrifft,  so  erklärt  sie 
Jacoby  für  wertlos,  da  sie  aus  eleischer  Quelle  stamme;  nach 
seiner  Meinung  beweist  sie ,  daß  Herodot  von  der  Herleitung  des 
Tyrtäos  aus  Sparta  nichts  wußte.  In  WirkUchkeit  zeigt  sie ,  daß 
Herodot  unsern  Dichter  entweder  für  einen  Spartaner  hielt  oder 
ihn  überhaupt  nicht  kannte;  vgl.  Mac  an  zu  Herodot  IX  35,  5. 

In  der  Beurteilung  der  unter  dem  Namen  des  Tyrtäos  er- 
haltenen Verse  schließt  sich  Jacoby  an  Wilamowitz  und 
Reitzenstein  an,  geht  im  einzelnen  aber  weiter.  Sie  stammen 
nach  ihm  aus  einer  im  4.  Jahrhundert  in  Athen  unter  dem  Namen 
des  Tyrtäos  im  Umlauf  befindlichen  Sammlung.  Diese  geht  seiner 
Meinung  nach  auf  eine  alte  den  Namen  des  Tyrtäos  tragende 
Sammlung  zurück,  die  in  Sparta  entstand  und  die  lakonische 
Kriegspoesie,  mindestens  die  Elegie,  enthielt,  war  aber  durch 
Interpolation  und  Umarbeitung  völlig  verändert.  In  dieser  ver- 
änderten Gestalt,  glaubt  er,  sei  dann  die  Sammlung  wieder  nach 
Sparta  zurückgekommen,  wo  mittlerweile  Tyrtäos  vollkommen  ver- 
gessen gewesen  sei.  Als  altspartanische  Stücke  aus  der  Zeit  des 
großen  Messenieraufstandes  betrachtet  er  die  Eunomia  und  ein 
Gedicht,  das  unter  Hinweis  auf  die  langwierige  Eroberung  Messeniens 


Bericht  über  die  griechischen  Lyriker  usw.  für  1917 — 1920.         35 

unter  König  Theopompos  zum  Ausharren  auch  im  gegenwärtigen 
Krieg  mahnte. 

Über  die  Gründe,  welche  die  Athener  veranlaßt  haben  mochten, 
ein  solches  Tyrtäosbuch  herzustellen,  ergeht  sich  Jacoby  in  aus- 
führlichen Erwägungen,  die  ihn  schließlich  auf  die  lakonierfreund- 
Hchen  Kreise  Athens  führen.  Doch  sieht  man  nicht  recht  ein, 
welchen  Zweck  diese  damit  verfolgt  haben  soUten.  Die  Spartaner 
kümmerten  sich  ja,  wie  Jacoby  meint,  so  wenig  um  Tyrtäos, 
daß  sie  ihn  ganz  vergessen  hatten.  Freilich,  gerade  an  dieses 
Vergessen  kann  ich  nicht  glauben.  Gewichtige  Gewährsmänner, 
Piaton,  Philochoros,  Lykurgos,  erzählen  von  der  Verehrung,  die 
Tyrtäos  bei  den  Spartanern  genoß.  Jacoby  will  ihr  Zeugnis 
allerdings  auf  das  4.  Jahrhundert,  auf  die  Zeit  der  von  ihm  an- 
genommenen athenischen  Wiederbelebung  des  Tyrtäos,  beschränken, 
aber  sie  weisen  klar  und  deutlich  auf  eine  feste  Überlieferung  hin, 
und  diese  haben  sie  gewiß  nicht  selbst  ersonnen.  Ist  es  überhaupt 
wahrscheinlich,  daß  Sparta  eine  solche  Verehrung  auf  Anregung 
von  Athenern  hin  bei  sich  dauernd  eingeführt  hätte?  Wenn 
Jacoby  sich  darauf  beruft,  daß  Xenophon  und  Herodot  nichts 
davon  berichten,  so  darf  man  nicht  übersehen,  daß  sie  gar  keine 
Veranlassung  zu  einer  Erwähnung  hatten,  da  sie  Lykurg  und 
dessen  Verfassung  behandelten.  Auch  das  Tyrt.  -i  angeführte 
Orakel  betrifft  nicht  Lykurgs  Verfassung ,  sondern  Theopomps 
Verfassungserweiterung,  konnte  also  für  Herodot  nicht  in  Betracht 
kommen.  Ältere  Schriftsteller  aber,  die  über  das  Fortleben  des 
Tyrtäos  in  Sparta  hätten  berichten  können,  haben  wir  nicht.  Nach 
alledem  kann  ich  mich  von  der  Richtigkeit  der  von  Jacoby 
und  anderen  vertretenen  Tyrtäos-Hypothese  nicht  überzeugen  und 
halte  daher  an  der  Überlieferung  fest,  nach  der  Tyrtäos  in  Sparta 
nicht  vergessen  wurde.  Gegen  eine  Umgestaltung  seiner  Gedichte 
aber  in  dem  Umfange  und  in  der  Weise,  wie  es  Jacoby  an- 
nimmt,  spricht  schon  der  bekannte  Konservatismus  der  Spartaner. 

Fl".  10  will  Jacoby  nach  dem  Vorgang  Heinrichs  in  zwei 
Teile  zerlegen,  1 — 14,  nach  seiner  Meinung  ein  vollständiges  Ge- 
dicht, und  15 — 30;  die  zwei  letzten  Verse  hält  er  mit  andern  für 
unecht.  Die  Trennung  sucht  er  in  ausführlichen  Darlegungen  zu 
begründen,  die  eine  Verschiedenheit  der  beiden  Stücke  in  Situation, 
Voraussetzung,  Ton,  Gedankenführung  und  äußerer  Form  dartun 
sollen.  Ich  kann  diese  Auffassung  nicht  teilen,  sondern  halte  die 
Verse  für  ein  einheitliches  Ganzes.  Der  Dichter  beginnt  mit  dem 
Lobpreis    des    Heldentodes    im   Kampfe    füi-    das    Vaterland ;    dem 

3* 


36 


J.  Sitzler. 


stellt  er  die  eindrückliche  Schilderung  des  Elends  und  der  Schande 
der    aus    ihrer    Heimat   Vertriebenen    und    in    der   Fremde   hilflos 
Umherirrenden    gegenüber.     Damit   hat   er   den   festen   Boden   ge- 
wonnen,   von    dem    aus    er    die  Aufforderung   zu   tapferem  Kampfe 
zunächst   kurz    an    alle,   dann  ausführlicher  an  die  Jungen,    die  es 
besonders    nötig   haben,    in  einer  gerade  für  Sparta  bezeichnenden 
Form  richten  kann.     Zum  Schlüsse  wendet   er  sich  wieder  an  die 
Gesamtheit:  alld  iig  ev  diaßag  v.tL,  wo  tig  =  ^fA€}g  navzeg  ist. 
Daß    die    Aufforderung   von  Wir,    das    die  Gesamtheit   umfaßt,    zu 
Ihr,   das  nur  einen  Teil  dieser,  die  veoi,   bezeichnet,    übergeht,  ist 
natürlich;    die  Beibehaltung    derselben  Person   in   der  Anrede  war 
unmöglich,    da   sie    an    verschiedene  Personen  gerichtet  ist.     Ahn- 
liches finden  wii'  Hom.  E  464  f.,  Z  67  f.,  0  496  f.,  N  95  f.,  0  743. 
Trotzdem  betont  J  a  c  o  b  y  gerade  diesen  Übergang  in  seiner  Beweis- 
führung,   indem    er   von    einer  Mischung   des   Wir-   und  Ihr- Typus 
in    der  Paränese  spricht;    von  einem  solchen  könnte  doch  nur  die 
Rede    sein,    wenn   die    beiden  Gruppen,    die    mit  Wir  und  Ihr  an- 
gei-edeten,    dieselben   Leute    wären.     Das    Distichon    17 — 18,    das 
sich   ganz    gut   in   den   Zusammenhang    fügt,    erklärt  Jacoby    für 
interpoliert,    um    den  Anstoß,    den  Wilamowitz  an  cfL'koipvxeiTe 
genommen  hat,  zu  beseitigen.    Das  Verb.  (fiXoxlivxslv  kommt  aller- 
dings   erst   bei  Euripides  vor,    aber  (fiKoxl'vxia  hat  schon  Herodot 
VI  29;    Tyrtäos  selbst  gebraucht  Fr.  3  (piloxQy]i^ccTia.     Adjektive 
mit   qiiXo   finden    sich  bei  Homer  öfter.     Sollte  also  die  zu  diesen 
Substantiv-    und    Adjektivbildungen    gehörige    Verbalbildung    q)ilo- 
xpvxiio  genügen,  Verse,  die  an  sich  in  den  Zusammenhang  passen, 
dem  Tyrtäos  abzusprechen?    Bei  aii-taToevTa  aidola  (V.  25)  handelt 
es    sich    wirklich    um   Verwundung,    wenn    auch    Jacoby   meint, 
daß  eine  so  spezielle  Sache  in  die  allgemeine  Mahnung  nicht  passe. 
Der  Dichter  hat  eben  das   Spezielle  verallgemeinert,    geradeso  wie 
Homer  X  74  f.,  dem,  wie  das  andere  an  unserer  Stelle,  auch  dieser 
Zug  entnommen  ist.    Diese  Art  von  Verwundung  wird  vom  Dichter 
besonders    erwähnt,    weil   sie    den    Griechen    als   roheste    und   em- 
pörendste   erschien.     Aus    ähnlichem  Grunde   wird   die  Entblößung 
der   aldoia    auch   bei    der   Androhung   von   Mißhandlung   B    262  f. 
genannt. 

Fr.  11  hält  Jacoby  wie  fr.  10  B  für  alt,  also  wohl  für  Dichtung 
des  Tyrtäos,  wie  beide  ja  auch  inhaltlich  einander  sehr  ähnlich 
sind.  Unverständlich  ist  mir  aber,  wie  er  sagen  kann,  darin  käme 
die  spätere  Phalanx  der  Spartaner  noch  nicht  vor.  Diese  ist  doch 
in  fr.  10,  15  und  31  f.,  in  fr.  11,  4,   11  f.,  21  f.  klar  gekennzeichnet; 


Bericht  über  die  griechischen  Lyriker  usw.  für  1917 — 1920.         37 

nirgends  ist  vom  Abschleudern  der  Speere  und  Einzelkampf  die 
Rede,  sondern  in  geschlossener  Linie,  Mann  neben  Mann,  mit  zum 
Stoße  eingelegter  Lanze  bzw.  gezücktem  Schwert  rücken  sie  dem 
Feind  auf  den  Leib  und  ringen  um  die  Entscheidung  im  Nahe- 
kampf. Die  ionische  Kampfesweise  ist  im  Gegensatz  dazu  Kallinos  5 f. 
geschildert:  Schleudern  der  Lanzen,  keine  geschlossenen  Glieder, 
der  Tapfere  der  Trvgyog  der  andern.  Das  letzte  Distichon  (37 — 38) 
erklärt  J  a  c  0  b  y  mit  Weil  für  spätere  Zutat. 

Fr.  12  spricht  Jacoby  nach  dem  Vorgange  von  Wilamowitz 
dem  Tyrtäos  ab  •,  einen  so  bewußt  symmetrischen  Aufbau,  wie  ihn 
dieses  Gedicht  zeigt,  können  die  beiden  Gelehrten  erst  der  Sophisten- 
zeit zutrauen.  Um  darüber  ein  sicheres  Urteil  abgeben  zu  können, 
müßten  wir  alte  Elegien  in  größerer  Zahl  zur  Prüfung  haben,  als 
dies  der  Fall  ist.  Das  Gesetz  der  Sj-mmetrie  beherrscht  schon 
von  Homers  Zeiten  an  die  griechische  Poesie  •,  man  vergleiche 
z.  B.  nur  Nestors  Rede  A  254  f.,  Odysseus'  Einleitung  zur  Er- 
zählung seiner  Abenteuer  K  1 — 38,  Solons  Evvofxia,  wo  sie  kaum 
weniger  bewußt  als  in  unserm  Gedichte  hervortritt.  Die  Be- 
sprechung des  Inhalts  im  einzelnen  fühx*t  Jacoby  zu  dem  Er- 
gebnis ,  daß  der  Dichter  ältere  Stücke  benützte ,  sie  im  Geiste 
seiner  Zeit  umarbeitete  und  mit  Formeln  des  Grabepigramms  er- 
weiterte. Er  war  ein  Nachfolger  des  Kallinos,  dessen  Schema  er 
mit  Freiheit  behandelte,  kennt  aber  auch  Mimnermos,  Archilochos 
und  Solon.  Was  er  gab,  stand  künstlerisch  sehr  hoch,  macht  aber 
schon  den  Eindruck  einer  Paränese ;  er  ist  in  der  Ausführung  zu 
breit  und  übertreibt  die  Symmetrie.  Wilamowitz  in  den 
Sitzungsber.  der  Preuß.  Akademie  d.  Wiss.  1918  S.  735  Anm.  1 
kann  von  der  zersetzenden  Kritik  Jacobys  nichts  annehmen.  Er 
fragt,  was  wohl  von  Goethes  Euphrosyne  bei  solcher  Behandlung 
übrigbliebe.    Die  Vv.  31 — 38  hält  er  für  eine  Dublette  zu  39 — 42. 

Neue  Bruchstücke  des  Tyrtäos  veröffentlicht 

U.  V.  Wilamowitz-Möllendorff ,  Dichterfragmento 
aus  der  Papyrus  Sammlung  der  Königlichen  Museen. 
Sitzungsber.  d.  Preuß.  Akademie  d.  Wiss.  1918,  S.  728  f. 

Es  sind  drei.  Der  Papyrus,  in  dem  sie  stehen,  trägt  die 
Nummer  11675.  Er  ist  zum  Teil  aus  Fetzen  zusammengestückt 
und  stammt  aus  der  zweiten  Hälfte  des  3.  Jahrhunderts.  Zu  dieser 
Zeit  war  also  Tyrtäos  noch  vorhanden.  Es  sind  sechs  Kolumnen, 
zum  Teil  sehr  verstümmelt,  jede  zu  mehr  als  25  Zailen;  jedoch 
läßt   sich  eine  genaue  Bestimmung  nicht  geben.     Die  Entzifferung 


38  J.  Sitzler. 

stammt  von  W.  Schubart,  dem  auch  eine  Anzahl  Ergänzungen 
verdankt  werden,  die  Bearbeitung  von  Wilamowitz,  der  auch 
zusammenstellt,  was  sich  daraus  für  die  Erweiterung  unseres 
Wissens  über  Tyrtäos  und  seine  Zeit  ergibt.  Das  Wichtigste  ist, 
daß  die  alten  dorischen  Phylen  der  Hjdleer,  Dymanen  und  Pam- 
phyler  hier  als  Grundlage  der  Heeresaufstellung  erscheinen.  Man 
wird  also  annehmen  müssen,  daß  die  lykurgische  Verfassung  diese 
alten  Phylen  nicht  beseitigte,  wie  man  allgemein  glaubte,  sondern 
nur  neu  ordnete  und  alle  Phylenangehörigen  wieder  gleichstellte 
(öfioioi). 

Einige  Beiträge  zur  Erklärung  und  den  bis  jetzt  vor- 
genommenen Ergänzungen  liefert 

E.  Fränkel,  Sitzungsberichte  des  Philol.  Vereins  zu  Berlin. 
Sokrates  1918,  S.  366. 

Zu  Ttävza  TQeTtovTsq  vergleicht  er  V.  11  aarciai  q>Qa^af.tevot, 
zu  (.iovirj  (V.  15)  das  homerische  xaiufiovir],  zu  Xoyt'^asL  (V.  42) 
die  Redensart  ovt  ev  koyo)  övt^  sv  aqid^^iqt  =  ovtig  Xoy^aei  ovd^ 
aQii>f.ir^aei  y.eivo}v  nokiv. 

Mimnermos. 
Mit  den  Fragmenten  des  Mimnermos  beschäftigt  sich 

F.  Jacoby,  Studien  zu  den  älteren  griechischen 
Elegikern.     II.  Mimnermos.     Hermes  53  (1918),  S.  262 f. 

Auf  Grund  einer  eingehenden  Quellenuntersuchung  von  Strabo 
XIV  1,  4  (p.  633  f.),  behandelt  Jacoby  fr.  9.  Er  ist  mit 
V.  Wilamowitz  der  Ansicht,  daß  das  Zitat  mit  STieLTS  Ilvkov  xrA. 
mitten  im  Verse  beginnt,  wobei  der  vorhergehende  Hauptsatz  weg- 
gelassen wurde ;  über  seinen  Inhalt  gibt  ^vrjO&eig  Trjg  ^(.ivQvr]g, 
OTi  TtSQifudxrjTog  ael  kurze  Auskunft.  Gegen  v.  Wilamowitz' 
Auffassung  der  Verse  aber  nimmt  er  ebenso  Stellung,  wie  ich  im 
vor.  Jahresber,  Bd.  174  (1916/8.  III),  S.  27.  Die  Verse  sind 
nicht  als  Tadel  gegen  den  alten  Adel  gerichtet,  sondern  charakteri- 
sieren das  Verhalten  der  neuen  Ansiedler  gegen  die  ansässige  Be- 
völkerung, die  im  Herzen  des  Dichters  die  Besorgnis  wachruft,  die 
Strafe  dafür  möchte  jetzt  über  sie  kommen.  Mit  Recht  erklärt 
Jacoby,  daß  daraus  nichts  für  die  bürgerliche  Stellung  oder 
politische  Überzeugung  des  Dichters  gefolgert  werden  könne. 

Soweit  bin  ich  mit  Jacoby  einverstanden ;  seinen  weiteren 
Ausführungen  aber  kann  ich  nicht  beitreten,  da  sie  mir  eines 
sicheren  Untergrundes    zu    entbehren  scheinen.     Er  hält  fr.  14  für 


Bericht  über  die  griechischen  Lyriker  usw.  für  1917 — 1920.         39 

ein  Enkomion  auf  den  Angehörigen  einer  vornehmen  Familie,  in. 
deren  Auftrag  der  Dichter  die  Verse  gemacht  habe.  Daraus  schließt 
er,  daß  Mimnermos  ein  Berufsdichter  war,  der  sich  mit  seiner 
Kunst  seinen  Lebensunterhalt  verdient  habe ,  und  der  Schöpfer 
eines  neuen  eldog  geworden  sei,  des  elegischen  Epjdlions,  das 
dem  Simonides,  Aeschylos  und  Späteren  zum  Vorbild  gedient  habe. 
Die  Bestätigung  für  diese  Vermutung  findet  er  in  fr.  13;  das  hier 
erwähnte  Prooemion  gehört  nach  ihm  zu  diesem  elegischen  Epj^llion. 
Ich  will  nicht  darauf  hinweisen,  wie  unwahrscheinlich  es  ist,  daß 
eine  so  wichtige  Neuerung  des  Mimnermos  unbemerkt  geblieben 
wäre ;  es  genügt,  daß  Pausanias  dieses  Prooemion  ausdrücklich 
als  Einleitung  der  Elegien  auf  die  Kämpfe  zwischen  Gj'ges  und 
den  Smyrnäern  bezeichnet,  und  diesen  Elegien  gehört  auch  fr.  9 
und  10  an.  Ebensowenig  kann  ich  es  billigen,  wenn  Jacoby 
gegen  Wilamowitz  bemerkt,  daß  der  Buchtitel  Nanno  helle- 
nistisches Fabrikat,  gebildet  nach  der  Lyde  des  Antimachos,  sei, 
also  den  wirklichen  Sachverhalt  gerade  umkehrt. 

S  olon. 

Ein  Solon-Zitat  entdeckt  0.  Kern  Hermes  53  (1918)  S.  220 
bei  L3sias  or.  33,  7.  Hier  ist  y.aiOf.iavr]v  t^v  '^EiXdöa  nEQiOQcZaiv 
"überliefert ,  das  D  0  b  r  e  e  in  y.aKOVf^ievrjv  abänderte  ;  es  ist  aber 
xXivofiivijV  zu  lesen,  da  eine  Reminiszenz  an  Solon  27  a  =  Aristotel. 
^O'.  noXix.  5 :  iaoQcop  yalav  laov/ag  \  x,Xivof.ih'r]v  vorliegt. 

Fr.  13  =  VTiod^^Kai  Eig  eavcov  wird  von 

K.  Reinhard,  Solons  Elegie  slg  savTov.  Archiv  f. 
Geschichte  der  Philosophie  33  S.  79  f. 
ausführlich  unter  philosophischen  Gesichtspunkten  besprochen;  dabei 
ist  es  dem  Verf.  gelungen ,  den  in  dem  Gedicht  ausgesprochenen 
Gedanken  ihre  richtige  Stelle  in  der  gesamten  Anschauungsweise 
des  Dichters  zu  geben. 

Nur  aus  einer  kurzen  Notiz  in  einer  Zeitschrift  kenne  ich 

J,  M.  Linforth,  Solon  the  Athenian. 
Das  Buch  enthält  eine  Biographie  Solons,  den  Text  seiner 
Gedichte  samt  Übersetzung  und  außerdem  einen  Kommentar.  Die 
Biographie  soll  zu  skeptisch  sein  und  kein  klares  Bild  des  Mannes 
geben;  auch  die  Übersetzung  wird  als  wenig  geschickt  getadelt. 
Vgl.  The  Journal  of  HeU.  Studies  XL  S.  126. 


40  J-  Sitzler. 

Xenophanes. 
J.  Sitzler  in  der  Philol.  Wochenschrift  1921  Sp.  1053  schlägt 
fr.  1,  20  vor:  wg  o\  /.ivrj/joaivi]  y.al  zovog  a^(q^    agExr^g  als  Erklärung 
zu  8od-la  avacpaivEi  :  daß  sich  ihm  nämlich  Gedenken  und  Streben 
mit  der  aQBtTq  beschäftigt. 

Hipponax. 
A.  H.  Sayce,  Two  notes  on  Hellenic  Asia.  The 
Journ.  of  Hell.  Stud.  XXXIX  (1919),  S.  202  f. 
führt  das  Wort  ndlf-ivg  (fr.  1)  auf  das  lydische  halmlin  =  König 
zurück;  damit  stellt  er  das  phrygische  ßah'jv^  richtiger  ßaXXrjw 
(Aeschyl.  Pers.  657.  Soph.  fr.  444  Euphorion  fr.  127  Mein.  =  151 
Scheidw.),  und  das  troische  ntQQafxog  =  Jlgiaitog  (Hesych.)  zu- 
sammen. 

Außerdem  nenne  ich 

Fr.  Schwenn,  Die  Menschenopfer  bei  den  Griechen 
und    Römern.      Religionsgeschichtliche    Versuche    und    Vor- 
arbeiten.    XV.     3.  Heft.     202  S.  8, 
der  S.  26  f.  auch  über  die  q^aQua/.oi  (fr.  2  usw.)  spricht. 

Theo  gnis. 

U.  V.  Wilamo  witz -Möllendorff ,  Dichterfragmente 

aus  der  Papyrussammlung  der  Königli chen  Museen. 

Sitzungsber.  d.  Preuß.  Akademie  d.  Wissensch.   1918,  S.  728  f., 

veröffentlicht   S.  742  f.    eine    Sentenzsammlung,    die    auf   dem   aus 

der    zweiten    Hälfte    des    3,    Jahrhunderts    n.    Chr.    stammenden 

Ostrakon  12  319  erhalten  ist,  vermutlich  eine  kalligraphische  Übung 

eines  Schülers.    Nr.  7  zeigt  den  Vers  Theognis  25  f.  in  der  Form: 

ovSe  yccQ  ovv  Zevg  \  ovo    vcov  navTEGGL  avöavei  ovz    avi^ayv. 

Kritische  und  exegetische  Beiträge  zu  Theognis 
liefern : 

1.  E.    Howald,    Zur    Theognissammlung.     Festschrift 
für  A.  Kaegi  1919,  S.  164  f. 

2.  J.  Sitzler,  Zu  griechis  chen  Lyrikern  undTheo- 
krit.     Philol.  Wochenschr.  1921,  Sp.  1054. 

Howald  behandelt  zuerst  die  schwierigen  Verse  261  f.,  an 
denen  sich  schon  so  viele  Gelehrte  versucht  haben,  ohne  zu  einem 
befriedigenden  Ergebnis  zu  gelangen.  Seine  Erklärung  lautet :  „Ich 
mag  jetzt  nicht  trinken,  weil  ein  anderer  Mann,  der  viel  weniger 
wert  ist  als  ich,  bei  meinem  Mädchen  ist."     Die  Geliebte  ist  dem 


Bericlit  über  die  griechischen  Lyriker  usw.  für  1917 — 1920.         41 

Dichter  also  untreu  geworden.  „Ihre  Eltern  haben  gern  frisches 
Wasser  (natürlich  holt  die  Tochter  dies  bei  einem  Brunnen)-,  dieser 
Umstand  hat  es  mir  ermöglicht,  sie  neulich  zu  überfallen  —  die 
hat  einen  gehörigen  Schrecken  gehabt."  Aber  Überfall  und 
Schrecken  kann  mit  /at  jf/e  yotZoa  (ftget  und  r*  de  regsv  (pU^äyyeT^ 
ano  OTouarog  nicht  ausgedrückt  werden,  und  dazu  ist  auch  der 
ganze  Gedanke  wenig  wahrscheinlich ;  wenn  ihm  ein  solcher  Über- 
fall geglückt  ist,  erwartet  man  eher  den  Ausdruck  seiner  Freude 
über  den  gelungenen  Streich  als  das  Gefühl  der  Niedergeschlagen- 
heit und  Trauer.  Offenbar  bilden  die  Verse  gar  kein  zusammen- 
gehöriges Ganzes,  sondern  sind  Stücke  aus  verschiedenen  Gedichten. 
Das  erste  Distichon  klagt,  wie  Howald  richtig  sagt,  über  die  Un- 
treue des  Mädchens;  die  zwei  folgenden  schildern  die  Treue  eines 
solchen,  das  trotz  des  Verbotes  der  Eltern  an  ihrem  Geliebten 
festhält.  Dabei  bleibt  es  sogar  zweifelhaft,  ob  das  2.  und 
3.  Distichon  lückenlos  aufeinander  folgten;  wenigstens  stört  der 
Aorist  nach  den  vorhergehenden  Praesentia.  Das  2.  Distichon 
hat  auch  durch  die  Überlieferung  gelitten;  statt  nivovai  hieß  es 
wohl  ursprünglich  y.ivovgl  und  statt  (ftgei  etwa,  Tco&ei :  „Frostiges 
(im  Sinne  von  Nichtiges)  setzen  bei  dieser  die  lieben  Eltern  gegen 
mich  in  Bewegung,  und  so  holt  sie  Wasser  und  schaut  sich  zu- 
gleich klagend  nach  mir  um."  —  An  zweiter  Stelle  behandelt 
Howald  die  Vv.  425  f.;  er  tritt  mit  Recht  für  die  Lesart  Ttdricov 
bei  Theognis  ein;  Alkidamas  setzte  infolge  des  Gegensatzes  uqigtov 
und  'A(xXkiGTOV,  den  er  einführte,  aq^riv  an  die  Stelle  von  naviiov, 
und  so  kam  diese  Lesart  in  die  Überliefei'ung.  —  Zuletzt  spricht 
Howald  über  5 11  f.;  den  Sinn  der  Verse  im  ganzen  gibt  er 
richtig  wieder,  aber  seine  Vermutungen  im  einzelnen  sind  nicht 
glückhch:  V.  516  xarcfxfi/ff^'  =  xaraxf/ffi^w  und  log  (piXov  rjtoq 
e'xsi  im  Sinne  von:  er  soll  essen,  soviel  er  mag. 

Ich  suchte  die  Vv.  489  und  490  durch  die  Schreibung  Trjv 
d'  Iniyji]  tov  igäg  und  die  Beziehung  von  ^  de  rrgoxeiTai  auf 
die  Becher,  die  auf  Anordnung  des  ovunoGirtQXog  getrunken  werden 
müssen,  in  den  Gedankenzusammenhang  einzupassen. 

Aischrion. 
Mit  Aischrion  beschäftigt  sich 

U.    V.    Wilamowitz-Möllendorff,    Aischrion. 
Sitzungsber.  d.  Preuß.  Akademie  d.  Wiss.  1918  S.  1161  f. 
Er    betrachtet    das    Gedicht    Aischrions    zur    Eechtfertigung    der 
Philänis    für    älter    als    das    zu    demselben    Zweck   gedichtete    de» 


42  J-  Sitzler. 

Dioskorides  (Anth.  Pal.  VII  450),  demnacli  aucK  den  Aischrion 
für  älter  als  den  Dioskorides.  Aischrions  Lebenszeit  berührte  sich 
nach  ihm  mit  der  Hedyles,  seiner  Landsmännin,  von  der  er  wahr- 
scheinlich in  dem  von  Athen.  VII  296  e  erwähnten  Gedicht,  in 
dem  von  Glaukos  die  Rede  ist,  abhängt.  Wilamowitz  nimmt  an, 
daß  erst  Aischrion  Hydne,  die  Tochter  des  skionäischen  Tauchers 
Skyllias  (Herod.  VIII  8),  an  die  Stelle  der  Skylla  gesetzt  habe. 
Er  weist  darauf  hin,  daß  der  betreffende  Vers  (fr.  6)  in  einem 
Jambenbuch  gestanden  haben  kann,  mag  er  ein  trochäischer  oder 
jambischer  Skazon  sein.  Zur  ^etov  ayQtoazig  vergleicht  er  die  vXt] 
alevdovoa,  an  der  sich  nach  Alexander  Aetolus  bei  Athen.  VII  296  e 
die  Sonnenrosse  nähren. 

Die  Erhaltung  der  wenigen  Überreste  aus  den  Gedichten 
Aischrions  verdanken  wir  den  in  ihnen  vorkommenden  auffallenden 
Metaphern.  Wilamowitz  erkennt  in  diesen  die  Neigung  zudem 
ygicpioöeg,  das  die  griechische  Poesie  von  Homer  und  Hesiod  bis 
herab  ins  3.  Jahrhundert  beherrscht.  Alle  vorhandenen  Fragmente 
gehören  einem  Jambenbuch  an.  Darin  konnte  nach  Wilamowitz 
auch  ein  Gedicht  in  katalektischen  Dimetern  Platz  finden,  die  aber 
nicht  durch  Synaphie  verbunden  werden  konnten ;  vgl.  das  latei- 
nische Beispiel,  das  Marius  Victorinus  S.  105  (Keil)  für  das 
metrum  Aeschrioneum  bildet :  amore  me  subegit  et  igneo  furore, 
worin  Keil  mit  Unrecht  ein  metrum  Ithyphallicum  sah.  Der  Vers 
im  Etym.  Gud.  s.  v.  ^^vd^iqdiüv  kann  dem  Aischrion  nicht  gegeben 
werden,  und  ebensowenig  darf  in  fr.  7  ^loyjvrjg  o  ^uQÖiavog  in 
-AloxQuov  0  ^d(.aog  geändert  werden. 

Kailima  c  hos. 
Mitteilungen  über  die    Handschriften    zu   den  Hymnen 
des  Kallimachos  macht 

M.  T.  Smiley,  Die  Handschriften  der  Hymnen 
des  Kallimachos.  Class.  Quarterly  XIV  (1920)  S.  1  f . 
Wie  ich  aus  einer  Notiz  ersehe ,  gibt  er  Berichtigungen  und  Er- 
gänzungen zu  den  hs.  Angaben  0.  Schneiders  und  behandelt 
dann  zunächst  die  aus  der  Abschrift  des  Aurispa  stammenden 
Hs.,  also  Vaticanus  1691  (A)  und  36  (B),  Marcianus  480  (C), 
ürbinas  145  (K). 

L.  Radermacher,    Kritische    Beiträge.    XII.    Kalli- 
machos Zeus -Hymnus  79.     Wiener  Studien  39.  S.  67  f., 
schlägt  vor,  hcel  /Heg  st.  Jiög  zu  lesen,  das  Beste,  was  bis  jetzt 
zur  Herstellung  der  Stelle  vorgebracht  ist. 


Bericht  über  die  griecliischeii  Lyriker  usw.  für  1917 — 1920.         43 

Außerdem  erwähne  ich 

A.  Rostagni,  Poeti  Alessandrini,  Toriuo  1920, 
der,  wie  ich  einer  Besprechung  entnehme,    die  Hymnen  des  Kalli- 
machos  ausführlich  behandelt.     Vgl.  Liter.  Zentralbl.  1921,  S.   11. 

Zu  fi*.  46  vergleicht  U.  v.  Wilamowitz-Möllendorff, 
Sitzungsber.  der  Preuß.  Akad.  d.  Wiss.  1918,  S.  1142  Anm.  1, 
das  fr.  6  des  Kerkidas  in  Oxych.  Pap.  VIII:  ßotjooog  fjtvtx)\p\ 
Kerkidas  nimmt  ßoi]o6og  als  Adjektiv,  Kallimachos  als  Synonym 
zu  fiiioili.  —  Ebenda  bringt  er  die  Bestätigung  zu  Naekes  Her- 
stellung  von    fr.  98  b:    rn  vtjv  df.    TtoXXrp'    Tv[q)edcdva  XeaxaivEiq. 

Mit  den  neugefundenen  Versen  der  Kydippe  beschäftigen  sich: 

1.  A.    Brinkmann,     Kallimachos'    Kydippe.     Rhein. 
Museum  72,  S.  473  f. 

2.  M.  Pohlenz,  Ad  Callimachi  Cydippam.    Hermes  54, 
S.  442. 

Pohlenz  verbessert  V.  21  fwi^LOv  in  8a{.ivyiov.,  Brink- 
mann V.  39  iy  d'  ava  tcü  näv  atX.  (st.  avf'rwg);  vgl.  ApoU. 
Rhod.  IV  730  ^  d^  aga  xf]  xa  tAaaza  xtA.,  V.  40  mit  P.  Schwister 
'KYiv  av  (Jwg,  dann  selbst  0  re  Xoiuov  xrA. :  „diese  enthüllte  ihm 
(dem  Vater)  den  ganzen  Hergang  und  war  wieder  gesund.  Und 
■was  noch  übrig  ist,  du,  Akontios,  wirst  nach  Naxos  gehen  und 
sie,  die  dir  jetzt  zu  eigen  ist,  holen  können".  Darauf  läßt  er  den 
Abdruck  der  ganzen  Kydippe-Erzählung  folgen. 

Das  Fragment  aus  den  Aitien  Oxj^ch.  Pap.  XI  Nr.  1362  be- 
handelt 

L.     Malten,     Ein     neues     Bruchstück     aus     den 

Aitia   des    Kallimachos.     Hermes  54,    S.  148  f.     Vgl.   vor. 

Jahresber.  Bd.  174  (1916/8.  III),  S.  70  Nr.  20. 
An  den  Abdruck  des  Textes  schließt  er  eine  eingehende  Be- 
sprechung an,  aus  der  ich  folgendes  hervorhebe:  Malten  kann 
weder  Nilssons  noch  A.  Körte s  Hypothese  über  die  Aiora 
billigen;  vgl.  vor.  Jahresber.  Bd.  174  (1916/8.  III)  S.  76.  Er 
identifiziert  Aiora  mit  dem  Erigonefest,  das  der  Entsühnung  der 
attischen  Frauen  diente,  unter  denen  nach  der  Erhängung  der 
Erigone  eine  Selbstmordepidemie  ausgebrochen  war,  daher  auch 
otxTt (7TJ;,  oiY.Tog  bringend,  genannt.  Zu  dem  Namen  '//og,  dessen 
erste  Silbe  Kallimachos  lang  gebraucht,  verweist  Malten  auf 
Anth.  Pal.  VII  2,  10,  wo  er  von  Antipater  Sidonius  mit  kurzer  erster 
Silbe  verwandt  wird.  Die  Vv.  11 — 14  waren  uns  schon  bekannt, 
vgl.  fr.  109  *,  der  Pap.  hat  anioTvye  und  olvonoxelv,  wie  Athen.  X  442  f.5 


44  J-  Sitzler. 

aber  Athen.  XI  477  c  am]vaTO  (1.  avrivaTo)  und  tioQOTtoxuv^  ebenso 
Macrob.  Saturn.  V  21;  olvoTtozeTv  steht  auch  bei  Athen.  XI  781  d. 
Aus  diesen  Abweichungen  in  der  Überlieferung  (av^vato — ccTteaTvye, 
olvonoielv — tiogonoxelv)  schließt  Malten,  daß  schon  im  1.  Jahr- 
hundert V.  Chr.,    vor  Athenäus    und  Macrobius,    zwei  Rezensionen 
vorhanden  gewesen  seien.     Mir  erscheint  dies  zweifelhaft,  da  beim 
Zitieren  leicht  aTttGTvys  und  olvonozelv  durch  die  gebräuchlicheren 
Verba  aviqvaTO  und  uoqotiotsIv,   zumal  da  ai-ivorii'  vorhergeht,  er- 
setzt  werden    konnten;    artrjvuTO    scheint   noch    auf  ctneaTvye  hin- 
zuweisen.    Das  Substantiv    yJualt]  für  Speisesofa  findet  sich  auch 
Pind.  IV  133,    wie  Malten    bemerkt.     Mit   dem    alvog  ^Oi^i7]Qiy.6g 
ist   Q  218    gemeint.     Jeder    Gast    durfte,    wie    Malten    weiterhin 
ausführt,    den  Becher  bestimmen,  den  er  haben  wollte;    aber  beim 
Zutrinken   mußte    er   sich   des  -Bechers    bedienen,    der   zu    diesem 
Zweck   am  Tische    zirkulierte,    also    in    unserem  Fall   des  aXeiaov. 
Auch   nannte  man  beim  Zutrinken  den  Namen  vmd  Stand  des  Ge- 
ehrten ;    daher :    eCr^  edm]v  oirof-ia  y.al  yevsr^v.     Erst  beim    dritten 
Zutrinken  redet  der  Dichter  den  Fremden  an.    Vv.  15 — 16  werden 
Athen.  I  82  b    ohne  Nennung   des  Dichters  angeführt.     Die  }.eaxVi 
die  Plauderei,  ist  dem  Kallimachos  und  dem  Fremden,  mit  dem  er 
sich  unterhält,  das  Mittel  {(fdQ(.iav.ov)  gegen  das  Viel-  und  ßasch- 
trinken,    dem    sich   die    andern  Gäste  hingeben ;    sie  machen  daher 
auch    das    oaiveiv    der    Dienerschaft    gegenüber,    das    Buhlen    um 
schnelle    Bedienung,    nicht   mit.     MvQfAiöovcov   ioa^va  =  fr.  509, 
das  Schneider   fälschlich  auf  Äakos  st.  auf  Peleus  bezog.     Für 
die  Beziehungen    des  Peleus    zu  Ikos    bringt   Malten   drei  Zeug- 
nisse bei:  fr.  372,  wo  mit  Wilamowitz  ^'lyup  st.  Kio  zu  schreiben 
ist,  Antipater  Sidon.  Anth.  Pal.  VII  2,  9  f.,  Schol.  Eurip.  Troer.  1128. 
V.  25    ergänzt   Malten:    yiqtuov    Id^  [e'l{X)]vT[iv     ']Qrov   c'^oiffa 
coli.  Hesych.  l'XlvTig  *  nXa'/,ovg  xig.     Die  letzten  Verse  bilden  das 
fr.  111.     Zum  Schluß  fügt  Malten  eine  auf  den  neuen  Fund  ge- 
gründete Würdigung   des  Kallimachos    als  Dichter    bei ;    er   meint, 
wir   bekämen   daraus    eine    bessere    Meinung   von    seinem  Können, 
als   wir   bisher    hatten.     Pollis    ist,    wie    Wilamowitz    brieflich 
Malten   mitteilte,    vermutlich    der   Adressat    des    Gedichtes,    ein 
Freund  des  Dichters,  den  dieser  durch  die  Widmung  eines  Aitien- 
buches    ehrt.     Schneiders  Ansicht,    Kallimachos   habe    sich    die 
Aitien  von  den  Musen  eingeben  lassen,  ist  durch  den  Fund  wider- 
legt.    „Der    verschiedene    Stoff    gebot    verschiedene    Behandlung. 
Ein  vereinzelt  stehendes  Kultfaktum,   wie  etwa  der  Peleuskult  auf 
Ikos,    erledigt    sich    leicht    durch   Frage   und   Antwort.     Aber    die 


Bericht  über  die  griechiaclien  Lyriker  usw.  für  1917 — 1920.         45 

aitiologische  Poesie  begnügt  sich  so  wenig  wie  die  auf  Verwand- 
lung und  Yersternung  ausgehende  mit  der  Deutung  einzelner  Sitten, 
Bräuche,  Kulttatsachen ;  sie  zieht  von  sich  aus  ältere  Geschichten, 
die  in  sich  geschlossen  waren,  in  ihren  Bereich,  um  sie  durch 
neue  Behandlung  und  neuen  Aufputz  für  ihre  Zwecke  zu  gewinnen." 

Einen  Beitrag  zur  Kenntnis  der  Sprache  des  Kallimachos 
liefert 

Guil.  Vollgraff,  De  Theocriti  et  Callimachi  dia- 
lecto.     Mnemosyne  47  (1919),  S.  333 f. 

Er  weist  darauf  hin ,  daß  Kallimachos  sich  in  seinen  Gedichten 
gewöhnlich  der  epischen  Sprache  bediente ,  aber  einiges  auch 
dorisch  schrieb,  wie  hymn.  5  und  6,  epigr.  46.  51.  55.  59;  ja,  da 
er  ein  Dorier  war,  auch  in  die  episch  abgefaßten  Gedichte  Dorismen 
brachte,  wie  tad^i^iog  st.  d^tofxiog  (h.  2,  87.  3,  174,  wozu  ich  noch 
fr.  110  füge).  Jedoch  ist  sein  dorischer  Dialekt  nicht  rein,  sondern 
mit  Äolischem  versetzt,  wie  die  Endungen  oioa  und  eoöl  und  das 
Part,  aaoccv  (5,  69).  Diese  Mischung  betrachtete  man  früher  unter 
dem  Gesichtspunkt  der  sprachlichen  Ausschmückung,  bis  E.  Fränkel 
in  den  Berl.  Sitzungsber.  1903,  S.  87  eine  Inschrift  aus  Kyrene, 
die  nicht  lange  nach  dem  J.  20  v.  Chr.  eingemeißelt  wurde, 
veröffentlichte,  die,  in  dorischem  Dialekt  abgefaßt,  ävtjxoiaa  und 
TtQOyeyovoiaaig  zeigt.  Ebenso  liest  man  auf  einer  andern  Inschrift 
(SGD  I  4837)  rekeacfOQSVTeg.  Auch  in  Argolis  und  sonst  im 
Peloponnes  finden  sich  Spuren  des  äolischen  Dialekts,  nach  Voll- 
graff eine  Einwirkung  der  Sj)rache  der  früheren  Bevölkerung  auf 
die  der  eingewanderten  Dorer.  Er  nimmt  an,  daß  diese  Sprache 
auch  mit  nach  Kyrene  gewandert  sei;  jedenfalls  aber  habe  Kalli- 
machos seinen  heimischen  Dialekt  angewandt,  wenn  er  ähnliches 
ins  Dorische  gemischt  habe. 

In  einem  Aufsatze:  Die  alexandrinischen  Biblio- 
thekare. Wochenschr.  f.  klass.  Philol.  1914  Sp.  1091  f.  bin  ich 
für  das  Bibliothekariat  des  Kallimachos  eingetreten ;  vgl. 
vor.  Jahresber.  Bd.  174  (1916/8.  I)  S.   78  f.     Dagegen  erhebt 

W.    Weinberger,     Gehört    Kallimachos     zu    den 
alexandrinischen  Bibliothekaren?    Berl.  phil.  Wochen- 
schrift 1919  Sp.  72, 
in   einem    kurzen   Artikel    ohne    Angabe    von    Gründen   Einspruch. 
Er  stellt  eine  ausführliche  Abhandlung  in  Aussicht,    aber  bis  jetzt 
ist  mir  eine  solche  nicht  zu  Gesicht  gekommen. 


46  J-  Sitzler. 

Herondas. 
Kritische  und  exegetische  Beiträge  liefern: 

1.  P.  Groeneboom,  Varia  III.  Ad.  Herodam.     Mnemo- 
syne  46  S.  165  f. 

2.  0.    Kern,    Noch    einmal   Kerkinos.     Zu  Archiv  XIX 
S.  553.     Ai-chiv  f.  Religionsw.  XX,  S.  236  [IV  44]. 

3.  F.  Seiler,    Der  Leder   fressende  Hund.     N.  Jahrb. 
f.  Altertumsw.  XXII  S.  435   [VII  63]. 

4.  J.  Sitzler,  Zu  griechischen  Lyrikern  und  Theo- 
krit.     Philol.  Wochenschi-.  1921  Sp.  1055  [III  87]. 

Groeneboom  gibt  Verbesserungsvorschläge  zum  1.,  3.,  4., 
5.,  6.  und  7.  Mimiambus.  Das  Wichtigste  führe  ich  daraus  an. 
III  49:  ftrjd'  odovia  yiLv^oai  „ut  ne  hiscam  quidem",  vgl.  Lukian. 
fugit.  19:  'Mvrjaai  xr^v  yhoTTav.  —  IV  72  X^^Q^S  „Kunstwerke".  — 
VI  35  vermutet  er  ra^a  Noooidt  /^^ffat  st.  taXXa.  —  VII  46 
ergänzt  er  tovzo  f.ioi\vov  ifxvoiGi]. 

Der  Pap.  hat  III  87  ovde  '/.Irj^ag  mit  einem  Querstrich  oben 
zwischen  x  und  X.  Crusius  ergänzte  ov  d{el  ff')£xX^^at;  ich 
halte  ov  doy.el  Arj^ai,  für  richtiger. 

Kern  bezieht  IV  44:  iotrjxs  6'  el'g  ^  oQSvaa  ycaQ'Äivov  fiiCor 
auf  das  Krebsgespenst  Karkinos. 

Seiler  geht  davon  aus,  daß  die  in  dem  Sprichwort  vom 
Leder  fressenden  Hund  ausgesagte  Behauptung  den  Tatsachen 
nicht  entspricht.  Das  Sprichwort  ist  nach  seiner  Meinung  aus 
einem  Mißverständnis  entstanden;  ^ogiov,  die  Hülle  um  die  Frucht, 
die  Nachgeburt,  ist  als  „Haut,  Leder"  gefaßt  worden.  So  ging 
das  Sprichwort  zu  den  Römern  über,  die  ^ogiov  mit  corium  wieder- 
gaben, und  schließlich  auch  ins  Deutsche. 

Kerkidas. 
Über  Kerkidas  handeln: 

1.  TT.    V.    W  i  1  am  0  w  it  z  -  M  ö  11  e  n  d  0  r  f  f ,     Kerkidas. 
Sitzungsber.  d.  Preuß.  Akademie  d.  Wissensch.  1918  S.  1138  f. 

2.  0.    Immisch,    Zu  Kerkidas.     Berl.    phil.    Wochenschr. 
1919  Sp.  598  f. 

3.  L.Deubner,  Kerkidas  beiGregorios  von  Nazianz. 
Hermes  54  S.  438  [fr.  7]. 

Wilamowitz  unterzieht  die  Bruchstücke  des  Kerkidas,-  die 
alten  sowohl  wie  die  neuentdeckten,  einer  allseitigen  Betrachtung. 
Den  Namen  Kerkidas   leitet   er  von  Kiqycog  ab  und  stellt  ihn 


Bericht  über  die  griechischen  Lyriker  usw.  für  1917 — 1920.         47 

mit  dem  böotischen  ^d^iüv,  dem  lateinischen  Titus  zusammen. 
Seine  Form  ist  ursprünglich  patronymisch,  wii'd  dann  aber  genti- 
lizisch.  Die  Grammatiker  der  Kaiserzeit  schreiben  KegMÖäg,  weil 
sie  an  solche  Abkürzungen  gewohnt  waren.  Der  Name  ist  selten, 
so  daß  die  Träger  in  Familienzusammenhang  miteinander  stehen, 
wie  Hiller  von  Gärtringen  im  Index  zum  arkadischen  Corpus 
dargelegt  hat. 

Dann  geht  Wilamowitz  zur  Besprechung  der  Stellung 
und  Lebenszeit  des  Kerkidas  über.  Er  hält  ihn  für  keinen 
Kyniker  von  der  Art,  wie  sie  uns  Lukian  und  Athenäos  für  die 
Kaiserzeit  schildern.  Er  bestreitet,  daß  sich  in  dem  neugefundenen 
fr.  5  eine  Polemik  gegen  Zenon  erkennen  lasse,  und  meint,  wenn 
eine  solche  gegen  Sphäros  vorliege,  gelte  sie  nur  seiner  Person. 
Kerkidas  darf  nach  ihm  nicht  von  der  seit  mehreren  Generationen 
herrschenden  kynischen  Literatur  getrennt  werden;  neu  ist  er  für 
uns  nicht  in  den  Gedanken ,  sondern  nur  in  der  Form ,  aber  als 
Vertreter  dieser  kynischen  Poesie  ist  er  für  uns  wertvoll. 

Die  Sprache  des  Kerkidas  berührt  sich  mit  der  des  Epi- 
charm,  wofür  Wilamowitz  auf  o/ivqoi,  (.layig  und  d^i^v  hin- 
weist; aber  darin  liegt  nichts  Besonderes,  da  Epicharms  Sprüche 
damals  ganz  populär  waren.  Arkadisch  ist  nur  der  Gen.  auf  w, 
der  auch  lakonisch  war.  Für  literarisch  erklärt  Wilamowitz 
das  Vorkommen  von  aV  und  xa,  tcote  und  yroxa  und  ähnlichem 
nebeneinander;  bemerkenswerter  ist  oAv.a  (IV  9).  Einen  größeren 
Raum  gesteht  Kerkidas  dem  Literarischen  nicht  zu ,  und  auch 
kühne  Neubildungen  finden  sich  nicht.  Die  Verwendung  von  OTtd 
neben  axor«  betrachtet  Wilamowitz  als  einen  Scherz.  Zu  den 
gelehrten  Dichtern  seiner  Zeit  steht  Kerkidas  im  Gegensatz,  und 
es  ist  wohl  möglich,  daß  sie  ihn  für  einen  dichterischen  Dilettanten 
ansahen. 

Die  Gedichte  des  Kerkidas  tragen  den  Titel  Meliamben. 
Wilamowitz  bemerkt  mit  Recht,  daß  sie  nur  wegen  ihres  In- 
haltes lamben  genannt  werden.  Wenn  er  aber  unter  Meliamben 
gesungene  lamben  versteht  und  meint,  Kerkidas  habe  selbst  seine 
Gedichte  zur  Kithara  gesungen,  so  kann  ich  trotz  des  Tadels,  den 
.er  gegen  die  Modernen,  die  dies  nicht  glauben  wollen,  ausspricht, 
ihm  nicht  beistimmen;  weder  Inhalt  noch  Form  der  Gedichte  kann 
ich  für  geeignet  zum  Gesang  halten.  Meliambos  bezeichnet  meiner 
Ansicht  nach  ein  seiner  Form  nach  zur  melischen,  seinem  Inhalte 
nach,  zur  iambischen  Poesie  gehöriges  Gedicht.  Einen  lebendigen 
Vortrag    wird   man    wohl  allgemein   annehmen.     Die  Gedichte  sind 


48  J-  Sitzler. 

in  gewissem  Sinne  kynische  Predigten,  ganz  persönlicli  und  auf 
den  Moment  berechnet.  Die  Angriffe  auf  einen  Wucherer,  auf 
Xenon  und  auf  Sphäros  erinnern  an  die  Satire  des  Horaz,  was 
nach  Wilamowitz  von  manchen  mit  Unrecht  geleugnet  wird. 
Behandlung  durch  die  Grammatiker  erfuhr  Kerkidas  nicht;  die 
Scholien  auf  dem  Rande  des  Papyrus  zeigen  keinerlei  Gelehrsam- 
keit, die  man  Grammatikern  zuschreiben  müßte. 

Daran  schließt  Wilamowitz  die  Behandlung  der  Gedichte 
im  einzelnen.  Diese  bezieht  sich  auf  Text,  Erklärung  und  Vers- 
maß. Die  neid^fo  (II  7)  kann  Wilamowitz  nur  für  die  Göttin 
halten,  sozusagen  die  gute  Aphrodite,  der  eine'" Yßgig  etwa  gegen- 
überstehen könnte;  zu  den  diaau  TivevfjiaTa^'EQMzoQ  vergleicht  er 
Pind.  N.  8,  If.,  zu  adovonlii^  in  III  Timon  58,  4.  —  Das  fr.  7 
aus  Gregor  von  Nazianz  hält  er  nur  infolge  der  aus  Verszwang 
verschränkten  Wortstellung  für  schwer  verständlich,  jedoch  nicht 
für  verdorben;  er  erklärt:  „Kerkidas,  der  gi'oße  Freund  der  ein- 
fachsten Speisen  aus  einem  Kessel,  sagt  mit  Recht,  daß  alle  die 
kostbaren  Speisen  der  Feinschmecker  in  den  Abgrund  (=  Abtritt) 
gehen,  keine  Speisen  mehr :  das  ist  das  xtkog,  Ende  und  Ziel,  der 
Schwelgerei.  Er  selbst  ißt  Salz  und  spuckt  salzigen  Spott  noch 
dazu  auf  die  Schwelgerei."  Ob  für  (xt^te  zu  schreiben  sei  f^rjdi^ 
wie  die  Grammatik  verlangt,  ist  nach  Wilamowitz  so  lange 
nicht  zu  bestimmen,  bis  eine  sorgfältige  Ausgabe  Gregors  vorliegt. 
Der  Witz  am  Schlüsse  kehrt  wieder  bei  Gregor  im  Confiictus 
mundi  et  Spiritus  96 :  ägrog  >)  y.aQV'/.ia  ^/uol  zb  7iiix(.ia  x  ,  6^  akCiV 
ctnav  yXvKVy  olq  tüjv  rgvifiorTcov  al/uvQOv  /.aTumvo}.  Ich  glaube, 
daß  damit  die  Stelle  aufgeklärt  ist ;  nur  möchte  ich  xiXovg  (st.  TtAog) 
schreiben,  abhängig  von  /.aiamviüv  und  dem  avx^g  xgvq^rjg  gegen- 
übergestellt ;  der  Gedanke  wird  so  geschlossener  und  die  gram- 
matische Verbindung  leichter.  Deubner  sucht  aus  den  zwei 
Stellen  Gregors  den  Wortlaut  der  Verse  des  Kerkidas  festzustellen : 
anavxa  d'  egnov  elg  .  .  .  .  ^.ir^öt  alx'  txi  xcuv  evxeleaxaxcov  X^ßtjxog 
i^  evog,  xi?.og  XQvcpwvnov,  dann  fehlt  einiges,  und  darauf  folgte: 
agxog  t]  inagv/Ja  \  ejxoi  x6  TTtf'/"«  t^'  s^  alwv  ö^  ccTtav  ylvnv  xrA. ; 
aber  keinesfalls  hat  xcov  eixslsaxccxiov  Itßrjxog  e^  tvog  zur  Rede 
des  Kerkidas  gehört ,  da  dieser  von  seinem  Standpunkt  aus  die 
Eost  der  einfachen  Leute  nicht  als  /^r^öe  olx^  txt  bezeichnen 
konnte ;  dies  konnte  er  nur  von  den  SiDcisen  der  xQvcpäJvxEg 
sagen. 

In  I  24  nimmt  Wilamowitz  mit  P.  Maas  aus  dem  Rande 
BQvyia  auf;  er  erklärt :   „das  aber  ist  brygisches  (d.  h.  phrj-gisches) 


Bericht  über  die  griechisclien  Lyriker  usw.  für  1917 — 1920.        49 

Myserpack".  Bgvyi.'.  sagt  Kerkidas  st.  0Qvyia,  weil  er  v  braucht. 
Die  ärÖQFg  ^vddXif40i,  ironisch  gesagt,  die  Zeus  beglückt,  sind 
Kanaille,  vgl.  das  Sprichwort  eaxara  Mvoiöv,  jedoch  waren  die 
Myser  hellenisiert  und  nicht  mehr  verächtlich,  daher  setzt  Kerkidas 
die  Phryger  an  die  Stelle,  vgl.  0Qi§  dvr^Q  /rZjjye/g  df.ieiviov.  Der 
Schluß  dieses  Gedichtes  ist  für  den  Dichter  besonders  bezeichnend. 
Wilamowitz  weist  darauf  hin,  daß  er  stets  die  erste  Person 
angewandt  habe,  so  daß  man  denken  konnte,  er  sei  ein  armer 
Schlucker;  aber  dies  war  nur  kynische  Stilisierung,  um  die  Un- 
gerechtigkeit der  Güterverteilung  in  der  Welt  drastisch  zu  schüdern. 
Jetzt  geht  er  zur  Angabe  des  Heilmittels  über;  es  besteht  darin, 
daß  die  Kyniker  den  Dienst  ihrer  Götter  ausüben,  also  zu  den 
Bedrückten  gehen  und  ihnen  von  dem  Ihren  geben.  In  diesem 
Handeln  findet  Wilamowitz  das,  was  Kerkidas  mit  Nemesis  be- 
zeichnet: es  vergilt  sich,  hat  seinen  Lohn  in  sich.  Aus  dieser 
Mahnung  an  seine  Genossen  ersieht  man,  daß  es  sich  um  Wohl- 
habende handelt;  sie  sollen  den  ökßov  und  die  xvyav  ausspucken, 
d.  h.  sich  freimachen  von  der  Gesinnung  der  andern,  die  ohne 
Beachtung  der  Not  der  Zeit  ihren  Besitz  nur  für  sich  verwenden, 
also  das  %i\.idv  xr\v  Merddio  unterlassen. 

Gegen  diese  Auffassung  der  Nemesis  tritt  Immisch  auf. 
Er  geht  von  Plin.  nat.  hist.  2,  14  aus,  wo  gesagt  wird,  daß 
Demokrit  zwei  Götter  annahm,  Poena  und  Beneficium.  Dasselbe 
lesen  wir  Stob,  eclog.  4,  1,  72  [4,  1,  23  Hense]  als  Apophthegma 
des  Theophrastos,  der  auf  die  Frage :  tl  owt^ei  tov  twv  ävifQwnwv 
ßlov,  die  Antwort  gibt:  evegysaia  [/.al  rif^Tj]  y.ai  Tif^WQia.  Daraus 
folgert  Immisch,  daß  auch  Kerkidas  das  gleiche  Götterpaar 
neben  Haidv  verehrt  wissen  wolle,  daß  also  Nef-teaig  Strafe  be- 
deuten müsse.  Der  Dichter  empfiehlt  als  Heilmittel  gegen  die 
Schäden  der  Güterverteilung  die  Verehrung  des  Päan  (des  Helfers 
und  Heilbringers)  und  der  Metados  (der  Mitteilung),  die  ebenso 
wie  die  Nemesis  eine  Göttin  ist;  denn  es  ist  nach  Immisch  zu 
lesen:  ^«og  ydg  aucct  '/.ai  ]Se/.iEaig  '/mto:  yav,  weil  das  folg.  Tauzav 
sich  auf  Nemesis  bezieht.  Die  Mahnung  richtet  sich  an  die 
%Tri(.iaTi'/ioi  in  dem  wirtschaftlich  zerrütteten  Megalopolis,  allerdings 
ohne  Erfolg.  Ich  ziehe  diese  Erklärung  der  von  Wilamowitz 
und  Arnim  vor. 

Zum  Schluß  bemerke  ich  noch,  daß  Wilamowitz  bei  seiner 
Untersuchung  des  Metrums  der  Gedichte  zu  dem  Ergebnis  kommt, 
daß  Kerkidas  nicht  einzelne  Versfüße  verwendet,   sondern  größere 

Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft.    Bd.  191  (1922.  I).  4 


50  J-  Sitzler. 

Komplexe,  Glieder,  die  durch  Wortschluß  --  wenn  auch  nicht 
überall  —  kenntlich  gemacht  sind.  Die  Verde  sind  dieselben  wie 
die  des  Pindar  und  Bakchylides,  nämlich  Daktyloepitriten,  und  das 
Prinzip  der  Auswahl  ist,  daß  die  vier  Hauptglieder  zusammen  den 
daktylischen  Hexameter  oder  den  iambischen  Trimeter  bilden,  die 
andern  aber  sich  dem  anfügen.  Kerkidas  folgt  also  der  Theorie 
des  Herakleides  Pontikos,  der  alle  Verse  auf  diese  beiden  gewöhn- 
lichen Maße  zurückführte,  die  er  auf  einen  Urvers  zu  bringen 
wußte,  vgl.  Hephaestion  15:  tc^qI  aavvaQvtJTwv.  Im  3.  Jahrh. 
rechnete  also  Theorie  und  Praxis  die  Daktyloepitriten  zu  den 
Asyn  arteten. 

Parthenios. 
Die  €QcoTr/.a  nad^rn-iara  des  Parthenios  betreffen: 

1.  A.    Hartmann,    Untersuchungen    über    die    Sage 
vom  Tode  des  Odysseus.    München  1917.    VIII,  242  S. 

2.  L.  Radermacher,    Sprachliches   und  Kritisches. 
Wiener  Studien  40  S.  168  f. 

Hartmann  behandelt  S.  182 f.  Parthen.  III  die  Euryalos- 
Sage.  Die  gewöhnliche  Erzählung  von  Odysseus  erfährt  hier  eine 
Abänderung ,  insofern  die  Idee  der  Wiedervergeltung  eingeführt 
wird.  Dies  deutet  mehr  auf  einen  Dichter  als  auf  einen  Mytho- 
graphen.  Von  der  Darstellung  in  der  Tragödie  Euryalos  bei 
Sophokles  weicht  die  bei  Parthenios  hinsichtlich  der  Tötung  des 
Euryalos  ab,  die  bei  Sophokles  durch  Telemachos  (Eustath.  ad 
Odyss.  II  118  p.  1796,  50),  bei  Parthenios  durch  Odysseus  selbst 
ausgeführt  wird.  Demnach  ist  trotz  der  Beischrift:  \oTOQeX 
2o(po7.}.^g  EvQväho  nicht  Sophokles  die  Quelle  des  Parthenios; 
Hartmann  will  vielmehr  in  der  ganzen  Art  der  Darstellung 
Euripideische  Kunst  wahrnehmen.  Da  Tyrimmas ,  der  Vater  der 
Euhippe,  schon  unter  den  Vorfahren  der  Lagiden  genannt  wird 
(Meineke  z.  d.  Stelle),  so  schließt  er,  daß  die  Geschichte  schon 
in  einer  alexandrini sehen  Dichtung  behandelt  war. 

Radermacher  weist  auf  die  Erzählung  XXX  hin:  Tamr^v 
de  SQaa&eiaav  zov  HQay.?.eovg  xaray.Qviliat  zag  ßovg  htj  i^eXeiv  te 
anoöovvai  ei  [.it]  nQuceQOv  avT^  {.iixi^t^vai ,  wo  el  (ui]  Ttgovegov 
zwar  logisch,  aber  etwas  schwerfällig  sei;  einfacher  wäre  ngiv 
gewesen.  Im  Anschluß  daran  führt  er  des  weiteren  aus,  wie 
später  el  (xiq  nach  ov  7rQ6T€gov  und  selbst  nach  ov  tiqLv  an  die 
Stelle  von  ngiv  getreten  ist. 


Bericht  über  die  griechischen  Lyriker  usw.  für  1917 — 1920.         5I 

\  Babrios. 

Th.    0.    Achelis,     De     falso     credita     fabulariim 
Babrii  conversione  latina.     Philol.   76  S.  113 f. 

Bei  dem  Ulmer  Arzt  des  15.  Jahrh.  H.  Steinhoewel  finden 
sich  zwei  lateinische  Fabeln:  de  vulpe  et  uva  und  de  lupo  et 
agno.  Man  glaubte  bisher,  diese  seien  einem  lateinischen  Schrift- 
steller entnommen;  nun  zeigt  aber  Achelis,  daß  sie  von  einem 
Italiener  der  Renaissancezeit  aus  dem  Griechischen  übersetzt  sind. 
Sie  stammen  nach  ihm  aus  dem  Aesopus  Graecus,  nicht  aus 
Romulus  oder  Babrios.  Steinhoewel  hat,  wie  Achelis  gegen 
Lessing  bemerkt,  selbst  drei  Fabeln  des  Rimicius,  die  1448 
übersetzt  wurden,  in  die  4  Bücher  des  Romulus  eingefügt. 

Außerdem  nenne  ich  noch 

G.  Thiele,  Zur  libyschen  Fabel.    Phüol.  75  S.  227 f. 

Der  Verfasser  solcher  Fabeln ,  Libysses ,  wird  Babrios, 
2.  Prooem.  5  genannt.  Thiele  geht  diesen  Fabeln  bei  Dio 
Chrysostomos  und  Lukian  nach.  Auch  findet  er  eine  Parallele  im 
Achikar-Roman,  den  er  ins  5.  Jahrh.  v.  Chr.  setzt. 

Neue  Funde. 

U.  V.  Wilamo witz-Möllendorff  veröffentlicht  in  den 
Sitziangsber.  d.  Preuß.  Akademie  d.  Wissensch.  1918  S.  728  f. 
unter  II  eine  hellenistische  Elegie,  die  auf  dem  Pap.  312  der 
Bamberger  Stadtbibliothek  erhalten  ist,  vgl.  vor.  Jahresber.  Bd.  178 
(1919.  I)  S.  202.  Es  sind  17  Zeilen  auf  einer  Kolumne,  am  Linken 
Rand  überall,  am  rechten  meistens  verstümmelt.  Alle  Lesezeichen 
fehlen,  der  Schreiber  verfuhr  nicht  sorgfältig,  es  finden  sich  viele 
Korrekturen.  Wilamowitz  teilt  den  Text  mit  und  bespricht 
ihn  ausführlich.  Der  Charakter  des  ganzen  Gedichts  bleibt  nach 
ihm  ungewiß ;  es  scheint  an  einen  Gesandten  gerichtet  zu  sein, 
der  von  einem  makedonischen  oder  ägyptischen  König  an  die 
Galater  geschickt  worden  war  und  jetzt  mit  der  Botschaft  zurück- 
gekehrt ist.  Diese  scheint  nicht  günstig  gewesen  zu  sein;  denn 
der  König  gerät  in  Zorn.  Der  Versbau  ist  gut,  wenn  auch  nicht 
der  feinste,  die  Sprache  etwas  ärmlich,  aus  Homer  stammt  QVJtaQog, 
aus  Nonnos  ßa&v/.Teavog. 

Eine  Elegie  erkennt  Wilamowitz,  Lesefrüchte, 
Hermes  54  S.  46  f.,  auch  in  den  Versen  am  Ende  des  26.  Kapitels 
(p.  115  a)    der    Trostschrift    Plutarchs    an    Apollonius.      Er    liest: 


52  J-  Sitzler. 

TOI  ade   {tot}   d^vrp^oiGi    xancuv    '/.axa    a/ncpi   ze    y.)JQeg  j  elksvvTai, 
TiEvsrj  (5'  eiadvatg  ovo*  dO^tQt. 

II.   Melische  Dichter. 
A.   Allgemeines. 

L.  Deubner,  Paian.    N.  Jalub.  XXII  (1919)  S.  385 f. 
D  e  u  b  n  e  r   will    den   Ursprung   des    Päan    aufklären.     Dieser 
ist   nach   ihm   kathartischer   und  apotropäischer  Natur;    er  gilt  als 
Heilruf,    der  Übel   abwenden    und  Segen    auf  alle  Unternehmungen 
des  Tages  herabrufen  soll.    Auch  den  Schlachtruf  hält  er  für  eine 
Abart    des    Heilsanges.     Die    Heimat    des    Päan    ist    Kreta.     Das 
Hyporchem   ist   nach   Deubner   gleichbedeutend    mit   dem  Päan, 
nur  daß  in  ihm  das  orchestische  Element  stärker  hervortritt.     Be- 
gründer des  Hyporchems   scheint  ihm  Xenodamos  von  Kythera  zu 
sein.     Der  Tanz    ist   mit    dem  Päan    als  Zauberlied  von  Haus  aus 
verbunden,    freilich  nicht  der  feierliche  der  späteren  Zeit,  sondern 
der  wilde,  leidenschaftliche,  orgiastisch-ekstatische  unter  Begleitung 
der  Flöte.     Die  Heiltänze    der  Kureten    betrachtet  Deubner   als 
eng   verwandt   mit   dem  Päan.     Die    älteste  Form   des  Päans   war 
der  Heilruf  iij  Tiaiäv  oder  ir]  Is  {Ir^is)  Tiaiccv,  der,  wohl  noch  aus 
vorgriechischer  Zeit  stammend,  sich  als  Refrain  erhalten  hat;  von 
ihm    ging    die    magische  Wirkung   aus.     Die  Existenz    eines    wirk- 
lichen Gottes  Ilaidv  leugnet  Deubner;   er  meint,  der  Götterarzt 
Jlairiüjv,    der   bei   Homer    vorkommt,    sei    vom   Dichter    selbst   er- 
funden.    Aber    diesen    Götterarzt   kennt    auch   Hesiod    und    Solon; 
eine  dichterische  Erfindung  ist  ganz  unwahrscheinlich,    freilich  mit 
dem  Heilsang  Päan   hat   er   nichts    zu    tun ,    wie  ich  schon  in  der    | 
"Wochenschr.    für   klass.    Philologie    1901   Sp.  60    ausführte.     Zum 
spezifischen   Kultlied    des    Apollon    machten    erst   die    delphischen    i 
Priester   den  Päan,    der   dann   auch  Beiname    des  Apollon   wurde; 
Apollon  wurde    dadurch  als   „Heiland"  gefeiert.     Später  ging  Päan 
in   den  Begriff  Hymnus    über    und   wurde    auch    zu  Ehren    anderer 
Götter  gesungen,  jedoch  nie  der  Götter  der  Erdtiefe. 

B.   Die  einzelnen  Dichter. 

Alkman. 
W.  Bannier,    Zu   griechischen   und  lateinischen 
Autoren.     II.     Rhein.  Museum  73  S.  59 f. 
■will   fr.  23,   46  f.    den    Genet.   twv   vTiOTterQidicov   ovsiqcjv    mit    ev 
ßoTolg  verbinden,  wogegen  doch  schon  die  Stellung  spricht. 


Bericht  über  die  griechischen  Lyriker  usw.  für  1917 — 1920.         53 

Die  lesbischen  Dichter. 

P.  Maas,  Das  Vau  bei  Sappho  und  Alkaios.  Vor- 
trag im  Philol.  Verein  zu  Berlin  12.  Jan.  1920  (vgl.  Wochenschr. 
f.  klass.  Phil.  1920  Sp.  207). 

Maas  weist  darauf  hin,  daß  die  lesbischen  Dichter  nur  im 
Personalpronomen  der  3.  Person  das  J-  stets  berücksichtigen,  bei 
andern  Wörtern  nur  ausnahmsweise.  Daher  will  er  Alkäos  55  und 
Sappho  28  das  überlieferte  TelWjjv,  das  man  allgemein  in  J-einriv 
änderte,  beibehalten,  indem  er  es  als  xoi  siTtrjv  (=  aoi  siTteiv) 
erklärt.  Dies  ist  möglich,  aber  mir  unwahrscheinlich-,  rot  ist  ent- 
behrlich, die  Verschreibung  des  .f  in  r  zu  naheliegend,  um  darin 
den  Rest  von  toi  zu  sehen. 

Sappho. 
Über  Sappho  veröffentlicht 

W.  Aly,  Sappho.  Pauly-Wissowa- Kroll -Witte  ßeal- 
enzyklopädie  lA  Sp.  2357  f., 
einen  gut  orientierenden  Artikel,  der  die  Literatur,  die  neueren 
Papyrusfunde,  den  antiken  Bios,  Zeitansatz  und  Biographisches, 
Textgeschichte,  die  antike  Buchausgabe,  unechte  Gedichte,  Sapphos 
Stoffe,  ihre  poetische  Anschauung,  den  Thiasos,  die  sprachliche 
Form,  Musik  und  Metrik  sowie  die  antiken  Darstellungen  behandelt. 
Überall  scheidet  Aly  klar  zwischen  dem,  was  feststeht,  und  dem, 
was  mit  mehr  oder  weniger  Wahrscheinlichkeit  erschlossen  ist; 
seinem  Urteil  kann  man  fast  ausnahmslos  zustimmen. 

Mit  den  bei  Bergk*  gesammelten  Gedichten  und  Fragmenten 
beschäftigen  sich: 

1.  P.  Maas,  Ährenlese.  2.  Sappho  1,  5.  Sokrates  VH 
S.  254 f.  —  Ährenlese  III.  Sappho  bei  Aristoteles 
Rh  et.  1,  9  p.  1867  a  7.     Ebenda  VIII  S.  20. 

2.  J.  Lunak,  De  Sapphus  fr.  52  commentariolum. 
Wien.  Studien  40  S.  9 7  f. 

3.  H.  Diels,  De  Alcaei  voto.  Scheda  gratulatoria  ad 
U.  de  Wilamowitz-Möllendorff.     1920  [fr.   70]. 

4.  S.  Hammer,  Ad  Sapphus  et  Catulli  carmina 
nuptialia  notulae.  Ex  comment.  q.  i.  Eos  XXIII. 
Posnaniae,  TJniv.  iuventutis  Polonicae. 

Die  notulae  Hammers  konnte  ich  nicht  einsehen.  — 
Maas  bemerkt  zu  1,  5,  daß  eine  alte  Doppellesung  vorliege: 
TOyAot  und  TtrjXvL.   Mit  der  rituellen  Formel  at,  jiota  xarc^wra  xr^. 


54  J.  Sitzler. 

habe  Sappho  die  Erfüllungen  der  Vergangenheit  mit  den  Wünschen 
der  Gegenwart  wundervoll  verwoben,  —  Den  Vers  Alkäos  55,  2: 
■d^eXio  TL  J-et/tr^v  yitl.  schreibt  er  mit  anderen  der  Sappho  zu, 
Sapph.  28  al  d'  t^x^S  '^^X-  einem  Novellisten  des  6.  Jahrh.,  der 
ein  Liebesverhältnis  des  Alkäos  und  der  Sappho  erdichtet  habe; 
von  diesem  Novellisten,  meint  er,  hängen  der  Maler  der  Münchener 
Vase,  Aristoteles,  Hermesianax  und  der  Metriker  ab,  der  die 
Bezeichnung  alkäischen  Zwölfsilber  für  den  Vers  lo/ilox  ayva  xtX. 
(Alk.  55)  erfand.  Ich  kann  dieser  Vermutung  nicht  zustimmen. 
Aristoteles  legt  den  Vers  ausdrücklich  dem  Alkäos  bei,  und  daß 
er  keinen  anderen  als  den  lesbischen  Dichter  gemeint  hat,  zeigt 
der  Zusammenhang.  Sein  Zeugnis  wird  noch  durch  das  Versmaß 
unterstützt;  denn  Sappho  gebrauchte,  wie  es  scheint,  das  alkäische 
Versmaß  nur  unter  ganz  bestimmten  Verhältnissen.  So  steht  es 
für  mich  fest,  daß  Alkäos,  wie  andere  Gedichte,  vgl.  fr.  55,  1 : 
lonXox  ayva  xrA.,  so  auch  ein  Gedicht  an  Sappho  richtete,  in 
dem  der  Vers  O^eXo)  tl  J^einrjv  /.xX.  vorkam.  Darauf  erwiderte, 
wieder  nach  dem  ausdrücklichen  Zeugnis  des  Aristoteles,  Sappho 
mit  einem  Gedicht,  das  sie  absichtlich  in  demselben  Versmaß  ab- 
faßte, wie  das  an  sie  gerichtete,  und  in  diesem  kamen  die  Verse 
«t  6"  r^x^g  xtA.  vor.  Was  der  Dichter  zu  sagen  sich  scheut,  ist 
ein  -/.axbv  und  alaxQOv,  wie  man  aus  der  Erwiderung  der  Dichterin 
und  aus  Aristoteles  ersieht,  also  jedenfalls  keine  diskrete  An- 
deutung seiner  Zuneigung  zu  ihr.  Aus  dieser  Beziehung  der  Verse 
des  Dichters  und  der  Dichterin  zueinander  wurde  im  Laufe  der 
Zeit  ein  Dialog-Lied,  das  man  der  Sappho  zuschrieb,  wie  Stephanus 
zu  der  Stelle  des  Aristoteles  beweist,  und  auf  ein  solches  geht  auch 
das  Zitat  der  Anna  Komnena  zurück.  —  Lunak  wünscht  fr.  52,  4 
fiova  ov  TcaTSvöo)  st.  fuöva  yiatscdw.  Wer  f.i6va  VMiEvdo)  der 
Sappho  nicht  zutraut,  würde  ihr  doch  gewiß  diese  Verse,  die  ja 
nicht  unter  ihrem  Namen  überliefert  sind ,  richtiger  absprechen, 
als  sie  so  für  sie  nach  seiner  Auffassung  von  ihr  zurechtmachen. 
—  Di  eis  ergänzt  fr.  70:  tig  6  ed^eXye  voov  aot  ayQottoTiv  (jidX*) 
STce/ufxiva  \  y.ovk  suiOTa(.iiva  xrA.,  indem  er  bei  ayQo'i'iotiv  Ellipse 
von  axohqv  annimmt,  vgl.  Maxim.  Tyr.  XXIV  9. 
Auf  die  neuen  Funde  beziehen  sich : 

1.  W.  Schub art   in    d.   Sitzungsber.    d.  Preuß.  Akademie    d. 
Wissensch.  1918  S.  764  [fr.  21  Diehl^]. 

2.  J.  M.  Edmonds    in  Class.  Eeview  XXXIV  (1920)    S.  4 f. 

[Neuer  Herstellungsversuch  der  Nereiden-Ode  (fr.  1  Diehl^) 
nebst  Übersetzung.] 


Bericht  über  die  griechischen  Lyriker  usw.  für  1917 — 1920.         55 

3.  H.  Idris  Bell  in  Class.  Review  XXXIV  (1920)  S.  63. 
[Vermutungen  zum  Text  der  Nereiden-Ode.] 

4.  0.  Engelhardt,  Dem  Bruder.  Wochenschr.  f.  klass. 
Philologie  1918  Sp.  263.     [Übersetzung  der  Nereiden-Ode.] 

Die  Arbeiten  von  E  d  m  o  n  d  s  und  Bell  waren  mir  nicht  zu- 
gänglich. Schubart  hält  die  Zeichen,  die  im  Sapphofragment 
des  Hallenser  Papyrus  erscheinen,  nicht  für  Noten,  sondern  für 
Akzente  und  Lesezeichen,  wie  z.  B.  Zeile  2  naiaar,  Z.  9 :  au  d 
ev  yccQ  oioiya.  So  schon  Wessely,  vgl.  vor.  Jahresber.  Bd.  178 
<1919.  I)  S.  50. 

Über  das  Leben  Sapphos  spricht 

W.    K.    Prentice,    Sappho,    ihr    Leben    und    ihre 
Persönlichkeit.     Class.  Philology  XIII  (1918)  S.  347f. 
Wie  ich  aus  einer  Anzeige  ersehe,  versucht  er  das  gut  Bezeugte 
über  sie  aus  den  auf  uns  gekommenen  Nachrichten  und  Mitteilungen 
festzustellen. 

C.  D.  Curtis,  Sappho  and  the  Leukadian  Leap. 
American  Journal  of  Archaeology  XXIV  S.  146  f., 
bespricht  ein  Stuckrelief,  das  in  der  unterirdischen  Basilika  in  der 
Nähe  der  Porta  Maggiore  in  Rom,  einem  Heiligtum  des  1.  christ- 
lichen Jahrhunderts,  entdeckt  wurde.  Er  deutet  es  als  Darstellung 
des  Sprunges  der  Sappho  vom  Leukadischen  Felsen. 

Alkäos. 
Zur   Erklärung    und   Ergänzung   der   Bruchstücke    des  Alkäos 
liefern  Beiträge : 

1.  U.  V.  Wilamowitz-Möllendorff  in  Sitzungsber.  d. 
Preuß.  Akademie  d.  Wissensch.  1918  S.  1147  Anm.  1  [fr.  94]. 

2.  H.  Diels,  De  Alcaei  voto.  Scheda  gratulatoria  ad 
U.  de  Wilamowitz-MöUendorff.  1920  [fr.  32.  94  (Bergk), 
fr.  1.  25  (Diehl)]. 

3.  J.  Sit  zier  in  Philol.  Wochenschr.  1921.  Sp.  1055  [fr.  12  DJ. 

Fr.  32  schreibt  Diels:  ^'^X-AULog  aaog  agfxoi,  evTsa  d  ov. 
üTivTog  aXiKQOTOv  I  elg  riavy.oj7tiov  Iqov  {tax  )  ovey.Qe(.ivaaav  ^x- 
ZL/.01 ;  aber  agi-iol  paßt  nicht,  eher  ist  I'qqel  oder  egge  zu  lesen.  — 
Fr.  94  schreibt  Wilamowitz  /JivvofteveL  ri^  TvQQa/ir^(i)  und  ev 
D/lvQOLvvo)  oder  MvQaivijq) ,  indem  er  bemerkt,  daß  im  2.  Vers 
x'  £/.iav^  nahe  liege.  Richtiger  schließt  sich  Diels  Seidler 
an,  der  JivvofxevEL  rot  t'  ^Yggaö^nj  und  fv  Mugailrico  vorschlug; 
nur    daß    er   Jivvonevr^    vorzieht.     Pittakos    stammt    aus    dem   Ge- 


56  J-  Sitzler. 

schlecht  der  Hj'^rradier,  Dinnomenes  aus  dem  der  Archeanaktiden ; 
beide  Männer  waren  miteinander  verbunden.  Zu  sv  B'lvQaiXrjfif 
bemerkt  er:  „Myrsili  arx  postea  tamquam  heroon  conservata  esse 
videtur,  ubi  Pittaci  et  Dinnomenis  arma  velut  in  praesidio  con- 
servabant."  —  Fr.  lA  (Diehl).  Di  eis  glaubt  als  Inhalt  dieses 
Bruchstückes  feststellen  zu  können,  daß  Zeus  mit  der  schweren 
Niederlage  der  Partei  des  Alkäos  in  Beziehung  gesetzt  worden  sei; 
Alkäos  überlege,  was  man  tun  müsse,  um  den  Zorn  des  Zeus  zu 
versöhnen.  Dann  folge  die  Beschreibung  der  Niederlage  und  der 
Dank  an  Zeus,  daß  sie  wenigstens  ihr  Leben  hätten  retten  können. 
Alkäos  rate  zu  einem  feierlichen  Bittfest  des  ganzen  Volkes.  In 
B  bitte  er  Zeus  um  Hilfe  in  dieser  Not  und  füge  den  Wunsch 
bei,  die  Gegner  mögen  umkommen,  und  ihm  möge  es  vergönnt  sein, 
dem  Retter  Zeus  beim  Siegesgelage  die  Spende  darzubringen,  weil 
Myrsilos  tot  sei,  was  auch  eintrat,  vgl.  fr.  20.  Zum  Schlüsse  gibt 
D  i  e  1  s  eine  Ergänzung  der  Überreste  in  diesem  Sinne  nebst  einer 
lateinischen  Übersetzung  im  gleichen  Versmaß.  —  Fr.  12  (Diehl) 
ergänze  ich  dem  vorhergehenden  d^Qtyoy.ovcsg  ov  ay.ga  vdwv  ent- 
sprechend: -jCQOtovoig  OTixavTsg]  äolisch  oiixaixL  =^ Gvixäco  =  oreixo}., 
hier  mit  dem  Akkusativ  wie  bei  den  Tragikern.  —  Fr.  25  (Diehl). 
Diels  ergänzt:  XalßQMg  öi  aivaiei[iliEv  yiEXiß]£id  na[i  \  rciixnXBiaiv 
dy.QciT[co  i^df.1^  £]7r'  d/^iegq  mit  der  Erklärung:  „sectatus  est 
(Pittacus)  illos,  qui  voraciter  rustica  pocula  alicubi  mero  de  die 
crebro  implent."  Das  dazu  gehörige  verstümmelte  Scholion  liest 
er:  [vv'Ara  rat'JTj;»'  leysi,  [sv  f]  iliTTajxoc;  gvv  [rolg  cpiloig  to]v 
eO-ovg  [^Q^s  -/a^/ff]rag  zo  oQireiv  ... 

Stesichoros. 
An  Arbeiten  zu  Stesichoros  liegen  vor: 

1.  Max  Schmidt,  Troika.  Archäologische  Beiträge  zu 
den  Epen  des  troischen  Sagenkreises.  Diss.  Göttingen. 
1917.     93  S.     [Iliupersis.] 

2.  S.  Eitrem,  Eine  Verzweigung  des  Zwillings- 
typus.   Berl.  philol.  Wochenschr.  1919.   Sp.  742f.  [fr.  44]. 

3.  J.  Vürtheim,  Stesichoros.  Fragmente  und  Biographie. 
Leiden  1919.     112  S. 

Vürtheim  behandelt  den  literarischen  Nachlaß  des  Stesichoros, 
soweit  er  auf  uns  gekommen  ist,  unter  Verwertung  der  Arbeiten 
derer,  die  sich  bisher  damit  beschäftigt  haben.  Nachzutragen 
wären  nur  Schol.  Apoll.  Rhod.  I  1304  und  Photios  und  Suidas 
s.  V.  TvqtXÖTEQog  Gjrdla/.og  (vgl.  Paroemiogr.  I  309),  zwei  Stellen, 


Bericht  über  die  griechischen  Lyriker  usw.  für  1917 — 1920.         57 

an  denen  Bergk*  S.  232  f.  ^crjal/LtßgoTog  mit  ziemlicher  Wahr- 
scheinlichkeit in  ^ir^ar/OQog  geändert  hat.  Vürtheims  Absicht  ist, 
aus  den  erhaltenen  Fragmenten  ein  lebendiges  Bild  des  Dichters 
Stesichoros  erstehen  zu  lassen.  Wenn  ihm  dies  nicht  gelungen 
ist,  so  ist  nicht  seine  Behandlung  daran  schuld,  sondern  die 
Dürftigkeit  der  Überreste,  die  einen  Einblick  in  die  Dichtkunst 
des  Stesichoros  weder  nach  Inhalt  noch  nach  Form  ermöglichen. 
Ihre  Stoffe  lassen  uns  die  überlieferten  Titel  meistens  erkennen, 
aber  über  die  Behandlung  dieser  im  einzelnen  sind  wir  im  un- 
klaren, und  es  liegt  die  Gefahr  vor,  daß  man  dem  Dichter  aus 
der  sonst  bekannten  Gestaltung  der  Sage  zuschreibt,  was  ihm  nicht 
gehört.  Auch  Vürtheim,  der  im  ganzen  mit  lobenswerter  Umsicht 
verfährt,  scheint  mir  einigemal  etwas  zu  weit  gegangen  zu  sein. 

^udd^la  hei  IleXia  fr.  1  werden  die  Pferde  Xanthos  und  Kyl- 
laros  genannt,  die  Hera  den  Dioskuren  gegeben  habe ;  aber  wie 
sie  die  Pferde  unter  die  beiden  verteilte,  darüber  ist  die  Über- 
lieferung nicht  einig.  Kyllaros  wird  bald  dem  Kastor,  bald  dem 
Pollux  zugeschrieben ;  als  Gewährsmann  für  Kastor  nennt  das 
Etym.  M.  Stesichoros,  als  Gewährsmann  für  Pollux  das  Schol. 
Bernense  zu  Vergil  Georg.  III  89  Alkman.  Vürtheim  hält, 
wenn  ich  ihn  recht  verstehe,  die  letztere  Angabe  für  irrtümlich, 
kaum  mit  Recht ;  denn  Alkman  dichtete  einen  Hymnus  auf  die 
Dioskuren  (fr.  9),  worin  er  sie  als  tvojIwv  tüy.i(ov  df.iati^Qeg  feiert, 
und  darin  kann  die  erwähnte  Zuweisung  wohl  vorgekommen  sein; 
auf  der  Kypselos-Lade  (Paus.  V  17,  9)  ist  unter  den  Wettfahrenden 
bei  den  Leichenspielen  Polydeukes  genannt.  Auf  Alkman  wird 
die  Angabe  Virgils  a.  a.  0.  zurückgehen-,  die  Mehrzahl  aber  folgte 
der  Angabe  des  Stesichoros.  —  fr.  2  werden  eine  Anzahl  Speisen 
aufgeführt,  von  denen  es  heißt:  (figeod-aL  zfj  TtaqS^ivio  dtoga. 
Vürtheim  erkennt  richtig  in  Tvagi^ävip  Athene  und  schließt 
daraus,  daß  hier  von  einer  Hochzeit  die  Rede  sei.  Ich  kann  mich 
nicht  davon  überzeugen,  daß  eine  solche  in  den  Leichenspielen 
geschildert  gewesen  sei,  sondern  beziehe  die  Verse  auf  ein  den 
Göttern,  darunter  auch  der  Athene  dargebrachtes  Opfer  vor  Be- 
ginn der  Wettspiele.  —  fr.  4  sind  die  Worte:  ßeXziov  öi  .  .  . 
nETQai(i),  die  eine  andere  Erklärung  zu  y^eigoßgarvL  öeoui^  geben, 
augenscheinlich  ein  fremder  Zusatz  ,  dessen  verstümmelter  Schluß 
zu  lesen  sein  wird :  edti^t^^öav)  yaq  l'v  zivl  7re{drj)  xQu^eia. 
Stesichoros  hatte  y^eiQo;iQWTL  deoi-nf  im  Sinne  von  rolg  nxvYXV/.oig 
ifidai  gebraucht,  was  hier  bezeugt  wird.  Vürtheim,  der  die 
von  mir  ausgeschiedene  Erklärung  für  echt  hält,  ergänzt  zu  ided^i] 


58  J.  Sitzler. 

Prometheus  und  glaubt,  daß  von  dessen  Schicksal  gesprochen 
worden  sei.  Aber  könnte  es  in  diesem  Falle  i'r  xivi  nexQcciii) 
heißen?  Und  was  hat  Prometheus  mit  den  Festspielen  des  Akastos 
zu  Ehren  seines  Vaters  Pehas  zu  tun?  —  Als  Inhalt  der  'Ai^Xa 
nimmt  Vürtheim  an:  1.  Bericht  über  die  Argonautenfahrt  mit 
Prometheus'  Leidensschilderung;  2.  Admetos'  und  Alkestis'  Hoch- 
zeit; 3.  Verjüngung  des  Aeson  und  Tötung  des  Pelias;  4.  Leichen- 
spiele; 5.  Medeas  Flucht  nach  Korinth.  Hiervon  kann  ich  nur 
Nr.   4  annehmen. 

Geryoneis  fr,  7  erklärt  Vürtheim  unter  Vergleichung  von 
Theokrit.  VII  149 f.:  „Cheiron  stellte  dem  Herakles  einen  wohl- 
gemischten Krater  auf  den  Tisch,  Pholos  selbst  schöpfte  den 
Riesenbecher  voll  und  reichte  ihn  dem  Gast."  Dies  stimmt  zu 
Stesichoros'  Worten  nicht,  bei  dem  Pholos  mischt  und  aufstellt.  — 
fr.  8  will  Vürtheim  tiotl  ßivO^Ea  vvy.Tog  egsf^iväg  in  dia  ßtvi^ea 
xrA.  ändern,  weil  er  meint,  hier  müsse  von  des  Helios'  Fahrt  von 
Westen  nach  Osten  während  der  Nacht  gesprochen  werden ,  vgl. 
Mimnerm.  fr.  12.  Dieser  Annahme  widerspricht  der  Wortlaut; 
denn  die  ßiv^ea  vvy.Tog  sind  nur  im  Westen,  wo  auch  die  Be- 
hausung des  Helios  ist,  vgl.  die  Stellen  bei  Athen.  XI  469  und 
781 ;  außerdem  Aeschyl.  fr.  66.  Wie  er  von  Westen  nach  Osten 
kommt,  kümmert  den  Dichter  nicht  weiter.  —  Auch  in  der 
Skizzierung  des  Inhalts  dieses  Gedichtes  geht  Vürtheim  weit 
über  das  hinaus,  was  wir  wissen  können  ;  nach  ihm  hat  Stesichoros 
darin  auch  geschildert,  „was  für  Inseln  draußen  im  Ozean  liegen, 
jenseits  der  Säulen,  wo  Sarpedon  ruht  und  die  Gorgonen  lauern" 
- —  er  möchte  nämlich  Kypr.  fr.  21  K.  dem  Stesichoros  geben  — , 
und  eine  ganze  Heraklea  gedichtet. 

Kerberos  hatte  nach  Vürtheim  „zweifelsohne"  denselben 
Inhalt  wie  Sophokles'  Satyrspiel  ^Hqu/JS^g  Inl  TaivcxQO);  daraus, 
daß  darin  das  Wort  agißaklog  vorkam,  schließt  er  auf  „Aristo- 
phaneischen  Beigeschmack",  vgl.  Frösche  Ulf.  561   fr. 

Kyknos  wird  von  Vürtheim  nüchterner  beurteilt;  aber 
Schol.  Pind.  0.  X  19  hätte  er  nicht  für  das  yiTiol'Uovi^  das  man 
allgemein  in  ^'^qu  korrigiert  hat,  eintreten  sollen :  dem  Apollon  baut 
man  keinen  Altar  aus  Menschenschädeln,  zumal  wenn  man,  wie  es 
am  Ende  der  Aspis  von  Kyknos  heißt,  die  Pilger  tötete,  die  nach 
Delphi  heilige  Hekatomben  bringen  wollten.  Kyknos  hat  keine  Be- 
ziehung zu  Apollon,  wohl  aber  innige  zu  Ares. 

Skylla.  Vürtheim  vermutet  sehr  ansprechend,  daß  die 
Lesart    des    Schol.  Apoll.  Rh.    im    cod.  Laurent,    ursprünglich   ge- 


J?ericht  über  die  griechischen  Lyriker  usw.  für  1917 — 1920.         59 

lautet  habe:  ^ci^aiyOQog  öi  Iv  tFj  .2"xrAA/^  ^iaulag  Tfjv  ^/.iXXay 
(fi,oi  itv'/atiqa  eivai ;  über  ^/afjiag  sei  Eldvig  rtveg  geschrieben 
worden,    und    so    sei    die  Lesart    ei'dovg  zivög  yfauiag  entstanden. 

Europeia.  Dabei  behandelt  Vürtheim  die  Geschichte  des 
Aktäon ,  vgl.  fr.  68  und  fr.  adesp.  39,  ohne  fr.  39  jedoch  der 
Europeia  oder  auch  nur  dem  Stesichoros  zuzuschreiben.  Dies 
kann  man  nur  billigen ;  aber  auch  von  fr.  G8  läßt  sich  nicht  sagen, 
in  welchem  Zusammenhang  es  bei  Stesichoros  vorkam. 

'/At'oi'  riiQGig'  Verhältnis  zur  Tabula  Iliaca  wird  auch  von 
Vürtheim  und  Ma.\  Schmidt  S.  60  f.  untersucht;  auch  sie 
kommen  zu  dem  Ergebnis,  daß  der  Künstler  sich  nicht  genau  an 
die  dichterische  Darstellung  hielt.  —  fr.  18.  Vürtheim  führt 
gegen  Paulcke,  Ilische  Tafel  S.  79,  aus,  daß  die  Herabwürdigung 
des  Epeios  nicht  von  Stesichoros  ausgehe,  sondern  eine  Folge  des 
fortwährenden  Streites  zwischen  Epeiern  und  Pyliern  sei,  vgl. 
Hom.  y/  747  •,  Stesichoros  habe  den  Helden  wieder  zu  Ehren  ge- 
bracht. 

Oresteia  fr.  41.  Vürtheim  spricht  die  wahrscheinliche 
Vermutung  aus ,  daß  Stesichoros  selbst  die  Laodameia  eingeführt 
habe,  um  die  Lücke  in  der  Überlieferung  der  Geschichte  auszufüllen. 
Pherekydes  schloß  sich  dem  Stesichoros  an,  vgl.  Schol.  Find. 
P.  XI  26.  —  fr.  42 ,  der  schon  so  oft  behandelte  Traum  der 
Klytämestra,  wird  von  Vürtheim  so  gedeutet:  „Nach  ihrer  Ver- 
mählung mit  Aigisthos  hofft  Klytaimnestra ,  die  Regierung  sei  in 
dessen  Geschlecht  übergegangen.  Da  schaut  sie  plötzlich  in  die 
Zukunft.  Nicht  ein  Nachkomme  des  Aigisthos  wird  herrschen, 
sondern  aus  ihrem  ermordeten  Gemahl  steigt  ein  neuer  Pleistheniden- 
könig  empor;  er  trägt  die  Gesichtszüge,  die  Gestalt  des  alten 
Geschlechts.  Es  lebt  also  noch  ein  aus  Agamemnon  Geborener; 
dieser  wird  einst  König,  ein  ßaoi?.ei\:  iD.eiaO^eilöag  sein."  Diese 
Deutung  paßt  nicht  in  den  Zusammenhang,  in  dem  Plutarch  (de 
sera  num.  vind.  X)  den  Traum  zur  Bestätigung  seiner  Darlegungen 
erzählt.  Plutarch  spricht  hier  nicht  von  der  Offenbarung  der  Zu- 
kunft durch  Träume,  sondern  von  den  Schrecknissen,  durch  welche 
die  Übeltäter  nach  Verübung  der  Tat  infolge  ihres  Schuldbewußt- 
seins gequält  werden.  So  wird  auch  Klytämestra,  die  ihren  Ge- 
mahl meuchlings  erschlagen  hat,  nachts  durch  ein  Traumbild  ge- 
ängstigt, das  ihr  den  Ermordeten  zeigt,  wie  er  als  Schlange  mit 
blutigrotem  Kopfe  auf  sie  zukommt :  ein  Traumbild,  das  Stesichoros, 
wie  Plutarch  sagt,  nach  den  wirklichen  Geschehnissen  gedichtet 
hat  {TiQÖg  Tcc  ysvousva  ycal  nqbg  zriv  alt^d^Eiav  anoTtXcaxBGi^aL). 


gO  J-  Sitzler. 

Kalyke  sucht  Vürtheim  als  elische  Novelle  zu  erweisen, 
indem  er  Schol.  Apoll.  Rh.  IV  57  anführt,  wo  Endymion  nach  Hesiod 
als  Sohn  des  Aethlios  und  der  Kalyke  bezeichnet  wird,  ferner 
Paus,  V  1,  3  und  VIII  8,  wo  Aethlios,  Sohn  des  Zeus  und  der 
Protogenia,  König  von  Elis  genannt  wird.  Dies  bleibt  sehr  zweifel- 
haft, da  die  Namen  Euathlos  und  Kalyke  nicht  an  Elis  gebunden 
sind  und  auch  Euathlos  und  Aethlios  nicht  ohne  weiteres  identi- 
fiziert werden  können. 

ßhadines  Geschichte  bringt  Vürtheim  mit  dem  Grab- 
kultus in  Zusammenhang,  weil  Pausanias  VII  5,  13  berichtet,  daß 
Liebesbedürftige  zum  Grabmal  der  Rhadine  zu  pilgern  pflegen. 
Eitrem  sieht  in  der  von  der  ßhadine-Erzählung  vorausgesetzten 
Situation  eine  Verzweigung  des  Zwillingstypus.  Ein  Grab  des 
Liebespaares  war  auf  der  Insel  Samos,  ein  anderes  vermutlich  in 
Korinth.  Man  darf  annehmen,  daß  Sage  und  Kult  mit  den  Aus- 
wanderern aus  Argos-Korinth  nach  Samos  gelangte. 

Helena  und  Palinodia.  Fr.  26  schrieb  Bergk  xopatc,', 
worin  ihm  Vürtheim  folgt;  es  ist  aber  -/.oQug  zu  lesen,  wie 
M{yiovQag)  hat;  denn  den  Töchtern  kann  Aphrodite,  die  ja  nur 
vom  Vater  beleidigt  wurde,  nicht  zürnen  ;  wohl  aber  kann  sie  in 
ihrem  Zorn  den  Vater  in  seinen  Töchtern  bestrafen.  —  fr.  32. 
Vürtheim  wirft,  wie  schon  Bergk,  die  Frage  auf,  welchen 
Aufenthaltsort  Stesichoros  der  Helena  angewiesen  habe,  während 
Griechen  und  Troer  um  ihr  Trugbild  kämpften.  Bergk  be- 
schränkte sich  auf  die  Autwort,  daß  wir  dies  nicht  wissen; 
Vürtheim  aber  meint,  der  Dichter  habe  Helena,  der  Erde  ent- 
rückt, auf  der  Insel  der  Glückseligen  weiter  leben  lassen,  „irgend- 
wo jenseits  der  Grenzen,  die  den  Menschen  gesetzt  sind,  im 
Okeanos,  d.  h.  im  Himmelsmeer".  Ja,  auf  Grund  einer  Ver- 
gleichung  mit  Horaz,  Epod.  XVII  40 f.,  geht  er  noch  weiter;  er 
nimmt  an,  Stesichoros  habe  „die  Göttlichkeit  der  Helena  in  seiner 
Palinodie  anerkannt,  ihr  am  nächtlichen  Himmel  neben  den  brüder- 
lichen Gestirnen  einen  gebührenden  Platz  verliehen,  sie  als  sidus 
aureum  astra  perambulans  besungen".  Dieser  Annahme  wider- 
spricht die  Tatsache,  daß  die  wirkHche  Helena  nach  Beendigung 
des  Krieges  wieder  mit  Menelaos  in  Sparta  zusammen  lebte;  sie 
muß  also  doch  unter  den  Menschen  geblieben  sein.  Auch  ist  es 
wenig  wahrscheinlich,  daß  Stesichoros  Helena  und  die  Dioskuren 
unter  die  Sterne  versetzte.  Das  Beispiel  der  Iphigeneia  (fr.  88), 
auf   das    Vürtheim    zum    Beweise    hinweist,    paßt    nicht,    weil 


Bericht  über  die  griechischen  Lyriker  usw.  für  1917 — 1920.        gl 

Iphigeneia  in  eine  Göttin,  die  Hekate,  verwandelt  wurde.  Meiner 
Meinung  nach  hat  sich  der  Dichter  überhaupt  keine  Gedanken  über  den 
zeitweiligen  Aufenthaltsort  der  Helena  gemacht. 

Daphnis  hat  Stesichoros  nach  dem  Zeugnis  des  Älian.  var. 
bist.  X  18  zuerst  zum  Gegenstand  der  Poesie  gemacht.  Vürt- 
h  e  i  m  hat  darüber  ausführlich  in  d.  Abhandl.  d.  Kgl.  Akad.  d. 
Wiss.  zu  Amsterdam  Ser.  V  T.  II  (1917)  S.  387  f.  gesprochen-, 
in  der  vorliegenden  Ausgabe  der  Fragmente  des  Stesichoros  faßt 
er  die  Ergebnisse  jener  Untersuchung  kurz  zusammen :  Stesichoros 
besingt  die  Leiden  des  Hirten  Daphnis,  der,  von  der  Nymphe  ab- 
gewiesen, elend  dahinschmachtet,  von  der  ganzen  Natur  bedauert 
wird  und  schließlich  seinem  unerträglichen  Dasein  durch  einen 
Sprung  ins  Meer  ein  Ende  macht,  nicht  den  Jäger  Daphnis,  der 
wegen  Untreue  von  der  beleidigten  N3'mphe  geblendet  wird; 
Stesichoros*  Fassung  ist  an  der  Nordküste  Siziliens  zu  Hause,  die 
andere  im  Innern  beim  Palikenheiligtum ,  jenen  Dämonen ,  die 
Meineid  mit  Blendung  bestraften. 

Die  überlieferten  Fabeln  spricht  Vürtheim  dem  Stesichoros 
ab,  leugnet  aber  nicht,  daß  er  Fabeln  geschrieben  haben  kann.  Zu 
den  Fragmenten  fügt  er  noch  Oxyr.  Pap.  II  S.  59  Nr.  221, 
Simonides  46  mit  Wilamowitz,  vgl.  vor.  Jahresber.  Bd.  178 
(1919.  I)  S.  84 f.,  Serv.  Vergü.  Bucol.  VIII  68  mit  ßeitzen- 
stein  und  Verg.  Aen.  VI  5l7f.  mit  Immisch,  die  drei  letzteren 
Fragmente  aber  nur  zweifelnd. 

Anakreonteen. 

E.  Smith,  Ad  Carmen  Anacreonteum  XXI.    Nordisk 
Tidsskrift  for  Filologi  VII  (1918)  S.  37 

will  V.  2  nlvei  QeE&ga  (5'  avnjv,  V.  3  Ttivei  ^dXaaaa  (J'  av  Qovg 
(oder  Qodg)  schreiben. 

0.  Engelhardt,  Der  verliebte  Schwärmer.    Wochen- 
schr.  f.  klass.  Philol.  1918  S.  47. 

Poetische  Übertragung  von  Anacreont.  22. 

Pratinas. 
W.  Garrod,   The  Hyporchema  of  Pratinas  (Athen. 
617  b).     Class.  Rev.  XXXIV  S.  129  f. 
stand  mir  nicht  zur  Verfügung. 


62  J-  Sitzler. 

Diagoras. 
Br.    Keil,    Ein   neues   Bruchstück    des   Diagoras 
von  Melos.     Hermes  55  S.  63  f. 

Von  Diagoras  erzählte  man  sich  bekanntlich,  daß  er  einmal, 
als  es  ihm  an  Heizmaterial  fehlte,  ein  hölzernes  Bild  des  Herakles 
ins  Feuer  geworfen  habe,  um  seine  Linsen  weich  zu  kochen.  Keil 
untersucht  die  Quellen  für  diese  Erzählung.  Dabei  veröffentlicht 
er  ein  bis  jetzt  unediertes  Scholion  des  codex  Vatic.  Graec.  1298 
zu  Aristides'  Rede  vTteQ  x^g  Qt^TOQiK^g  II  80,  15  (Dind.),  das  von 
den  übrigen  Quellen  stark  abweicht.  Es  enthält  ein  Bruchstück 
eines  Gedichtes  des  Diagoras  in  ionischen  Versen,  das  jenen  Vor- 
gang erwähnt:  (TTQog)  dojdeyia  TÖlaiv  ad-Koig  \  ZQiGiiaidey.aTov  tovö^ 
eTekeG(a)£p  '^HQaxXijg  dlog.  Von  der  sprichwörtlichen  ai^eoxrig  des 
Dichters  ist  auch  darin  nichts  zu  finden;  aber  die  tendenziöse  Er- 
dichtung knüpft  an  die  aus  dem  Zusammenhang  gerissenen  Worte  an. 

Timotheos. 
Mit  der  Kritik  und  Erklärung  des  Timotheos  befaßt  sich 
K.  Aron,  Beiträge  zu  den  Persern  des  Timotheos. 
Dissert.  Erlangen  1920.     45  S.  8<'. 
Er  legt  den  Gedankengang  des  Gedichtes  von  V.  79  an  dar.    Dabei 
bespricht  er  so  ziemlich  alle  Ansichten  und  Besserungsvorschläge, 
die  von  den  Gelehrten  bis  jetzt  vorgebracht  sind;  an  den  wenigen 
Stellen,   wo  er  sich  mit  keinem  von  diesen  einverstanden  erklären 
kann,    sucht  er  selbst  Richtigeres  an  deren  Stelle  zu  setzen.     Am 
beachtenswertesten  sind:  V.  82  f.  owfxaTog'  &d?Moa^  rjdrj  d^gaaela 
als  Vokativ,  V.  132  f.  die  Erklärung :   „allein  unsere  Göttin,  die  uns 
aus  Not  erlöst,    kann  diejenige  werden,   die  mich  nach  Ilion,   d.  h. 
in    die  Heimat  Asien,    bringt",    und    die  Auffassung   von  V.  220  f. 
Den  Nomos  läßt  er  an  den  Ephesien  aufgeführt  sein,  was  er  wahr- 
scheinlich zu  machen  weiß. 

Mesomedes. 
ü.  V.  Wilamo witz-Möllendorff  in  den  Sitzungsber.  d. 
Preuß.  Akad.  d.  Wiss.  1920  S.  368  spricht  über  die  Gedichte,  die 
Sp.  Lambros  im  Näog  '^Elh]vof.tvtjf^tiov  veröffentlicht  hat.  Sie  ge- 
hören nach  ihm  ohne  Zweifel  dem  Mesomedes  an  und  gestatten 
■uns ,  die  Kunst  des  Dichters  vollständiger  und  richtiger  zu  be- 
urteilen, als  es  bisher  möglich  war.  Auch  für  die  Kenntnis  der 
Rehgion  jener  Zeit  fällt  einiges  ab.  Zum  Schluß  wird  eine  neu© 
Bearbeitung  aller  Gedichte  des  Mesomedes  in  Aussicht  gestellt. 


Bericht  über  die  griechischen  Lyriker  usw.  für  1917 — 1920.         63 

-  Neue  Funde. 

IG  XII  9,  259  ist  das  Bruchstück  eines  Hymnos  auf  die 
idäischen  Daktylen  veröffentlicht,  das  von  Ziebarth,  Hiller 
V.  Gaertringen  und  Wilamowitz  teilweise  ergänzt  wurde. 
Dazu  steuert  K.  S  v  o  b  o  d  a  in  der  Wochenschr.  f.  klass.  Philologie 
1918  Sp.  262  noch  einige  Textverbesserungen  und  sachliche  An- 
merkungen bei. 

1.  W.  Schubart,  Ein  griechischer  Papj^rus  mit  Noten. 
Mit  1  Tafel.  Sitzungsber.  d.  Preuß.  Akad.  d.  Wiss.  1918. 
S.  763  f. 

2.  A.  Tierfelder,  Päan  [mit  Faksimile].  Leipzig  o.  J., 
Breitkopf  &  Härtel.     6  S.  Fol. 

Auf  der  Rückseite  einer  in  der  Thebais  gefundenen  lateinischen 
Militärurkunde  (Pap.  6870)  aus  dem  J.  156  n.  Chr.  stehen  in  großer, 
sorgfältiger  Schrift,  durch  a'AAo  voneinander  getrennt,  drei  Gruppen 
griechischer  Verse,  die  dem  Ende  des  2.  oder  Anfang  des  3.  Jahrh. 
angehören.  Nur  die  erste  Gruppe  kommt  hier  in  Betracht ;  sie  ent- 
hält 12  Zeilen  mit  übergeschriebenen  Noten,  worauf  noch  3  Zeilen 
Instrumentalnoten  folgen ,  die  sicherlich  dazu  gehören.  Auf  der 
rechten  Seite  ist  das  Bruchstück  verstümmelt.  Der  Anfang  lautet 
Ilaidv,  10  Ilaidv]  wir  haben  also  das  Bruchstück  eines  Päans  an 
Apollon.  Weiterhin  wird  Leto  beschimpft,  jedenfalls  von  Tityos. 
Über  das  Musikalische  ist  H.  Abert  im  Archiv  für  Musikwissen- 
schaft I  S.  313  f.  zu  vergleichen.  Die  höhere  Oktave  ist  durch 
einen  schräg  nach  rechts  aufwärts  gehenden  Strich  bezeichnet.  Über 
den  Noten  erscheinen  Längsstriche,  außerdem  befinden  sich  dünnere 
und  dickere  Punkte  vor,  über  und  unter  den  Noten,  auch  Doppel- 
punkte, jedoch  nur  vor  nicht  hochpunktierten  Noten.  Soweit  sich 
bis  jetzt  beurteilen  läßt,  sind  die  Senkungen  punktiert  (vgl.  Anonym, 
de  mus.  §  3).  Vgl.  noch  K.  Münscher  Hermes  55  (1920)  S.  60 2. 
Da  es  sich  um  einen  Päan  handelt,  hat  man  hier  Flötenmusik*,  die 
Instrumental-  und  Singnoten  zeigen  bis  zu  vier  Tönen  über  eine 
Silbe  gehende  Polj^phonie.  Vgl.  dazu  auch  0.  Schröder  in  der 
Berl.  philol.  Wochenschr.  1920  Sp.  350  f.,  der  noch  einige  Ergänzungen 
beifügt. 

III.   Bukoliker. 

Theokrit. 
Neue  Papyrus funde  geben  bekannt: 
1.    Oxyrhynchos  Papyri  Part.  XIII.    Edited  with  trans- 
lations    and   notes    by    B.   P.  Grenfell    and   A.  S.   Hunt. 
With  6  plates.     London  1919. 


64  J-  Sitzler. 

2.  B.  P.  Grenfell,  The  value  of  Papyri  for  the  textual 
criticism  of  extant  Greek  authors.  [A  paper  read 
to  the  Hellenic  Society,  May  7,  1918.]  Journal  of  Hell. 
Studies  XXXIX  (1919)  S.  16  f. 
Der  13.  Band  der  Oxyrh.  Pap.  S.  168  f.  Nr.  1618  enthält  Id.  V 
53—65,  81—93,  110—122,  127—137,  139—150,  VII  4—13,  68  bis 
117  und  XV  38—47,  51—57,  59—80,  84—100.  Er  gehört  dem 
5.  Jahrh.  an.  Die  Blätter  sind  sehr  beschädigt,  besonders  am 
Anfang.  Der  Schreiber  nahm  selbst  Korrekturen  vor,  setzte  die 
Elisionszeichen  und  fügte  auch  eine  Anzahl  Akzente  und  Spiritus 
bei.  Andere  Akzente  und  Spiritus  rühren  von  einem  Korrektor  her, 
der  nicht  viel  später  als  der  Schreiber  lebte ;  von  diesem  scheint 
auch  die  Revision  der  Idjdlen  V  und  VII  zu  stammen,  die  Text- 
änderungen zur  Folge  hatte  und  Interlinearglossen  und  Inter- 
polationen anbrachte.  Der  Text  ist  nicht  sehr  korrekt;  er  stimmt 
mit  keiner  unserer  Hs. -Familien  überein ,  scheint  aber  so  gut  zu 
sein  wie  der  von  K.  Id.  VII  folgte  unmittelbar  auf  Id.  V,  was  in 
keiner  unserer  Hs.  der  Fall  ist;  Id.  XV  steht  nach  V  und  VII. 
An  neuen  Lesarten,  die  den  Text  verbessern  oder  doch  beachtens- 
wert sind,  bietet  der  Pap.  Id.  V  116  ^Ef.ivr^G\  nach  150  noch  4  Verse, 
VII  75  alz^  iq^uovto,  112  Eßgco  tcoq  noTa/nw,  aber  korrigiert  aus 
^'EßQOv  TiccQ  Ttorafioi',  wie  die  1.  Hand  schrieb,  XV  38  xovto  xar' 
eijceg,  67  norex'  avrag  firj  anon'kayyß^i^g,  70  eXO^e  yivoio,  72  ox^og 
aXai^itogy  86  o  xj^v  ^xeqov  t\l  (f[iX\i]i}eig,  92  TLalevaai,  98  [nEQv]oiv, 
wie  ß  e  i  s  k  e  vermutete. 

In  seiner  Abhandlung  weist  Grenfell  darauf  hin,  daß  der 
Pap.  1618  einen  selbständigen  guten  Text  zu  Id.  XV  biete.  Im 
Anschluß  daran  spricht  er  die  Überzeugung  aus,  daß  die  hs.  Über- 
lieferung der  Gedichte  XV  fg.  in  der  Zeit  zwischen  dem  5.  und 
13.  Jahrh.  n.  Chr.  sehr  gelitten  habe,  und  gibt  bekannt,  daß 
J.  de  M.  Johnson  einen  langen  Papyrus  der  letzten  Gedichte  der 
Theokritos-Sammlung,  der  in  Antinupolis  gefunden  worden  sei  und 
aus  dem  5.  oder  6.  Jahrh.  stamme,  nächstens  veröffentlichen  werde, 
der  gewiß  weitere  Aufschlüsse  darüber  bringe. 

Beiträge  zur  Kritik  und  Erklärung  Theokrits  liefern : 

1.  J.  J.  Hartmann,  Theoeritea.    Mnemosyne  47  S.  322f. — 
Ad  Theocriti  III  32.     Ebenda  46  S.  326. 

2.  0.  Könnecke,  Zu  Theokrit  IL    Philologus  74  S.  283  f. 

3.  J.    Sitzler,    Zu    Theokrit.      Philol.   Wochenschr.    1921 
Sp.  1055.     [III  18.  XI  28.  XV  30.]    - 


Bericht  über  die  griechischen  Lyriker  usw.  für  1917 — 1920.         65 

4.  K.Witte,  Das  achte  Gedicht  der  the  okritische  n 
Sammlung.     Rhein.  Museum  73  S.  240  f. 

5.  F.  Seiler,  Der  Leder  fressende  Hund.    N.  Jahrb.  für 
Altertumsw.  XXII  S.  435  [X  11].    Vgl.  Herondas  S.  46  oben. 

6.  A.  S.  F.  Gow,    On  three   passages   of  Theocritus. 
Class.  Quarterly  XIII  S.  20  [XI  50-  XVII  1  f .  XXII  177  f.]. 

7.  Guiel.  VoUgraff,  Theocritea.    Mnemosyne  47  S.  345 f. 
[XIV.  XV.  XVII]. 

8.  E.    Fitch,    Note    on    Theocritus   XXII   31  f.     Class. 
Philology  X  S.  455. 

9.  0.    Immisch,    '^Exeqoöo^ov.      Sokrates    1918    S.   337  f. 
[Epigr.  XXII]. 

Daraus  hebe  ich  folgendes  hervor: 

Id.  I  29  f.  Könnecke,  der  V.  29  noxi  (st.  negl)  und  V.  30 
'/,ey.OfJ,af.iivog  liest,  wie  schon  andere  vor  ihm,  schließt  sich  in  der 
Gesamtauffassung  der  Schilderung  des  Bechers  an  E.  Hill  er  an, 
der  vermutete,  daß  wir  hier  das  bukolische  Gegenstück  zu  Homers 
Beschreibung  des  Schildes  des  Achilleus  haben.  Dann  versucht  er, 
die  Bildwerke  auf  den  Becher  zu  verteilen.  Ich  stehe  auf  selten 
derer,  die  solche  Versuche  für  aussichtslos  halten ;  denn  die  ganze 
Beschreibung,  obwohl  sie  ohne  Zweifel  das  Vorhandensein  bildlich 
geschmückter  Becher  voraussetzt ,  macht  den  Eindruck ,  daß  sich 
der  Dichter  selbst  kein  klares  Bild  des  von  ihm  geschilderten 
Bechers  gemacht  hat,  sondern  mit  seiner  Beschreibung  nur  die  Vor- 
stellung eines  ausnahmsweise  schön  verzierten  Kunstwerkes  beim 
Leser  hervorrufen  wollte,  was  ihm  auch  gelungen  ist. 

Id.  III  18  haben  die  Hs.  Xid^og,  die  Schol.  liTtog,  beides  un- 
passend; ich  lese  nod-og  als  Bezeichnung  der  Schönen,  zu  der  den 
Hirten  sein  Liebesverlangen  treibt. 

Id.  VIII  spricht  auch  Witte  dem  Theokrit  ab ;  er  glaubt,  daß 
der  Verfasser  Theokrits  Schnitter  bei  Abfassung  seines  Gedichts 
benützt  habe.  Die  Tetrade  57 — 60,  die  man  seit  G.  Hermann 
fast  allgemein  verwirft,  schützt  er  durch  Verweisung  auf  das  Epi- 
gramm des  Eratosthenes  Scholastikos  Anth.  Pal.  VI  78,  2  Jdqivi 
yvvar/.oq)iXa ;  es  gehört  dem  Daphnis.  Aber  nach  V.  52  ist  eine 
Tetrade  des  Daphnis  ausgefallen ,  die  von  der  Nais  sang ,  wie 
Fritzsche  vermutete.  Das  Ganze  hält  Witte  für  ein  einheit- 
liches Gedicht,  in  dem  der  Dichter  48  Verse  mit  48  Versen  umrahmt 
habe.  Dem  kann  ich  nicht  beistimmen ,  wie  ich  im  vor.  Jahresb. 
Bd.  178  (1919.  I)  S.  124  f.  ausführlich  dargelegt  habe. 

Jahresbericht  für  AUrrtumstrissenschaft.    Bd.  191  (1^22.  I).  5 


QQ  J.  Sitzler. 

Id.  XI  28  scheint  mir  durch  die  Änderung  von  y,al  vavEQOr 
in  t6  y  vüXEqov^  vgl.  xo  "/  £/5-f'g  II  144,  hergestellt  zu  werden-, 
der  Sinn  ist  dann :  naioao^cii,  sc.  tov  egcuzog,  oute  vaiEQOv  söv- 
vd(x)]v  EGidiov  TV  ovTE  vi'V  dLvaf.iai  ex  Tijvto. 

Id.  XII  22  schützt  Kön necke  mit  Recht  vTregzegoi  im  Sinne 
von  y.vQiOL ;  auch  in  der  Erklärung  von  35  f.  stimme  ich  ihm  bei» 
nur  ziehe  ich  ETrp:v(.iov  mit  Wilamowitz  zu  nevd^ovcai. 

Id.  XIV.  Vollgraff  hrlt  den  Namen  Thyonichos ,  den  er, 
wie  Wilamowitz  ,  mit  Oviov)],  (DviovEvg  und  Wvioridag  zusammen- 
stellt, für  makedonisch.  Uvd^ayoQiyiTdg  (V.  5)  will  er  als  Bezeich- 
nung jeder  Art  von  Philosophen  fassen,  weil  es  zur  Zeit  des 
Theokrit,  zumal  in  Athen,  keine  Pythagoreer  mehr  gegeben  habe. 
Ich  glaube  nicht,  daß  das  zutrifft;  Diodoros  von  Aspendos,  der  um 
300  V.  Chr.  lebte,  führte  nach  Diogen.  La.  VI  1,  13  ja  die  kynische 
Tracht  und  Lebensweise  bei  den  Pythagoreern  ein,  die  gerade  an 
unserer  Stelle  hervorgehoben  wü'd.  Mit  Recht  tritt  er  unter  Ver- 
weisung auf  Bechtel,  Die  historischen  Personennamen  S.  572, 
für  JAtilq  ein,  das  Wilamowitz  in  Z4yiq  verwandelte.  Aus  der 
Nationalität  der  drei  von  Äschines  Eingeladenen,  einem  Argiver, 
einem  Thessaler  und  einem  Akarnanen  (?),  also  Angehörigen  von 
Volksstämmen,  die  auf  Ptolemäos'  Seite  standen,  schließt  Voll- 
graff, daß  das  Gedicht  zu  Id.  XV  und  XVII  gehört,  der  Gruppe, 
die  zwischen  278 — 270  zum  Preise  des  Ptolemäos  abgefaßt  ist. 
,  Cyniscae  amorem  scriptum  esse  putaverim  post  Adoniazusas  et 
Ptolemaeum:  haec  Alexandriae ,  illud  postquam  Theocintus  inde 
domum  rediit."  —  V.  30  vermutet  Vollgraff  recht  ansprechend 
aTiäQ^ag  st.  «tt'  ciQxag,  im  Sinne  von  t^äg^ag  vgl.  Anthol.  Pal.  IX 
189,  3.  —  Die  schwierige  Stelle  V.  38  erklärt  er:  „illi  lacrimae 
tuae  fluunt  poma  magnitudine  aequantes"  ;  ich  könnte  nicht  sagen, 
daß  mir  diese  Übertreibung  gefiele.  —  Zu  V.  44  spricht  er  über 
Schaltmonate,  Sonnenjahr  und  Kalender.  —  V.  56  schlägt  Hart- 
mann  bf.iaAÖg  öi  xig  wv  oxQaxwjxr^g  (st.  6  ozq.)  vor;  Paley  hat 
schon  log  gewünscht. 

Id.  XV  19  ergänzt  Vollgraff  zu  v.vvddag  passend  doqdg: 
pelles  caninas.  —  V.  30  haben  die  Hs.  (.li^  drj  noXv,  fir^  de  tioXv 
oder  /<r}  novXv,  aber  übereinstimmend  dann  ccTiXrjOxe.  Mir  scheint 
eine  Verschreibung  aus  /</}  ü^oAov  (=  xö  olov)  dnhjGxe  vorzuliegen. 
„Nicht  das  Ganze,  du  Nimmersatt!"  ruft  die  HeiTin,  als  die  Magd 
das  ganze  ai-iccj-ia  ausgießen  will. 

Id.  XVI  18  f.  will  Könnecke  unter  fünf  Personen  verteilen, 
das    paßt    aber   nicht    zur   Einführung    dieser  Worte:    ftag  —  £vO-vg 


Bericht  über  die  griechischen  Lyriker  usw.  für  1917 — 1920.         67 

i&eiTai  und  bringt  einen  fremden  Gedanken  in  des  Dichters  Dar- 
tellung.  Theokrit  will  hier  nicht  aufzählen,  wie  oft  und  mit  welchen 
lUsreden  er  mit  seinem  Gesuch  um  Aufnahme  abgewiesen  worden 
$t,  sondern  nur  eine  Vorstellung  von  der  Art  der  Gründe  geben, 
eren  sich  die  Leute  bei  der  Abweisung  bedienen. 

Epigr.  XXII  =  XIV  Ahrens  =  Anthol.  Pal.  IX  434:  allos 
Xlog  vtrA.  wird  von  I  m  m  i  s  c  h  eingehend  besprochen.  Er  kann 
arin  nichts  finden,  was  auf  einen  Philologen  hinwiese,  der  es  au 
en  Anfang  einer  von  ihm  veranstalteten  Theokritsammlung  gesetzt 
ätte.  Die  Worte  arro  ziov  tioIXmv  (V.  2)  erklärt  er  mit  „humiliore 
)Co  ortus",  und  TzEQiyJ.Eixrfi  (V.  3)  versteht  er  von  der  Berühmt- 
eit  infolge  der  von  ihr  ausgeübten  Kunst;  Philine  wäre  demnach 
ine  berühmte  Zitherspielerin  gewesen.  In  dem  a'AAog  6  XIo^' 
ieht  auch  Immisch  den  Theokritos  von  Chios,  mit  ixoloav  8^ 
^vür]v  xrA.  (V.  4)  sagt  der  Dichter  aber  nach  ihm,  daß  er  sich 
treng  an  die  Regel  der  von  ihm  gewählten  Dichtgattung  gehalten 
abe.  Das  Epigramm  stand  also  am  Schlüsse  einer  Sammlung  von 
redichten,  die  alle  einer  Gattung  angehörten  und  weder  in  Form 
och  Inhalt  bei  einer  andern  Gattung  Anleihen  machten,  vermutlich 
llegien.  Das  Ergebnis  seiner  Untersuchung  faßt  I  m  m  i  s  c  h  dahin 
usammen:  „Nondum  provecta  aetate  nee  adulta  artis  suae  fama 
^heocritus  illos  versus  emisit ,  cum  esset  poeta  uovus  et  ignotus 
t  qui  fortasse  rudimenta  tum  ponebat ,  modo  a/ofcrrj^g  yevöi^svog 
^iXr]Ta,  poetae  elegiarum  laude  ea  aetate  quam  maxime  florentis. 
ilio  tempore  vix  erat,  cur  caveret,  ne  cum  famoso  Theocriti  Chii 
omine  suum  confunderetur.  Elegias  autem  iUas  aetatem  non  tu- 
sse,  id  non  mirum  est  in  opusculo  iuvenili  et  quod  anxie  prae- 
epta  magistri  sequebatur  tamquam  veras  genuinae  regulas  artis.'" 
7g\.  vor.  Jahresb.  Bd.  178  (1919.  Ij  S.  136. 

Zu  dem  Dialekt  Theoki-its  äußert  sich 

Guiel.  Vollgraff,  De  Theocriti  et  Callimachi 
dialecto.  Mnemosyne  47  (1919)  S.  333  f. 
ir  geht  davon  aus,  daß  in  den  dorischen  Gedichten  Theokrits  der 
Dialekt  nicht  rein  dorisch  erscheint,  sondern  mit  äolischen  Bestaud- 
eilen  gemischt;  so  findet  man  ad  st.  t,  Verdoppelung  der  Liquiden 
n  ai.ii.iEg  und  viuf.i€g,  Partie,  auf  oiaa ,  Kasus  obl.  von  Substant. 
Luf  Bvg  mit  r]  im  Stammauslaut,  Dative  auf  eaai,  Präsensendungen 
m  Perfekt  und  noch  einiges  andere.  Diese  Erscheinung  erklärt 
nan  gewöhnlich  damit,  daß  Theoki'it  einen  künstlich  zurecht- 
;emachten   Dialekt    angewandt   habe ,    dem    er    eine   bäurisch-länd- 


g3  J-  Sitzler. 

liehe  Färbung  habe  geben  wollen.  Wie  grammatisch  geschult  der 
Dichter  war,  zeigen  seine  äolischen  und  epischen  Gedichte,  ferner 
die  Syrinx,  endlich  die  auffallenden  Genusverschiebungen  XV  84 
ctQyvqiag  yiXiGfxco,  XV  119  oxiddeg  ßgii^ovieg  und  XVII  90  väeg 
aoiovoL,  offenbar  im  Anschluß  an  Homer,  vgl.  Od.  4,  442.  19,  341. 
II.  18,  477.  Hierher  gehört  auch  die  Verwendung  des  Substantivs 
GXYixa  in  der  Syrinx,  durch  die  er  zeigen  woUte,  daß  ihm  die  Er- 
klärung von  diaOTiqirjV  (II.  I,  6)  durch  manche  Grammatiker  wohl- 
bekannt sei.  Solche  Besonderheiten  in  der  Sprache  finden  sich 
aber,  worauf  Vollgraf f  aufmerksam  macht,  nur  in  den  Gedichten 
XV  und  XVII,  die  Theokrit  in  Alexandriä  schrieb,  um  sich  dem 
Ptolemäos,  dem  Gönner  der  Dichter  und  Grammatiker,  zu  empfehlen ; 
er  eiferte  darin  ohne  Zweifel  dem  Kalhmachos  nach,  „cuius  carmina 
exquisita  et  abstrusa  doctrina  Homerica  referta  regi  et  aulae  ad- 
modum  placerent".  Obwohl  man  nun  nicht  bestreiten  kann,  daß 
Theokrits  grammatische  Ausbildung  ihn  befähigte ,  solche  Gelehr- 
samkeit zur  Schau  zu  ti^agen,  schreibt  Vollgraff  doch  die  Ver- 
wendung von  Aolismen  bei  ihm  nicht  diesem  Umstand  zu,  sondern 
glaubt,  daß  er  sie,  wie  Kallimachos  (vgl.  oben  S.  45),  dem  heimischen 
Dialekt  entnommen  habe ,  er  also  dem  s}Takusanischen ,  vglJ 
Magnien,  Mem.  Soc.  Linguistique  1919.  Daß  das  SjTakusanische' 
manches  Äolische  hatte,  bezeugt  auch  das  Schol.  zu  Id.  III  52. 

Bion  und  Moschos. 

J.  J.  Hartmann  Mnemosyne  47  S.  322  f.  am  Schlüsse  seiner 
Bemerkungen  zu  Theokrit  bespricht  auch  einige  Stellen  des  Moschos 
[III  48  und  52]  und  vermutet  Bion  I  51  f.  recht  ansprechend 
^Q'/mi  slg  Idx^QOvxa  \  xbv  (st.  naQ)  Gxvyvbv  ßaoiXija.  Außerdem 
verbessert    er  Hights  Übersetzung   des  Moschos   an  drei  Stellen, 

Zum  Schlüsse  erwähne  ich  noch 

A.  Rostagni,  Poeti  Alessand r in i.     Torino, 
der,    wie  ich  einer  Notiz  entnehme,    über  Theokrit,    die  bukolisch« 
Poesie  und  die  Sage  von  Daphnis  handelt. 

IT.   Anthologie. 

Mit  der  Geschichte  der  Anthologia  Palatina  beschäftigt  siel f 
K.  Preisendanz,    Zur   Herkunft    der   Anthologis' 
Palatina.     Zentralblatt  f.  Bibliothekwesen  34  S.  20  f. 

In  der  Heidelberger  Universitätsbibliothek  befindet  sich  ein( 
Aldina  der  griechischen  Anthologie  aus  dem  J.  1521,  die  einst  in 
Besitze  Fr.  Sylburgs  war.    Er  hat  in  diese  Lesarten  der  AnthoH 


Bericht  über  die  griechischen  LjTiker  usw.  für  1917—1920.         69 

Pal.  eingetragen  und  den  Epigrammen  die  Nummer  der  Seite  bei- 
gefügt, auf  der  sie  in  der  Palatina  stehen.  Die  1.  Zeile  der  Vorder- 
seite des  Vorsetzblattes  enthält  den  Ex-libris-Eintrag  des  zweiten 
Besitzers,  J.  Gruterus;  die  2.  Zeile  ist  so  getilgt,  daß  sie  nicht 
mehr  gelesen  werden  kann.  Herbert  wollte  zwar  erkennen: 
Sum  F.  Sylburgi,  aber  dies  ist  eine  aus  dem  folgenden  geschöpfte 
Vermutung.  Übrigens  rührt  die  Tilgung  nicht  von  Gruter  her, 
sondern  stammt  aus  späterer  Zeit.  Diese  spätere  Hand  hat  auch 
in  der  5.  und  6.  Zeile  die  drei  ersten  Worte  von  empto  ex  libraria 
Sylburgii  gestrichen  und  darüber  geschrieben:  habetque  adscriptam 
nonnunquam  manum.  Die  Lesung  Herberts  erweist  sich  also 
der  Stadtmüllers  gegenüber  als  richtig.  Auch  in  der  7.,  8.  und 
9.  Zeile  hat  der  Korrektor  geändert.  Wann  dies  geschah,  ist  nicht 
mehr  festzustellen.  Die  in  die  Aldina  eingetragenen  Kollationen 
wurden  vom  Besitzer  der  Stephanus- Ausgabe  vom  J.  1566  benutzt, 
deren  inscriptio  in  fronte  nach  Bosch  die  zweite  Fassung  der 
Grut ersehen  Notiz  verwertet,  aber  auf  den  Inhalt  der  getilgten 
Worte  nicht  eingeht.  Die  Titelseite  des  Heidelberger  Exemplars 
wies  rechts  unten  das  Exlibris  eines  weiteren  Besitzers  auf,  ist 
aber  bis  auf  ein  E  mit  der  Blattdecke   selbst  verschwunden.     Der 

letzte  Besitzeintrag  auf  der  letzten  Seite  lautet :    M Jacobus 

est  possessor  huius  libri.  Diese  Seite  enthält  noch  den  Anfang 
der  Rede  Ciceros  pro  Marcello  mit  dürftigen  Worterklärungen.  Auf 
dem  vorletzten  freien  Blatt  stehen  19  holländische  Zeilen,  die  wohl 
kaum  einen  Aufschluß  über  die  Geschichte  der  Anthologie  oder 
auch  nur  der  Aldina  ergeben. 

Eine  Anzahl  Arbeiten  beschäftigt  sich  mit  Leben  und  Werken 
einzelner  Dichter  der  Anthologie. 

0.  Weinreich,  Die  Heimat  des  Epigrammatikers 
Poseidippos.     Hermes  53  S.  434:  f. 

Zur  Bestimmung  der  Lebenszeit  des  Poseidippos  war  mau 
bisher  besonders  auf  Anth.  Pal.  V  133  angewiesen;  aber  dieses 
Epigramm  gestattete  nur  eine  ungenaue  Zeitangabe.  Über  die 
Heimat  des  Epigrammatikers  war  man  ganz  auf  Vermutungen  be- 
schränkt. Jetzt  entdeckte  Weinreich  eine  Inschrift  im  Museum 
zu  Thermon,  Inventar  Nr.  68,  nach  dem  Schriftcharakter  und  nach 
prosopographischen  Anzeichen  aus  der  Zeit  um  280  v.  Chr.  stammend, 
in  der  es  Col.  A.  23  f.  heißt:  IIoaeiölfrTTO)  toj  sTnyQaf.i^taTOTtonp 
IlEXXaio}  k'vyvog  KXeoKQdtr^g  '^Hocr/.Xeojrag.  Nach  dieser  Inschrift 
erhält    der   Epigrammendichter   Poseidippos    von    den   Atolern    die 


70  J-  Sitzler. 

Proxenie.  Wir  sehen  daraus,  daß  er  aus  Pella  war,  und  können 
weiter  scMießen,  daß  er  spätestens  312  geboren  war.  Das  Neben- 
einander von  a  und  t]  war  in  Nordwestgriecbenland  üblich. 

A.  Rostagni,  Poeti  Alessand rini,  Torino, 
behandelt,   wie    ich  aus  einer  Zeitschrift  ersehe,    auch  Asklepiades 
von  Samos.     Mir  war  das  Buch  nicht  zugänglich. 

E.  Bethe,  Die  Zeit  Nikanders.  Hermes  53  S.  llOf. 
Für  die  Lebenszeit  Nikanders,  von  dem  die  Anth.  Pal.  drei 
Epigramme  erhalten  hat  (VII  453.  526.  XI  7),  liegen  uns  drei 
Ansätze  vor.  Nach  dem  ersten,  in  den  Aratviten  1,  2  und  4  bei 
Westerm.,  in  der  Hypothes.  zu  Theokrit  1,  in  den  Lykophronviten 
p.  4,  30  bei  Scheer  und  im  Schol.  zu  Theriaka  3,  lebte  er  um  275 
als  Zeitgenosse  des  Ai-at,  Theokrit,  Kallimachos  und  L^^kophron. 
Der  zweite  Ansatz  in  der  4.  Vita  Arati  läßt  ihn  48  Jahre  jünger 
sein  als  Arat,  also  um  225  leben.  Der  dritte  Ansatz  datiert  ihn 
nach  Attalos  III.  (138 — 133),  vgl.  den  Kommentar  zu  den  Theriaka 
im  yhoQ,  und  zu  V.  3.  In  einem  delphischen  Proxeniedekret,  das 
Pomptow  früher  in  das  J.  266,  nachher  in  das  J.  205  setzte, 
finden  sich  die  Worte :  NiTidvögci)  l^va^ayoQOV  KoXocfcovüp  in^Mv 
7ioir]Ta,  vgl.  Bull,  de  corresp.  Hell.  VI  1882  p.  217  Nr.  5,  CoUitz- 
Bechtel,  Griech.  Dialektinschriften  II  2653  =  Dittenberger  Syllog 
I^  452.  Bethe  nimmt  infolgedessen  zwei  Dichter  namens 
Nikandros  an.  Ist  die  letzte  Datierung  des  Proxeniedekrets  durch 
Pomptow  richtig,  so  lebte  Nikander,  der  Sohn  des  Anaxagoras, 
um  225 — 200  und  wird  als  Dichter  des  Hymnus  auf  den  Gallier- 
sieg Attalos  I.  angesehen  werden  dürfen.  Auf  den  berühmten 
Nikander  trifft  dann  der  Ansatz  auf  275  zu.  Nach  der  früheren 
Datierung  Pomptows  müßte  sich  das  Proxeniedekret  allerdings 
auf  diesen  beziehen,  und  Damaios  müßte  dann  für  seinen  delphischen 
Adoptivvater  gehalten  werden,  ein  Name,  der  nach  Bethe  nur  in 
Delphi  vorkommt. 

K.  Preisendanz,    Zu   Buenos  von  Askalon.     Philo- 
logus.     75  S.  476  f. 

In  der  Anthol.  Pal.  werden  drei  Dichter  mit  dem  Namen 
Euenos  bezeichnet,  ein  ^^ov-aXiovitr^g  (IX  75),  ein  2iKelia)Trjg 
(IX  62)  und  ein  '^d-r]va2og  (IX  602).  Schon  Th.  Bergk  hat 
den  2iyieluiki]g  durch  den  ^^axalcovizrjg  ersetzt,  und  Preisen- 
danz bestätigt  diese  Vermutung  jetzt,  indem  er  nachweist,  daß 
die  Epigramme  IX  60.  61.  62  nicht  mehr  in  ihrer  urspi'ünglichen 
Reihenfolge     erhalten     sind.      Das    Gentile    ^^d^rjvalog     ist     nach 


Bericlit  über  die  griechisclien  Lyriker  usw.  für  1917 — 1920.         71 

Preisendanz  dem  Gedichte  selbst  entnommen ;  es  gehört  zu 
XaX-Kog  =  Xalxoad^ivrjg,  der  dadurch  als  athenischer  Künstler 
gekennzeichnet  wird.  So  bleibt  tatsächlich  nur  ein  Epigrammatiker 
Euenos  übrig,  nämlich  der  ^^OKahoriTr^g.  Diesem  will  Preisen- 
danz auch  VI  170  zuweisen,  indem  er  das  überHeferte  GYH^^OY 
in  EYHNO  Y  ändert,  was  paläographisch  nicht  zu  beanstanden  ist ; 
aber  inhaltlich  weicht  VI  170  von  den  Gedichten  des  Euenos  ab.  Ich 
kann  daher  Preisendanz  nicht  beistimmen,  sondern  bilHge  die 
von  andern  vorgeschlagene  Änderung  in  QYlyl^OY,  die  mindestens 
ebenso  leicht  ist.  Mit  den  Epigrammen  des  Thyillos  berührt  sich 
VI  170  sprachUch  und  inhaltlich,  vgl,  VII  223  und  X  5.  Das 
Epigr.  IX  251  deutet  Preisendanz  auf  Orakelstechbücher. 
Was  die  Lebenszeit  des  Euenos  von  Askalon  betrifft,  so  läßt  sich 
darüber  bis  jetzt  nichts  Bestimmtes  angeben. 

A.  Veniero,  Paolo  Silenziario.    Catania  1916.    VIII, 
368  S.  8. 

Veniero  gibt  eine  italienische  Übersetzung  der  Epigramme, 
der  Encpgccaeig  rrjg  MeydXiqg  ^Ey.'/.lriaiag  und  tov  ^.Außiovog  sowie 
der  Verse  eig  t«  tv  Tlvd^ioig  ^€Qf,td  im  Versmaß  der  Originale  mit 
Einleitung  und  Kommentar,  in  denen  er  die  Ergebnisse  der  bis- 
herigen Forschung  übersichtUch  zusammenstellt.  Die  Einleitung 
behandelt  das  Leben  des  Paulus  und  die  literarischen  Zustände 
zur  Zeit  Justinians,  als  Heidentum  und  Christentum  miteinander 
im  Kampfe  lagen.  Zu  weit  geht  Veniero,  wenn  er  behauptet, 
Paulus  habe  sich  überwiegend  die  römische  Elegie  zum  Vorbild 
genommen,  und  auch  die  Ansicht  läßt  sich  nicht  mehr  aufrecht- 
erhalten, daß  die  Motive  der  römischen  Elegie  den  alexandrinischen 
Elegikern  entnommen  seien,  vgl,  vor.  Jahresber,  Bd,  174  (1916/8, 
III)  S,  17 f.  Mit  großem  Fleiß  verzeichnet  Veniero  die  Parallel- 
stellen aus  den  römischen  Elegikern,  besonders  aus  Ovid,  zu  den 
Epigi'ammen  des  Paulus.  Man  wird  ihm  für  dieses  Material  dank- 
bar sein,  sich  aber  vor  der  Meinung  hüten  müssen,  als  sei  Paulus 
fast  ausschließlich  Ovid  gefolgt.  Textüberlieferung  und  Stil  des 
Paulus  kommen  ebenfalls  zur  Behandlung, 

Verbesserungen  und  Erklärungen  zu  einzelnen 
Gedichten  der  Anthol,  Pal.  geben: 

1.  U.  V.  Wilamo  witz -Möllendorff ,  Dichterfragmente 
aus  der  Papyrussammlung  der  Kgl.  Museen. 
Sitzungsb.  der  Preuß.  Akad.  d.  Wissensch.  1918  S.  728  f. 
Nr.  8    [V  151].    —   Lesefrüchte.     Hermes  54    S.  162 f. 


72  J-  Sitzler. 

[V  236.  237.  XIV  71.  Appendix  182,  vgl.  dazu  W.  R. 
P  a  1 0  n ,  Die  Großmutter  Alexanders  des  Großen ,  vor. 
Jahresb.  Bd.  178  (1919.  I)  S.  197,  dessen  Verbesserung 
mit  der  von  Wilamowitz  zusammentrifft.] 

2.  K.  Preisendanz,  Anthol.  Pal.  V  154.  155.  Berl.  phil. 
Wocheuschr.  1918  Sp.  263.  —  Antbol.  X  7.  14.  15. 
Wochenschr.  f.  klass.  Philol.   1919  Sp.  499  f. 

3.  J.  Sitzler,  Anth.  Pal.  VII  486.  XII  50.  Simonides  107 
=  CJ.  1051  =  Kaibel  461.  Berl.  phil.  Wocbenschr.  1921 
Sp.  1054  f. 

4.  0.  Roßbacb,  Zu  Meleager  von  Gadara.  Berl.  phil. 
Wocbenschr.   1917  Sp.  760.     [XII  165.] 

5.  L.  Weber,  ^YK.4EmiPMHL  II.  Philol.  74.  S.  248  f. 
[VII  296.    Appendix  165.  191.  205.] 

Wilamowitz  veröffentlicht  den  Berliner  Pap.  Nr.  10  571, 
wohl  ein  Exemplar  von  Meleagers  Stephanos,  der  V  151  enthält- 
Er  hat  V.  7  äoQct^  wie  Pierson  und  Graefe  st.  öogalg  ver- 
muteten. Nach  V.  8,  mit  dem  in  der  Anth.  Pal.  das  Epigramm 
abschließt,  folgt  im  Pap.  ohne  Absatz  noch  eine  Zeile,  von  der 
aicfiXovovTE  zu  lesen  ist.  Dies  bezeichnet  Wilamowitz  mit 
Recht  als  befremdhch,  weil  das  Epigramm  vollständig  ist  und  ein 
neues  Gedicht  ein  Lemma  haben  müßte.  Eine  Erklärung  des 
Rätsels  kann  Wilamowitz  nicht  geben.  Ist  vielleicht  val 
q^iXofiOios  zu  lesen,  so  daß  hier  V.  4  wiederholt  wäre?  —  236,  9 
ei-klärt  Wilamowitz  läovza  =  ßXi7T.ovTa\  es  ist  also  nicht  zu 
ändern.  —  237,  3  ist  unter  Ares,  wie  er  bemerkt,  das  Schwert  zu 
verstehen,  in  dem  der  Geliebte  sein  eigenes  Bild  sieht. 

VII  296  =  Simonides  142  (Bergk)  =  Preger  269,  das  Grab- 
epigramm auf  die  Toten  in  den  Kämpfen  bei  Kypros,  liegt  nach 
der  Meinung  Webers  bei  Diodor,  bzw.  Ephoros,  in  seiner  ältesten 
Fassung  vor.  Er  glaubt,  daß  es  tatsächlich  auf  einem  Grabstein 
stand,  ebenso  wie  seine  Nachahmung  auf  der  Stele  von  Xanthos, 
vgl.  Kaibel  epigr.  768.  —  486,  1  nehme  ich  an  dem  Gen.  y.6Qag 
neben  dem  Akkus,  naida  Anstoß,  da  beide  sich  auf  die  gleiche 
Person  beziehen ;  xo'^ag  ist  vermutlich  im  Anschluß  an  enl  oäfjaTL 
aus  xo'(>aj'  entstanden;  zu  -/.ogav  nalda  vgl.  Aristoph.  Lys.  595. 
Demosthen.  21,  79. 

X  7,  7  wünscht  Preisendanz  otJ'  hy.aTc^tßi]g,  das  er  noch 
von  ETtiÖEvi]  (V.  5)  abhängen  lassen  will;  das  wäre  nach  dem 
Zwischensatz :    alV    alel    ^voEvia    /ml  e/.(nvQOv   sehr  hai't,    zumal 


Bericht  über  die  griechischen  Lyriker  usw.  für  1917 — 1920.         73 

da  oid^  exazoi^ißtjg  allein  stände,  ohne  irgendwelche  weitere  Stütze. 
Es  wird  im  Anschluß  an  tfunvQov  ovd^^  fxaTO///?/;  zu  lesen  sein; 
Planudes  hat  iv  d^  h/iarof-ißri.  —  15,  2  ist  iXlog  mit  der  Eand- 
bemerkung  ei  überiiefert.  Preisendanz  ändert  i'Aaog;  aber  dann 
hat  d^eX^nöoio  kein  Beziehungswort.  Planudes  hat  dem  Sinne  nach 
richtig  HOQOQ.  Ich  vermute  BXh]q  „Sonnenwärme",  wie  Aristoph. 
Vesp.  771  f.  und  sonst. 

XII  50,  7  ist  nioutvov  yaq  ^'Eqioq  überliefert,  worin  ein 
schweres  Versehen  liegen  muß,  sei  es  infolge  Unleserlichkeit  der 
Vorlage  oder  aus  sonst  einem  Grunde.  An  Stelle  von  nioiitvov 
erwartet  man  urj  (.ieXItio^  dem  Zusammenhang  entsprechend.  — 
165,  4  liest  Koßbach  recht  ansprechend  (fXl^Eiv  st.  nXe^eiv, 
wozu  er  V  122,  6  und  287,  4  vergleicht. 

XIV  71  stellt  Wilamowitz  wieder  her,  indem  er  im  1.  Vers 
mit  Beibehaltung  von  v-ad-agog  das  überlieferte  ayvog  in  ayvrjg 
ändert,  dem  Versmaß  und  Sinn  angemessen. 

Appendix  165.  191.  205  ==  Preger  153  ist  nach  Weber  bei 
Plut.  Cimon  7  in  älterer  Fassung  erhalten  als  bei  Äschines  III  184. 
Nach  Äschines  waren  es  die  Inschriften  dreier  Hermen,  die,  vor 
der  Halle  des  Befreiers  Zeus  aufgestellt,  demselben  Sieg  galten. 
Von  der  rhetorisch  gefärbten  Geschichtschreibung  wurden  die  Epi- 
gramme zu  ähnlichen  Zwecken  verwandt  wie  von  Äschines  und 
Plutarch. 

An  Übersetzungen  aus  der  Anthologia  Pal.  wurden 
mir  bekannt: 

1.  Meleagros  von  Gadara.  Der  Kranz.  Auswahl  und 
Übertragung  von  A.  Oehler. 

2.  R.  Hopp,  Love,  Worship  and  Death.  Some 
Eenderings  of  the  Greek  Antholog}-.    [Sappho,  Erinna  u.  a.] 

3.  P.  H.  C.  A 1 1  e  n ,  Übersetzung  von  Gedichten  der  griechischen 
Anthologie.  Athenäum  4657  S.  680.  [Strato,  Rufinus,  Paulus 
Silentiarius,  Agathias.]    4658  S.  713.    [Meleager,  Nossis.] 

An  anderen  Arbeiten  über  griechische  Epigramme  erwähne  ich: 
L.    Weber,    Steinepigramm   und    Buchepigramm. 
Hermes  52.     S.  536  f. 

Weber  behandelt  einige  Epigramme,  die  in  doppelter  Form 
vorliegen,  einer  kürzeren  und  einer  längeren  ;  die  erstere  hält  er 
für  das  Stein-,  die  letztere  für  das  Buchepigramm.  Das  erste  ist 
das  Midasepigramm  Anthol.  Pal.  VII  153  =  Preger  233.  Die 
Steininschrift   bestand   aus    einem  Vers    und   befand    sich  auf  dem 


74  J-  Sitzler. 

Grab  eines  Midas  in  Phrygien,  das  mit  einer  Sirene  oder  Sphinx 
geschmückt  war.  Am  Ende  des  7.  oder  zu  Beginn  des  6.  Jahrh. 
wurde  sie  erweitert,  und  aus  dem  Midas  wurde  der  König  Midas. 
Die  erweiterte  Form,  die  sich  schon  bei  Piaton  Phaedr.  p.  264  c 
findet,  schrieb  man  dann  dem  Kleobulos  zu.  —  Dann  stellt  er 
Anth.  Pal.  VII  512  und  442  =  Simonides  102  u.  103  unter  Ver- 
gleichung  mit  Geffcken,  Griech.  Epigr.  152,  zusammen;  das 
erstere  stammt  nach  ihm  von  einem  Kriegerkirchhof  in  Tegea,  das 
zweite  ist  eine  Variation  da.zu  auf  Papier ,  vgl.  Wilamowitz, 
Sappho  und  Simonides  S.  215  f.  —  An  dritter  Stelle  führt  er  die 
Epigramme  auf  Solon  Anth.  Pal.  VII  86  und  87  an,  von  denen  er 
86  für  das  Stein-,  87  für  das  Buchepigramm  hält.  „Mit  der 
Restauration  der  Demokratie  im  4.  Jahrh.  wurde  vermutlich  die 
Statue  Solons  mit  dem  Epigramm  auf  dem  Markte  Athens  und 
sein  Heroon  auf  Salamis  errichtet."  Vgl.  auch  Preger  242.  —  Das 
letzte  Paar  bilden  die  Epigramme  Anth.  Pal.  464  und  465 ;  die 
Verse  465,  5 f.  stammen  nach  Weber  vom  Grabstein,  aber  der 
Anfang  des  Epigramms  ist  epideiktisch.  Das  Epigr.  464  setzt 
Kenntnis  des  Grabdenkmals  mit  seinem  Gemälde  voraus. 

TJ.  V.  Wilamowitz-Möllendorff,  Lesefrüchte. 
Hermes  54  S.  168  erklärt  das  Epigramm  Plut.  Aemil.  Paul.  15 
aus  NaaiTiag  mgl  rov  üegatyiov  TtoMf-iov  =  Cougny  III  75  über 
die  Höhenmessung  des  Olympos. 

J.  Geffcken  und  G.  Herbig,  Na^og.  Glotta  IX  S.  97 
behandeln  das  Epigramm  auf  dem  Koloß  des  Kypselos  =  Preger  53. 
Das  Adjektiv  va^og^  das  sich  nach  ^ArceXkag  6  IIovTLY.6g  im 
1.  Vers  der  Inschrift  fand,  leitet  Herb  ig  von  vdoao)  ab,  also 
„festgestampft,  vollwichtig".  Geffcken  vermutet,  daß  der  1.  Vers 
ursprünglich  lautete:  sl  jatj  syw  va^og  acpvQ^}.aT6g  sl/^ii  xoXoGOog 
v.%X.    Vgl.  Geffcken,  Griech.  Epigr.  36. 

E.  Preuner,  Aus  Heinrich  Nikolaus  Ulrichs  Nach- 
laß. Rhein.  Museum  73  (1920)  S.  273 f.  veröffentlicht  Ulrichs 
Originalzeichnung  des  ßto^bg  diövi-iog  in  Krissa,  vgl.  Kaibel, 
Epigr.  Gr.  742  =  Ho  ff  mann,  Sj^lloge  epigr.  Gr.  287,  die  Ab- 
schrift des  Epigramms  Kaibel  849  =  Homolle  Bull.  Corresp.  Hell. 
XXIV  (1900)  S.  170,  sowie  die  des  Epigramms  Kaibel  103,  wo 
Preuner  V.  5  a]Xla  ah  /u[rj  Xeiß](jüv,  V.  6  [uoiag  irj^tde,  V.  7 
^Qo[avd^]aag,  V.  8  7raQ[rjyoQlt]]g  ergänzt, 

L.  Radermacher,  Kritische  Beiträge.  Wiener  Studien 
39  S.  67  f.    Nr.  XIII  verbindet  im  5.  Verse  des  Epigramms  Kaibel 


Bericht  über  die  griechischen  Lyriker  usw.  für  1917 — 1920.         75 

555  =  CJG  6223  =  JG  XIV  1550  das  Partiz.  di^cov  mit  zööe 
or^f-ia  und  ETskeaae  mit  red^rrjOTi  d^ea/Aov. 

L.  Weber,  ^YK^EOEPMHI.  III.  Rest  einer  Herme  vom 
Staatsmarkte  von  Athen  (JG  I  333).  Philologus  76  S.  60  f.  ver- 
teidigt gegen  E.  Bormann,  vgl.  vor.  Jahresb.  Bd.  178  (1919.  I) 
S.  201,  die  von  Kirchhoff  und  Wilhehn  gegebene  Erkläi'ung,  daß 
es  sich  um  die  Schlacht  bei  Marathon  handle.  Der  Stein  ist  nach 
ihm  der  Rest  der  Basis,  auf  der  die  zur  Feier  des  Sieges  über 
die  Perser  auf  dem  Markte  Athens  errichteten  Hermen  standen. 

W.  Bannier,  Zu  griechischen  Inschriften  I.  Berl. 
phil.  Wochenschrift  1917  Sp.  1440 f.,  bespricht  folgende  Inschriften: 
JG  IX  1,  868  =  Hoffmann  SyUoge  47,  JG  XII  9,  287  (vgl.  Berl. 
phil.  Wochenschr.  1916  Sp.  1228.  1917  Sp.  511  f.,  1281),  JG  VII 
1880  =  Hoffmann  56  =  Kaibel  486,  wo  er  ^ETtoliyEidi^  st.  ht^ 
^Olr/eidci  lesen  will,  JG  IX  2,  255  =  Hoffmann  55,  JG  IV  561. 
Gegen  Banniers  Lesung  JG  VII  1880  ^E7ioliy£iöa  erhebt 
E.  Loch,  Zur  böotischen  Grabinschrift  JG  VII  1880. 
Berl.  phil.  Wochenschr,  1918  Sp.  167 f.  Einspruch;  er  hält  an 
Itt'  ^OXiyeidi^  fest,  indem  er  (xväi.ia  {in:i)Tid^ivai  BTtl  tivi  als 
böotische  oder  äolische  Ausdrucksweise  nachweist.  Bannier,  Zu 
griechischen  Inschriften  II.  Berl.  phil.  Wochenschr.  1918  Sp.  977  f., 
verteidigt  seine  Lesung,  indem  er  bemerkt,  es  sei  sehr  fraglich,  ob 
das,  was  für  einfache  Grabschriften  gelte,  auch  auf  metrische,  in 
daktylischem  Versmaß  abgefaßte,  die  aus  dem  engen  Kreis  ihres 
eigentlichen  Sprachgebiets  heraustreten,  anwendbar  sei;  übrigens 
sei  Ti^ivaL  ejii  xivl  gar  nicht  speziell  böotisch;  denn  es  fände 
sich  auch  auf  der  euböischen  Grabschrift  JG  XII  9,  285.  Außer- 
dem behandelt  er  an  dem  genannten  Orte  JG  XIV  1474  =  Kaibel 
611  =  Cougny  II  537  und  516.  In  der  Ergänzung  der  beiden 
letzten  Verse  weicht  Bannier  von  Kaibel  ab;  er  wünscht  (paidiixu) 
vlw  st.  xal  Jibg  vlco  und  (xivEi  d^ävarog  coli.  Eurip.  Herc.  für.  307. 
Weiter  bespricht  er  JG  IV  177,  IX  2,  1098  und  IV  1611. 

F.  Hiller  v.  Gärtringen,  Kallimachos  von  Aphidnä. 
Hermes  54  S.  211,  behandelt  JG  I  350  b  Suppl.  p.  153  =  Hoff- 
mann Sylloge  212,  eine  Weiheinschrift  auf  einer  Hermesstatue, 
die  nach  dem  Tode  des  KalHmachos  in  der  Schlacht  bei  Marathon 
vom  Demos  durch  einen  ehrenvollen  Zusatz  erweitert  wurde.  Die 
Inschrift  besteht  also  aus  zwei  Teilen,  und  dementsprechend  ver- 
fährt Hill  er  bei  der  Ergänzung,  die  er  gibt.  —  Ein  attisches 
Epigramm  aus  dem  Perserschutte.  Ebenda  S.  328.  Die 
Bruchstücke  JG  I  Suppl.  p.  41,    373  b  und  p.  79,  373^  =  Hoff- 


76  J-  Sitzler. 

mann  210  und  208  werden  von  Hill  er  im  Anschluß  an  Lolling 
im  KataXoyog  xov  iv  ^&^vaig  ^E7tiyQaq)iKov  Movoeiov,  hrsg.  von 
P.  Wolters  1899  Nr.  237,  ergänzt  und  zu  einem  Epigramm  ver- 
einigt. —  Weiter  wird  das  Epigramm  von  Julis  JG  XII  5  611  = 
Geffcken,  Griech,  Epigr.  74  =  Hoffmann  371  von  Hill  er  her- 
gesteUt. 

H.  Pomptow,  Delphische  Neufunde  III.  Klio  15 
S.  303  f.,  veröffentlicht  eine  Anzahl  Epigramme,  die  sich  auf  Weihe- 
geschenke an  Asklepios  beziehen  oder  sonst  mit  ihm  in  Beziehung 
stehen. 

E.  Preuner,  Honestos.  Hermes  55  S.  388 f.,  bespricht 
die  Epigramme  dieses  Dichters,  der  als  BvtavTiog  oder  KoQiv&iog 
bezeichnet  wird.  Zuerst  betrachtet  er  das  Epigramm  Bull.  Corr. 
Hell.  XXVI  (1902)  S.  153  Nr.  4,  das  für  die  Statuen  der  Tochter 
des  Augustus  Julia  und  ihrer  zwei  Söhne  C.  und  L.  Julii  Caesax'es 
bestimmt  war,  die  im  J.  3  oder  2  v.  Chr.  im  helikonisohen  Musen- 
tale errichtet  wurden.  Dann  stellt  Preuner  im  Anschluß  an  ein 
Epigramm  des  Honestos  auf  ein  Weihegeschenk  des  3.  Jahrh. 
V.  Chr.  einen  Stammbaum  der  Attaliden  auf.  Darauf  behandelt  er 
die  Gedichte,  die  Honestos  um  dieselbe  Zeit  wie  die  auf  Julia  und 
ihre  Söhne  auf  die  neun  Musen  verfaßte.  Zu  diesen  gibt  er  einige 
Verbesserungen  und  Ergänzungen.  Dem  Honestos  weist  Preuner 
auch  das  zweite  Epigramm  auf  Euterpe  zu  sowie  das  auf  Mnemo- 
syne,  die  Mutter  der  Musen.  Die  erste  Weihung  der  Musengruppe 
setzt  Preuner  in  den  Anfang  des  2.  Jahrh.  v.  Chr.;  das  Stand- 
bild der  Mnemosyne  und  der  zu  ihr  gehörigen  zweiten  Musengruppe 
gehört  nach  ihm  einer  späteren  Zeit  an.  Zum  Schlüsse  würdigt 
Preuner  noch  den  Honestos  als  Dichter. 

0.  Fiebiger,  Die  Grabschrift  des  Lakoniers 
Epaphrys.  N.  Jahrb.  f.  d.  klass.  Altertum  1916  S.  395  f.,  ver- 
öffentlicht und  bespricht  die  Grabschrift,  die  aus  Hexameter,  zwei 
immittelbar  aufeinander  folgenden  Pentametern  und  zum  Schlüsse 
zwei  Hexametern  besteht.  Epaphrys  gehörte  nach  ihm  zu  den 
Seesoldaten,  die  im  J.  254  n.  Chr.  von  dem  Kaiser  Gallienus  den 
von  den  Herulern  bedrängten  Athenern  zu  Hilfe  geschickt  wurden 
und  so  für  die  Freiheit  Griechenlands  kämpften, 

Guiel.  Vollgraff,  Ad  epigramma  Graecum  uuper 
in  Aegypto  repertum  (Rev.  des  etudes  grecques  1915  S.  55). 
Mnemosyne  47  S.  54,  weist  auf  die  Synizese  im  5.  Verse  ^t]f.i7]TQiov 
hin  und  verbessert  V.  8  el  yovv  st.  riyovv.  —  Epigrammata 
emendata.     Ebenda   S.  251,   verbessert   und   ergänzt   zwei  Epi- 


Bericht  über  die  griechischen  Lyriker  usw.  für  1917 — 1920.        77 

gramme,  die  im  American  Journal  of  Archaeology  1913  S.  171  und 
185  veröffentlicht  sind, 

Ch.  Chariton  f.  Charitonidis,  Epigramma  emen- 
datum,  Mnemosyne  47  S.  116,  liest  in  einem  von  A.  Arvanito- 
pulos,  OBoauXiAo.  ixvr]fxeia  p.  123  bekannt  gemachten  Epigramm: 
ipvxijv  fxEv  iv  Eiöof.i£vr]  [==  TVoXei  MaKeöovrKfj]  nQoeXivTtaveVj 
oGTsa  ÖS  xtX. 

Th.  Rein  ach  spricht  in  Academie  des  Inscriptions  1920, 
20.  Februar,  über  ein  griechisches  Epigramm;  aber  nähere  Angabe 
darüber  kann  ich  nicht  machen,  da  mir  die  Zeitschrift  nicht  zu- 
gänglich ist. 


Bericht  über  die  in  den  letzten  Jahrzehnten  üher  Piaton 
erschienenen  Arbeiten. 

Von 

Coustantiii  Kitter  in  Tübingen. 

(Fortsetzung;  s.  Bd.  187,  1  ff .) 


4.   Inhaltliche  Einzelbetrachtung. 
A.   Der  älteren  Schriften  Ms  znm  Phaidou. 

(Pr  —  Hp  II  —  La  —  Ch  —  Eu  —  Ap  —  Cr  —  G-  —  Me  —  Eus  —  Cra  — 
Hp  I  —  Mx  —  Ly  —  Sy  —  Phn.) 

[Die  schon  im  letzten  Bericht  angewandten  Abkürzungen  sind  bei- 
behalten: PI.  =  Piaton,  Sokr,  =  Sokrates,  Ap  =  Apologia,  Ch  =  Char- 
mides,  Cr  =  Kriton,  Cra  =  Kratylos,  Cs  =  Kritias,  Eu  =  Euthyphron, 
Eus  =  Euthydemos,  G  =  Gorgias,  Hp  I  u.  11  =  Hippias  I  (maior)  u.  IE 
(minor),  La  =  Laches,  Ly  =  Lysis,  Me  =  Menon,  Mx  =  Menexenos, 
N  =  Nomoi,  Pa  =  Parmenides,  Po  =  Politikos,  Phi  =  Philebos,  Phn  == 
Phaidon,  Phs  =  Phaidros,  Pr  =  Protagoras,  Rp  ==  (Respublica)  Politeia, 
So  =  Sophistes,  Sy  =  Symposion,  Ti  =  Timaios,  Th  =  Theaitetos.  Bei 
Zitaten  aus  den  Dialogen  sind  die  Hunderter  dreisilbiger  Seitenzahlen 
weggelassen.] 

Ich  beginne  mit  dem  Protagoras. 

Bei  Frachter  (Überweg)  S.  206  sind  folgende  neueren  der  Er- 
klärung dienenden  Schriften  nachgewiesen : 

Band  II  von  Piatons  ausgewählten  Dialogen  erklärt  von  H.  Sauppe. 

4.  Aufl.     Berlin  (Weidmann)  1884. 

.,    IV  von  Piatons  ausgewählten  Schriften,  für  den  Schulgebrauch 

erklärt  von  Ch.  Cron  u.  J.  Deuschle,  6.  Aufl.  neu  bearb. 

V.  W.  Nestle.     Leipzig  (Teubner)  1910. 

In    größerem    Zusammenhang    ist    der    Dialog    gewürdigt    von 

Pfleiderer^),  Sokrates  und  Plato,  1896,  S.  142.  148.  150  (u.  sonst).— 

Lutoslawski,   Plato's  Logic,  1897,  S.  205 — 207.    —    Th.  Gomperz, 

Griechische    Denker  II 2,    1903,    S.  250—263.    —   Natorp,    Piatos 

Ideenlehre,  1903,  S.  10 — 18.  —  Räder,  Piatons  philosophische  Ent- 


^)  Die  hier  in  zeitlicher  Folge  aufgeführten  Schriften  sind  auch  bei 
den  andern  platonischen  Dialogen  immer  gemeint,  wenn  nur  der  Name 
der  Verfasser,  Pfleiderer  usw.  —  Prächter,  angegeben  wird. 


80  Oonstantin  Ritter. 

Wicklung,  1905,  S.  106—111.  —  Ritter,  Piaton  I,  1910,  S.  309 
bis  342.  —  Windelband-Bonhöffer,  Gesch.  d,  antiken  Philos.^,  1912, 
S.  150  f.  —  Pohlenz,  Aus  Piatos  Werdezeit,  1913,  S.  77—112.  — 
V.  Arnim,  Piatos  Jugenddialoge,  1914,  S.  1—14.  18—26.  90—94.  — 
Wilamowitz,  Piaton,  1919,  S.  187—150.  —  Überweg  -  Prächter, 
Grundr.  d.  Gesch.  d.  Phüos.  I^\  1920,  S.  140—144. 

Die  Echtheit   wird   heute    von   keinem  vernünftigen  Beurteiler 
mehr  angefochten.     Daß  es  ein  Jugenddialog  ist,   darüber  herrscht 
auch  Einstimmigkeit,     v.  Arnim  will  beweisen,    es  sei  überhaupt 
Pl.s    erste  Schrift.     Für   ganz  unmöglich  halte  ich  das  zwar  nicht, 
jedoch  V.  A.s  Beweis  hat  für  mich  keine  Kraft.     Er  geht  aus  von 
der  Vergleichung   mit   dem  La.     Da    eine  Untersuchung   über   das 
Wesen  der  Tapferkeit  sowohl  hier  wie  dort  angestellt  wird,  meint 
er  (S.  3):    „es  muß  möglich  sein,    durch  methodische  Analyse  und 
Vergleichung  beider  Darstellungen  zu  ermitteln,  welche  von  beiden 
früher  geschrieben  ist.     Denn  wir  glauben  nicht,    daß  ein  Schrift- 
steller wie  PL  bei  der  Ausarbeitung  einer  zweiten  Behandlung  des- 
selben Gegenstandes  die  frühere  Darstellung  ganz  unberücksichtigt 
lassen  kann."    Das  bestehende  Verhältnis  ist  nun  zu  beurteilen  aus 
folgendem  (S.  24) :   „Daß  die  avögeia  =  i7tiGzi]f.ir]  tcov  öeivwv  y.al 
fit)  öeivcov  sei,  wird  im  Pr  weitläufig  bewiesen ;  was  aber  PI.  unter 
dieser  srciGTiif-iri  versteht,  bleibt  zweifelhaft.     Im  La  dagegen  wird 
diese  Definition  der  Tapferkeit  von  Nikias  gleich  am  Anfang  seines 
dialektischen  Gesprächs    mit  Sokr.    wie    etwas  Bekanntes    und    aus 
der   Lehre    des    Sokr.    sich   Ergebendes    eingeführt.     Eine   positive 
Begründung     dieser     Definition     wird     aber     nirgends     gegeben." 
(25)   „Schon  diese  einfache  Erwägung  kann  uns  lehren,  daß  der  La 
nach    dem  Pr   geschrieben    ist.     Denn    es   ist  PI.  nicht  zuzutrauen 
und  entspricht  nicht  seinen  methodischen  Grundsätzen,    die  Wahr- 
heit  eines  Satzes  schon  für  erwiesen  zu  halten,    wenn  sich  einige 
dagegen  erhobene  Bedenken  als  nicht  stichhaltig  erwiesen  haben  .  .  . 
Als  bekannt  setzt  PI.  in  seinen  Dialogen,  soweit  es  sich  um  wissen- 
schaftliche Sätze  handelt,    nur  das  gelegentlich  voraus,    was  er  in 
einer  früheren  Schrift  genügend  erledigt  zu  haben  glaubt.  —  Es  ist 
ferner   unverkennbar,    daß    der  La   die    im  Pr  gegebene  Definition 
der  Tapferkeit   nur  mit  Vorbehalt  billigt;    denn  es  wird  gegen  sie 
von    Sokr.    selbst    ein  Bedenken    erhoben,    das    unerledigt   bleibt"; 
nämlich    es    „ist   in   dieser  Definition  die  differentia  specifica  noch 
nicht  enthalten,  welche  die  Tapferkeit  als  eine  Spezies  der  Tugend 
von    ihren   übrigen    Spezies,    wie   Gerechtigkeit    und  Besonnenheit, 
unterscheidet.    (Daß  PI.  diesen  Einwand  für  berechtig  ansieht  und 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten,     gl 

eine  Modifikation  der  Definition  für  nötig  hält,  hätte  nie  bezweifelt 
werden  sollen.)"  Der  Verfasser  des  La  ist  in  der  Erkenntnis  weiter 
fortgeschritten.  Nur  seine  Dialogperson  (27)  „Laches  steht  auf  dem 
Standpunkt,  dem  im  Pr  alle  Anwesenden  zustimmen,  daß  das  Gute 
im  Grunde  mit  dem  Angenehmen  identisch  sei ;  Nikias  hingegen 
meint  ein  höchstes  Gut,  das  nicht  auf  einer  günstigen  Lust-Unlust- 
Bilanz  beruht  und  auf  äußeren  Erlebnissen,  die  der  Seher  voraus- 
sagen kann,  sondern  auf  der  Beschaffenheit  der  Seele  selbst.  Gut 
und  heilsam  ist  nach  dieser  Auffassung  dem  Menschen  vor  allem, 
was  seine  Seele  aus  moralischer  Verderbnis  rettet".  Das  Furchtbare 
und  Nicht-Furchtbare  bekommt  damit  einen  Sinn,  „den  man  im  Pr 
nur  ahnen  kann,  aber  nirgends  mit  Händen  greift".  Und  so  muß 
denn  eben  „der  La  nach  dem  Pr  geschrieben  sein,  weil  er  das, 
was  wir  als  Pl.s  spätere  Lehre  kennen,  klarer  macht".  Besonders 
lehrreich  ist  der  Abschnitt  des  La,  der  Beispiele  einer  qtQoviftog 
'/.aQTEQia  anführt,  die  nicht  avögeia  ist.  Das  erste,  eY  zig  •/.agregEl 
araXloy-iüv  agyigiov  cpQOviuwg,  elöcbg  ort  uvaXiöaag  rcXtov  Iv.xxfiE- 
xai  (31),  „richtet  sich  direkt  gegen  die  hedonistische  Tugendlehre 
im  Pr,  welche  das  Wesen  des  tugendhaften  Handelns  im  Voraus- 
wissen des  äußerlichen  sinnlichen  Vorteils  erblickt  (56  b)".  Eben 
„diese  Theorie  der  Tugend  will  PI.  durch  seine  Beispiele  lächerlich 
machen".  Das  Bezeichnende  der  ganzen  Reihe  von  Beispielen  ist, 
„daß  PI.  den  im  Pr  gemachten  Unterschied  von  d'UQQaXeoi  cctto 
Ttyj')]g  und  dvögeioi  f-iexa  /.teTQrjTr/.rig  8Tiiozyji.n]g  nicht  mehr  auf- 
recht erhält,  sondern  beide  Erscheinungen  unter  einem  einheitlichen 
philosophischen  Gesichtspunkt  zusammenfaßt".  Man  soll  sehen,  daß 
er  es  aufgegeben  hat,  die  fachliche  eV/ ff r/y7^/;  xtov  dsivwv  von  der 
allgemeinen  f.ieTQf^tf/,ij  zu  unterscheiden.  „Diese  Betrachtung",  meint 
V.  A.,  „muß  jedermann  überzeugen,  daß  der  La  geschrieben  ist,  um 
das  Rätsel  zu  lösen,  das  PI.  seinen  Lesern  im  Pr  aufgegeben  hatte." 
Freilich  ist  er  gar  nicht  der  Meinung,  daß  PL,  wie  er  den  Pr 
schrieb ,  von  der  Tugend  wesentlich  anders  gedacht  habe  als  zur 
Zeit,  da  er  ihm  den  aufklärenden  La  nachschickte.  Der  Beweis, 
urteilt  er,  den  Sokr.  gegen  Pr  führt,  um  zu  zeigen,  auch  die  Tapfer- 
keit, wie  jedes  andere  Stück  der  ageirj,  sei  ihrem  Wesen  nach 
W^eisheit,  könne  nicht  ernst  gemeint  sein.  Er  erklärt  zwar  selbst : 
„in  gewissem  Sinn  hat  PI.  immer  das  sokratische  Paradoxon,  daß 
Tugend  Wissen  ist,  vertreten",  in  dem  Sinn  nämlich,  daß  er  „ein 
Wissen ,  gegen  das  sich  die  Triebe  auflehnen ,  nicht  als  echtes 
Wissen  gelten  lassen  will".  Er  erkennt  auch  an,  daß  der  Satz  aus 
Pr  58  c    ov'K    loTL   tovzo  ev  avd^gwrcov  cfvoei,    stcI  a  oilezai   y.axa 

Jahresbericht  für  Altertumswissenschalt.    Bd.  191  (1922.  I).  6 


82  Canstantin  Ritter. 

elvai  ed^iXeiv  levai  avil  ayad^iov  „ein  Kardinalsatz  der  platonischeii 
Ethik"  ist.  Dessenungeachtet  vertritt  er  die  Ansicht,  PL  spiele 
im  Pr  nur  mit  dem  hedonistischen  Gedankengang,  um  den  Sophisten 
in  Verlegenheit  zu  bringen,  der  nicht  imstande  sei,  eine  Theorie 
der  Ethik  aufzustellen,  die  über  die  verworrenen  Meinungen  der 
Menge  hinausführe.  Er  mahnt  (11),  zu  beachten,  wie  im  Streit 
überall  nur  bewiesen  wei'de,  daß  die  noXXol  auf  seine  Fragen  nach 
der  Begründung  des  Guten  stets  schließlich  auf  das  Angenehme 
zurückgreifen  und  unfähig  seien ,  ihm  eine  selbständige  Bedeutung 
zu  geben ,  „und  Pr  ist  in  diesem  Punkte  elq  tcov  ttoXXiöv.  Daß 
aber  auch  Sokr.  selbst  diese  Unfähigkeit  teilt,  ist  mit  keinem  Worte 
angedeutet".  Und  indem  er  andere  Dialoge  heranzieht,  behauptet 
er,  im  G  werde  „auf  einen  ziemlich  eristischen  Beweis  hin  die 
Verschiedenheit  des  Angenehmen  vom  Guten  konstatiert",  und  das 
erkläre  sich  eben  am  leichtesten  daraus,  daß  „dieser  Gegensatz  von 
vornherein  das  jtou  öTw  des  platonischen  Philosophierens  gebildet 
hatte".  Vom  Ph  aber  urteilt  er,  daß  dort  genau  die  hedonistische 
Theorie  des  Pr  bekämpft  werde,  in  einer  Weise,  durch  die  PL  sich 
selbst  beschimpft  und  herabgewürdigt  hätte ,  wenn  diese  Theorie 
früher  ein  Stück  seiner  eigenen  Überzeugung  gebildet  hätte. 

Ich  bin  über  diesen  wichtigen  Punkt  ganz  anderer  Meinung: 
Das  Verständnis  wird  dadurch  erschwert,  daß  der  junge  PL  starken 
Widerwillen  hegt  gegen  die  Prägung  fester  Wortbezeichnungen 
wegen  der  Gefahr ,  daß  sie  zu  gedankenlosem  Nachsprechen  der 
Worte  eines  Meisters  verleiten.  So  kritisiert  er  zwar  oft  mit  aller 
Schärfe  die  in  der  gemeinen  Sprache  üblichen  Bezeichnungen,  um 
darauf  aufmerksam  zu  machen,  daß  sie  nicht  scharf  und  klar  sind, 
aber  er  verschmäht  es  doch  nicht ,  sie  vorher  und  nachher  im 
üblichen  Sinn  zu  verwenden.  Für  den  Verstand  des  gemeinen 
Manns  sind  rjdc,  dyad-ov,  -/.aXov  getrennte  Begriffe  und  steht  das 
rjdv  oft  im  Gegensatz  zum  ayaS-ov.  Jeder  —  dies  legt  uns  PL  im 
9.  Buch  der  ßp  dar  —  fühlt  von  Kind  an  die  Süßigkeit  der  sinn- 
lichen Lust ;  viele  lernen  bald  auch  die  schmeichelnde  Befriedigung 
des  Verlangens  nach  Anerkennung  und  Bewunderung  durch  andere 
kennen;  nur  wenige  machen,  sich  selbst  überlassen,  allmählich  die 
Erfahrung,  daß  es  eine  Befriedigung  gibt,  die  weder  sinnlicher  Art 
noch  von  dem  Zoll  der  Zustimmung  anderer  Personen  abhängig  ist. 
Und  doch  ist  diese,  den  meisten  wenig  bekannte,  Befriedigung  die 
nachhaltigste  und  beglückendste.  Das  ist  Pl.s  Glaube,  den  er  von 
Sokr.  übernommen  und  sein  ganzes  Leben  hindurch  festgehalten 
und    verkündet  hat,    mit  besonderem  Nachdruck  im  G,    in  der  Ep 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jalirzeliiiteii  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.     83 

und  den  N.  Ich  fühi-e  zu  der  vom  Verf.  selber  (9  f.)  aus  N  689  a 
angezogeneu  nur  3  weitere  Stelleu  au.  An  der  ersten ,  Rp  IX 
80  b  c,  spricht  PI.  mit  auffaUeuder  Feierlichkeit  und  legt,  nur  durch 
einen  ganz  leichten  Schleier  verhüllt,  ein  persönliches  Bekenntnis 
zum  Eudämonismus  ab  (o  ^QiOTOJVog  v\dg  tbv  agiaror  '/.al  dr/.aio- 
xaiov  eiSaif.ioi'eotazov  k'/.Qire).  Der  Wortlaut  der  zweiten,  583  a, 
gibt  uns  die  Berechtigung,  den  Standpunkt  des  Verfassers  der  ßp 
genau  mit  der  Kennzeichnung  zu  versehen,  die  v.  A.  der  im  Pr  von 
Sokr.  entwickelten  Theorie  gibt,  nämlich  „hedonistischer  Utilismus". 
Die  dritte  aber,  die  über  mehrere  Kapitel  in  den  N  sich  erstreckt 
(Buch  2  K.  7 — 11),  zeigt,  daß  auch  der  greise  PI.  diese  ethische 
Theorie  noch  festgehalten  hat,  und  ist  besonders  geeignet,  den  Sinn 
der  G-Beweise,  die  man  dagegen  kehren  will,  aufzuhelleu.  Ich  ver- 
weise auf  meine  Inhaltsdarstellung  der  N  (Leipzig  1896,  S.  13  f.), 
deren  Sätze  ich  hier  vollständig  abschi-eiben  müßte,  um  aUes  deut- 
lich zu  machen,  außerdem  auf  meinen  Piaton  I  S.  319  ff,,  333  f., 
447  ff.,  wo  ich  zu  zeigen  gesucht  habe,  daß  weder  die  Beweis- 
führung des  Pr  noch  die  des  G  von  den  sie  bekrittelnden  Gelehrten 
richtig  verstanden  wird.  Mit  der  aUerstrengsten  Strafe  wird  in 
jenem  Abschnitt  der  N  der  Dichter  bedroht,  der  sich  herausnähme 
zu  sagen,  wg  elol  rivsg  avd^QWjioi  rror«  novr^Qoi  fiei',  t^idicog  ös 
CtovTEg,  ij  XvoixEXoirxa  (.lev  alXa  iavl  v.al  yiegöaXta,  öiÄaiOTBQa  ds 
aX?M-,  der  dixaioTazog  ßiog  ist  zugleich  r^dioxog,  der  aöi/.og  ßlog 
oc  (.lovov  aloxiiov  xal  jiiox^rjQoieQog  aXXa  xal  ca^öeazEgog  t^  ah]- 
^eia  Tov  öi/miov  xe  xai  boiov  ßiov.  Kein  Vater  kann  seinen  Kindern, 
kein  wohlmeinender  Gesetzgeber  den  Bürgern  etwas  vorschreiben 
und  anempfehlen,  wovon  er  überzeugt  wäre,  daß  es  ihr  Glück  be- 
einträchtigte. Und  woUte  einer  das,  so  wäre  es  umsonst,  ovöelg 
yccQ  av  hvMV  sd'eloi  nei&eadai  Ttgdxxeiv  xovxo,  oxcp  /.aj  x6  ^ß/^fitv 
xov  XvTiEiadai  nXeov  euexai.  Und  es  läßt  sich  rein  nicht  finden, 
was  an  dem  ayad^öv  oder  y.a?<,6v  lockend  und  rühmenswert  sein 
soUte  als  eben  die  rjöovij,  die  drinnen  steckt  (xl  yag  dr^  öi/iai(L) 
XCüQitofiEvov  rjöovr^g  ayai^ov  av  yiyvoixo;)  Wer  diese  Kapitel  der 
N  (und  dazu  die  Ep  und  den  Phi)  beherzigt ,  kommt  mit  dem 
üblichen  Versuch,  den  Piaton  von  dem  Vorwurf  des  „Hedonismus" 
zu  entlasten,  wirklich  nicht  aus  und  verrät  nur,  daß  er  die  Frage 
nicht  in  ihrer  ganzen  Tiefe  erfaßt  hat.  Daß  die  iiexQ)^xr/.ij  r£/v// 
im  Pr,  die  v.  A.  (14)  für  ein  „unsinniges  Projekt'  erkläi't,  wiiklich 
ernst  zu  nehmen ,  das  dürfte  auch  aus  Vergieichung  zwischen 
Pr  56  b  ff.  und  Phi  41  e,  N  663  b  (nebst  Rp  VII  23  b)  sich  ergeben  i). 

')  Man  vergleiche  auch  Cicero  Off.  in,  8,  11. 


84  Constantin  Ritter. 

Im  einzelnen  möchte  ich  noch  verschiedene  Sätze  beanstanden. 
S.  5  sagt  V.  A.,  im  La  werde  bewiesen ,  daß  wer  ohne  fachliche 
Ausbildung  im  Schwimmen  oder  im  Reitergefecht  mutig  ausharrt, 
„mehr  Anrecht  auf  den  Namen  eines  Tapferen  hat ,  als  wer  dies 
auf  Grund  seiner  Fachkenntnis  tut".  Und  diese  Ansicht,  erklärter, 
sei  nicht  nur  e\'ident  richtig,  sondei'n  stimme  auch,  im  Gegensatz 
zu  dem ,  was  der  Pr  über  die  Sache  bemerke ,  mit  Pl.s  späterer 
wohlbekannter  Auffassung  überein.  Ich  vermag  in  den  Ausführungen 
des  Pr  und  La  so  wenig  einen  sachlichen  Gegensatz  zu  finden,  daß 
ich  vielmehr  meine ,  nur  durch  ihre  Vereinigung  könne  Pl.s  Auf- 
fassung beschrieben  werden.  Mutig  oder  tapfer  sind  durchaus  nicht 
alle  Leute,  deren  Verhalten  der  Menge  Bewunderung  abnötigt.  Wer 
die  Lebensgefahr  gar  nicht  kennt ,  in  die  er  sich  begibt  und  des- 
halb vor  dem  Tod,  den  andere  für  ihn  fürchten,  keine  Angst  hat, 
legt  mit  seinem  Bestehen  der  Gefahr  keine  wirkliche  Probe  von 
Mut  ab.  Das  betont  der  Pr.  Und  anderseits,  das  belehrt  uns  der 
La:  wer  so  gut  auf  die  Bestehung  einer  Gefahr  eingeübt  ist,  daß 
er  sich  so  ziemlich  darauf  verlassen  kann,  in  ihr  nicht  unterzugehen, 
für  den  ist  es  auch  keine  Heldentat,  wenn  er  sich  ihr  aussetzt. 
Demnach:  nur  wo  wirkliche  Gefahr  droht  und  von  dem  Bedrohten 
klar  erkannt  ist,  ist  überhaupt  der  Boden  für  die  Bewährung  von 
Tapferkeit.  Und  da  gilt  dann  allerdings :  je  größer  die  Gefahr  ist, 
desto  größer  die  Tapferkeit.  Für  den  Ungeübten  aber  ist  sie  größer 
als  für  den  Geübten.  Auch  mir  scheint  es  absichtliche  Zurück- 
haltung, daß  der  Pr  nur  eine  einseitige  Auffassung  gibt.  Aber 
ich  meine ,  auch  der  La  ist  einseitig  und  verlangt  vom  Leser  Er- 
gänzungen. Auch  sein  Sokr.  ist  „mehr  Elenktiker,  der  den  Leuten, 
am  liebsten  den  sich  weise  düukenden,  ihren  Mangel  an  echtem 
Wissen  nachweist,  indem  er  sie  in  Widersprüche  mit  ihren  eigenen 
Behauptungen  verwickelt".  Denn  wenn  La  93b  nach  Gegenüber- 
stellung eines,  der  dem  Gegner  Stand  hält,  weil  er  weiß  und  q^go- 
vt[.icog  loyiLo/uevog  sich  vorhält,  er  selber  sei  tüchtiger  zum  Kampf 
tind  habe  alle  möglichen  Vorteile  für  sich,  und  eines  anderen,  der  unter 
ungünstigen  Verhältnissen  gleichfalls  aushält,  uns  sagt :  affQOVEOvtQa 
ya  7j  zovTOV  r;  7^  xol  iitqov  Kagzegia,  so  gilt  das  doch  nur,  so  lang 
man  außer  Acht  läßt,  was  das  wirklich  Furchtbare  ist.  Das  ist 
eben  nicht  der  Tod,  und  auch  Wunden  und  Gefangenschaft  sind  es 
nicht.  Denn  sie  gehen  den  Zustand  der  Seele  nichts  an,  treffen 
nur  den  Körper.  Die  f.iETQr^Tiy.Tq  des  S7tiOT7]i.uov  läßt  sie ,  an  den 
Gütern  und  Übeln  der  Seele  gemessen,  zu  voller  Bedeutungslosigkeit 
zusammenschrumpfen.     Wenn    also   jeder    der    beiden   Dialoge    aus 


Bei",  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.     85 

dem  andern  seine  Ergänzung  erhält,  so  ist  über  ihr  zeitliches  Ver- 
hältnis von  da  aus  nichts  zu  entscheiden. 

Habe  ich  mit  diesen  Ausführungen  Recht,  so  fallen  die  meisten 
chronologischen  Folgerungen  um ,  die  v.  A.  über  das  Verhältnis 
zwischen  Pr,  La,  G  und  Rp  I  aufgestellt  hat.  Sehen  wir  aber 
nach  weiteren  Einzelheiten. 

S.  14  knüpft  V.  A.  an  die  Erklärung  des  Sokr.  im  Pr,  atoTrjQia 
lur  ßiov  könne  nur  eine  Meßkunst  bringen,  die  offenbar  eine 
Wissenschaft  sein  müsse,  die  Frage  an,  ob  PI,  über  die  Schwierig- 
keiten der  Begründung  der  geforderten  Wissenschaft  so  leicht 
hiuweggleiten  könnte,  „wenn  er  eine  für  die  Ethik  grundlegende 
Erfindung  gemacht  zu  haben  glaubte".  Würde  er  dann  nicht,  wie 
in  Rp  V,  beflissen  sein ,  die  Durchführbarkeit  seines  Planes  zu 
beweisen?  Ich  erinnere  ihn  daran,  daß  er  selber  im  Vorwort  (V) 
uns  belehrt:  .,Die  erste  Schriftenreihe  ist  bestimmt,  durch  Kritik 
der  im  Volke  verbreiteten  oder  von  anderen  Philosophen  vertretenen 
ethischen  Ansichten  die  Leser  schließlich  auf  den  Punkt  zu  treiben, 
von  dem  aus  der  Grundgedanke  der  platonischen  Philosophie ,  die 
Realität  der  Ideen,  begriffen  werden  kann.  Darin  liegt  ihre  große 
Bedeutung.  Sie  sind  Prolegomena  zur  Ideenlehre."  Das  soll  gelten. 
Aber  sollte  dann  nicht  die  Bedeutung  des  Pr  darin  liegen,  daß  er 
Prolegomena  zur  Ethik  geben  will? 

Daß  ich  so  ziemlich  mit  allem,  was  v.  A,  S.  15 — 23  über  das 
Verhältnis  der  Lehre  vom  Guten  oder  der  Tugend,  die  der  Phn 
und  die  Rp  geben,  zu  den  Ausführungen  des  Pr  nicht  einverstanden 
bin,  ergibt  sich  aus  dem  schon  Bemerkten.' 

S,  28  behandelt  v,  A.  die  Worte  d^gaoig  und  d^aggaliog  als 
gleichsinnig.  Dann  allerdings  ergibt  sich  ein  Gegensatz  zwischen 
Pr  und  La.  .,  Während  bei  Protagoras  die  avÖQsloi  eine  besondere 
Spezies  von  d^aQQa?JoL  bilden,  schließen  sich  bei  Nikias  die  Begriffe 
d-gaacg  und  ardoelog  gegenseitig  aus.  Bei  ihm  ist  die  d^QaavTr]g 
immer  mit  a7tQ0i.ir]&ia  verbunden,  während  es  bei  Protagoras  d-agga- 
?Joi  aitb  Tix^'r^g  gibt,  ein  Fall,  der  im  La  nur  in  dem  Laches- 
gespräch 93  b  berücksichtigt  wird.  Die  O^Qaaeig  des  Nikias  umfassen 
nur  die  ^aQQa?Joi  cctto  S^vf^ov  y,al  ano  [.laviag  des  Protagoras.  Es 
ist  also  klar,  daß  die  Distinktion  der  Begriffe  im  La  eine  andere  ist 
als  im  Pr.  Nur  die  im  La  ist  platonisch.  Zu  ihr  stimmt  die  Stelle 
im  Me  88  b,  nach  welcher  diejenige  avögela,  die  nicht  ^^ovrydtg  ist, 
alX^  oiov  d-aoQog  ti,  bald  schadet,  bald  nützt.  Um  zu  nützen,  muß 
sie  sich  mit  dem  vocg  verbinden,"  Ein  i^oQQog,  das  schadet  oder 
schaden  kann,  ist  keine  agezrj,  verdient  also,  trotz  der  Bewunderung, 


86  Constantin  Ritter. 

die  die  noXXol  dem  d^gaavg,  dem  tollköpfigen  Draufgänger,  zollen 
mögen ,  den  Namen  avÖQEia  nicht.  Auch  im  Pr  sind  die  Begriffe 
■i^gaovg  und  avögtlog  unvereinbar  und  der  Me  ist  mit  ihm  so  gut 
in  Übereinstimmung  wie  mit  dem  La. 

S.  35  ergeht  sich  v.  A.  in  allgemein  gehaltenen ,  voi-wiegend 
psychologischen  Beti'achtungen ,  die  zeigen  sollen ,  „wie  geeignet 
der  Pr  ist,  als  der  erste  sokratische  Dialog  Pl.s  zu  gelten":  „Es 
ist  unwahrscheinlich,  daß  PL  sein  erstes  Werk,  durch  das  er  den 
sokratischen  Dialog  als  Kunstform  der  philosophischen  Literatur 
kreierte,  nicht  dazu  benutzt  haben  sollte,  die  philosophische  Schrift- 
stellerei  ,  die  er  plante  und  begann ,  im  Gegensatz  zu  allen  schon 
vorhandenen  philosophischen  Werken  hinsichtlich  ihrer  formalen 
und  inhaltlichen  Eigenart  zu  rechtfertigen.  Zweierlei  müssen  wir 
a  priori  von  dem  ersten  philosophischen  Dialoge  Pl.s  erwarten: 
1.  daß  er  die  dialogische  Kunstform  als  die  beste  für  philosophische 
Untersuchungen  erweise,  so  daß  der  Leser  deutlich  erkennt,  warum 
PL  dieser  Form  vor  dem  zusammenhängenden  dogmatischen  Lehr- 
vortrage und  überhaupt  vor  allen  übrigen  Lehrformen  den  Vorzug 
gibt,  2.  daß  er  den  Leser  über  die  Aufgaben,  die  sich  PL  als  Philo- 
soph stellt,  unterrichte.  Wir  erwarten,  daß  der  erste  sokratische 
Dialog  in  Ansehung  der  Kunstform  sowohl  wie  des  philosophischen 
Inhalts  einen  programmatischen  Charakter  zeige."  Erwarten  wii* 
das  wirklich  ?  Und  müssen  wir,  wie  v.  A.  meint,  die  Hauptabsicht 
des  ganzen  Dialogs  darin  erkennen,  daß  PL  „seine  eigenartige  philo- 
sophische Methode  und  seine  eigenartige  Auffassung  von  den  Auf- 
gaben der  Philosophie  veranschaulichen"  wollte,  „indem  er  sie  den 
Methoden  und  Auffassungen  der  anderen  Philosophen  so  gegenüber- 
stellte, daß  ihr  Vorzug  in  die  Augen  sprang"  ?  Und  wenn  dem  so 
wäre,  sollte  der  jugendliche  Künstler,  der  seine  Tragödien  ver- 
brannte und  zur  dramatischen  Gesprächsbehandlung  der  Fragen 
überging,  die  ihm  durch  Sokr.  die  wichtigsten  geworden  waren,  vor 
allem  das  Bedürfnis  empfunden  haben,  die  Leser  möglichst  genau 
über  seine  schriftstellei'ischen  Absichten  aufzuklären?  Zur  Ein- 
führung in  eine  ganze  Reihe  sachlich  zusammenhängender  Dialoge 
—  des  La  Ch  Eu  samt  Rp  I  und  Eus  und  Me  — ,  meint  v.  A., 
„eignet  sich  kein  anderer  Dialog  als  der  Pr,  weil  er  das  Thema 
aufstellt,  zu  dem  die  anderen  einzelne  Beiträge  liefern".  Ja  wohl. 
Allein  wenn  v.  A.  fragt:  „Oder  wäre  es  angemessener  gewesen, 
wenn  PL  mit  einer  Spezialuntersuchung  über  eine  einzelne  Tugend 
seine  Schriftstellerei  begonnen  hätte?",  so  meine  ich,  wir  kommen 
mit  dem  Gesichtspunkt  der  Angemessenheit  nicht  durch.    Und  die 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.     37 

Antwort  befriedigt  mich  darum  gar  nicht ,  die  er  selber  sich  gibt 
mit  den  Worten:  „Gewiß  nicht!  Denn  immer  gibt  uns  in  der 
Wissenschaft  der  Ausblick  in  weite  Gefilde  und  der  Aufblick  zu 
hohen  Zielen  erst  den  Mut  und  die  Kraft  zu  der  mühsamen  Arbeit 
im  einzelnen  und  kleinen."  PI.  sucht  wohl  von  Anfang  an  wissen- 
schaftliche Klarheit  und  dringt,  nach  Sokr.'  Vorgang,  auf  die  Not- 
wendigkeit, sie  zu  schaffen.  Aber  sein  erstes  Anliegen  ist,  diesen 
seinen  Meister  uns  zu  zeigen.  In  diesem  Sinn  ist  sowohl  der  Pr 
geschrieben  als  der  La.  Und  wenn  man  fragt,  welcher  der  beiden 
Dialoge  eben  dieser  Absicht  am  besten  entspreche,  so  möchte  ich 
urteilen :  der  La.  So  habe  ich  ihn  in  meinem  Piaton  dem  Pr  voraus- 
gestellt mit  der  Begründung  (S.  294:)  „Es  ist  recht,  als  ob  hier 
Sokrates  seinen  Mitbürgern ,  die  ihn  noch  verkennen  und  seine 
schlichte  erzieherische  Arbeit  übersehen,  zum  erstenmal  vorgestellt 
werden  sollte  als  der  Mann,  der  stets  mit  den  Fragen  des  Jugend- 
unterrichts sich  beschäftigt  und  am  zuverlässigsten  über  das,  was 
not  tut ,  belehren  kann ,  obgleich  er  es  ablehnt ,  als  Lehrer  und 
Autorität  anderen  gegenüber  aufzutreten." 

Auch  Wilamowitz  stellt  den  Pr  dem  La  voraus,  nur  stellt 
er  ihn  nicht  ganz  an  den  Anfang  der  Schriftstellerei  Pl.s.  Er 
schreibt  (I  144):  „Die  Exposition  gibt  uns  ganz  deutlich  an,  was 
der  Dialog  will,  die  Weisheitslehrer  vorfühi-en,  wie  sie  sind,  damit 
wir  uns  ein  Urteil  über  den  Wert  ihrer  Ware  bilden."  Aber  aus- 
gesprochen wird  das  Urteil  nicht.  „Sokr.  traut  sich  das  ja  selbst 
nicht  zu.  Er  ist  zu  jung,  sagt  er.  In  der  Tat.  PI.  führt  seinen  Lehrer 
in  den  Jahren  ein,  da  er  noch  kein  bekannter  Mann  war ;  er  macht 
ihn  sogar  mit  Absicht  etwas  jünger,  als  er  war,  da  Protagoras  sein 
Vater  sein  könnte,  17  c.  Damit  ist  ausgeschlossen,  daß  es  auf  die 
Lehren  ankommt,  die  Sokr.  vortragen  wird ;  die  Verkehrtheit  springt 
in  die  Augen,  wenn  uns  zugemutet  wird,  PI.  hätte  den  Dialog  ge- 
sclii'ieben,  um  seine  Ansicht  über  das  Verhältnis  der  Tugenden  zu- 
einander oder  über  ihre  Lehrbarkeit  auseinanderzusetzen;  da  hätte 
ja  der  größte  Teil  der  Schrift  nur  den  Wert  eines  hübschen  aber 
entbehrlichen  Beiwerks  .  .  .  Wenn  der  Dialog  eine  praktische  Folge 
haben  soll,  kann  er  nur  dazu  auffordern,  statt  der  Sophisten  den 
Umgang  mit  Sokr.  zu  suchen;  denn  eine  Lehre,  die  auch  von  dem 
Toten  herstammend  empfohlen  werden  könnte,  gibt  es  nicht  von 
hm.  Schon  darum  ist  der  Dialog  notwendig  geschrieben,  als  Sokr. 
noch  lebt.  —  Die  Eingangsszene  lehrt  uns  noch  mehr:  sie  lehrt 
uns,  wie  PI.  dazu  gekommen  ist,  den  Pr  zu  schreiben.  Wer  ist 
denn  der  wässenshungrige  Jüngling  eigentlich,  den  Sokr.  davor  be- 


88  Constantin  Ritter. 

wahrt,  sich  eleu  Sophisten  unbesehens  gefangen  zu  geben?  Spüren 
wir  nicht  des  Jünglings  PI.  eigene  Erfahrungen  ?  So  leidenschaft- 
lich ist  er  noch  kürzlich  hinter  allem  hergewesen,  das  zu  lernen 
war:  so  unbesinnlich,  wie  er  sich  jetzt  eingestanden  hat.  Wer  hat 
ihm  zur  Einsicht  verholfen?  Bei  Sokr.  hat  er  es  gelernt;  den  hat 
er  in  den  Gymnasien  mit  den  weisen  Männern  disputieren  gehört 
und  sich  gefreut,  wenn  er  sie  abtrumpfte;  der  hat  ihn  unter  vier 
Augen  cemahnt,  bei  allem  an  das  Heil  seiner  Seele  zu  denken. 
Das  also  drängt  es  ihn  darzustellen.  In  ihm  aber  ist  die  echte 
Gestaltungskraft  des  Dichters.  Darum  erfindet  er  sich  einen  Zu- 
sammenstoß des  Sokr.  mit  Protagoras  selbst,  in  dem  er  mit  Recht 
den  Fürsten  der  Sophistik  erkennt;  die  anderen  stehen  neben  und 
hinter  ihm,  weil  die  ganze  modische  Bildung  als  solche  abgelehnt 
werden  soll.  PI.  ist  mit  dieser  Phase  seines  eigenen  Lebens  fertig; 
er  schreibt  sie  sich  von  der  Seele.  Daß  er  sie  los  ist,  dankt  er 
dem  Sokr.,  und  auch  das  muß  er  schreiben."  (150  f.)  Der  Pr  und 
die  „kleinen  Schriften,  die  als  Trabanten  diese  Sonne  umkreisen" 
—  W.  versteht  darunter  den  Hp  II  und  den  lo  —  „sind  die 
Zeugnisse  für  die  Jahre  403 — 400,  die  Zeit,  da  er  sich  im  Um- 
gange mit  Sokr.  bildet,  ohne  doch  recht  zu  wissen,  wohin  er  sein 
Leben  richten  wird.  Aber  in  der  Ahnungslosigkeit  ist  er  glücklich ; 
in  übermütiger  Laune  wirft  er  die  Bilder  des  dummstolzen  Virtuosen 
und  des  geckenhaften  Professors  hin.  Er  hat  das  Feld  gefunden, 
auf  dem  er  sein  dramatisches  Talent  frei  tummeln  kann  und  los- 
werden, was  er  auf  dem  Herzen  hat  ...  In  keuscher  Verhüllung 
kommt  auch  die  Verehrung  und  Liebe  zu  Sokr. ,  seinem  Seelen- 
führer, zur  Erscheinung.  Aber  das  scharfe  Auge  des  Satirikers  hat 
auch  die  charakteristischen  Züge  an  ihm  bemerkt ,  über  die  zu 
lächeln  verstattet  ist,  und  sie  dürfen  nicht  fehlen,  wenn  auch  leise 
angedeutet."  In  der  Hauptsache  finde  ich  mich  mit  diesen  Darlegungen 
in  Übereinstimmung.  Nicht  ebenso  mit  den  Bemerkungen,  die  W. 
über  die  philosophischen  Gedanken  des  Pr  macht.  Bezüglich  der 
Lehrbarkeit  der  Tugend  meint  er  (149):  „PI.  ist  mit  sich  selbst 
nicht  im  reinen;  es  dauert  noch  lange,  bis  er  imstande  ist,  im  Me 
die  Lösung  zu  geben."  Weiter  bemerkt  er  —  hierin  z.  B.  mit 
V.  Arnim  übereinstimmend  — :  „Daß  die  Behandlung  der  Tapferkeit 
ihm  selbst  nicht  genügte,  hat  PI.  durch  die  erneute  Darstellung  im 
La  eingestanden.  Der  ganze  Beweis  ruht  auf  der  Gleichsetzung 
des  Angenehmen  mit  dem  Guten,  d.  h.  Zuträglichen  .  .  .  Auf  dem 
Wege  wird  erhärtet,  daß  die  Tugend  Wissen,  also  lehrbar' ist,  also 
auch  die  Sophisten  als  Lehrer  berechtigt  sind.    Kein  Wunder,  daß 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PL  erschienenen  Arbeiten.     89 

sie  begeistert  zustimmen  (58  a).  So  redet  dieser  Soki\  Wir  mögen 
immer  sagen,  er  wii'd  wissen,  daß  das  wahrhaft  Angenehme  nur  das 
sittlich  Gute  ist,  so  daß  dieser  Hedonismus  nicht  sittlich  schädlich  sein 
wird:  dann  bleibt  es  doch  dabei,  daß  von  dieser  Hauptsache  hier  nichts 
steht,  und  daß  kein  Leser  sich  mehr  daraus  entnehmen  konnte,  als  daß 
Sokr.  sich  auf  den  Standpunkt  der  Sophisten  stellt,  um  den  Protagoras 
zu  besiegen,  also  den  Sophisten  in  ihrer  Kunst  überlegen  ist.  PI.  hat 
es  sich  angelegen  sein  lassen ,  diese  seine  Gleichsetzung  von  An- 
genehm und  Gut  (Nützlich)  immer  wieder  zu  berichtigen,  im  G  und 
noch  im  Phi.  Er  war  ehrlich.  Dagegen  täuscht  sich  selbst  jede 
Exegese,  die  darauf  aus  ist,  ihm  hier  das  unterzuschieben,  was  er 
später  einmal  wissen  und  sagen  wird  .  .  .  Auch  wenn  Sokr.  nicht 
mehr  sein  sollte,  als  hier  gezeigt  wird,  empfinden  wir  die  Mahnung 
als  berechtigt,  die  wir  empfaugen,  laßt  ab  von  den  Sophisten,  folgt 
dem  Sokr.  Nun  ist  das  hier  noch  der  junge  Sokr. ;  er  konnte  als 
Pl.s  Lehrer  dazu  fortgeschritten  sein,  wirkliches  Wissen  zu  über- 
mitteln. Sei  dem  so ;  dann  hat  PI.  es  darzustellen  entweder  nicht 
gewagt,  oder  er  hat  es  nicht  gekonnt.  Sein  Pr  zeigt  nur  den 
Sokr. ,  der  die  Sophisten  mit  ihren  Waffen  schlägt ;  was  sonst  in 
ihm  steckt,  läßt  das  Eingangsgespräch  erkennen.  Darin  sehen  wir, 
was  er  dem  PI.  gewesen  war,  der  Retter  von  dem  falschen  Bilduugs- 
weg,  der  Führer  zur  Sorge  um  die  eigene  Seele." 

In  der  Beurteilung  der  entwickelten  Lehre  vom  Guten  berührt 
sich  mit  v.  Arnim  Natorp  (S.  17):  „Auf  welche  Erkenntnis  ...  es 
ankommt,  das  bleibt  hier  noch  ganz  unbestimmt.  Nur  aus  Voraus- 
setzungen des  Gegners,  die  denen  des  Sokr.  selbst  (52  b  ff.)  schnur- 
stracks entgegengesetzt  sind,  wird  die  Folgerung  hergeleitet,  daß  es  die 
messende  Erkenntnis  der  größeren  und  kleineren,  näheren  und  ent- 
fernteren —  Lust  und  Unlust  sei  .  .  ..  endgültig  aber  soll  unbedingt 
nicht  diese  Erkenntnis  es  sein,  mit  der  die  Tugend  eins  ist,  sondern 
es  wird  die  Frage,  welche  Erkenntnis  es  sei,  ausdrücklich  noch 
als  offen  bezeichnet  (57  b)  und  jene  Folgerung  fort  und  fort  nur 
auf  die  Voraussetzungen  des  Gegners  gestützt ,  der  dadurch  ge- 
nötigt wird,  sogar  von  seinen  eigenen  Prämissen  aus  zuzugeben, 
daß  Tugend  Erkenntnis  sei."  Für  die  Zeitbestimmung  des  Dialogs 
aber  stellt  N.  eine  eigentümliche  Berechnung  an:  „Die  zeitliche 
Stelle  des  Pr"  erklärt  er  S.  15  für  „fraglos  bestimmt.  Er  liegt 
voraus  dem  Me  und  überhaupt  allen  übrigen  Schriften  außer  der 
Ap  und  allenfalls  dem  Cr,  den  man  von  der  Ap  ungern  trennt. 
Denn  er  ist  die  einzige  Schrift,  welche  die  in  der  Frage  der  Lehr- 
barkeit   der  Tugend    schroff'  verneinende  Haltung    der  Ap  festhält, 


90  Constantin  Ritter. 

wenngleich  schon  zum  Problem  macht.  Das  Thema  selbst  aber 
legt  die  Vermutung  nahe,  daß  die  Schrift  mit  der  Eröffnung  des 
platonischen  Wirkens  in  Athen  ungefähr  zusammentrifft  .  .  .  Sind 
nun  Ap  und  Cr  als  Denkschriften,  die  auf  die  Ereignisse  des  Jahres 
399  den  unmittelbarsten  Bezug  haben,  jedenfalls  diesen  Ereignissen 
möglichst  nahe  zu  rücken ;  ist  andrerseits  für  den  Me,  dem  der  Pr 
jedenfalls  vorangeht,  an  dem  meist  angenommenen,  ganz  wohl  halt- 
baren Termin  395  festzuhalten,  so  darf  man  den  Pr  füglich  als  die 
Schrift  ansehen,  mit  der  sich  PL,  nach  nicht  zu  langer  Abwesenheit 
398  oder  397  heimkehrend,  in  seiner  Vaterstadt  wieder  einführte 
und  sein  Wirken  daselbst  eröffnete.  —  Jedenfalls  passen  in  dies 
Stadium  die  unscheinbaren  Ansätze  des  Pr  zur  eigentlich  logischen 
Forschung  ..."  Für  mich  ist  dieser  Ansatz  ganz  unannehmbar.  Ein, 
zwei  Jahre  nach  dem  Tod  des  Sokr.  soll  PI.  den  leichten  Ton  des  Pr 
angeschlagen  haben?  Dann  müßte  man  weiter  gehen  und  wie  Pfleiderer 
erklären,  die  A^erstimmung,  die  im  G  und  anderen  späteren  Dialogen 
zutage  tritt,  kann  nicht  von  der  Verurteilung  des  Soki\  herrühren. 
Räder  gibt  als  „sokratische  Dialoge"  Ap  lo  Hp  II  La  Ch  Cr. 
Dann  läßt  er  in  einem  neuen  Kapitel  Hp  I  Pr  (und  weiter  G) 
folgen.  Er  erklärt,  der  Pr  bezeichne  „einen  direkten  Fortschritt 
in  der  Entwicklung  von  Pl.s  Philosophie".  (107)  Früher  sei  wohl 
die  Bedeutung  der  Sachkunde  öfters  betont  worden.  Jetzt  werde 
die  Frage  erhoben,  ob  es  auch  in  der  Staatsleitung  eine  eigentliche 
Sachkunde  gebe,  und  ob  die  Politik  eine  Kunst  sei,  die  sich  lernen 
lasse.  Ferner  (110  f.)  „im  Pr  werden  die  im  La  und .  Ch  ge- 
wonnenen Ergebnisse  zusammengefaßt  und  generalisiert.  In  diesen 
beiden  Dialogen  war  gezeigt  worden ,  daß  Tapferkeit  und  Sittsam- 
keit das  Wissen  vom  Guten  und  Üblen  voraussetzen;  jetzt  wird 
gezeigt ,  daß  dieses  Wissen  der  Tugend  überhaupt  gleichkommt. 
PI.  hat  einen  Schritt  über  den  Standpunkt  des  La  und  des  Ch 
hinaus  getan ;  denn  dort  wagte  er  es  noch  nicht ,  die  genannten 
Tugenden  mit  dem  Wissen  vom  Guten  und  Üblen  geradezu  zu 
identifizieren.  Im  La  wurde  es  als  ausgemacht  betrachtet ,  daß 
die  Tapferkeit  ein  Teil  der  Tugend  sei;  hier  wird  mit  größerer 
Bestimmtheit  gefragt,  ob  die  verschiedenen  Teile  gleichartig  oder 
ungleichartig  seien.  Die  Antwort  lautet,  daß  sie  als  gleichartig 
betrachtet  werden  müssen."  Er  findet  übrigens:  „Die  Beweis- 
führung des  Sokr.  ist  in  mehreren  Punkten  recht  mangelhaft;  PL 
hat  sie  jedoch  wahrscheinlich  als  in  der  Hauptsache  zureichend 
angesehen."  Dem  30b  ff.  geführten  Beweis  für  die  Identität  von 
Gerechtigkeit    und    Frömmigkeit    glaubt    er    zwei    logische    Fehler 


Ber,  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehuten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.     91 

nachweisen  zu  können,  von  denen  der  zweite  auch  im  Hp  I  stecke : 
„1.  eine  Verwechslung  kontradiktorischer  und  konträrer  Gegensätze 
(eTSQOv  und  iravTiov).,  indem  das  Nicht-Gerechte  dem  Ungerechten 
gleichgesetzt  wird;  2.  eine  Verkennung  der  Bedeutung  der  logischen 
Kopula,  die  so  aufgefaßt  wird,  als  ob  sie  die  Identität  von  Subjekt 
und  Prädikat  beweise."  „Ebenso  unglücklich"  sei  der  nachherige 
Beweis  für  das  Zusammenfallen  von  Weisheit  und  Sittsamkeit. 

Ich  habe  Piaton  I  S.  317  ff.  und  S.  332  ff.  die  Schlüsse  des  Pr 
näher  untersucht  und  bin  zu  dem  Ergebnis  gekommen:  „Ich  finde 
hier  die  modernen  Erklärer  völlig  im  Unrecht,  die  dem  PI.  logische 
Fehler  schuld  geben."  Das  wei'den  mir  die  Betreffenden  zwar  übel 
nehmen ,  denn  auf  dem  Gebiet  der  Logik  läßt  sich  niemand  gern 
zurechtweisen,  nur  bin  ich  damit  nicht  widerlegt. 

Freilich  auch  Th.  Gomperz  gehört  zu  denen ,  die  bei  aller 
Bewunderung  für  die  Feinheit  der  Gesprächsführung  und  Personen- 
zeichnung im  Pr  als  Logiker  seinen  Verfasser  glauben  meistern  zu 
müssen.  (254:)  „Die  Argumente,"  schreibt  er,  „die  Sokr.  dem 
Sophisten  zunächst  entgegenhält,  sind  von  auffallender  Schwäche. 
Er  fragt  ihn ,  ob  die  Gerechtigkeit  gerecht  sei ,  was  dieser  nicht 
leugnen  zu  dürfen  glaubt,  da  er  sie  sonst  für  etwas  Ungerechtes 
erklären  müßte.  Eine  völlig  analoge  Frage  wird  in  betreff  der 
Frömmigkeit  gestellt  und  in  gleicher  Weise  beantwortet.  Sokr. 
fährt  zu  fragen  fort;  und  die  Scheu  vor  der  Behauptung,  daß  die 
Gerechtigkeit  etwas  Unfrommes  oder  die  Frömmigkeit  etwas  Un- 
gerechtes sei,  führt  zur  Bejahung  auch  der  Fragen,  ob  die 
Gerechtigkeit  fromm  und  die  Frömmigkeit  gerecht  sei.  Damit 
scheint  aber  zwischen  diesen  zwei  Tugenden  wenigstens  ein  Band 
geschlungen  zu  sein,  das  ihre  Wesensverschiedenheit  ausschließt." 
—  Aber  „so  wenig  es  einen  Sinn  hat,  zu  sagen:  Die  Rundheit  ist 
rund  oder  die  Röte  ist  rot ,  ebenso  wenig  können  wir  die  Ge- 
rechtigkeit gerecht  oder  die  Frömmigkeit  fromm  nennen.  Die  Ab- 
lehnung solch  eines  Urteils  schließt  keineswegs  in  sich ,  daß  wir 
der  Gerechtigkeit  das  Prädikat  'ungerecht'  oder  der  Frömmigkeit 
das  Prädikat  'unfromm'  zuerkennen  .  .  .  Ebensowenig  selbst- 
verständlich ist  es ,  daß  der  Gerechtigkeit  das  Prädikat  'fromm' 
oder  umgekehrt  zukomme.  Die  Frömmigkeit  gerecht  zu  nennen, 
erscheint  geradezu  als  sinnlos  .  .  .  Von  noch  gröberer  Art  ist 
der  zweite  in  diesem  Zusammenhang  begegnende  Fehlschluß.  Die 
Wesensgleichheit  von  Weisheit  und  Sophrosyne  soll  daraus  er- 
hellen, daß  ein  griechisches  Wort,  welches  wir  durch  'Unbesonnen- 
heit'   widergeben    dürfen    (Aphrosyne),    bald    als    Gegensatz    der 


92  Constantin  Eitter. 

Einsicht  (der  'Besonnenheit'  im  rein  intelleJituellen  Sinne),  bald  als 
Gegensatz  der  Sophrosyne  (der  'Besonnenheit'  im  moralischen  Sinne) 
gebraucht  wird.  Durch  den  Hinweis  darauf,  daß  jeder  Begriif  nur 
einen,  nicht  aber  zwei  Gegensätze  besitze ,  wird  jener  Beweis  er* 
bracht.  Hier  dient,  wie  wir  kaum  zu  sagen  brauchen,  der  Mangel 
einer  scharfen  Umgrenzung  jenes  Wortbegriffes  dazu,  einen  Beweis 
zu  schaffen,  der  sofort  hinfällig  wird,  sobald  wir  uns  der  schwankenden 
Gebrauchsweise  oder  des  Doppelsinns  des  Wortes  bewußt  werden. 
Derartiges  könnte  PI.  vielleicht  von  Prodikos  lernen,  wenn  er  dessen 
'Weisheit'  mit  minderer  Geringschätzung  betrachtet  hätte.  Hier 
begeht  er  trotz  all  seines  Genies  ganz  eigentlich  einen  Fehlschluß 
von  jener  Art,  welche  die  Kunstspi^ache  der  Logiker  als  Äquivokation 
bezeichnet.  Obgleich  PI.  mitunter  schwache  und  selbst  trügerische 
Argumente  mit  Bewußtsein  anwendet,  so  kann  doch  davon  unseres 
Erachtens  diesmal  nicht  die  Kede  sein.  Denn  es  fehlt  im  folgenden 
an  jedem  Winke,  der  den  Leser  darüber  aufklären  konnte,  daß  ent- 
weder ein  Fehlschluß  zu  scherzweiser  Verwendung  gelangt  ist  oder 
doch  wenig  besagende  Beweisgründe  gleichsam  als  Plänkler  den 
ernstgemeinten  und  schwerwiegenden  vorangeschickt  wurden.  Nichts 
Derartiges  findet  statt.  Vielmehr  wird  die  Ratlosigkeit  des  Protagoras 
als  eine  wohlbegründete  dargestellt,  und  sie  ist  es,  die  alsbald 
zu  einer  ganz   eigentlichen  Krise  des  Gespräches  führt." 

Leider  läßt  uns  Lutoslawski,  bei  dem  man  wegen  des 
Titels  seines  Buches  eine  genauere  logische  Würdigung  erwarten 
sollte ,  bezüglich  des  Pr  fast  ganz  im  Stich.  Er  gönnt  ihm  nur 
etwa  zwei  Seiten  und  speist  uns  auf  diesen  mit  ziemlich  nichts- 
sagenden Bemerkungen  ab:  „Auch  in  diesem  Dialog  werden  logische 
Fragen  nur  gelegentlich  gestreift ,  und  es  ist  klar ,  daß  der  Ver- 
fasser vorwiegend  für  ethische  Probleme  Interesse  hat.  Diese 
sind  in  einer  W^eise  behandelt,  die  die  Einzeluntersuchungen  der 
kleineren  Dialoge"  —  gemeint  sind  die  vorher  von  L.  besprochenen 
Eu,  Ap,  Cr,  La,  Cha  —  ,, schon  voraussetzt,  auch  scheint  das 
logische  Vermögen  gesteigert.  Daß  das  allgemein  bejahende  Urteil 
nicht  umkehrbar  ist,  wird  (50c — 51b)  mittels  verschiedener  Ana- 
logien zum  Bewußtsein  gebracht  .  .  .  Die  volle  Erkenntnis ,  die 
im  Ch  umsonst  gesucht  wird ,  ist  auch  jetzt  von  PI.  noch  nicht 
gefunden  .  .  .  Als  eines  der  logischen  Mittel,  um  zur  Erkenntnis 
zu  gelangen ,  stellt  PI.  den  Grundsatz  auf,  daß  es  für  jeden  Be- 
gi'iff  nur  einen  zu  ihm  gegensätzlichen  gebe,  und  er  belegt  diesen 
Satz  mit  Beispielen ,  jedoch  ohne  irgendwelchen  Unterschied  zu 
machen    zwischen  Konträr   und  Kontradiktorisch.     Diese  Beobach- 


Ber.  über  d.  in  d,  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    9.3 

tungen  scheinen  eine  Stufe  der  logischen  Entwicklung  zu  verraten, 
die  höher  ist  als  in  den  kleinen  Dialogen.  Im  Ch  war  der  Gegen- 
stand, freilich  beschränkt  auf  eine  einzige  Form  der  Tugend,  zum 
guten  Teil  derselbe  wie  im  Pr,  und  es  scheint  eher  annehmbar, 
daß  das  größere  Werk  keine  Anspielung  auf  das  kleinere  enthalte  ^), 
als  daß  PI.  den  Ch  hätte  nach  dem  Pr  schreiben  können,  ohne 
irgendwelche  Bezugnahme  auf  die  allgemeiner  gehaltene  Erörterung 
des  nämlichen  Problems.  Auch  der  besondere  Gegenstand  des  La 
ist  im  Pr  enthalten,  und  die  Definition  der  Tapferkeit,  zu  der  wir 
im  La  erst  nach  langer  Erörterung  kommen  und  von  der  Sokr. 
zeigt,  daß  sie  nicht  bloß  für  die  Tapferkeit,  sondern  für  jegliche 
Tugend  gelte ,  wird  im  Pr  (60  d)  wiederholt  und  bleibt  uuwider- 
legt  (vgl.  auch  Rp  429  cV"  —  Daß  es  übrigens  Lutoslawski  ganz 
fern  lag,  gegen  die  Anlegung  der  üblichen  logischen  Schablone  au 
Beweisgänge  Pl.s  Verwahrung  einzulegen ,  und  daß  er  demnach 
wohl  mit  Gomperz  und  v.  Arnim  einverstanden  war,  sieht  mau 
aus  einigen  Bemerkungen,  die  er  (S.  203)  zum  Ch  macht:  „Be- 
zeichnend für  die  Stufe  des  logischen  Fortschritts,  die  PI.  erreicht 
hatte,  als  er  dieses  kleine  Werk  schrieb,  ist,  daß  seinem  Sokr.  der 
Fehlschluß  begegnet,  weil  Mäßigung  und  Schnelligkeit  beide  schön 
sind,  sei  die  Schnelligkeit  mäßig  (59  d).  Solche  logischen  Schnitzer 
begegnen  uns  auch  in  anderen  kleinen  Dialogen,  und  wir  haben 
kein  Recht  anzunehmen,  PL  sei  sich  ihrer  bewußt  gewesen.  So 
lange  das  logische  Interesse  nicht  wach  gerufen  war,  mochte  selbst 
ein  Denker  wie  PI.  unbewußt  logischen  Irrtümern  verfallen  2)." 

Schon  mehi'  der  Beachtung  wert  scheinen  mir  Pfleiderers 
Bemerkungen  über  die  Anfangsdialoge  insgesamt,  deren  „krönenden 
Abschluß  der  Prachtsdialog  Pr  bildet",  dem  „in  schönem  Gleich- 
maß zum  Inhalt  die  reichste,  wahrhaft  meisterhafte  dramatische 
Belebung  und  ein  kostbarer  kraftschwellender  Humor  eignet" : 
(S.  142)  „Schließlich  ist  .  .  .  ruhig  zuzugestehen,  daß  PI.  in  diesen 
früheren  Schriften  trotz  allem  Kampf  gegen  die  Sophisten  selber 
ab  und  zu  ziemlich  sophistisch  angehaucht  erscheint.  Die  Sprünge 
in  seinen  Schlußfolgerungen  z.  B.  mit  der  Vertauschung  von  did 
und  ersyM  oder  von  konträrem  und  kontradiktorischem  Gegen- 
satz u.  dgl.  sind  manchmal  etv/as  kühn  und  sein  Verfahren  keines- 


^)  Daß  z.  B.  Pohlenz  Anspielungen  auf  den  La  im  Pr  findet,  werden 
wir  nachher  sehen. 

^)  Im  Gegensatz  hiezu  möchte  ich  doch  auch  hier  auf  Urteile  von 
E.  Zeller  und  0.  Apelt  verweisen,  die  ich  in  meinem  Aufsatz  über  Piatons 
Logik  Philologiis  A.  73  S.  51  öder  Piaton  H  S.  232  A.   angeführt  habe. 


94  Constantin  Ritter. 

wegs  immer  ganz  frei  von  den  logischen  Auswüchsen  der  Zeit. 
Auch  derartiges  nur  für  Spott  und  Vei'höhnung  der  bekämpften 
Sophisten  zu  halten ,  dünkt  mich  wenig  natürlich.  Warum  sollte 
nicht  auch  er  (wie  Sokr.)  durch  die  allgemeine  Luft  der  Zeit 
wenigstens  leicht  angesteckt  worden  sein ,  zumal  gerade  bei  ihm 
die  so  starke  dialektische  Ader  dem  einigermaßen  entgegenkam? 
Hatte  er  doch  auch  später  wieder  seine  liebe  Not,  sich  gegen  eine 
Verwechslung  seiner  abstrakten  Dialektik  mit  der  sophistischen 
Eristik  zu  verwahren,  womit  sich  u.  a.  der  Dialog  Eus  und  seine 
Nachbarn  herumschlagen."  Von  dem  mehrgliedrigen  Beweis  über 
die  Einheit  der  Tugend  im  Pr  schreibt  PI.  dann  (S.  150):  es  „läßt 
sich  nicht  leugnen,  daß  derselbe  ziemlich  über  Stock  und  Stein  geht 
und  entschieden  sophistisch  gefärbt  ist,  wie  u.  a.  besonders  in  dem 
Umspringen  mit  konträrem  und  kontx'adiktorischem  Gegensatz  31  de. 
Sollen  wir  das  nur  als  dialektisches  Spiel  mit  dem  nichts  merkenden 
Gegner  ansehen,  der  ohne  Zweifel  mehrfach  das  Richtigere  vertreten 
dürfte?  Ich  glaube  nicht.  PI.  steuert  so  sicher  auf  das  von  ihm 
beabsichtigte  Ziel  los,  daß  wir  seine  Beweisführungen  in  allweg  für 
wesentlich  ernst  gemeint  halten  müssen,  nur  daß  er  eben,  wie  in  den 
früheren  Dialogen ,  selbst  einigermaßen  sophistisch  angesteckt  ist 
und  es  im  Eifer  für  das  ihm  feststehende  Ziel  mit  dem  Beweis  weniger 
genau  nimmt.  Wenn  wir  übrigens  tiefer  zwischen  den  Zeilen  lesen, 
so  bemerken  wir  auch  hier  wieder,  wie  bei  der  Wissensnatur  der 
Tugend,  daß  er  gleich  im  Eingang  den  Hauptpunkt  dennoch  treffend 
berührt  ...  Es  ist  der  Blick  auf  den  Gipfel  des  Ideals ,  der  ihn 
die  Lehre  von  der  unteilbaren  Geschlossenheit  der  Tugend  in 
sich  und  in  diesem  Sinne  ihre  strenge  Einheit  aussprechen  läßt. 
Und  dagegen  läßt  sich  in  der  Tat  abermals  kaum  etwas  einwenden." 

Recht  gut  scheint  mir,  was  P.  S.  148  über  die  „Lustarithmetik", 
die  hedonistische  ij.eTQrjTi-K^  und  aQi^i^t]Tr/,i^  des  Pr  ausführt. 

Lassen  wir  uns  auch  noch  einiges  von  Po  hie  nz  sagen.  „Der 
Pr  knüpft  unmittelbar  an  Hj)  II  und  La  an."  Aus  12b,  13 äff. 
hört  P.  starken  Anklang  an  La  85 — 86  und  wieder  87  b  heraus. 
Aus  dem  La,  meint  er,  überträgt  doch  wohl  PI.  die  Vergleichung 
des  Sophisten  mit  einem  Arzt  der  Seele  in  den  Pr,  indem  er  noch 
das  Bild  vom  Händler  hinzufügt.  Die  Untersuchung  über  das 
Wesen  der  Tugend  (93)  „setzt  genau  bei  dem  Punkt  ein,  wo  der 
La  haltgemacht  hatte".  Die  Erörterung  49  e — 51b  ist  „teilweise 
wörtlich  aus  dem  La  entnommen".  Zunächst  werden  dessen  Aus- 
führungen 92c — 93 d  rekapituliert  —  „neu  ist  dabei  nur,  daß  der 
Begriff  ^aggaleog  eingeführt  und  als  Oberbegriff  zu  avÖQSiog  gleich 


Ber.  über  il.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.     95 

zu  Anfang  bezeichnet  wird".  Und  wie  die  Frage  nach  dem  Ver- 
hältnis der  Einzeltugenden  den  durch  den  La  bedingten  Ausgangs- 
punkt bildet,  so  ist  „das  Ziel  der  dort  auch  schon  angedeutete 
Satz,  daß  alle  Tugenden  im  Wissen  vom  Guten  beschlossen  sind". 
Auch  verläuft  der  Dialog  ganz  ähnlich  wie  der  La,  Was  den 
Sokr.  am  Schlüsse  hindert,  das  positive  Ergebnis  hinzustellen,  daß 
die  Tugend  ein  Wissen  ist,  ist  nur  die  Voraussetzung,  von  der 
er  ursprünglich  ausgegangen  ist.  Im  La  „war  das  ähnliche  Er- 
gebnis ,  daß  die  Tapferkeit  ein  Wissen  vom  Guten  sei ,  allseitig 
wissenschaftlich  gesichert  worden  und  wurde  nur  deshalb  als 
problematisch  hingestellt ,  weil  die  ursprüngliche  H3'pothesis ,  daß 
die  Tapferkeit  nur  ein  Teil  der  Tugend  sei,  dagegen  sprach.  Diese 
unbewiesene  Hypothesis  blieb  also  zu  prüfen,  und  im  Pr  wird  sie 
als  unberechtigt  erkannt".  „Ein  leidlich  verständiger  Leser  .  ,  muß 
sich  .  .  sagen,  daß  PI.  von  ihm  verlangt,  er  solle  sich  an  den 
Anfang"  des  Dialogs  „erinnern  und  sich  die  Frage  vorlegen,  ob 
denn  die  dort  geäußerten  Bedenken  gegen  die  Lehrbarkeit  der 
Tugend  wirklich  ausreichen ,  das  Ergebnis  der  wissenschaftlichen 
Untersuchung  zu  erschüttern ,  ob  diese  Bedenken  wirklich  Sokr,' 
tiefster  Überzeugung  entsprechen".  Das  ist  offenbar  nicht  der 
Fall,  Und  wenn  ein  großer  Abschnitt  des  Pr  „eine  genaue 
Parallele  des  La  ist  und  dasselbe  Beweisthema  hat,  daß  die  Tapfer- 
keit ein  Wissen  vom  Guten  ist",  so  muß  PI,  „den  dort  gegebenen 
Beweis  selbst  für  nicht  ausreichend  erachtet  haben.  Tatsächlich 
haben  wir  auch  beim  Lesen  des  La  diese  Empfindung,  Denn 
gerade  das,  was  für  uns  das  Bedenklichste  ist,  die  rein  intellektuelle 
Auffassung  der  Tapferkeit,  wird  dort  einfach  zugrunde  gelegt 
(95a).  .  .  .  Dabei  ist  es  selbstverständlich,  daß  dieser  Intellek- 
tualismus dem  Volksempfinden  durchaus  widersprach  .  ,  .  So 
pflegte  ja  das  Volk  von  einem  kqsittcov  eavvov,  r^ticov  yaozQog 
oder  rjdovi^g  ,  ,  .  zu  sprechen.  Wenn  PI.  im  La  diese  Anschauung 
ganz  ignoriert,  so  tut  er  das  offenbar,  weil  er  sich  die  Auseinander- 
setzung für  ein  anderes  Mal  aufspart."  Freilich,  die  ergänzende 
Untersuchung,  die  der  Pr  anstellt,  kann  uns  nicht  befriedigen. 
Doch  ist  nicht  daran  zu  zweifeln,  daß  er  selber  „im  Pr  geglaubt 
hat,  die  vulgäre  Anschauung  vollkommen  zu  widerlegen  und  den 
intellektuellen  Charakter  der  Tugend  zu  erweisen"  (S.  104).  — 
Und  dann  das  Verhältnis  des  Pr  zum  Hp  betreffend  (S.  79):  Mit 
der  programmatischen  Erklärung,  die  Protagoras  18dff.  über  seinen 
Unterricht  gibt,  tritt  er  in  allerschärfsten  Gegensatz  zu  Männern 
vom    Schlage    des    Hippias    mit    ihrer    lächerlichen    und    gegen    die 


96  Constantin  Ritter. 

sittliche  Haltung  gleichgültigen  Polyhistorie.  PI.  verweist  damit 
geradezu  „auf  seinen  Dialog  Hp  und  deutet  an,  daß  durch  diesen 
für  ihn  die  Auseinandersetzung  mit  der  Richtung,  die  Hippias  inner- 
halb der  Sophistik  vertritt,  erledigt  ist  und  er  nun  daran  gehen  will 
zu  prüfen,  ob  der  Begi'ünder  der  Sophistik  selber  das  geleistet  hat 
oder  zu  leisten  vermochte,  was  er  versprach."  Und  die  hiedurch 
erweckte  Erwartung,  daß  wir  im  Pr  eine  Art  Gegenstück  zum  Hp  II 
erhalten,  bestätigt  sich  in  überraschendem  Maß,  wie  auf  drei  Seiten 
gezeigt  wird.  Ja,  „der  Hp  und  der  Pr  sind  formell  so  eng  mit- 
einander verwandt  wie  kaum  zwei  andere  platonische  Dialoge". 

Ich  möchte  hier  meinerseits  nur  wieder  die  Zwischenerinnerung 
geben ,  daß  man  ein  zwischen  zwei  Dialogen  bestehendes  Ver- 
wandtschaftsverhältnis chronologisch  meist  so  oder  in  umgekehrter 
Weise  deuten  kann,  Z.  ß.  jener  Satz  von  S.  101 :  „Wenn  PI.  im 
La  diese  Anschauung  ganz  ignoriert ,  so  tut  er  das  offenbar,  weil 
er  — "  könnte  abgeschlossen  werden  mit  den  Worten  „darüber  an 
anderer  Stelle  schon  gesprochen  hat".  Sowohl  dies  als  was  P.  folgert 
ist  annehmbar,  leider  keines  von  beiden  „offenbar".  Und  so  kann 
wohl  auch  die  zuversichtliche  Erklärung,  die  P.  S.  112  A.  1  abgibt: 
„Darüber,  daß  K.  Fr.  Hermann  Recht  hatte,  wenn  er  gegen  Schleier- 
macher den  Pr  als  Fortsetzung  des  La  ansah ,  brauche  ich  wohl 
kein  Wort  mehr  zu  sagen,"    nicht  alle  Bedenken  niederschlagen^). 

Auch  das  Zugeständnis  kann  ich  nicht  machen,  daß  (109) 
„die  zwischen  Ap  19 e  und  Pr  16  c,  zwischen  Ap  24 f.  und  Pr  25c ff. 
bestehenden  Beziehungen  sich  ungezwungen  psychologisch  nur  er- 
klären lassen,  wenn  die  Ap  vorangegangen  ist."  Und  dem  Neben- 
grund für  diese  Chronologie:  „es  wäre  nicht  übermäßig  geschmack- 
voll gewesen ,  wenn  PI.  bei  Lebzeiten  des  Sokr.  seinem  Lehrer 
attestiert  hätte,  er  sei  ein  durch  seine  Klugheit  berühmter  Mann", 


^)  Frachter,  dem  ja  Pohlenz  vorlag,  äußert  sich  S.  244  über  den 
Schluß  des  Pr  wie  folgt :  „Die  bisherige  Untersuchung  wird  im  Hinblick 
auf  den  Widerspruch,  in  den  jeder  der  beiden  Gesprächführenden  mit 
sich  selbst  geraten  ist,  als  Wirrnis  verworfen  und  die  Wiederaufnahme 
des  Problems  der  Lehrbarkeit  der  Tugend  nach  Betrachtung  ihres  Wesens 
als  wünschenswert  bezeichnet.  Wir  erkennen  darin  einen  deutlichen  Hin- 
weis auf  die  nächstfolgenden  Dialoge,  in  denen  die  Wesensbestimmung 
zwar  nicht  der  einheitlichen  Tugend  als  solcher,  wohl  aber  einzelner  ihrer 
Erscheinungsformen,  der  Tapferkeit,  Selbstbeherrschung,  Gerechtigkeit, 
die  Aufgabe  bildet,  bis  endlich  im  Me  das  Problem  der  Lehrbarkeit  in 
Verbindung  mit  der  Frage  nach  dem  Wesen  der  einheitlichen  Tugend 
wieder  auftaucht.  Die  Reihe  eröffnet  der  La.  Im  Grunde  überein- 
stimmend ist  die  Sachlage  im  Cha  ..." 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.     97 

wird  niemand  gi'oßes  Gewicht  zuerkennen ,  der  daran  denkt ,  wie 
viel  die  Philologen  mit  ästhetischen  Urteilen  und  darauf  gegründeten 
Machtsprüchen  sich  an  den  alten  Schriftstellern  versündigt  haben. 
Er  ist  schon  deshalb  nichtig,  weil  die  erklärende  Ausführung  der 
beigegebenen  Anmerkung  verkehrt  ist.  Nicht  besser  steht  es  mit 
dem  von  P.  versuchten  Beweis  dafüi-,  daß  der  Cr  dem  Pr  voraus- 
gegangen sei.  P.  hat  sich  ein  Verdienst  damit  erworben,  daß  er 
die  engen  Beziehungen  einzelner  Dialoge  zueinander  mit  scharfen 
Augen  verfolgt  und  dargelegt  hat.  Er  hat  auch  wirklich  glaublich 
gemacht,  daß  der  Hp  und  Pr  „gleichzeitig  von  PI.  konzipiert" 
worden  seien ,  und  man  mag  sogar  den  Anfang  des  Satzes  gelten 
lassen,  mit  dem  er  (S.  112)  das  Kapitel  über  den  Pr  abschließt: 
„Der  Pr  ist  nur  denkbar  als  eine  Parallele  zum  Hp,  als  eine  Fort- 
setzung des  La  und  kann  deshalb  wie  dieser  erst  nach  399  ent- 
standen sein."  Aber  daß  in  seiner  ganzen  chronologischen  Argu- 
mentation ein  Fehler  steckt,  das  wird  eben  aus  dem  Schluß  dieses 
Satzes  ganz  augenfällig.  Daß  der  La  nach  399  verfaßt  sei,  ist 
reine  petitio  principii,  und  daß  der  Hp  II  nach  399  überhaupt  nicht 
mehr  hätte  von  PI.  geschrieben  werden  können ,  das  ist  mir  aus 
psychologischen  Gründen  sicherer  als  mir  je  irgend  etwas  von  dem 
werden  könnte,  das  P.  uns  einreden  möchte. 

Sein  Ansatz  des  Pr  wird  übrigens  auch  von  einem  anderen 
Punkt  aus  anzufechten  sein,  nämlich  vom  G  aus.  P.  selber  er- 
klärt (S.  129),  es  „falle  in  die  Augen,  daß  der  G  an  den  Pr  an- 
knüpfe", (130)  „der  ganze  Aufbau  des  1.  Teils  sei  durch  den  Pr 
beeinflußt",  (die  Stelle  Pr  12 d  sei  „die  Keimzelle,  aus  der  sich 
die  Erörterung  im  1,  Teil  des  G  entwickelt",  S.  132)  und  sein 
2.  Teil  setze  sich  mit  der  im  Pr  vorgetragenen  Auffassung  der 
Rhetorik  auseinander  (S.  134),  ganz  abgesehen  davon,  daß  die 
hedonistische  Theorie  des  Pr  durch  den  G  korrigiert  werde.  Er 
kommt  (S.  164)  zu  dem  Schlüsse:  „Der  G  ist  durch  so  viel  Fäden 
mit  dem  Pr  verknüpft,  ist  eine  so  deutliche  Berichtigung  dieses 
Dialogs,  daß  man  schwerlich  fehlgehen  wird,  wenn  man  annimmt, 
daß  er  die  erste  oder  jedenfalls  eine  der  ersten  Schriften  gewesen 
ist,  die  auf  den  Pr  folgte."  Daß  sich  gegen  diesen  Schluß  die 
schwersten  psychologischen  Bedenken  erheben,  fühlt  er  selbst.  Er 
fährt  fort:  „Andrerseits  ist  der  Unterschied  in  Stimmung  und  An- 
schauung so  groß,  daß  man  zwischen  beiden  Dialogen  eine  längere 
Pause  annehmen  muß."  Gar  viel  Raum  bleibt  uns  aber  nicht  füi- 
diese  beanspruchte  Pause.  P.  ist  von  Gerckes  Ausführungen  (wir 
werden    sie    unten ,    beim  G,    näher   kennenlernen)    überzeugt ,    daß 

Jahresbericht  für  Altertumswissenechaft.    Bd.  191  (1922.  I).  7 


98  Constantin  Kitter. 

der  „Sokrates"  des  Polykrates  und  der  platonische  G  in  engster 
Beziehung  zueinander  stehen  und  glaubt  für  die  Broschüre  des 
Sophisten  die  Jahreszahl  393  oder  392  angeben  zu  können.  Aller 
Wahrscheinlichkeit  nach  will  dieselbe  auf  den  G  Antwort  geben. 
Also  wäre  dessen  Zeit  etwa  39'1  oder  393.  Und  erst  nach  399 
soll  PI.  mit  seiner  Schriftsteller  ei  begonnen  haben.  Da  wären  also 
von  ihm  innerhalb  6  Jahren  die  Schriften  Ap  Cr  La  Ch  Hp  II  Pr 
(ob  auch  Eu,  darüber  kann  ich  bei  P.  nichts  finden,  bezüglich  des 
Cr  muß  ich  mich  mit  der  Angabe  von  S.  111  „bald  nach  399"  be- 
gnügen) und  G  hintereinander  drein  in  die  Welt  geschickt  worden. 
Legen  wir  versuchsweise  zwischen  den  Pr  und  G,  auf  dessen  Aus- 
arbeitung doch  mindestens  ein  volles  Jahr  zu  rechnen  ist,  um  „eine 
längere  Pause"  zu  bekommen,  auch  nur  2  Jahre,  dann  bleiben  für 
Ap  Cr  La  Ch  Hp  Pr  zusammen  noch  3  Jahre !  Und  wir  sollen 
uns  im  Ernste  vorstellen,  daß  PL,  der  von  der  ungerechten  Ver- 
urteilung seines  Meisters,  „avÖQog  wg  ?}/U€<g  cpatf.iev  av  nZv  tote 
cbv  insiQccd^ijl^ev  aglocov  x«t  allcog  q^govif-itoTaTOv  yial  dixaiOTccTOv," 
sa  tief  erschüttert  war,  wie  die  Ap  es  uns  bekundet,  und  sich 
gedi'ungen  fühlte,  seinem  Volke  die  schwersten  Anklagen  entgegen- 
zuschleudern,  • —  daß  er  fast  unmittelbar  darauf  die  Gemütsruhe  und 
-heiterkeit  gefunden  habe,  um  mit  der  künstlerischen  Ausgestaltung 
für  uns  so  ergötzlicher  szenischer  Kleinigkeiten  sich  genug  zu  tun, 
wie  sie  namentlich  der  Pr  enthält  und  zwischenhinein  im  ge- 
lassensten Tone  ohne  irgendwelche  Bitterkeit  die  ethischen  Pro- 
bleme zu  erörtern,  auf  welche  die  Unterhaltungen  mit  Sokr.  hin- 
zuführen pflegten,  und  gar  ein  Werk  der  ausgelassensten,  mut- 
willigsten Laune,  den  Hp,  hervorzubringen?  —  während  er  dann 
wieder  2  oder  3  oder  auch  5  Jahre  später  der  düsteren ,  an  der 
schlechten  Welt  fast  verzweifelnden  Stimmung  des  G  verfallen 
wäre!  Nein,  das  verstehe  ich  nicht.  Und  keinem  Psychologen, 
nur  einem  Pliilologen  dürfte  die  Erklärung  genügen ,  die  sich  P. 
(S.  129)  aus  Aristoteles  holt.  Der  hat  den  PI.  zu  den  /uekay- 
XO?.iy.oi  gerechnet.  „Das  sind  nicht  etwa  unsere  Melancholiker, 
es  sind  die  tveqlttoI  avögeg,  bei  denen  die  schwarze  Galle  in  der 
Mischung  der  körperlichen  Säfte  überwiegt  und  eine  Neigung  zur 
Anormalität  bedingt,  die  zum  Genie  wie  zum  IiTsinn  führen  kann 
und  sich  beim  einzelnen  Menschen  in  starkem  Stimmungswechsel 
äußert."  Nun  kommt  die  Anwendung:  „Daß  PI.  solchem  Stimmungs- 
wechsel unterlag,  das  können  wir  noch  bei  so  mancher  seiner 
Schriften  feststellen ,  nirgends  deutlicher ,  als  wenn  wir  mit  der 
sokratischen  Schriftengruppe  den  G  vergleichen"  .  .  .     „Gern  würde 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.     99 

man  sich  die  Stimmung  der  'Tragödie'  im  Gegensatz  zur  'Komödie' 
dadurch  verständig  machen,  daß  man  das  Jahr  399  zwischen  beide 
treten  ließe.  Das  ist  für  uns  nach  unseren  früheren  Ergebnissen 
nicht  möglich.    So  müssen  wir  nach  einer  anderen  Erklärung  suchen." 

Mir  scheint  diese   „andere  Erklärung"   völlig  mißlungen.     Also 
werden  wohl^)  die   „früheren  Ergebnisse"   umzustoßen  sein. 

Zum  Verständnis  des  Inlialts  des  Pr  hat  P.  manchen  wert- 
vollen Beitrag  geliefert.  Einzelne  seiner  polemischen  Bemerkungen 
gegen  andere  Gelehrte ,  namentlich  H.  Gomperz ,  halte  ich  für 
treffend.  S.  95  A.  wendet  er  sich  gegen  mich,  gibt  aber  dabei 
eine  Erklärung ,  von  der  ich  meine ,  sie  komme  so  ziemlich  auf 
dasselbe  hinaus,  was  ich  an  der  betreffenden  Stelle  (S.  333  meines 
Piaton  I)  behauptet  habe.  Für  wichtig  und  wertvoll  halte  ich,  daß  er 
(ganz  in  Übereinstimmung  mit  mir  und  anderen)  bei  verschiedenen 
Anlässen  so  stark  betont,  daß  PI.  mit  verständigen  Lesern  ge- 
rechnet habe ,  und  daß  er  diesen  absichtlich  vieles  zu  ergänzen, 
Unebenheiten  und  Widersprüche  in  „selbständigem  Durchdenken" 
auszugleichen  überlassen  habe.  Anstoß  nehme  ich  besonders  an 
der  Art,  wie  S.  103  f.  die  hedonistischen  Gedanken  Pl.s  lo-itisiert 
werden :  „PI.  setzt  ohne  weiteres  voraus ,  daß  auch  der  tjttiov 
rjdovr^g  der  Lust  nur  deshalb  fröhnt,  weil  er  sich  verstandesmäßig 
für  die  Lust  entscheidet.  PI.  nimmt  also  das  eigentliche  Beweis- 
thema, daß  hier  der  Intellekt  das  Handeln  bestimmt,  einfach  vor- 
weg und  führt  auf  dieser  Basis  die  Untersuchung.  Daß  hier  ein 
psychologisches  Problem  vorliegt,  sieht  er  überhaupt  nicht.  Ver- 
wundern kann  uns  das  nicht,  denn  seine  Zeitgenossen  sehen  es 
ebensowenig  .  .  .  und  wir  beobachten  ja  bei  PI.  selber,  wie  erst 
aUmählich  ihm  die  Bedeutung  des  Problems  aufgeht."  Ich  verstehe 
einfach  nicht,  was  das  heißen  soll,  es  habe  sich  jemand  nach  PL 
„verstandesmäßig  für  die  Lust  entschieden",  während  PI.  doch  nach 
seiner  Gefühlserfahrung  es  für  die  Grundtatsache  alles  Wertens  und 
Strebens  erklärt,  daß  der  Mensch  wie  überhaupt  jedes  Lebewesen 
Lust  und  Glück  suche,  und  nun  die  allerdings  verstandesmäßig  zu 
lösende  Aufgabe  eben  darin  erkennt,  daß  man  von  jeder  einzelnen 
bestimmten  Lustempfindung  messend  und  abwägend  feststelle,  wie 
groß  ihr  wirklicher  positiver  Gehalt  sei,  nach  Abzug  aller  Unlustwerte, 
die  mit  in  Rechnung  genommen  werden  müssen.  Welches  andere 
psychologische  Problem  hier  voi'liegen  soll,  sehe  ich  wahrhaftig  auch 
nicht.    Jedoch  ich  glaube  auch  nicht,  daß  PI.  später,  von  der  Rp  an, 

^)  Entsprechend   dem  80  e   ausgesprochenen   logischen  Grundsatz?^ 
xuxiivK  XiTtov  T]  TßJf  (iväyxt)  ovfjßa(vHV,  cf.  32c. 


100  Constantin  Ritter. 

es  gesehen  habe,  wie  ihm  das  P.  bezeugt,  und  daß  sich  darin  eine 
„gewaltige  Entwicklung  in  Pl.s  psychologisclier  Ei'kenntnis"  kundgebe. 
Und  nun  zu  den  erklärenden  Einzelausgaben  und  Sonder- 
schriften. Zuerst  die  Bearbeitungen  von  Nestle  und  Sauppe. 
Beide  sind  gut  und  für  einen  Lehrer,  der  sich  auf  das  Lesen  des 
Pr  mit  einer  Gymnasialklasse  vorbereiten  will,  gleich  empfehlens- 
wert. Sauppe  hat  mehr  Aufmerksamkeit  an  das  Sprachliche  ge- 
wandt; er  gibt  ziemlich  ausführlich  Rechenschaft  über  die  Text- 
behandlung und  über  alles  Grammatische;  bei  Nestle  tritt  das 
Kulturgeschichtliche,  Literargeschichtliche  und  Antiquarische  mehr 
in  den  Vordergrund.  Nebenbei  nimmt  Nestle  noch  auf  den  Schüler 
Rücksicht.  Er  hat  sich  bemüht,  diesem  „an  schwierigen  Stellen 
das  sprachliche  Verständnis  und  die  Übersetzung  des  griechischen 
Textes  noch  mehr,  als  es  bisher  schon  geschehen  war,  zu  erleichtern, 
so  daß  derselbe  auch  ohne  vorhergehende  Präparation  vom  Durch- 
schnittsschüler deutsch  sollte  wiedergegeben  werden  können".  Er 
ist  sich  selber  der  „unangenehmen  Lage  bewußt,  in  die  er  durch 
diese  zweiseitige  Rücksichtnahme  gerät,  und  man  wird  darüber 
verschiedener  Meinung  sein  können,  ob  er  immer  das  rechte  Maß 
gehalten  habe.  Winke  für  die  deutsche  Übersetzung,  wie  S.  87,  10 
„TQV(fag:  du  bist  verwöhnt,"  88,  2  „xov  ellrjviuiv  im  Griechischen", 
94,  22  ^dva^SQüig  l'xeiv  7VQdg  TaiTu:  da  dir  diese  Frage  unbehag- 
lich (heikel)  zu  sein  scheint",  durften  doch  wohl  wegbleiben.  Auch 
könnte  der  nachdenkhche  Schüler  selber  finden,  was  88,  8  zu  28a 
agsTp^g  —  rcdviiov  über  die  Konstruktion  bemerkt  wird.  Auch  von 
dem,  was  Nestle  zur  Beleuchtung  des  Inhalts  beibringt  ist  manches 
m.  E.  gar  zu  weit  hergeholt,  wie  z.  B.  das  Heraklitfragment  67 
zu  xaiQEig  —  ovo^iaZojv  in  58  b  S.  143,  10  oder  die  Stelle  aus  Phs 
67  b  zu  xb  fievQiov  ^^y.og  in  38  b  S.  106,  12.  Mit  Kopfschütteln 
habe  ich  die  Worte  gelesen,  die  Nestle  hier  beifügt,  „Hippias 
scheint  somit  anzudeuten,  man  möge  den  Prodikos  zum  eniOTdTtjg 
wählen".  Da  und  dort  vermisse  ich  auch  etwas.  55  d  bleibt  ev 
vf.th'  ohne  Erklärung,  während  Sauppe  dort  nicht  für  überflüssig 
erachtet,  zu  bemerken:  „bei  euch,  vor  eurem  Richterstuhl  37b: 
ev  rj^lv-döomi-iolTE.  G  64d:  sl  ötov  h  naiai  diayiovluGd^ai 
6\l>onoi6v  TS  '/.ai  iaxQov."  Zu  33  de  dyad^d  =  d  sariv  ü)cpehf.ia 
Tolg  dv^Qcojtoig  hätte  gesagt  werden  sollen,  daß  diese  Gleichung 
jedenfalls  für  die  Meinung  der  nollol  zutrifft,  die  zu  verteidigen 
Protagoras  sich  erboten  hatte,  und  daß  es  bloß  Ausflüchte  sind, 
die  er  nun  macht,  weil  er  fürchtet,  von  einem  überlegenen  Gegner 
in  die  Enge  getrieben  zu  werden.     Mir  scheint  es  überhaupt,    daß  • 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    101 

Nestle  in  seinem  Bemühen ,  den  Vertretern  der  Sophistik  gerecht 
zu  werden,  da  und  dort  zu  weit  gehe,  und  in  dieser  Hinsicht  bin 
ich  mit  Sauppe  mehr  einverstanden.  Ich  fühi-e  von  diesem  folgende 
Bemerkungen  an:  (81,  21:)  „Der  Beweis,  daß  ooffia  und  acocpgo- 
OLVi]  eins  sein  müssen,  weil  sie  beide  dem  einen  Begriff  affQoavvv^ 
entgegengesetzt  seien ,  beruht  doch  mit  auf  der  Unbestimmtheit 
des  Begriffs  acpQoavvi;.  Und  man  muß  annehmen,  daß  PI.  dessen 
wohl  bewußt  war,  aber  absichtlich  Sokr.  den  Sophisten  mit  den- 
selben Mitteln  verwirren  und  besiegen  lassen  wollte,  die  sie  selbst 
anwendeten."  —  (100,  17:)  „Schüler  des  Prodikos  nennt  sich  Sokr. 
auch  Crä  84b,  Me  96  d,  Ch  63  d,  immer  mit  spezieller  Beziehung 
auf  die  Synonymik ,  aber  nie  ohne  ein  schalkhaftes  Hindeuten  auf 
die  pedantische  Wichtigtuerei,  mit  der  Prod.  seine  Lehre  be- 
handelte. Hier  treibt  Sokr.  mit  ihm  und  seiner  Liebhaberei  ein 
übermütiges  Spiel ,  indem  er  ihn  erst  verleitet  xcüxttov  durch 
'Aayf.6v  zu  erklären  und  dann  ihm  auf  den  Kopf  schuld  gibt,  daß  er 
das  nur  zum  Scherz  und  um  Pro  tag.  zu  versuchen  getan  habe." 
—  Nestle  bemerkt  zu  der  zweiten  Stelle:  „//ai^JyT/}g  IJQodixov: 
Das  ist  nicht  im  Sinn  eines  wirklichen  Schüiei'verhältnisses  zu 
verstehen.  Soki-.  hat  nur  gelegentlich  öffentliche  Vorträge  des 
Prod.  gehört,  keinen  fortlaufenden  Kurs  bei  ihm  genommen  (Cra 
84  b).  Nicht  mehr  besagen  die  Stellen  im  Ch  63d  und  Me  96  d. 
Dagegen  ist  es  ernst  zu  nehmen,  wenn  Sokr.  Th  51b  sagt,  er 
habe  dem  Prod.  zuweilen  Schüler  zugewiesen,  die  für  seinen  eigenen 
Umgang  nicht  paßten."  Auch  ich  zweifle  nicht,  daß  das  Sokr.  im 
Ernste  getan  hat.  Aber  was  werden  es  für  Leute  gewesen  sein, 
die  für  seinen  Umgang  nicht  paßten?  Höhlköpfe  und  Gecken, 
denke  ich,  die  er  leicht  durchschaute  und  von  denen  er  sah,  daß 
sie  nicht  ehrlicher  Erkenntnisdi-ang  ihm  zugeführt  hatte ,  sondern, 
wenn  nicht  bloße  Langeweile  und  Neugier ,  bestenfalls  das  ehr- 
süchtige Begehren ,  im  Umgang  mit  ihm  sich  zu  tüchtigen  Wort- 
fechtern zu  bilden.  Solcher  Leute,  die  nach  dem  eitlen  Schein  der 
ooq>la  und  öeip6it]g  trachtete ,  mochte  er  sich  dadurch  entledigen, 
daß  er  sie  an  die  Meister  wies ,  die  ihre  Wünsche  wirklich  be- 
friedigen konnten.  Und  wenn  er  dabei  den  Prod.  etwa  vor  anderen 
bevorzugte  (Th51b  sagt  Ttollovg  f.i€v  di]  e.^tdoyv.a  ngodUij),  tioI- 
Xovg  de  alXoig  oocpolg  xe  xal  ^eOTiEGioig  uvögaai),  so  ist  das  für 
diesen  kein  besonderer  Ruhm.  Mitbestimmen  mochte  ihn ,  daß  er 
Wortunterscheidungen  nach  dem  Vorgang  des  Prod.  wirklich  selber 
oft  treiben  mußte.  Denn  obgleich  ihm  PI.  im  Po  durch  einen  tüch- 
tigen Lehrer   die    Mahnung   geben   läßt,    61  e :    ^ar  öiacfvld^ng  to 


102  Constantin  Ritter. 

^trj  OTCovddteiv  eni  xdig  ovofxaai^  nXovaiojTeQog  elg  xb  ytJQccg  ava- 
q)avr,OEL  cpQOvy^OEcog,  so  fand  er  doch  pünktliche  Unterscheidungen, 
die  weiter  gingen  als  in  der  gewöhnlichen  Alltagssprache,  oder  min- 
destens das  sichere  Festhalten  von  Unterschieden ,  die  auch  sie 
schon  gemacht  hat ,  wie  zwischen  1'f.i^erai  und  yEvead^ai ,  für  die 
sichere  Verständigung  manchmal  unerläßlich. 

Auch  Sauppe  möchte  ich  hier  eine  sachliche  Ausstellung  machen. 
„Nur  Prodikos  u.  a.",  schreibt  er  S.  99,  18,  „schreibt  er  diese  Ansicht 
zu"  —  nämlich  daß  Simonides  sich,  richtig  verstanden,  gar  nicht 
widerspreche  — ,  weil  ihm  schon  seine  spätere  Erklärung  im  Sinne 
liegt.  Zugleich  liegt  darin  eine  Hindeutung  auf  Prod.s  Herakles  am 
Scheideweg ,  dem  auch  Xenoph.  Denkw.  2.1,  20  die  Stelle  des 
Hesiodos  zur  Seite  stellt."  Nein,  Simonides  widerspricht  sich 
wirklich  nicht  und  es  gehört  nur  zu  den  höflichen  Umgangs- 
formen des  Sokr.,  daß  er  mit  seiner  Meinung  hinter  andere  zurück- 
tritt; jene  Hinweisung  aber  ist  keineswegs  sicher. 

Ich  habe  gesagt,  daß  Sauppe  im  Sprachlichen  sorgfältiger  sei. 
So  macht  er  allein  zu  dem  xb  de  in  44  d  S.  110,  2  eine  erwünschte 
Bemerkung.  S.  57  bemerkt  er:  „Im  1.  Teil  des  Vortrags,  dem 
M3^thos,  läßt  Piaton  durch  den  ganzen  Ton  der  Erzählung  die  ein- 
fache Satzbildung,  gewählte,  sonst  nur  dichterischer  Rede  gewöhn- 
liche Worte  und  Wendungen  (y^g  l'i'öov,  ao/tXov  cpvoiv^  OjAi/.Q6xrixi 
TJfXTtioxe,  TVXTjvbv  cpvyt^v^  aiaxwd^eirj^  aXXr^Xocpd^OQUuv,  oy6f.iEvog, 
TToXeiov  •A.oOf.ioL  x£  y.al  dea/Aoi,  q)iXiag  Gtvayioyoi,  vooor  TtöXeiogn.  a.), 
öfteres  Fehlen  des  Artikels  (namentlich  bei  avO-QOJTtog),  Protagoras 
den  Ton  alter  Mäi'chen  nachahmen,  wie  dieser  es  wohl  bei  ähn- 
lichen Erzählungen  wirklich  getan  haben  mochte.  Gleich  der  An- 
fang war  bei  Märchen  herkömmlich.  Stasinos  Kypr.  Frg.  1 :  t^v 
oxE  {.ivQict  cpvXa  — .  Kritias  bei  Sext.  Empir.  9  §  54 :  r^v  ygovog, 
or  Tjv  — .  Theokrit  7,  1 :  r'jv  XQOvog,  avi/C  iytov  — ."  Nestle  S.  69 
sagt  hier  bloß  zu  rjv-xgövog:  „Märchenstil"  und  gibt  noch  einige 
weitere  Belege  ähnlicher  Einleitung.  Zu  wc:  ös  in  26  e  gibt  er 
mehr  als  Nestle.  Aber  oft  sind  auch  seine  Angaben  zu  unbestimmt. 
Z.  B.  genügt  es  nicht,  wenn  er  zu  oYead^ai  ys  %qti'j  in  25c  sagt: 
„Pl.s  sehr  geläufige  Formel  zur  Antwort  auf  eine  von  dem 
Sprechenden  selbst  oder  einem  Zwischenredner  gestellte  Frage." 
Nestle  gibt  wenigstens  die  Parallelstellen  an,  die  man  auch  bei 
Ast  finden  kann:  Cr  53 d,  54b,  Phn  68b.  Es  darf  darauf  auf- 
merksam gemacht  werden ,  daß  die  Formel  etwa  einem  etxdg, 
eiyiÖTtog  oder  tOL-KE  yE  gleichwertig  ist  und  es  wäre  zu  prüfen,  wie 
sich  diese  Formeln  über  die  platonischen  Dialoge  verteilen. 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    103 

Die  englische  Bearbeitung  des  Pr  von  Adam  ist  mir  nicht 
zugänglich.  Nach  der  später  zu  besprechenden  Ausgabe  des  Rp 
von  demselben  Gelehrten  zweifle  ich  nicht,  daß  sie  wertvoll  ist. 

In  Nestles  Vorrede  finde  ich  das  Urteil,  dem  Bedürfnis  einer 
einfachen  Schülerausgabe  „genügen  die  in  ihrer  Art  ganz  vortreff- 
lichen Arbeiten  von  Petersen,  Bertram-Lortzing  und  Olsen 
vollständig".  Das  darf  ich  wohl  unbedenklich  nachsprechen,  ohne 
sie  selber  zu  kennen.  Vor  mii'  liegt  A.  Th.  Chris ts  Ausgabe. 
Sie  hat  klaren  schönen  Druck,  eine  gute  Einleitung  von  18  Seiten, 
der  eine  Inhaltsübersicht  von  8  Seiten  sich  anschließt,  und  ein 
erklärendes  Namensverzeichnis  von  15  Seiten  und  am  Schluß  noch 
2  Seiten  über  die  Textgestaltung.  Sie  wird  wohl  hinter  jenen 
anderen  Schulausgaben  nicht  zurückstehen. 

Einige  gute  erklärende  Bemerkungen  gibt  C.  Nohle  in  seiner 
Staatslehre  Piatos,  1880,  z.  B.  S.  54:  „Wenn  Sokr.  vermittelst  der 
gezwungensten  Deutungen  Ansichten  aus  dem  Gedicht  [des  Simo- 
nides] herausliest,  die,  wie  jedermann  wußte,  von  ihm  zuerst  und 
allein  ausgesprochen  wurden  .  .  .,  so  mußten  die  Zeitgenossen  Pl.s 
darin  eine  Persiflage  der  bei  den  Sophisten  üblichen  Behandlungsweise 
von  Dichterwerken  sehen.  Wie  die  Aufklärung  zu  jener  Zeit  in 
die  Mythen  die  allermodernste  Weisheit  hineinzulegen  verstand, 
wie  sie  aus  der  Sprache  ein  ganzes  System  der  Naturphilosophie 
herauspreßte,  so  waren  auch  die  Literaturerzeugnisse  die  unglück- 
lichen Opfer  einer  Kunst,  welche  sie  zwang,  bald  dieses,  bald  jenes 
auszusagen.     Gegen  diese  Sitte  wendet  sich  Pl.s  Ironie." 


Vom  Hippias  minor  (HpII)  ist  1895  eine  neue  englische 
Bearbeitung  erschienen,  von  G.  Smith.  Ich  kenne  sie  nicht. 
Behandelt  ist  der  Dialog  bei  Räder  S.  94 — 96,  Gomperz 
S.  236—240,  Pohlenz  S.  57—72,  Eitter  S.  297—308,  Wilamowitz  I 
S.  133—137,  Prächter  S.  268—270,  M.  Hoffmann  in  d.  Ztsch.  f. 
d.  GyWs.  1904  S.  279—283,  E.  Horneffer,  PI.  gegen  Sokr.,  1904, 
S.  3—29,  0.  Apelt,  Platonische  Aufsätze,  1912,  S.  203—237,  die 
beiden  Dialoge  Hippias  u.  Einl.  zur  Übers.  (Philos.  Bibl.  172  a) 
1921,  S.  1 — 15,  0.  Kraus,  Piatons  Hippias  minor,  1913. 

Räder  setzt  den  Dialog  als  2.  (oder,  da  er  den  lo  mit- 
rechnet, 3.)  zwischen  Ap  und  La.  Nachdem  er  seinen  Inhalt  kurz 
angegeben  und  besprochen ,  wendet  er  sich  mit  Recht  gegen 
Horneffers  „seltsame  Deutung",  daß  PI.  hier  gegen  die  sokratische 
Lehre  polemisiere,  nach  der  die  Tugend  im  Wissen  besteht  —  er 
erklärt:  „nicht  eine  Widerlegung,  sondern  eine  Vertiefung  der 
sokratischen  Lehre  findet  man  im  Hp  II"   —  und  gegen  Dümmlers 


104  Constantin  Rittei*. 

Meinung,  die  Polemik  des  Dialogs  ziele  auf  Antisthenes.  Bezüglich 
der  Abfassungszeit  meint  er:  „Man  könnte  sich  versucht  fühlen, 
den  Hp  II  für  älter  als  die  Ap  zu  halten,"  weü  die  Lehre,  freiwilliges 
Fehlen  sei  unmöglich,  „in  dieser  Schrift  mit  größerer  Klarheit  vor- 
getragen wird ;  aber  mit  Unrecht :  die  Paradoxie,  die  im  Hp  II  aufge- 
stellt wird,  setzt  vielmehr  voraus,  daß  der  Satz  schon  für  PI.  feststeht". 
Pohlenz  zeigt  zuerst,  daß  die  Echtheit  mit  Fug  nicht  be- 
zweifelt werden  kann.  Abgesehen  von  einer  Aristotelesstelle  wird 
sie  dadurch  bezeugt,  „daß  die  vom  Scholion  zum  1.  Verse  der 
Odyssee  aufbewahrten  Ausführungen  des  Antisthenes  in  engstem 
Zusammenhange  mit  dem  Hp  II  stehen".  „Aber  offenbar  ist  es 
nicht  etwa ,  wie  Dümmler  und  Joel  annehmen ,  Plato,  der  gegen 
Antisthenes  polemisiert  .  .  .  Die  Sache  liegt  vielmehr  so,  daß  die 
bei  PL  vorgetragene  Deutung  von  Anthistenes  kritisiert  und  abgelehnt 
wird."  —  „Darüber,  daß  der  Hp  ein  naiyvLOV  ist,  in  dem  PI.  bewußt 
■Fehlschlüsse  anwendet,  um  zu  einem  absurden  Ergebnis  zu  gelangen, 
kann  .  .  .  kein  Zweifel  sein.  Aber  ist  es  nun  ein  reines  Spiel  oder 
verfolgt  PI.  doch  bestimmte  Absichten?  Wollen  wir  diese  Frage  be- 
antworten, so  müssen  wir  zunächst  eins  beachten.  Das  ist  die  große 
Rolle,  die  hier  die  Persönlichkeit  von  Sokr.s  Gegner  spielt  .  .  ." 
„Tatsächlich  ist  der  ganze  Dialog,  äußerlich  angesehen,  nichts  als  eine 
i^tiaatg  'iTtniov  ..."  „Wenn  man  den  Abschnitt  66  c — 69  b  liest, 
so  muß  an  sich  die  Ausführlichkeit  verwunderlich  erscheinen,  mit 
der  hier  der  einfache  Satz,  daß  auf  jedem  Gebiete  der  Sachkundige 
am  ehesten  imstande  ist,  zu  lügen  wie  die  Wahrheit  zu  sagen, 
durch  die  verschiedensten"  Fächer"  —  es  sind  genau  die ,  auf 
welche  nach  Pr  18e  sich  der  Unterricht  des  Hippias  in  erster 
Linie  erstreckt  hat  —  „illustriert  wird  .  .  .  Damit  erhält  der 
Abschnitt  eine  ganz  persönliche  Spitze.  Und  wenn  nun  Sokr. 
jedesmal  untersucht,  wer  der  größte  Lügner  auf  jedem  Gebiete  ist, 
so  muß  Hippias  darauf  gefaßt  sein ,  daß  nicht  bloß  die  allgemeine 
Antwort  'der  Sachkundigste'  erfolgt ,  sondern  daß  sein  eigener 
Name  fällt  .  .  .  Den  wirklichen  Polyhistor  Hippias  muß  man  sich 
also  vor  Augen  halten ,  wenn  man  den  Humor  dieser  Stelle  ver- 
stehen will.  Das  ist  wichtig,  damit  man  sich  vor  den  Über- 
treibungen   der    modernen    Maskenforschung  ^)    bewahrt.     Wer    an 

^)  Diese  „Maskenforschung"  ist  nach  Teichmüller  und  Dümmler  in 
ausgiebigster  Weise  von  Joel  betrieben  worden,  namentlich  in  seinem 
„echten  und  xenophontischen  Sokrates".  Ich  werde  auf  dieses  bisher  von 
mir  übersehene  Buch,  da  es  den  Pr  La  Eu  Eus  und  Phn  in  seine  Unter- 
suchungen hereinzieht,  teils  in  einigen  Anmerkungen,  teils  in  einem 
Nachtrag  noch  eingehen  müssen. 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    105 

unserer  Stelle  hinter  Hippias  einen  anderen  Gegner  Pl.s  wittert, 
wer  etwa  gar  an  Isokrates  oder  Antisthenes  denkt ,  die  nie  mit 
Mathematik  und  Astronomie  sich  beschäftigt  haben,  der  verzichtet 
darauf,  Pl.s  künstlerische  Absichten  zu  verstehen  .  .  .  Wir  sollen 
den  Eindruck  erhalten,  daß  der  berühmte  Vielwisser  Hippias  über 
die  einfachsten  sittlichen  Begriffe  nicht  nachgedacht  hat  und  daß 
er  die  paradoxesten  Behauptungen  wohl  zu  leugnen,  aber  nicht  zu 
widerlegen  vermag,  daß  er  wohl  imstande  wäre,  eine  Epideixis  im 
entgegengesetzten  Sinne  zu  halten  (09  c) ,  aber  aus  Mangel  an 
logischer  Schulung  in  der  Dialektik  jedem  Trugschluß  wehrlos  aus- 
geliefert ist.  Und  dieser  Eindruck  wird  natürlich  dadurch  verstärkt, 
daß  das  Problem,  das  PI.  hier  behandelt,  und  die  Art,  wie  er  es 
behandelt,  vollkommen  dem  Unterrichtsbeti'iebe  der  Sophisten  ent- 
nommen scheint."  Der  Leser  aber  „nimmt  aus  der  Komödie,  die 
er  miterlebt  hat,  eine  ernste  Mahnung  mit".  Er  „mag  sich  wohl 
fragen,  ob  er  sich  diesen  Sophisten  anvertrauen  darf,  ob  es  nicht 
besser  ist,  zu  den  Männern  zu  gehen,  die  wirklich  über  Erziehung 
und  Sittlichkeit  nachgedacht  haben.  Die  Mängel  der  herrschenden 
Richtung  in  der  Jugendbildung  will  also  PI.  aufdecken ,  indem  er 
einen  ihrer  Hauptvertreter  lächerlich  macht,  und  die  Überlegenheit 
des  Sokr.  tut  er  dar." 

Das  alles  kann  ich  durchaus  bilhgen  und  finde  ich  in  wesent- 
licher Übereinstimmung  mit  den  von  mir  selber  gegebenen  Dar- 
legungen. Aber  über  den  Zeitansatz  sind  wir  uneinig.  Da  schreibt 
P. :  „An  sich  wäre  es  recht  wohl  denkbar,  daß  noch  bei  Leb- 
zeiten des  Sokr.  PI.  diese  Szene  entworfen  hat.  Aber  dagegen 
spricht  entschieden  die  enge  Beziehung  zu  den  Schriften,  die  wir 
in  die  Zeit  nach  399  verlegen  mußten.  Mit  der  Ap.  verbindet  den 
Hp  .  .  .  die  i^ezaaig,  die  Sokr.  hier  anstellt,  mit  dem  La  die 
Frage  nach  der  absoluten  oder  relativen  Geltung  des  Begriffs 
(fQ6vii.iog,  mit  dem  Ch  die  Erörterung  über  Langsamkeit  und 
Schnelligkeit  iind  ihr  Vei-hältnis  zu  den  sittlichen  Werturteilen." 
Nun  scheinen  auch  mir  die  Beziehungen  zum  La  und  namentlich 
zum  Ch  recht  eng  zu  sein.  Aber  ich  kann  die  Gründe  nicht  an- 
erkennen, die  PL  dazu  vermögen,  diese  zwei  anderen  Dialoge  nach 
399  anzusetzen.  Und  da  P.  selber  auch  erklärt:  „Der  Hp  ist  der 
Dialog,  in  dem  sich  P.  zum  ersten  Male  gegen  die  hochgelehrten 
Herren  wendet,  die  die  Erziehung  des  Volkes  beherrschen.  Es 
ist  bezeichnend  für  sein  Siegesgefülil,  daß  er  glaubt,  das  mit  einer 
Komödie  tun  zu  können,"  so  bitte  ich  ihn  nochmals  ernstlich  zu 
tiberlegen,  ob  es  nicht  gegen  alle  psychologische  Wahrscheinlichkeit 


206  Constantin  Ritter. 

ist,  daß  PI.  kurz  nach  dein  erschütternden  Ereignis  von  399  — 
„viel  später  wird  man  ihn  gewiß  nicht  ansetzen"  meint  er  ja  selber 
vom  Hp  —  sich  in  der  Stimmung  gefunden  habe ,  seinem  Sieges- 
gefühl in  so  übermütiger  Weise  Ausdruck  zu  geben.  Ich  setze 
dagegen  die  Worte ,  die  ich  selber  in  meinem  Piaton  I  S.  308 
gebraucht  habe :  „Die  hiemit  vorgetragene  Auslegung  des  Dialogs 
hat  sich  nur  durch  ziemlich  weitgehende  Folgerungen  gewinnen 
lassen.  Ein  mit  Sokr.  und  PI.  noch  nicht  näher  bekannter  Leser 
wird  sie  nicht  ziehen  können  und  durch  das  ganze  Beweisverfahren 
irregeleitet  werden.  Daß  Sokr.  an  logischer  Sicherheit  und  Ge- 
wandtheit der  Gesprächsführung  dem  Sophisten  weit  überlegen  ist, 
lieo-t  ja  am  Tage.  Dennoch  wäre  er  selber  nichts  als  der  Erz- 
sophist, als  den  ihn  Aristophanes  einst  kennzeichnen  wollte,  wenn 
er  diese  Überlegenheit  ohne  tiefere  sittliche  Hintergedanken  nur 
dazu  benützte,  den  Gegner  zu  einem  Zugeständnis  zu  drängen,  an 
dessen  Richtigkeit  er  selber  nicht  glaubt.  Nur  eben  der  Umstand, 
daß  hinter  der  den  Gegner  mit  selbst  angezweifelten  Beweisen 
foppenden  Disputierkunst  eine  positive  Überzeugung  steht,  die  alle 
Unsicherheit  und  sophistische  Grundsatzlosigkeit  aufhebt,  kann 
ihn  rechtfertigen.  Und  wenn  es  zu  viel  verlangt  ist  von  dem 
Durchschnittsleser,  dem  damaligen  ebenso  wie  dem  heutigen,  daß 
er  nachdenkend  diese  positive  Überzeugung  auffinde,  so  glaube  ich 
eben  darum  nicht,  daß  der  Dialog  von  Anfang  an  zur  VeröflPent- 
lichung  bestimmt  gewesen  sei,  womit  er  üblen  Mißdeutungen  hätte 
ausgesetzt  sein  müssen:  und  noch  weniger  kann  ich  glauben,  daß 
er,  auch  nur  als  vn6fAvr]i.ia  für  PL  allein,  nach  Sokr.s  Tod  noch 
könnte  geschrieben  sein." 

Und  wenn  P.  erklärt  (S.  69),  PI.  habe  ja  ohne  weiteres  vor- 
aussetzen können,  daß  die  jungen  Leute,  die  Sokr.  kannten,  wenn 
sie  den  Hp  lesen ,  genau  wissen ,  daß  dessen  dort  geschilderte 
Überlegenheit  über  seinen  Gegner  „in  Wirklichkeit  nicht  auf  der 
Trugdialektik,  sondern  auf  positiven  Überzeugungen  beruhe",  so 
entgegne  ich  darauf:  Ja  wohl,  die  jungen  Leute  konnten  das 
wissen.  Aber  die  Richter,  die  den  Sokr.  verurteilt  hatten,  und 
seine  Ankläger,  konnten  und  wollten  die  es  wissen?  Ich  meine, 
sie  hätten  mit  Genugtuung  eine  volle  Rechtfertigung  ihres  Ver- 
fahrens aus  dem  Dialog  heraus  gelesen:  *Da  seht  ihr's!  Ein  so 
bösartiger,  heimtückischer  Mensch  ist  dieser  Sokr.  gewesen!  Sein 
bester  Schüler  hat  ihn  nicht  anders  geschildert  als  wir  ihn  beur- 
teilt haben.  Die  heiligsten  sittlichen  Grundsätze  hat  er  verleugnet, 
so  daß  es  sogar  dem  Sophisten,  mit  dem  er  sich  streitet,  zu  bunt 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    107 

geworden  ist'.  Und  diesen  Trumpf  sollte  PI.  den  Leuten  in  die 
Hand  gegeben  haben?  Unmöglich.  Nach  dem  Tod  des  Sokr.  kann 
der  Hp  überhaupt  nicht  mehr  geschrieben  worden  sein.  Und  weiter 
folgt  daraus :  wenn  enge  Beziehungen  zwischen  ihm  und  anderen 
Dialogen  bestehen ,  so  werden  eben  auch  diese  anderen  dem 
Jahr  399  vorausgehen. 

Ich  freue  mich  zu  bemerken,  daß  ich  mich  hier  ganz  in  Über- 
einstimmung mit  Wilamowitz  befinde.  Er  schreibt  (S.  136): 
„Die  Sokratiker  wußten  freilich,  daß  Sokr.  auf  dem  Standpunkte 
stand,  niemand  ist  mit  Absicht  schlecht,  sondern  er  tut  immer, 
was  er  immer  für  das  Gute,  d.  h.  für  ihn  subjektiv  Beste  hält; 
solchen  Lesern  war  die  Einschränkung,  die  Sokr.  in  dem  letzten 
Satze  macht ,  ein  Wink  für  das  Ganze ,  'wer  freiwillig  sündigt, 
wenn  es  einen  solchen  gibt'.  Aber  ein  unvorbereiteter  Leser 
müßte  sagen,  Sokr.  vertritt  im  Gegensatze  zu  Hippias  die  Unsitt- 
lichkeit,  und  soviel  sollte  jeder  einsehen,  daß  kein  Sokratiker  nach 
dem  Urteil  des  Gerichtes  denjenigen  so  etwas  sagen  lassen  konnte, 
der  als  Verführer  der  Jugend  verurteilt  war." 

Von  feinen  Einzelbemerkungen,  die  W.  über  den  Inhalt  des 
Dialogs  noch  macht ,  hebe  ich  heraus :  offenbar  hat  eine  persön- 
liche Begegnung  den  Anstoß  gegeben.  „Geckenhafte  Eitelkeit  hat 
den  PI.  gereizt.  Er  versteht  es  ganz  prächtig,  den  Renommisten 
vorzuführen ,  der  reinweg  alles  kann ,  gleich  geschickt  mit  den 
Händen  und  dem  Munde  .  .  .  Nun  war  Hippias  ohne  Frage  ein 
kenntnisreicher  Mann",  namentlich  auf  historischem  Gebiet,  aber 
„Gedanken  hat  er  schwerlich  gehabt;  die  ihm  von  den  Modernen 
beigelegt  werden,  machen  sie  ihm  zum  Geschenk  ^)  •  •  •  Mit  einer 
Allwissenheit,  wie  sie  dieser  Hippias  besitzt,  sind  Gedanken  nicht 
wohl  vereinbar."  —  „Ganz  ohne  Einmischung  des  Moralischen 
konnte  PI.  den  Sokr.  noch  einführen,  lediglich  durch  seinen  Scharf- 
sinn .  .  .  den  Hippias  auf  den  Sand  setzen  lassen ,  Behauptungen 
vertreten,  mit  denen  es<  ihm  unmöglich  Ernst  sein  konnte,  deren 
schwache  Stellen  dem  PI.  unmöglich  entgingen  ...  Es  charakterisiert 
die  Weise  des  Sokr.,  mit  den  Sophisten  umzuspringen;  es  läßt  ihn, 
etwas  sehr  anfängerhaft,  sogar  in  breiterer  Rede,  als  sie  hier  der 
Sophist  führt,  seine  eigene  Unwissenheit,  aber  auch  seinen  Gegen- 
satz zu  den  Weisen  auseinandersetzen  (72  b)  .  .  .  Imponierend  ist  es, 
wie  dieser  Sokr.  die  Leute  schlägt ;  aber  mehr  als  dies  Negative  gibt 


^)  „Auf   den  bloßen  Namen  hin  ihm  mathematische  Verdienste  bei- 
zulegen, ist  offenbare  Willkür;  der  Name  ist  viel  zu  gewöhnlich." 


108  "  Constantin  Ritter. 

er  niclit.  Wir  ahnen  es  vielleicht,  PI.  wußte  es  sicher,  daß  in  der 
sittlichen  Haltung  des  Mannes  das  Positive  lag;  aber  das  zeigt  er 
nicht ,  der  Leser  kann  es  wirklich  nicht  herausfühlen ;  hüte  sich 
also  der  Erklärer ,  es  hineinzutragen.  Als  Satire ,  in  der  Hippias 
getroffen  werden  soll,  ist  die  Schrift  allein  ganz  voll  befriedigend." 

G  0  m  p  e  r  z  ,  der  es  zwar  nicht  für  unmöglich  hält,  daß  einige 
Frühdialoge  noch  zu  Lebzeiten  des  Sokr.  entstanden  seien,  aber 
doch  für  recht  wenig  wahrscheinlich  erklärt,  hilft  sich  aus  der 
Verlegenheit,  die  ihm  dabei  der  Hp  doch  bereitet,  hei'aus  mit  der, 
wie  er  meint,  „bei  dem  Werk  eines  Anfängers  nicht  eben  gewalt- 
samen Annahme,  daß  es  für  einen  engeren  Kreis  geistesverwandter 
und  mit  den  sokratischen  Grundlehren  wohlvertrauter  Leser  be- 
stimmt war.  Diese  werden  den  Widerspruch  zwischen  dem  Schein- 
ergebnis und  der  Willenstheorie  ihres  Meisters  leicht  durchschaut 
haben".  Ich  halte  die  Gegenbemerkungen,  die  Pohlenz  S.  69  f. 
gegen  mich  und  Gomperz  richtet ,  nicht  für  beweiskräftig  und 
mache  darauf  aufmerksam ,  wie  PL  sich  im  Pa  28  d  e  den  Zenon 
dafür  entschuldigen  läßt,  daß  seine  Schrift  veröffentlicht  worden  sei, 
die  nur  zum  Überfluß  wiederhole  was  Parmenides  selber  in  anderer 
Form  gelehrt  habe.  Er  habe  an  Veröffentlichung  der  -in  jugend- 
lichem Alter  von  ihm  verfaßten  Streitsätze  gar  nicht  gedacht,  sondern 
diese  sei  zuerst  hinter  seinem  Rücken  durch  andere  erfolgt.  Daß 
diese  Erklärung  nicht  als  historische  Angabe  über  das  Buch  Zenons 
genommen  werden  darf,  ist  selbstverständlich.  Was  sie  aber  für 
einen  Sinn  haben  sollte,  wenn  sie  nicht  auf  Pl.s  eigene  Schriftstellerei 
anzuwenden  ist  und  für  welche  andere  Schrift  sie  eher  passen  könnte 
als  für  den  Hp  II,  das  wird  schwerlich  jemand  sagen  können. 

Horneffer  entwickelt  folgendes  (S.  6  f.):  „Man  war  aus- 
gegangen von  dem  Gegensatze  des  wahrhaften  und  lügnerischen 
Menschen.  Dann  wurden  dem  Lügnerischen  der  Reihe  nach  ver- 
schiedene Attribute  beigelegt,  die  aUe  irgend  ein  Können,  ein  Wissen 
in  sich  schließen.  Zuletzt  wurde  der  Gegensatz  des  Wahrhaften 
und  Lügnerischen  wiederholt.  Ich  kann  diesen  Abschnitt  nur  so 
verstehen,  daß  im  Hintergrunde  der  Satz  steht:  'Tugend  ist  Wissen'; 
und  dieser  Satz  soll  widerlegt  werden  .  .  .  Auch  dem  Nicht- 
tugendhaften, dem  Schlechten,  in  diesem  Falle  dem  Lügner,  kommt 
ein  Wissen  zu.  Also  kann  das  Wissen  für  den  .  .  Tugendhaften  .  . 
nicht  das  bestimmende  Merkmal  sein.  Denn  sonst  dürfte  es  nicht 
auch  seinem  Gegensatze  zukommen.  —  Diese  Auslegung,  die  die 
Worte  ganz  ungezwungen  nimmt,  wird  durch  das  Folgende  bestätigt. 
(S.  17:)    Sokr.    fragt    den  Hippias,    ob    nicht   die    di7,aioavvi]   eine 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    109 

Fähigkeit, ^der  ein  Wissen  sei  oder  beides  .  .  Ob  sie  eines  davon 
sein  muß  .  .,  das  scheint  mir ,  zieht  der  Verf.  selbst  in  Zweifel. 
Wenigstens  folgert  er  daraus  .  .  absurde  Konsequenzen,  die  diese 
Voraussetzung  widerlegen  müssen  .  .  (20)  Der  Verf.  glaubt  .  .  an 
das  Vorhandensein  von  Leuten,  die  absichtlich  Böses  tun,  und  er 
hält  einen  Satz,  der  zu  der  Konsequenz  führt,  daß  die  absichtlich 
Sündigenden  besser  sind,  damit  für  widerlegt.  —  Was  die  Berufung 
auf  den  .  .  Satz  eiTteg  Tig  eoviv  ovzog  anlangt,  so,  glaube  ich  .  . 
heißt  .  .  dieser  .  .  auf  deutsch:  .  .  da  es  ja  bekanntermaßen  einen 
solchen  gibt."  (?)  .  .  (22:)  „Was  .  .  den  Umstand  betrifft,  daß  Sola*, 
hier  seine  eigene  Lehre  widerlegt,  so  ist  .  .  dies  nur  auf  den  ersten 
Blick  sehr  auffällig  .  .  .  Die  piaton.  Dialoge  sind  völlig  freie 
Dramen."  Daß  der  Vielwisser  Hippias  dem  Sokr.  entgegengestellt 
wird,  der  seinerseits  „an  Wissen  und  Gelehrsamkeit  hinter  vielen 
seiner  Zeitgenossen  zurückstand",  während  „seine  Tugend  nichts 
zu  wünschen  übrig  ließ",  ist  wohl  bedacht.  „Mir  will  es  scheinen, 
als  wenn  der  Verf.  hier  dem  Sokr.  vorhielte,  daß  er  ja  selbst  mit 
seiner  Persönlichkeit  die  lebendige  Widerlegung  seines  eigenen 
Satzes  sei.'"  .  .  (28)  „Der  Hp  II.  wie  ich  ihn  auslege,  ist  freilich 
mit  den  späteren  Hauptwerken  Pl.s  nicht  in  Einklang  zu  bringen. 
Aber  mir  scheint  das  noch  kein  Einwand  gegen  meine  Interpretation 
zu  sein."  Am  Schluß  bemerkt  H.,  Gercke  habe  ihm  erklärt,  eigene 
Untersuchung  des  Hp  II  habe  ihn  „zu  derselben  Überzeugung  ge- 
bracht. „Diese  Übereinstimmung  hat  mich  begreiflicherweise  sehr 
in  meinem  Urteil  bestärkt"  —  mich  erschüttert  sie  nicht  in  meinem 
entgegenstehenden  Urteil. 

Apelt  schreibt  (Einl.  zur  Übers.  S.  1  f.) :  „Der  moralisch 
destruktive  Standpunkt ,  den  Sokr.  [in  dem  kleinen  Dialog]  ein- 
zunehmen scheint,  konnte  kaum  anders  als  verwii'rend  und  ver- 
blüffend auf  den  Leser  wirken."  .  .  .  „Sokr.  ist  hier  nach  unserem 
Gefühl  der  Sophist  und  Hippias  der  nur  dialektisch  übertölpelte 
Vertreter  des  gesunden  Menschenverstandes." 

Zur  Erklärung  des  Inhalts  will  ich  noch  einiges  anführen,  was 
Heinrich  Mai  er,  Sokrates ,  .  .  .  S.  345  ff.  schreibt:  „Die  ganze 
Argumentation  ist  ein  sprühend  geistreiches ,  stark  eristisches 
Spiel,  das  die  Wahrheit  mit  voUem  Bewußtsein  auf  den  Kopf 
stellt  .  .  .  Fast  sieht  es  darnach  so  aus ,  als  hätte  der  Autor  die 
Absicht,  zu  zeigen,  wie  Sokr.  den  Hippias  niederdisputiert.  AUein  .  .  . 
auch  dem  Sophisten  gegenüber  verfolgt  Sokr.  eine  protreptische 
Absicht;  er  will  eine  bestimmte  sittliche  Wirkung  erzielen.  Der 
Satz ,    um   den    sich  die  Diskussion    dreht ,    ist  ein  Paradoxon,  das 


wo  Constantin  Ritter. 

eine  ernste  sittliche  Wahrheit  auf  die  Spitze  treibt.  Wer  absicht- 
lich d.  h.  wissentlich  böse  handelt,  kennt  doch  das  sittliche  Ideal. 
Und  diese  Kenntnis  kann  nur  das  Ergebnis  sittlicher  Selbstbesinnung 
sein.  Wer  aber  so  weit  ist,  der  hat  den  entscheidenden  Schritt 
bereits  getan.  Er  ist  aus  dem  Schlaf  des  gewohnheitsmäßigen 
Lebens  aufgeweckt  ...  Ob  es  möglich  ist,  wissentlich  Unrecht 
zu  tun ,  bleibt  dahingestellt  .  .  .  Die  Absicht  ist  durch  die  Para- 
doxie,  die  einen  allgemein  anerkannten  Satz  umdreht,  im  Partner 
oder  vielmehr  im  Leser  das  sittliche  Nachdenken  anzuregen  und 
nach  einer  bestimmten  Richtung  zu  lenken.  Und  die  Wahrheit, 
auf  die  die  These  aufmerksam  machen  will,  ist:  daß  das  Wissen 
um  das  Ideal  der  Anfang  alles  sittlichen  Lebens  ist." 

Aus  meiner  eignen  Darstellung  (Piaton  I,  S.  307)  nehme 
ich  die  Sätze  heraus:  „Sokr.  teilt  mit  den  Sophisten  die  intellektua- 
listische  Überzeugung,  daß  Bildung  den  Menschen  gut  mache  oder, 
was  nur  ein  anderer  Ausdruck  für  dasselbe  Verhältnis  ist,  daß  die 
Tugend  im  Wissen  bestehe  imd  lehrbar  sei,  ja  diese  Überzeugung 
steht  ilim  viel  fester  und  sicherer  als  jenen ,  die  sich  über  ihre 
Konsequenzen  nicht  ganz  klar  sind.  Aber  indem  er  den  Begriff 
des  Guten  und  der  Tugend  viel  tiefer  und  innerlicher  faßt  als 
jene,  versteht  er  auch  unter  Bildung  etwas  wesentlich  anderes. 
Er  sieht,  daß  diese  nicht  mit  bloßer  Anhäufung  beliebiger  Kennt- 
nisse und  Fertigkeiten  hergestellt  wird,  sondern  daß  ihr  von  vorn- 
herein die  Richtung  gegeben  werden  muß  auf  das  Ziel  der  sittlichen 
Vollkommenheit.  Sobald  man  die  Bildung  auf  dieses  Ziel  der 
a^Btri-,  so  wie  eben  Sokr.  und  PI.  diese  verstehen,  bezieht,  wird 
auch  der  Einspruch  verstummen,  den  bei  äußerlicherer  Fassung  das 
gesunde  sittliche  Bewußtsein  erheben  muß  gegen  den  Satz :  je 
gebildeter,  desto  tüchtiger,  desto  besser." 

Von  reichem  und  gutem  Gehalt  ist  Kraus'  Arbeit.  Er  zeigt 
zuerst,  wie  ältere  und  neuere  Autoren  über  den  Hp  II  dachten. 
„Die  einen  erklären  ihn  für  ein  unwürdiges  Produkt  und  unecht, 
die  anderen  für  das  Werk  eines  Schülers,  die  anderen  für  ein  un- 
reifes Werk,  jedenfalls  für  ein  Jugendwerk."  Aber  was  soll  der 
jugendliche  Verfasser  mit  dieser  Schrift  bezweckt  haben?  Nach 
Eckert  hätten  wir  in  ihr  nur  einen  dialektischen  Scherz  zu  sehen, 
den  sich  PL  als  Humorist  und  Satiriker  geleistet  habe ,  nach 
Dümmler  eine  Parodie  auf  die  Homerstudien  des  Antisthenes ;  da- 
gegen Gilbert,  M.  Wundt  und  andere  finden  in  ihm  die  Fixierung 
unlösbarer  Aporien,  die  dem  jugendlichen  Denker  zur  Qual  geworden 
waren.     „Ihm    schienen    die  Schlüsse  entsetzlich  ernsthaft,   obwohl 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PL  erschienenen  Arbeiten.    1 1 1 

er  sich  bei  ihnen  nicht  beruhigen  konnte",  schreibt  H.  Nohl.  Die 
verbreitetste  Auffassung  ist  die  von  Schleiermacher  begründete,  es 
handle  sich  im  Hp  II  um  einen  indirekten  Beweis  für  die  sokratische 
These :  'daß  die  Tugend  im  Wissen  vom  Guten  bestehe  oder,  was 
wesentlich  dasselbe  besagt,  daß  niemand  mit  Wissen  und  Willen 
sündige.'  Im  Gegenteil  meinen  Horneffer  und  Gercke,  die  soki-atische 
Tugendlehre  werde  von  dem  Verfasser  der  Schrift  bekämpft.  — 
Um  den  Streit  der  Meinungen  zur  Entscheidung  zu  bringen,  nimmt 
K.  eine  eingehende  Analyse  des  Dialogs  vor.  Er  findet  als  Grund- 
gedanken des  1.  Teils:  aA>;^j^'g  muß  im  Sinn  des  „Wahrspruch- 
mächtigen",  ifjevdr^g  im  Sinn  des  „Falschspruchmächtigen"  verstanden 
werden.  Dann  sind  die  beiden  in  der  Tat  gleichwertig  und  ist  nichts 
einzuwenden  gegen  die  These:  „wer  der  Vermögendste  ist,  in  einem 
Fache  die  Wahrheit  zu  sagen,  sei  auch  der  Vermögendste,  die  Un- 
wahrheit zu  sagen."  Eine  einwandfreie  Auslegung  hat  schon 
Aristoteles  geliefert,  „wenn  auch  in  gewohnter  Wortkargheit."  Ja 
es  zeigt  sich,  „daß  Aristoteles  die  Erklärung  des  Dialogs  und  hie- 
mit  die  Auflösung  der  täuschenden  Redewendungen  als  Schulgut 
von  PI.  übernommen  hat."  Es  ist  seltsam,  daß  die  neueren  Er- 
klärer die  aristotelische  Deutung  teils  kaum  beachtet,  teils  (wie 
Arnold  und  Hofmann)  mißverstanden  haben.  „Für  den,  der  die 
Relativität  der  sekundären  ethischen  Maximen  erkannt  hat,  ...  ist 
.  .  .  kein  Zweifel  möglich,,  daß,  wie  schon  Steinhart  und  neuestens 
Ritter  bemerkt,  unter  Umständen  eine  .  .  .  Täuschung  von  der 
Sittlichkeit  selbst  gefordert  ist  .  . .  Stellt  sich  doch  Sokrates  selbst 
nicht  selten  und  wird  auch  so  in  unserem  Dialoge  gezeichnet,  als 
wüßte  er  nichts  und  jedenfalls  weniger  als  der  Sophist,  während  das 
Gegenteil  der  Fall  ist:  Es  wird  also  vorausgesetzt,  daß  man  unter 
Umständen  die  Unwahrheit  sprechen,  selbst  täuschen  und  irreführen 
dürfe"  (S.  15).  —  Auch  dem  befremdlich  klingenden  Satz  des  zweiten 
Teiles,  daß  wer  mit  Willen  Unwahrheit  sagt,  besser  sei  als  jener, 
der  es  wider  Willen  tut,  läßt  sich  ein  Sinn  abgewinnen,  bei  dem 
er  richtig  erscheint.  Ja  er  ist  eigentlich  im  1.  Teü  schon  ent- 
halten und  (S.  21)  „die  kurze  Verweisung  (71  e  und  92  e)  auf  den 
1.  Teü  des  Gesprächs  ist  eine  der  vielen  logischen  Feinheiten,  die 
dieser  sorgfältigst  und  einheitlichst  gearbeitete  Dialog  aufweist."  — 
Die  2.  Hälfte  des  2.  Teils  beginnt  bei  75  d  mit  einer  Definition  der 
Gerechtigkeit.  Die  Gerechtigkeit  ist  entweder  ein  Vermögen  oder 
ein  Wissen  oder  beides.  Auch  diese  Definition  ist,  in  bestimmter 
Weise  aufgefaßt,  völlig  richtig  und  der  sokratisch-platonischen 
Lehre    gemäß.      Über    die  Vieldeutigkeit   des    Wortes    'Vermögen* 


212  Constantin  Ritter. 

{dvva(.ag)  hat  uns  Aristoteles  in  derselben  Abhandlung  unterrichtet, 
der  über  den  Sinn  der  Wörter  i^ievör^q  und  aXr]d^7]g  Aufschluß  gibt 
(S.  24).  Die  Gerechtigkeit  ist  eine  S7tiOTr'^f.ir],  welche  die  övrai-iig 
zum  rechten  Wollen  in  sich  schließt.  „Die  Definition  der  Ge- 
rechtigkeit (Tugend)  als  eine  övvaf^ig  ist  von  Aristoteles  über- 
nommen worden  .  .  .  Nachdem  Aristoteles  selbst  vor  der  Viel- 
deutigkeit des  Wortes"  {dvvanig)  „gewarnt  hat,  heißt  es  seine 
Warnung  in  den  Wind  schlagen,  wenn  man"  (was  z.  B.  Wilamowitz 
vorzuwerfen  ist)  „nicht  jedesmal  sorgfältig  untersucht,  in  welcher 
der  vielen  Bedeutungen  er  sich  des  Wortes  bedient".  .  .  .  (S.  26) 
Die  Tugend  ist  „eine  öuva(.iig  nicht  im  Sinne  der  Macht  des  Willens, 
sondern  im  Sinne  eines  zum  rechten  Wollen  bestimmenden  Prinzips, 
das  auch  von  PI.  gelegenthch  f§ig  genannt  wird  (Rp  443  e,  vgl. 
411  e).  Bei  Aristoteles  in  einer  gewissen  mittleren  Beschaffenheit, 
einer  im  Unbewußten  liegenden  Qualität  {jtoiov  ti)  bestehend,  die 
vom  Wissen  lediglich  mitbedingt  ist,  bei  PI.  noch  in  sokratischem 
Sinne  dem  Wissen  vom  Guten  allein  zugeschrieben."  Apelt  sieht 
in  der  Nikom.  Ethik  1129  a  14  mit  Recht  eine  „ziemlich  deutliche 
Beziehung  auf  Hp  II  75  d  f.  Denn  wenn  da  gefragt  wird:  *Die 
Gerechtigkeit,  ist  sie  nicht  entweder  eine  öivafug  oder  eine 
£7Tioir^{.iri  oder  beides?',  so  gebe  Aristoteles  hier  darauf  die  richtige 
Antwort,  während  im  Hp.  eine  'schiefe  Antwort'  erfolge.  Weder 
dvvai-iig  noch  hriOTrifit]  macht  nämlich  nach  dieser  Stelle  das  Wesen 
der  di-aaioavvrj  aus,  sondern  e'^ig.  Darauf  ist  jedoch  zu  entgegnen, 
daß  die  im  Hp  gegebene  Antwort  höchstens  —  so  weit  die  Zwei- 
deutigkeit des  Wortes  dvvaimg  reicht  —  schief  genannt  werden 
darf.  Die  Gerechtigkeit  (=  Tugend)  ist  nach  PI.  erstens  zweifel- 
los eine  STTiaTt'^urj'^  und  mag  auch  das  vollkommene  Wissen  vom 
Guten  nichts  sein,  was  einem  Sterblichen  eignet,  so  wird  eben  auch 
die  vollkommene  Tugend  ihm  nicht  zukommen.  'Niemand  ist  gut, 
denn  der  eine  Gott.'  Dieses  Wort  Christi  könnte  auch  PI.  ge- 
sprochen haben  .  .  .  Die  Tugend  ist  aber  zweitens  für  PI.  auch 
eine  dvvaf.iig.  Freilich  nicht  im  Sinne  einer  Willensmacht,  sondern 
im  Sinne  einer  Wissensmacht,  d.  h.  einer  aktiven  Kraft,  die  dem 
Wissen  vom  Guten  zukommt.  Sie  ist  ihm  im  vollen  Sinn  des 
Wortes  'des  Menschen  allerhöchste  Kraft'  .  .  .  Der  Tugendhafte 
muß  auch  nach  Aristoteles  das  Wissen  vom  Guten  und  Schlechten 
besitzen.  Die  Definition  im  Hp  II  ist  schief  nur  sofern  sie  zwei- 
deutig ist ;  richtig  verstanden  ist  sie  nicht  schiefer  als  die  platonische 
Lehre  überhaupt,  welche  dem  Wissen  vom  Guten  eine  determinierende 
dvvaixig  zuschreibt."  (S.  29:)   „Eine  Induktion,  welche  das,  was  von 


Ber.  über  d.  iu  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PL  erschienenen  Arbeiten.     113 

der  dcrai-Ui:  des  TVilleus  etwas  zu  wirken  gilt,  übei-trüge  auf  die 
övva/.iig,  welche  den  Willen  wiikt,  wäre  verfehlt.  Eckert  behauptet 
gegen  Gouiperz  und  andere,  eine  solche  Induktion  sei  richtig.  Denn 
die  Ungerechten  seien  (65  d)  udvvaioi  xi  noiüv  wojceq  o'i  xctjuvoi^eg. 
Allein  eben  dies  ist  eine  völlige  Verkennung  des  platonischen  Ge- 
dankens .  .  .  Daher  ist  es  auch  falsch,  wenn  Eckert  behauptet,  der 
Gute  habe  die  Fähigkeit  zu  fehlen,  nur  mache  er  von  ihr  keinen 
Gebrauch.  Der  Gute  hat  nach  PL  zwar  die  Macht,  wenn  er  will, 
das  Schlechte  zu  tun,  aber  es  fehlt  ihm  gerade  die  Fähigkeit  zu 
unrechtem  Wollen  bestimmt  zu  werden,  da  er  ja  das  Prinzip  besitzt, 
das  ausnahmslos  zum  rechten  Wollen  determiniert.  Die  Wichtigkeit 
der  beiden  Bedeutungen  von  övraf-ng  und  die  Wichtigkeit  ihrer 
Scheidung  kann  nicht  genug  betont  werden.  Sie  ist  nicht  etwa 
nur  wichtig  zur  Erklärung  des  Hp  II,  sie  ist  von  fundamentaler 
Bedeutung  für  die  Ethik  ..."  Es  „ist  aber  das  Große  an  der 
platonisch-aristotelischen  Ethik,  daß  sie  Determinimus  und  praktische 
Freiheit  zu  vereinen  wußte".  —  Ganz  einvei-standen.  —  Seite  31 
faüc  K.  nochmals  zusammen:  „Ich  glaube  gezeigt  zu  haben,  daß 
die  Bestimmung  der  Gerechtigkeit,  die  75b  gibt,  im  sokratisch- 
platonischen  Sinne  durchaus  nicht  falsch,  sondern  höchstens,  sofern 
sie  das  Wort  divaf.ag  enthält,  zweideutig  ist."  Er  fügt  bei:  „Er- 
innert man  sich,  daß  auch  der  vorangehende  Teil  des  Dialoges 
dui'chweg  mit  äeiuivoken  Ausdrücken  arbeitet  und  darauf  augelegt 
erscheint,  auf  diese  Weise  den  Hörer  oder  Leser  in  die  Irre  zu 
führen,  so  wird  man  auch  hier  eine  gleiche  Absicht  vermuten." 
Und  schheßlich,  nach  einem  Überblick  über  den  ganzen  Dialog  wird 
festgestellt  (S.  35) :  „daß  er  auch  nicht  einen  einzigen  Satz  ent- 
hält, der  so  verstanden  werden  muß,  daß  sich  eine  vom  sokratisch- 
platonischen  Standpunkt  unrichtige  oder  überhaupt  schlechthin 
absurde  Lehre   ergibt," 

(S.  36 :)  „Aus  dem  positiven  Resultate  unserer  Untersuchung 
ergibt  sich  das  negative :  Der  Dialog  ist  außerstande,  den  Satz 
^Tugend  ist  Wissen'  zu  beweisen  oder  zu  stützen."  Wer  darin  seine 
Absicht  sieht,  beweist  nach  K.,  daß  er  selbst  „in  die  peirastische 
Falle  geraten"  ist  und  die  'Macht,  Übles  zu  wollen'  mit  der  'Ge- 
neigtheit, Übles  zu  wollen'  zusammenwirft.  Zum  Beweise  führt  er 
Bonhöffers  Urteil  an:  „Aus  dem  oberflächlichen  Begriff  des 
Wissens  und  der  Bildung ,  wie  ihn  eben  der  Sophist  allein  kennt, 
deduziert  Sokr.  mit  grausamer  Folgerichtigkeit  das  lästerliche  Para- 
doxon, daß  nur  der  ali]d^i'^g  zugleich  auch  i^ievd/^g  sein  kann,  daß 
der  lügnerische  Odysseus  besser,  weil  wissender,  ist  als  der  ehrliche 

Jahregbericht  für  Altertumswissenschaft.    Bd.  191  (19"i'2.  I).  8 


1]^4  Constantin  Ritter. 

bzw.  unwissentlich  lügende  Achilleus,  daß  überhaupt  der  freiwillig 
Sündigende  besser  als  der  unfreiwillig  Sündigende,  d.  h.  identisch 
mit  dem  aya^oc.  ist."  Er  bemerkt  dagegen:  „Wir  sehen  leicht, 
wie  diese  für  die  herrschende  Auffassung  typische  Widergabe  zu 
widerlegen  ist.  Das  lästerliche  Paradoxon  .  .  ist  richtig  verstanden 
ein  vollkommen  einwandfreier  Satz,  und  Odysseus  kann  mit  Recht 
als  der  Bessere  erklärt  werden,  sofern  er  ein  nur  mit  Willen  Un- 
wahres Sagender  (nicht  aber  ein  Luggeneigter)  ist,  und  auch  dem 
Satz,  daß  der  freiwillig  Sündigende  der  Bessere  sei,  kann  .  .  ein 
Sinn  abgewonnen  werden,  der  ihn  der  Absurdität  entkleidet." 
Jedoch  ich  meine,  damit  drücke  K.  nur  Bonhöffers  eigene  Meinung 
in  freilich  abweichenden  Worten  aus.  Auch  B.  will  das  Paradoxon 
als  „lästerlich"  nur  bezeichnen  für  den  an  der  Oberfläche  des  her- 
gebrachten Wortsinnes  sich  haltenden  Beurteiler,  der  gar  nicht 
imstande  ist,  das  sittliche  Problem  in  seiner  Tiefe  zu  erfassen.  Voll 
begründet  scheint  mir  im  folgenden  die  Ablehnung  der  Auffassung 
Horneifers  (s.  u.).  Nicht  voll  einverstanden  aber  bin  ich  mit  dem  Satz 
(S.  41) :  „Die  einzige  Tendenz,  die  verfolgt  werden  kann,  ist,  den 
Sophisten  vermöge  einer  fortlaufenden  Kette  kunstvoll  angelegter 
Fallstricke  zu  einem  höchst  absurd  klingenden  Satze  zu  verführen, 
dessen  Absurdität  nur  derjenige  vermeiden  kann ,  der  die  övrafiig 
im  Sinne  der  sokratischen  Kraft  von  der  övvafALg  im  Sinne  der 
Macht  des  Willens  zu  scheiden  vermag."  Diese  Absurdität,  kann 
man  ebensogut  sagen,  vermag  zu  vermeiden  wer  über  den  wahren 
Sinn  der  Bildung  und  Erkenntnis,  deren  Ziel  das  unbedingte  ayad-ov 
ist,  ins  klare  gekommen  ist.  Und  die  letzte  Tendenz  dürfte  nicht 
sein,  den  Sophisten  zu  beschämen,  indem  die  Verworrenheit  seines 
Bildungsbegi'iflfs  an  den  Tag  gebracht  wird,  sondern  überhaupt  zum 
Nachdenken  darüber  anzuregen,  was  wertvolles  Wissen  und  wirk- 
liche echte  Bildung  sei.  — 

In  der  kritischen  Auseinandersetzung  mit  den  Ansichten  anderer 
Forscher  macht  K.  als  Schüler  von  Brentano  und  Marty  reichhche 
Anwendung  von  logischen  Schemata,  die  ich  nicht  immer  pünktlich 
nachgeprüft  habe.  Im  ganzen  scheint  mir  jedenfalls  richtig,  was 
er  aus  ihnen  gewonnen  hat.  Doch  möchte  ich  glauben,  man  könne 
auch  ohne  sie  aus"kommen.  Mit  vollem  Recht  wendet  sich  K.  S.  43 
gegen  die  in  Met.  1025  a  9  enthaltene  Bemänglung  der  Ausführungen 
des  Hp  II,  die  auch  Eckert  zurückweist.  Aber  ob  er  Recht  hat 
mit  seiner  Erklärung?  Aristoteles,  meint  er,  der  in  den  voraus- 
gehenden Ausführungen  ein  so  richtiges  Verständnis  des  Hp  be- 
kundet,   kann   die  fehlgehenden  kritischen  Ausstellungen  nicht  ge- 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    115 

macht  haben.  (S.  46:)  „Den  Fehler,  den  Eckert  herausgefunden, 
hat  Aristoteles  nicht  begangen,  sondern  der  Zusatz  stammt  von 
fremder  Hand."  Und  (S.  47)  wir  „gewinnen  .  .  durch  das  Ver- 
ständnis für  die  eigentlichen  Zwecke  Pl.s  auch  eine  Erkenntnis  für 
die  Kritik  des  Textes  der  überlieferten  aristotelischen  Metaphysik 
und  eine  unabweisbare  Athetese  nicht  der  ganzen  über  den  Hippias- 
dialog  handelnden  Stelle ,  sondern  nur  eines  unorganisch  mit  ihr 
verbundenen  Adnexes".  —  S.  49  f.  bespricht  K.  meine  eigenen 
Darlegungen,  die,  wie  er  selber  findet,  „im  Resultate"  den  seinigen 
nahekommen  —  ich  glaube :  wirklich  noch  näher ,  als  er  selber 
meint  — ;  dann  setzt  er  sich  noch  einmal  kurz  mit  Bonhöffer, 
Gomperz,  Natorp,  Zeller  auseinander. 

Auf  den  letzten  10  Seiten  ent^vickelt  er  folgendes:  „'Wir 
haben',  sagt  Hoffmann  ^),  'ein  logisch-ethisches  Übungsstück  vor  uns, 
wie  PI.  es  öfters  seinen  Schülern  vorlegte ,  um  sie  zum  Selbst- 
denken zu  veranlassen.  Die  logischen  Fehler ,  die  zu  einer  ver- 
kehrten ethischen  Ansicht  führen,  müssen  aufgefunden  werden.' 
Ich  stimme  mit  dieser  Grundauffassung  Hoffmanns  überein ,  wenn 
ich  auch  seine  Analyse  in  allen  Punkten  für  verfehlt  erklären  mußte. 
Der  Dialog  will  zunächst  zeigen,  wie  wichtig  die  Nominaldefinition 
für  die  wissenschaftliche  Forschung  ist.  Wer  über  il'evdTJg  und 
aXrjd^r^g  Aussagen  machen  will,  hat  sich  zuerst  über  den  Sinn  der 
Worte  klar  zu  werden  .  .  Und  der  Dialog  wül  ferner  zeigen,  wie 
wichtig  es  ist,  die  Bedeutungen  des  Wortes  'Vermögen'  auseinander- 
zuhalten, .  .  und  wie  durch  Vermengung  dieser  Bedeutungen  die 
Ethik  in  ihren  Fundamenten  bedroht  zu  werden  scheint.  Der  Dialog 
demonstriert  aber  nicht  nur  die  Gefährlichkeit  der  Äquivokation 
und  die  Wichtigkeit  der  Definition,  er  zeigt  auch  die  Verwendung 
der  Induktion.  Der  Dialog  bietet  aber  noch  mehr.  Er  geht  von 
der  Induktion  zur  Deduktion,  zur  Folgerung,  insbesondere  zur 
conversio  simplex  über ,  die  an  mehreren  Beispielen  geübt  wird 
und  deren  Berechtigung  zu  prüfen  eine  der  Aufgaben  ist,  die  PI. 
an  seine  Leser  stellt^).  Der  Dialog  setzt  nicht  nur  diese  logische 
Lehrtendenz  seines  Verfassers,  sondern  auch  eine  gefestete  ethische 


1)  S.  unten  S.  117. 

2)  Gegenüber  diesen  vielen  logisch  bedeutsamen  Punkten  befremdet 
der  Satz  Lutoslawskis  (Plato's  Logic  S.  75  A.):  „Dialogues  .  ,  of  no  logical 
importance  (Hp  11,  So,  Mx,  Ly)  are  omitted",  und  (S.  194)  wir  müssen, 
8o  lange  sie  nicht  mit  sprachlichen  Mitteln  in  die  chronologische  Reihe 
eingefügt  sind,  „abstain  from  all  attempt  to  fix  this  order  from  the  few 
logical  hints  which  thev  contain". 

8* 


XIQ  Constantin  Ritter. 

Lehre  ^■ol•aus ,  die  keine  andere  ist  als  der  bekannte  'intellektua- 
listische  Determinismus'  Pl.s  ...  Er  ist  nicht  nur  ein  'logisches 
Yademecum',  wie  Apelt  den  Hp  I  nennt,  sondern  auch  ein  ethisches. 
Endlich  zeigt  er  die  metaphysisch  belangreiche  Lehre  über  die 
verschiedenen  Vermögen  bereits  ausgebildet.  Ein  nicht  unreifer 
Denker"  —  NB!  —  »und  ein  nicht  unerfahrener  Lehrer  hat  —  wenn 
mich  nicht  alles  täuscht  —  diesen  Dialog  geschrieben."  .  .  . 

(S.  55:)  ,.In  einer  wertvollen  Abhandlung  hat  Hambruch  den 
Versuch  gemacht,  den  in  der  aristotelischen  Topik  niedergelegten 
Schatz  für  die  Erkenntnis  der  Lehrweise  Pl.s  nutzbar  zu  machen, 
über  die,  wie  Döring  bemei'kt,  so  gut  wie  gar  nichts  bekannt  ist  .  . 
Der  Grundstock  der  dialektischen  Regeln,  so  führt  H.  .  .  aus,  stammt 
von  PI.  selber  und  'wurde  im  Anschluß  an  die  Praxis  der  Schul- 
disputationen und  in  sorgfältigster  Benutzung  der  in  Pl.s  Schriften 
gegebenen  Anregungen  weiter  ausgebaut' .  .  .  Die  Darlegungen  H.s 
erhalten  durch  unsere  eine  Stütze,  wie  andererseits  durch  die  Schrift 
H.s  unsere  Auffassung  gestützt  wird,  derzufolge  der  Hp  II  sowohl 
für  das  Lexikon  der  Aquivokationen  als  auch  für  die  Topik  mitbenutzt 
worden  ist  .  .  H.  Maier  .  .  hat  schon  vor  H.  bemerkt,  es  sei  an- 
zunehmen, 'daß  Aristot.  viel  von  PI.  gelernt  hat,  daß  er  nicht  wenige 
seiner  Regeln  aus  der  Praxis  der  platonischen  Dialoge  abstrahiert 
hat.  Insbesondere  hat  er  ja  zweifellos  beim  jtelQav  ?Mf.ißdveii'  den 
piaton.  Sokr.  zum  Muster  genommen'.  Für  diese  Behauptung  bietet 
der  Hp  II  einen  schlagenden  Beleg.  Denn  nach  unserer  Über- 
zeugung ist  dieser  Dialog  das  tyjjische  Exemplar  einer  peirastischen 
Unterredung,  die  PL  unter  Benutzung  eines  sokratischen  Gespräches 
zum  Zwecke  der  Abstraktion  dialektischer  und  logischer  Regeln 
und  ethischer  Wahrheiten  verfaßt  hat"  .  .  .  (57:)  „Für  die  Durch- 
arbeitung in  der  Akademie  selbst  war  das  Werk  zunächst  bestimmt, 
zur  Erörterung  im  philosophischen  Seminar  des  Meisters  5  dieser 
selbst  drückte  den  Schülern  den  Ariadnefaden  in  die  Hand ,  der 
sie  aus  dem  Irrgarten  herauszuführen  bestimmt  war;  und  nur  wer 
den  verloreneu  wiederfindet  —  in  den  Sammlungen  seines  größten 
Schülers  etwa  — ,  kann  auch  dem  heutigen  Leser  gleiche  Dienste 
leisten.'"  (60  f. :)  „Was  den  Pieberzustand  anlangt,  in  dem  sich 
Sokr.  augeblich  befindet,  sein  'ruheloses  Hin-  und  Herschwanken', 
von  dem  Pfleiderer  spricht,  so  glaube  ich:  den  eigenen  Zustand  hat 
PI.  hiemit  nicht  geschildert.  Denn  das  Gespräch  zeugt  vielmehr 
in  seiner  'auf  das  Schlußergebnis  sicher  zusteuernden  Führung', 
die  Gomperz  ebenso  richtig  hervorhebt,  wie  die  Anmut  und  Würze 
eingestreuter  Zwischenspiele,   von  der  olympischen  Ruhe  des  Ver- 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    U  7 

fassers.  Von  einem  geradezu  'übermütigen  Tone'  zu  sprechen,  wie 
das  Ritter  tut,  oder  mit  Apelt  von  einer  Ironie,  die  es  doch  etwas 
zu  bunt  und  toll  getrieben  habe ,  oder  gar  mit  Eckert  das  Ganze 
als  ein  bloßes  dialektisches  Spiel  aufzufassen ,  sehe  ich  freilich 
keinen  Grund.  Die  maßlose  Eitelkeit  des  Sophisten  trägt  ihren  Teil 
davon.  Daß  aber  PI.  hier  den  Tausendkünstler  historisch  treu  dar- 
stellt ,  daran  zu  zweifeln  haben  wir  keinen  Anlaß  .  .  Ritter  findet 
es  nnglaublich,  daß  ein  so  lustiger  Dialog  von  PI.  nach  dem  Tode 
des  Sokr.  könne  geschrieben  worden  sein.  Ich  gebe  zu :  nicht 
unmittelbar  nach  seinem  Tode.  Aber  ich  habe  der  Überzeugung 
Ausdruck  gegeben,  daß  er  ein  auf  alten  Notizen  beruhendes  Werk 
des  Akademievorstandes  PI.  ist  ^),  und  ich  glaube,  daß  PI.  auch  nach 
dem  Tode  des  Sokr.  das  Lächeln  und  wohl  auch  das  Lachen  wieder 
gelernt  haben  muß  .  .  (62)  Die  Annahme ,  auch  Schwierigkeiten 
ethischer  Natur  könnten  Anlaß  geboten  haben ,  sie  in  Form  eines 
Dialoges  —  der  dabei  seinen  peirastischen  Chai'akter  durchaus 
wahren  konnte  —  der  Ofi'entlichkeit  vorzulegen  .  .  scheint  .  .  um 
so  weniger  von  vornherein  verwerflich,  als  ja  der  historische  Sokr. 
auch  dort ,  wo  er  peirastisch  verfuhr ,  seine  Unwissenheit  betonte 
und  nicht  selten  'aufrichtig',  nicht  bloß  ironisch  meinte.  Dennoch 
wird  wohl  unsere  Hypothese  mit  dieser  erfolgreich  konkurrieren 
können.  Denn  alles  deutet  darauf  hin ,  daß  es  sich  weniger  um 
Aporien  handelt,  die  dem  jungen  PL  zur  Qual  geworden  sind,  als 
um  solche,  mit  denen  er  seinen  lernbegierigen  Schülern  harte  Nüsse 
zu  knacken  gab  und  die  noch  heute,  wie  Bruns  bemerkt,  manchem 
Leser  Unbehagen  verursachen." 

Alles  ist  wohldurchdacht  und  mit  Geschick  vorgetragen.  Ich 
selber  bin  längst  von  der  Meinung  abgekommen,  daß  der  Eus,  Cra 
und  Mx  mit  ihrem  derben  Spott  vor  Sokr.'  Tod  verfaßt  sein  müßten. 
Allein  den  Hp  II  etwa  so  weit  wie  diese  Schriften  abzurücken  von 
dem  tragischen  Ereignis,  durch  das  PI.  aufs  tiefste  erschüttert  worden 
ist,  —  das  scheint  mir  trotz  v.  Arnim ,  auf  den  sich  K.  S.  59  A. 
beruft,   durch  den  sprachlichen  Befund  als  unmöglich  erwiesen. 

Als  Probe  aus  Hoffmanns  Behandlung  soll  dienen  (S.  281  f.): 


^)  Die  hier  vorgetragene  Annahme  erinnert  mich  an  Quintilian  Inst, 
or.  pr.  7:  .,duo  .  .  sub  nomine  meo  libri  ferebantur  .  .  neque  editi  a  me 
neque  in  hoc  comparati.  namque  alterum  sermonem  .  .  pueri,  quibus  id 
praestabatur,  exceperant,  alterum  .  .  quantum  notando  consequi  potuerant 
interceptum  boni  iuvenes,  sed  nimium  amantes  mei,  temerario  editionis 
honore  vulgaverant."  Sie  kann  damit  vielleicht  noch  gestützt  werden. 
Vgl.  auch  Pa  28 de. 


118  Constantiu  Ritter. 

„Wir  haben  ein  logisch-ethisches  Übungsstück  vor  uns  usw.  (s.  oben 
S.  115).  Da  ist  zunächst  jener  Trugschluß,  daß  der  Wahrhafte 
und  der  Lügner  eigentHch  derselbe  sei  (69  b).  Er  ist  dadurch 
entstanden,  daß  das  Urteil  der  Möglichkeit,  der  Wissende  könne 
sowohl  lügen  als  die  Wahrheit  sagen,  als  Urteil  der  Wii'klichkeit 
genommen  und  dann  umgekehrt  worden  ist,  das  Prädikat  zum  Sub- 
jekt gemacht:  der  Lügner  und  der  Wahrhafte  ist  derselbe,  näm- 
lich der  Wissende.  Solche  Veränderung  verbietet  die  Aristotelische 
Logik,  die  aus  Pl.s  Schule  stammt." 


An  neueren  erklärenden  Sonderausgaben  des  Ladies  (La)  finde 
ich  bei  Frachter  verzeichnet  die  von  Bertram -Nusser,  Gotha  1903, 
und  von  A.  v.  Bamberg,  Bielef./Leipzig  1903  (zusammen  mit  Eu)- 
von  Cron,  5.  Aufl. ;  behandelt  ist  er  von  M.  Hoifmann  in  der  Ztschr. 
f.  d.  Gymn.  Wf.  1903  S.  525—532,  von  Eäder  S.  95—97,  Gomperz 
S.  241—44,  Pohleuz  S.  23—39,  Arnim  S.  24—34  u.  94—97,  Ritter 
S.  284—97,  Wüamowitz  S.  181—84,  Prächter  S.  244  f.,  Windel- 
band-Bonhöffer  S.  145  f.,  Horneffer  a.  a.  0.  S.  30—51. 

Ich  gehe  diesmal  aus  von  Wilamowitz.  Dieser  nimmt  den 
La  in  Kapitel  7  zusammen  mit  einer  Anzahl  von  Schriften,  die  nach 
seiner  Überzeugung  der  Rechtfertigung  des  vom  Volk  verdammten 
Sokr.  dienen  sollen.  Unmittelbar  vorausgehen  läßt  er  jenem  Ap 
und  Cr,  nachfolgen  Ly,  Ch,  Eu.  Es  ergab  sich  bei  der  Absicht 
der  Verteidigung  von  selbst,  „daß  Sokr.  im  Verkehr  mit  jung  und 
alt  vorgeführt  werden  mußte ,  um  die  Vorwürfe  der  Anklage  zu 
entkräften  und  seine  Unsträflichkeit  nicht  nur ,  sondern  seinen 
fördernden  Einfluß  auf  alle  andern  ins  Licht  zu  setzen".  Auffallend 
ist  dabei,  daß  PI.  es  durchaus  vermieden  hat,  seinen  Meister  auch 
„mit  den  Handwerkern  zusammenzubringen ,  die  er  doch  immer  in 
seinen  Reden  heranzieht",  wie  auch  die  Ap  des  Verkehrs  mit  ihnen 
gedenkt.  Wir  finden  bei  PI.  „nur  die  Gesellschaft,  der  er  selbst 
angehörte.  Am  deutlichsten  ist  die  Absicht,  Sokr.  gesellschaftlich 
und  persönlich  zu  heben  ,  im  La  .  .  Hier  erscheint  er  neben  den 
ersten  Feldherren  Athens,  Nikias  und  Laches,  und  wenn  die  Söhne 
der  berühmten  Parteiführer  Aristeides  und  Thukydides ,  Melesias' 
Sohn,  auch  selbst  nichts  weiter  als  dies  sind,  so  gehören  sie  doch 
eben  zu  der  vornehmsten  Schicht,  und  es  will  etwas  besagen,  daß 
sie  dem  Vater  des  Sokr.  aus  eigener  Erinnerung  ein  lobendes  Zeugnis 
ausstellen  (81a)".  Wir  lernen  Sokr.  kennen  als  „den  tapferen,  den 
tugendhaften,  den  rechten  Jugendlehrer.  Wenn  eins,  ist  klar,  daß 
dies  Buch  zu  seiner  Verteidigung,  seiner  Rehabilitierung,  geschrieben 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.     1 1 9 

ist".  Ebenso  die  anderen,  in  denen  Sokr.  als  Träger  einer  der 
Kardinaltugenden  erscheint ,  deren  Verknüpfung  in  seiner  Person 
hergestellt  ist.  „Schriftstellerisch  wird  .  .  der  La  an  den  Pr  ge- 
knüpft, dessen  Aufstellungen  PI.  berichtigen  will." 

Von  Pohlenz  haben  wir  schon  gesehen,  daß  er  sich  den 
La  gleichfalls  erst  nach  dem  Tode  des  Sokr.  geschrieben  denkt. 
Er  ^)  ist  ihm  „das  schönste  Zeichen  für  die  Pietät  Pl.s ,  der  in 
Fortsetzung  der  Ap  das  Bild  des  Meisters  von  allen  Schlacken 
reinigen  will".  Wir  sehen  PI.  übrigens  „bei  dem  Versuch,  aus  der 
Lehre  des  Meisters  neue  Probleme  zu  gewinnen  und  sie  weiter  zu 
bilden".  Zwar  die  Definition  der  Tapferkeit  als  eniGxr^ui]  deivcov 
y.ai  f.irj  deivtdv  dürfen  wir  gegen  Joel,  der  sie  dem  Antisthenes  zu- 
eignen wollte,  nach  94  c  ruhig  als  sola-atisch  hinnehmen.  „Dagegen 
spricht  nichts  dafür ,  daß  Soki-,  selber  die  Konsequenzen  gezogen 
und  das  Problem  der  Einheitlichkeit  der  Tugend  so  formuliert  hat, 
wie  es  bei  PI.  geschieht,  und  wir  werden  hier  Pl.s  eigene  Hand 
um  so  Heber  sehen ,  weil  er  jenes  Problem  selber  dann  in  einem 
anderen  Dialoge  -)  in  Angriff  genommen  hat.  Man  wird  sich  fragen, 
ob  PI.  an  dieser  Weiterbildung  bei  Sokr.'  Lebzeiten  sich  versucht 
hat."  Auch  andere  Stellen  erregen  Bedenken,  wenn  man  sie  vor 
399  geschrieben  denkt.  86  b  erklärt  Sokr. :  „Solange  wir  uns  nicht 
als  Erzieher  schon  bewährt  haben,  solange  v/ir  nicht  die  Sicherheit 
haben,  guten  Einfluß  üben  zu  können ,  so  lange  wollen  wir  lieber 
zurückhalten  y.al  f.(ij  ev  ixaiQiov  avÖQcov  vtoiv  '/.irSirsieiv  diaq>d^ei- 
Qovrag  tyjv  fjeyiavrjV  alxiav  tyuv  vtco  xdv  oh^uoxäxLov  (86  b).'" 
„Wann  hat  PI.  diese  Worte  geschrieben?"  fragt  P.  „Ist  wohl  an- 
zunehmen, daß  ihm,  sagen  wir  im  Jahre  402,  der  Gedanke  kam, 
Sokr.  könne  beschuldigt  werden,  die  Söhne  seiner  Freunde  verführt 
zu  haben,  und  sollte  er  zufällig  den  Gedanken  mit  dem  Worte  aus- 
gedrückt haben,  das  später  die  Ankläger  brauchten,  Sokr.  zu  ver- 
derben? Nein,  die  Worte  sind  geschrieben,  als  tatsächlich  Meletos 
Sokr.  das  öiarfd^eigeiv  rovg  vlovg  schuld  gegeben  hatte.  Sie  sind 
geschrieben ,  als  der  platonische  Sokr.  bei  seiner  Verteidigung  als 
letztes  und  wichtigstes  Argument  das  Verhalten  der  Angehörigen 
seiner  Schüler  angefühi-t  hatte."  —  Ferner  findet  es  P.  auffallend, 
wie  ausführlich  86  äff.  „das  Motiv  der  Menschenprüfung  durch 
Sokr."  behandelt  wird,  da  PI.  es  doch  für  seinen  Hauptzweck  nicht 
notwendig   braucht.     „Die   Antwort    ero-ibt    sich ,    wenn   wir   daran 


^)  Den  „heute  wohl  niemand  mehr  für  unecht  hält''. 
^)  Gemeint  ist  der  Pr. 


;120  Constantin  Ritter, 

denken ,  daß  dieselbe  i^eraaig  in  der  Ap  eine  große  Rolle  spielt. 
Dort  gibt  .  .  der  ganze  erste  Abschnitt  den  Nachweis,  daß  diese 
l^etaaig  es  gewesen  ist,  die  ihm  Haß  und  Feindschaft  zugezogen  und 
schließlich  seine  Verurteilung  bewirkt  hat.  Hier  erhalten  wir  das 
freundliche  Gegenbild  der  Männer,  die  sich  diese  Prüfung  gern  ge- 
fallen lassen,  weil  sie  wnssen,  daß  Sokr.  nur  ihr  Bestes  will  und 
jene  Prüfung  nur  zu  nötig  ist.  Wieder  ruft  PI.  seinen  Lesern  zu : 
'So  handelten  die  von  euch  so  hoch  geachteten  Männer  der  letzten 
Generation,  und  ihr  — ?'  Wieder  ist  die  Tendenz  des  Abschnitts 
nur  verständlich,  wenn  der  La  auf  die  Ap  folgt  und  der  Recht- 
fertigung des  Verstorbenen  dient."  Und  „Wer  den  La  vor  399 
verfaßt  sein  läßt,  muß  PI.  die  Geschmacklosigkeit  zutrauen,  daß  er 
als  Schüler  es  für  richtig  hält,  seinen  Lehrer  als  geeignetsten  Er- 
zieher zu  empfehlen." 

Einige  Zwischenzeit  müßte  ja  auch  nach  P.s  Empfinden  zwischen 
dem  Ereignis  von  399  und  der  Abfassung  des  La  verflossen  sein. 
Denn  die  ruhige  Objektivität  der  Personenzeichnung  und  eine  ge- 
wisse schalkhafte  Munterkeit  sind  nicht  zu  verkennen.  „  Wer  so 
zu  schaffen  vermag,  des  Herz  ist  jedenfalls  nicht  mehr  ausschließ- 
lich von  Grimm  und  Schmerz  erfüllt.  Die  sonnige  Heiterkeit,  die 
das  Leben  des  Meisters  auch  in  den  ernstesten  Stunden  verklärte, 
die  ihn  auch  im  Kerker  als  Sieger,  als  Schützling  der  Götter,  als 
evdaif.nov  erscheinen  ließ ,  sie  ist  im  Jünger  zu  neuem  Leben  er- 
wacht"  (S.  39). 

Es  ist  wirklich  Gefühls-  und  Geschmackssache ,  ob  man  an- 
nehme, daß  solche  „sonnige  Heiterkeit"  bald  nach  der  Hinrichtung 
des  unschuldig  verurteilten  Meisters  im  Gemüt  seines  treuen  Jüngers 
sich  ausbreiten  konnte.  Ich  bin  darüber  anderer  Meinung  als  P. 
und  auch  als  Wilamowitz.  So  leidenschaftlos  und  ruhig  kann  ich 
mir  den  jungen  PI.  nicht  vorstellen.  Und  die  Bedenken,  die  P. 
äußert,  scheinen  mir  dem  gegenüber  von  geringem  Gewicht.  Der 
Frage,  ob  PI.  wohl  bei  Sokr.'  Lebzeiten  versucht  habe,  „aus  der 
Lehre  des  Meisters  neue  Probleme  zu  gewinnen  und  sie  weiter  zu 
bilden",  stelle  ich  auch  eine  Frage  gegenüber:  Warum  denn  nicht? 
Zu  86  b  erinnere  ich,  daß  Sokr.  doch  immer  (auch  nach  Xenophon) 
bei  jeder  Gelegenheit  betont  hat,  die  Aufgabe  des  Jugenderziehers 
sei  viel  schwieriger  und  verantwortungsvoller,  als  die  Leute  denken; 
weder  die  gewöhnlichen  Lehrer,  die  Sophisten,  noch  die  Eltern, 
die  diesen  ihre  Söhne  anvertrauen ,  pflegen  sich  klarzumachen, 
um  was  es  sich  eigentlich  dabei  handle.  Es  ist  nicht  einzusehen, 
warum  Ausführungen  darüber,    die  der  La  und  der  Pr  gibt,    nicht 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    121 

sollten  zu  einer  Zeit  niedergeschrieben  sein ,  da  noch  auf  Sokr, 
aufmerksam  gemacht  werden  konnte  als  den  einzigen  Mann,  dessen 
Umgang  den  jungen  Leuten  mit  bestem  Gewissen  empfohlen  werden 
könne.  Und  gar  daß  es  eine  „Geschmacklosigkeit"  wäre,  wenn  der 
begeisterte  Jüngling ,  der  in  diesem  Umgang  mit  Sokr.  gefunden 
was  er  überall  sonst  vergebens  suchte,  auf  diesen  hinwiese?  Offenbar 
hat  P.  selber  nie  für  einen  Lehrer  geschwärmt,  sonst  könnte  er  so 
etwas  nicht  behaupten.  (Für  recht  beachtenswert  auch  heute  noch 
halte  ich,  was  K.  F.  Hermann,  Gesch.  u.  Syst.  d.  plat.  Ph.  S.  451 
gesagt  hat.)  Und  wieder,  daß  es  befremdlich  sein  solle,  wenn  die 
i^haaig  eingehend  geschildert  wird  in  einem  der  Ap  voraus- 
gehenden Dialog?  Als  ob  diese  nicht  eine  der  hervorstechendsten 
Eigenheiten  im  alltäglichen  Gebaren  des  Sokr.  gewesen  wäre.  Oder 
das  Zusammentreffen  des  Ausdrucks  dinfpd^eloeiv  mit  dem  von  den 
Anklägern  gebrauchten?  Dieser  Ausdruck  war  nun  eben  einmal 
der  übliche  und  nächstliegende.  Nicht  bloß  als  eitler  Schwätzer, 
als  ctöo'kioyrc,  sondern  auch  als  „Jugend verderber"  ist  Sokr.  gewß 
Jahrzehnte  vor  seiner  Anklage  oft  gescholten  worden  von  all  den 
Leuten,  die  sich  über  seine  l^txaaig  und  die  Anregung,  die  er 
den  jungen  Leuten  zur  Kritik  gab,  ärgerten,  ebenso  wie  Anytos  im 
Me  91c  die  Sophisten  schilt  als  eine  (paveoa  Aoj.'?/;  t£  /.ni  öiarpd^oqa 
xiüv  avyyiyvofuvwv.  Also  auch  hier  ist  kein  Anlaß  zum  Verwundern, 
und  da  öiafpdeiQEiv  entschieden  gebräuchlicher  ist  als  Xcißaai^ai, 
so  darf  man  keine  Anspielung  auf  die  Anklageschrift  wittern,  wo 
eben  zur  Bezeichnung  des  oft  erhobenen  Vorwurfs  dasselbe  Wort 
gewählt  wird,  dessen  jene  sich  bedient^). 

Gomperz  entnehme  ich  die  wertvollen  Bemerkungen:  „Das 
Verhältnis  der  Einzeltugenden  zu  der  ihren  Wesensgrund  aus- 
machenden Einsicht  galt  PI.  als  ein  Problem,  das  sein  Nachdenken 
noch  lange  beschäftigt  und  das  er  erst  in  der  Rp  endgültig  zu 
lösen  vermocht  hat.  Auch  hier  bereits  erschöpft  sich  ihm  der 
Begriff  der  Tapferkeit  nicht  in  der  Betätigung  der  Einsicht  gegen- 
über   von    Lebensübeln.     Darauf   deutet    die    beiläufige    Erinnerung 


')  Auch  einen  Gedanken,  der  sich  mir  immer  aufdrängt,  möchte  ich 
hier  laut  werden  lassen:  falls  es  geschichtliche  Tatsache  ist,  was  Xeno- 
phon  Mem.  1,  2,  olff.  erzählt,  daß  Kritias  dem  Sokrates  untersagen  wollte, 
mit  jungen  Leuten  Unterredung  zu  pflegen,  so  sollte  es  mich  wundern, 
wenn  Piaton  das  ohne  Gegenerklärung  hätte  hingehen  lassen.  Ist  nicht 
der  La  diese  Gegenerklärung?  Damit  wäre  in  der  Tat  Wilamowitzens 
Urteil  bestätigt  (vgl.  oben  S.  119),  daß  die  Schrift  zur  „Verteidigung",  ja 
meinthalb  zur  „Rehabilitierung"  des  Sokr.  geschrieben  sei. 


122  CoDstantin  Ritter. 

an  'Lüste   und  Begierden'  hin ,    die    in    der  Lösung    des    Problems 
gleichfalls  eine  Stelle  finden.    Ob  PI.  diese,  als  er  den  La  schrieb, 
schon  gewonnen  hatte  und  nur  zurückbehielt,    oder  ob  er  mit  den 
Schwierigkeiten  des  Problems  noch  rang,  kann  zweifelhaft  scheinen; 
doch    ist    die    letztere   Voraussetzung    die    wahrscheinlichere."    .  .  . 
„Nicht  die  Größe  der  Gefahr  und  nicht  die  Kleinheit  der  zu  ihrer 
Abwehr    verfügbaren   Mittel    .  .  .    soll    den   richtigen   Maßstab    der 
Tapferkeit    abgeben.      Von    den    zwei    beispielsweise    namhaft    ge- 
machten Kriegern ,    die    ihre  Position    mit   gleicher    Standhaftigkeit 
verteidigen,  gebührt  der  Preis  der  Tapferkeit  nicht  notwendig  dem- 
jenigen ,    dessen  Lage    die    ungünstigere    ist.      Denn  da  Tapferkeit 
nichts  anderes  ist  als  die  vorzugsweise  drohenden  Übeln  gegenüber 
betätigte    Einsicht    in    das    Wertverhältnis    von    Lebensgütern ,    so 
kommt  jener   Preis    nur   dem    zu,    der    diese  Einsicht  in  vollstän- 
digerem Maße    besitzt-,    unter    Kriegern    z.  B.  (so    dürfen    wir  Pl.s 
Andeutungen  ergänzen)  jenem,  der  die  klarere  und  sicherere  Über- 
zeugung  hegt,    daß    der  Tod    einem    ehrlosen  Leben,    der  eigenen 
Knechtschaft  oder  der  Erniedrigung  des  Vaterlandes  vorzuziehen  sei." 
Auch    aus    V.  Arnim    will    ich    noch    einige    Sätze    ausziehen 
(S.  95  ff.):   „Sokr.  selbst  bekennt,  daß  er  die  geforderte  Qualifikation 
in    der  Erziehungswissenschaft,    trotz    seiner  Bemühungen   um  sie, 
bisher   nicht    besitze ,    und  dasselbe  müssen  auch  die  beiden  Feld- 
herren   bekennen.     Diese    Wissenschaft    existiert    eben    noch    gar 
nicht;    sie    muß    erst    geschaffen    werden.      Der    Ausdruck    ijivyijV 
'dsganevaat     war    uns     auch    schon    im    Pr    12  b    begegnet.      Die 
Wissenschaft    von    der  Seelenbildung    erscheint   hier    zunächst   nur 
als  das  Vermögen,  über  den  erzieherischen  Wert  der  verschiedenen 
fachlichen  Lehrgegenstände  zu  urteilen.     Li  Wahrheit   aber  ist  sie 
nach  Pl.s  Meinung    von  jener  höchsten  Wissenschaft ,    auf  der  die 
Tugend  des  einzelnen  und  die  AVolilordnung  von  Staat  und  Gesell- 
schaft   beruhen    müßten,    nicht    zu    trennen.     So    müssen    wir  ver- 
stehen, wenn  es  auch  hier  nicht  ausdrücklich  ausgesprochen  wird. 
Denn   ^ivyj^v   ifEga^reveiv   bedeutet:    die    Seele    gut   machen.     Das 
kann  aber  nur  wer  die  Wissenschaft  vom  Guten  hat,   von  welcher 
die  Lehre  von  der  Güte  der  Seele  einen  unabtrennbaren  Teil  bildet. 
Wer  aber  dieses  Wissen  besitzt,  der  ist  selbst  gut  und  besitzt  die 
Tugend    und    vermag     dieses    Wissen    und    diese    Tugend    seinen 
Schülern  durch  Lehre  mitzuteilen."  —  Wenn  man  den  Pr  und  den 
La  zusammen  nimmt,    so  kann   man    „aus    diesen  beiden  Dialogen 
entnehmen,    daß    für  jede    xeyvr^  erforderlich  ist:    1.  Kenntnis  des 
Wesens,  dem  die  rlyvr^  nützen  soll  (im  Fall  der  Erziehungswissen- 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    123 

Schaft:  der  Seele),  ...  2.  Kenntnis  der  Form  und  Beschalfenheit, 
die  dem  betreffenden  Wesen,  um  ihm  zu  nützen,  mitgeteilt  werden 
soll,  3.  Kenntnis  der  Methode ,  mittels  welcher  die  Übertragung 
dieser  Torrn  und  Beschaffenheit  auf  das  zu  verbessernde  Wesen 
am  leichtesten  und  besten  erfolgen  kann  [tug  äv  rig  avvb  Qaara  y.al 
aqiora  y.T/^aaiTo) .  .  .  4.  Kenntnis  des  Vorteils,  der  dem  verbesserten 
Wesen  durch  die  Verbesserung  zuteil  werden  soll." 

Von  der  Unsicherheit  des  zwischen  La  und  Pr  bestehenden 
Zeitverhältnisses  war  schon  oben  die  Rede.  Eins  sei  noch  nach- 
getragen. Zu  den  Gründen,  die  v.  Arnim  für  die  Priorität  des  Pr 
geltend  macht,  gehört  der,  daß  die  soki-atische  Definition  der 
Tapferkeit  von  Nikias  ohne  Begründung  eingeführt  werde.  Er 
bemerkt  dazu,  (S.  25) :  „Niemals  nimmt  PI.  sonst  ein  sokratisches 
Dogma  zum  Ausgangspunkt  der  Untersuchung,  als  ob  es  für  wahr 
gelten  müßte,  wenn  es  nicht  widerlegt  wird."  Das  ist  richtig. 
Aber  wenn  der  La  eine  der  frühesten  Schriften  ist,  wenn  er  gar,  wie 
mir  wahrscheinlich  ist ,  (nach  dem  nicht  zur  Veröffentlichung  be- 
stimmten Hp  II)  der  erste  von  PI.  verfaßte  Dialog  sein  sollte, 
dann  dürfte  ein  gewisser  methodischer  Mangel  desselben  nicht 
stark  betont  werden. 

Windelband-Bonhöffer  schreibt  u.  a.  (S.  146):  Schon 
in  dem  La  „treten  dem  PI.  .  .  .  die  zwei  ethischen  Probleme  ent- 
gegen, die  ihn  sein  ganzes  Leben  lang  beschäftigt  haben,  nämlich 
inwiefern  es  auch  eine  natürliche,  nicht  auf  Erkenntnis,  sondern 
auf  Instinkt  und  Anlage  beruhende  Tugend  geben  könne  und  wie, 
falls  die  Tugend  Wissen  ist,  die  einzelnen  Tugenden  voneinander 
zu  unterscheiden  sind.  —  So  wenig  aber  die  Untersuchung  an- 
scheinend zu  einem  Ziel  gelangt ,  so  wenig  ist  dieselbe  nach  Pl.s 
Sinn  wirklich  ergebnislos :  vielmehr  blickt  ganz  deutlich  als  seine 
wahre  Meinung  durch,  daß  die  Tapferkeit  allerdings  auf  Erkenntnis 
beruht,  aber  nicht  auf  der  technischen  Erkenntnis,  ob  etwas  dem 
äußern  Wohl  gefährlich  ist,  sondern  auf  der  sittlichen  Erkenntnis, 
daß,  wo  es  sich  um  eine  Pflicht  oder  um  die  Reinhaltung  der 
Seele  handelt,  es  gar  kein  öeivov  gibt,  das  davon  abschrecken 
könnte.  Darum  kann  Tapferkeit  und  jede  andere  Tugend  nur  der- 
jenige beibringen,  der  Texvi/.og  tteqI  i/'i^/Jg  dEQaneiav  ist  (85 e), 
—  eine  Aufgabe ,  die  sich  PI.  in  seinem  ganzen  Wirken  und 
Schaffen  bis  zu  den  N  hinaus  gestellt  hat." 

„Wenn  ii-gendein  platonischer  Dialog  noch  zu  Lebzeiten  des 
Sokr.  verfaßt  wurde,  so  ist  dies  der  La,  in  welchem  recht  eigent- 
lich  PL    seinen    von   vielen    noch   nicht   gekannten    oder  in    seiner 


]^24  Constantin  Ritter. 

Bedeutung  noch  kaum  erkannten  Lehrer  einem  weiteren  Publikum 
erstmals  vorstellt,  was  später,  wo  nach  dem  an  ihm  begangenen 
Justizmord  jeder  Gebildete  Stellung  zu  ihm  genommen  haben  mußte, 
kaum  mehr  einen  Sinn  hatte," 

Endlich  einige  Sätze  aus  der  sorgfältigen  Inhaltsdarstellung 
M.  Hoffmanns:  „Nikias  .  .  .  weiß,  daß  Sokr.  keinen,  der  mit 
ihm  in  Berührung  kommt,  losläßt,  ohne  ihn  geprüft  zu  haben,  aber 
er  hat  dies  schon  öfter  durchgemacht  und  will  gern  seine  Einsicht 
vermehren.  Laches,  eine  mehr  praktische  Natur,  stimmt  zu,  indem 
er  versichert,  ihm  sei  es  eine  Freude,  wenn  die  Rede  eines  Mannes 
in  echt  griechischer  Harmonie  mit  seinem  Leben  übereinstimme ; 
er  kenne  zwar  die  Reden  des  Sokr.  nicht,  aber  nach  seinen  Taten 
halte  er  ihn  für  tüchtig  .  .  .  Jenes  Lob  des  harmonischen  Mannes, 
welcher  die  mit  ihm  Verkehrenden  zu  Freunden  der  Untersuchung, 
(fiXöXoyoL,  macht,  klingt  im  Munde  des  Laches  etwas  fremdartig; 
hier  spricht  PI.  selbst  seinem  Lehrer  seine  Verehrung  aus.  Das 
Gespräch  ist  vielleicht  .  .  .  schon  bei  Sokr.'  Lebzeiten  verfaßt."  .  .  . 
„Auf  die  Frage,  was  die  Tapferkeit  sei,  gibt  Laches  zuerst  eine  zu 
enge  Definition ,  indem  er  nur  an  den  Krieg  denkt ,  dann  eine  zu 
weite ;  Sokr.  führt  durch  seine  Einwände  allmählich  auf  das  Richtige 
hin.  Tapferkeit  zeigt  sich  nicht  nur  im  Kriege,  sondern  auch  in 
Seegefahr,  Krankheit,  Armut,  ferner  im  politischen  Leben,  endlich 
in  der  Bekämpfung  der  eigenen  Gefühle  und  Begierden.  Wenn  sie 
nun  aber  als  Beharrlichkeit  der  Seele  in  allen  diesen  verschiedenen 
Lagen  gelten  soll,  so  greift  das  zu  weit;  denn  nicht  immer  ist  die 
Beharrlichkeit  etwas  Schönes ,  was  doch  die  Tapferkeit  sein  muß, 
da  sie  ein  Teil  der  Tugend  ist."   .  .  . 

Horneffer  findet  wie  im  Hp  II  so  auch  im  La  Polemik  des 
Verfassers  gegen  die  sokratische  Gleichsetzung  von  Tugend  und 
Wissen.  Bei  der  Tugend  der  Tapferkeit  scheint  die  Fehlerhaftigkeit 
dieser  Gleichung  besonders  auffallend.  Und  um  sie  zutage  treten 
zu  lassen,  ist  die  ganze  kunstvolle  Komposition  erdacht:  (S.  51) 
„Wenn  die  .Tapferkeit  .  .  ein  Wissen  sein  soll,  so  müßte  sie  vor 
allem  durch  die  Künste  erlernt  und  hervorgerufen  werden,  die  zu 
ihr  am  meisten  Beziehung  zu  haben  scheinen,  wie  die  Fechtkunst  .  . ; 
aber  .  .  jener  Fechtmeister,  dem  die  Gesprächführenden  zugeschaut 
haben,  hat  sich  im  Kampf  traurig  bewährt^).  Sokr.  hingegen,  der 
keine  Schule  zur  Erlernung  der  Tapferkeit  durchgemacht  hat,  hat  .  ., 

')  Aber,  möchte  ich  erinDem:  nicht  feig  hat  er  sich  gezeigt,  sondern 
■ungeschickt.  Und  nicht  um  einfache  kriegsgemäße  Fechtkunst  handelt 
es  sich,  sondern  um  einen  angepriesenen  neuen  Waffensport. 


Ber.  übex-  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PL  erschienenen  Arbeiten.    125 

wie  erzählt  wii'd ,  glänzende  Tapferkeit  gezeigt.  Und  die  Lake- 
dämonier ,  die  eingestandenermaßen  die  .  .  tapfersten  unter  den 
Hellenen  sind ,  lieben  die  Fechtkunst  und  ähnliches  nicht.  Die 
beiden  Feldherren  aber ,  die  offenbar  als  tapfer  gelten ,  sind  ver- 
schiedener Ansicht ,  ob  Fechtenlernen  ^)  zu  empfehlen  oder  nicht 
zu  empfehlen  sei.  Und  beide  wissen,  obgleich  sie  doch  die  Tapfer- 
keit besitzen  -),  sie  nicht  .  .  zu  definieren.  Scheinen  diese  Bilder, 
die  Darstellung  der  Persönlichkeiten ,  die  im  Dialog  vorkommen 
oder  ihn  führen,  nicht  .  .  dasselbe  zu  beweisen,  wie  sein  Inhalt? 
Sind  sie  nicht  alle  greifbare,  lebendige  "Widerlegungen  des  Satzes, 
Tugend  und  in  diesem  Falle  Tapferkeit  ist  Wissen?"  Was  den 
Streit  um  den  Begriff  der  Tapferkeit  betrifft,  so  meint  H.  (S.  43) : 
„Der  Verf.  läßt  Sok.  seine  eigene"  (durch  Nikias  vorgetragene) 
„Lehre  angreifen.  Sokr.  treibt  .  .  den  Nikias  zu  der  bedenklichen 
Behauptung^),  daß  den  Tieren  jede  Tapferkeit  abgehe,  er  treibt 
ihn  zu  spitzfindigen"  (?)  „Unterscheidungen  zwischen  avö^eia  und 
■d^QaaiH]g  .  .  .  Die  Vorwürfe ,  welche  hier  dem  Nikias  gemacht 
werden ,  auch  hinsichtlich  seines  Zusammenhangs  mit  Prodikos, 
gelten,  glaube  ich,  in  Wahrheit  dem  Sokr.  selbst.  Deshalb  ist  der 
Verf.  darauf  bedacht,  die  sachlichen  Einwände  mit  einer  Verbeugung 
vor  der  Persönlichkeit,  gegen  welche  sie  sich  richten,  zu  verbinden." 
Diese  Verbeugung  besteht  in  einer  „Lobpreisung  und  Verherrlichung 
des  Sokr.,  die  sich",  wie  H.  richtig  bemerkt,  „durch  den  ganzen 
Dialog  zieht"  und  wohl  ihren  besonderen  Grund  haben  muß.  Ich 
suche  ihn  nur  in  ganz  anderem,  als  H.  *). 


Cliarmides  (=  Ch)^),  behandelt  von  Eäder  S.  97 — 99,  Gom- 
perz  S.  244—50,  Pfleiderer  S.  136  f.,  Pohlenz  S.  40—57,  v.  Arnim 
S.  109—23,  (127  f.),  Ritter  S.  342—59,  WÜamowitz  S.  188—94, 
197  ff. ,    Frachter    S.    245  f. ,    auch    H.    Maier,    Sokrates    S.    389, 


^)  S.  vorige  Anmerkung. 

2)  Richtiger  wäre:  obgleich  jeder  auf  seine  Art  „tapfer"  idt. 

^)  AV^arum  „bedenklich"?  ich  halte  sie  nicht  bloß  für  sokratisch, 
sondern  für  richtig. 

^)  Der  unglückliche  C4edanke  eines  gegen  Sotr.  polemisierenden  PL 
rührt  von  Joel  her,  der  wo  er  ihn  verwirklicht  finden  kann,  dann  immer 
Bezugnahme  nicht  auf  den  wirklichen,  sondern  auf  einen  von  anderen 
Sokratikern  gezeichneten,  in  der  Regel  einen  antisthenischen  Sokr.  vv^ttert; 
vgl.  z.  B.  D.  echte  u.  d.  xenophont.  Sokr.  II,  1  S.  408  oder  die  am  Schluß 
der  Besprechung  des  Eu  unten  S.  147  angezogenen  Ausführungen. 

^)  Neuere  erklärende  Ausgaben  nach  Prächtcr  von:  Schmelzer  (Berlin, 
Weidmann),  v.  Bamberg  (Bielef.  u.  Leipzig),  Th.  Christ  (Wien). 


12'd  Constaiitin  Kitter. 

Kühnemann,  Grundlekren  der  Philosophie  (Studien  über  Vorsokra- 
tiker,  Sokr.  und  PL)  1899,  S.  257—63,  M.  Hoffmann,  Ztschr.  f. 
Gy.-Ws.  1903,  S.  535  ff.,  Horneffer  a.  a.  0.  S.  52—82 ;  chrono- 
logisch von  H.  Mutschmann,  im  Hermes  1911  (46),  S.  473 — 78. 

Troost,  Inhalt  und  Echtheit  der  platonischen  Dialoge  auf 
Grund  logischer  Analyse,  Berlin  1889  hat,  wie  früher  Ast,  Socher, 
Suckow ,  Schaarschmidt ,  den  Ch  PL  absprechen  wollen.  Damit 
brauchen  wir  uns  zum  Glück  nicht  aufzuhalten. 

Ich  beginne  hier  wieder  mit  dem  Chronologischen. 
Mutschmann  führt  aus:  Es  ist  befremdlich,  daß  PL,  „der  doch 
sonst  die  eigene  Person  so  diskret  in  den  Hintergrund  ti'eten  läßt, 
im  Ch  an  zwei  Stellen  (55  a  und  57dff.)  dem  Sokr.  eine  hohe 
Lobpreisung  seines  Geschlechts  in  den  Mund  legt".  Was  bestimmt 
ihn  dazu  ?  Bedenken  wir ,  daß  der  Ch ,  der  dem  La  gleicht  wie 
ein  Zwillingsbruder  dem  anderen,  jedenfalls  auch  zeitlich  ihm  nahe 
stehen  muß,  und  daß  beide  jedenfalls  der  Jugendperiode  Pl.s  angehören ; 
beachten  wir,  daß  die  Hauptakteure  des  Dialogs  neben  Sokr.  eben 
Charmides  und  Kritias  sind,  die  mit  PL,  wie  auch  Epist.  VII,  24  c  ff. 
zeigt,  nicht  bloß  als  Oheime  durch  Bande  des  Bluts  verbunden  waren. 
„Von  der  tiefen  Verehrung,  die  er  für  sie  hegte,  zeugt  der  warme 
Ton  des  Ch  und  eine  jede  Stelle  seiner  übrigen  Werke ,  an 
der  er  ihrer  Erwähnung  tut."  Sie  sind  beide  im  Frühjahr  403  in 
dem  Verzweiflungskampf  der  Dreißig  gegen  die  siegreichen  Demo- 
kraten gefallen.  „Was  Wunder,  wenn  PL  nach  dem  schweren 
Verlust ,  der  die  Familie ,  die  Partei ,  ja  das  Vaterland  betroffen 
hatte,  sich  entschloß,  den  Vielgeschmähten  ein  Denkmal  zu  setzen. 
Dies  ist  der  Ch,  also  ein  £yx,ojf.iiov ,  oder  besser  ein  ejcirdquog.'^ 
Als  solcher  kann  er  „nur  im  Jahre  403,  höchstens  1  oder  2  Jahre 
später  verfaßt  sein."  Der  La  aber  wird  ihm  kurz  vorausgegangen 
sein.  Dort  hatte  PL  sich  um  eine  Definition  der  avögeia  bemüht, 
„jetzt  schickte  er  sich  an,  die  awcpQOOvvrj  in  gleicher  Weise  zu 
behandeln.  Zu  dieser  Zeit  nun  gerade  wurde  in  ihm  durch  den 
Tod  der  geliebten  Verwandten  der  Wunsch  rege,  ihr  Bild,  so  wie 
es  ihm  vor  der  Seele  stand,  der  Nachwelt  zu  überliefern.  Beide 
Absichten  sind  im  Ch  verwirklicht,  das  persönliche  Motiv  und  das 
sachliche  Interesse  zu  einem  Kunstwerk  voll  höchster  Harmonie 
verschmolzen." 

Zur  Erhöhung  der  Wahrscheinlichkeit  dieser  Vermutung  möchte 
ich  auf  den  Th  hinweisen.  Er  oder  genauer  seine  Einleitung  ist 
doch  wohl  auch  ein  BJiixdq)iog  und  ganz  gewiß  recht  kurze  Zeit  nach 
dem  369  erfolgten  Tod   des  Freundes    niedergeschrieben.     Freilich 


1 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    127 

kann  ich  Pohlenz  nicht  "widersprechen,  der  (S.  45)  betont,  daß 
wir  es  eben  mit  keiner  wü'klichen  Leichenrede  zu  tun  haben,  und 
fragt,  ob  wir  glauben  sollen,  „daß  für  eine  Idealisierung,  wie  sie  Pl.s 
Dialog  bringt,  zehn  Jahre  nach  dem  Tode  des  Charmides  keine  Auf- 
nahmefähigkeit im  Publikum  bestanden  hätte".  Dagegen  wundere  ich 
mich,  wie  P.  fortfahren  mag:  „Tatsächlich  erscheint  es  mir  psycho- 
logisch ganz  undenkbar,  daß  unmittelbar  nach  den  Bluttaten  der 
Dreißig ,  die  PI.  selber  abgestoßen  hatten ,  dieses  liebliche  Bild 
des  jungen  Charmides  entstanden  sein  sollte.  Erst  mußten  die 
Eindrücke  der  letzten  Zeit  beim  Publikum  wie  bei  PI.  selber  etwas 
blassere  Farben  angenommen  haben."  Eine  Seite  vorher  sagt  er 
richtig:  „Im  7.  Brief  spricht  er  noch  mit  Bitterkeit  davon,  wie  sehr 
ihn  das  Treiben  der  Dreißig  .  .  .  empört  hatte  (24de)."  Also  auch 
nach  50  Jahren  waren  die  Eindrücke  jener  Gewaltherrschaft  bei  PI. 
noch  nicht  verblaßt,  und  trotzdem  hat  er  den  Charmides  geliebt.  Auf 
die  Gefühle  des  „Publikums"  aber  hat  er  nie  sonderliche  Rücksicht 
genommen,  am  allerwenigsten  in  der  schäumenden  Jugendzeit. 

Den  Ausdruck,  daß  Ch  der  Zwillingsbruder  des  La  sei  —  er 
rühi't  wohl  von  Natorp  her  (S.  20)  — ,  läßt  P.  als  „vollkommen 
berechtigt"  gelten  (S.  56).  „Schon  das  Thema,  das  Wesen  einer 
Einzeltugend,  und  der  ganze  äußere  Aufbau,  die  Hinlenkung  von 
einer  Einzelheit  auf  den  Kernpunkt,  die  Teilnahme  zweier  Partner  am 
Gespräch,  die  Art,  wie  hier  Charmides,  dort  Nikias  eine  von  einem 
anderen  gehörte  Definition  vorbringt  und  diese  Definition  diskutiert 
wird,  der  Abschluß  des  Gesprächs  durch  das  Anerbieten  der  Teil- 
nehmer, Sokr,  weiter  zu  hören  —  das  alles  weist  auf  engste 
Verwandtschaft  hin.  Dazu  kommen  Einzelheiten,"  Berührungen 
zwischen  La  01b  und  Ch  61a,  von  La  81a  und  Ch  56  a,  La97d 
und  Ch  63  d,  La  94  c  und  Ch  61  b,  La  95  c  und  Ch  64  b,  La95e 
und  Ch  73  c  e.  Ja,  „der  ganze  Abschnitt  des  Ch,  in  dem  wir  diese 
Ausführungen  finden ,  hat  .  .  .  die  Tendenz ,  die  positive  Lösung 
anzudeuten,  daß  die  owcfQOOvviq  mit  dem  Wissen  vom  Guten  und 
Üblen  eng  verwandt,  wenn  nicht  identisch  ist.  Am  besten  aber 
wird  diese  Andeutung  verstehen  wer  die  Lösung  aus  dem  La  kennt. 

Ch  und  La  müssen  annähernd  zur  selben  Zeit  bald  nach 
Sokr.'  Tod  entstanden  sein."  —  Ähnhch  spricht  sich  Natorp  (S.  22) 
aus.  Ich  bin  ganz  einverstanden,  wenn  die  Worte  „bald  nach 
Sokr.'  Tod"  als  zweifelhaft  gestrichen  werden.  Denn  auch  die 
folgende  Betrachtung  (von  S.  56)  reicht  nicht  aus ,  um  sie  zu 
sichern:  „Der  Ch  führt  uns  mitten  hinein  in  Debatten  der  Sokra- 
tiker   über   die  Frage ,    worin   denn    die    Eigenart   des  Sokr.,  seine 


128  Constantin  Ritter. 

IJberlegeulieit  über  die  Mitmeusclieu  besteht  oder  bestanden  hat. 
Unmöglich  können  diese  Debatten  bei  Lebzeiten  des  Meisters  ge- 
führt oder  gar  hterarisch  ausgefochten  sein." 

Wilamowitz  behandelt  nicht  den  Ch  und  La,  sondern  den 
Ch  und  L}^  als  „Zwillingsdialoge",  „in  Aufbau,  Inhalt  und  Tendenz 
ganz  eng  verwandt".  Ähnlich  schon  v.  Arnim,  der  dies  weit  ins 
einzelne  ausführt.  (S.  69  ff. :)  „Der  Ort  ist  beidemal  eine  Palaistra, 
in  der  Jünglinge  und  Knaben  versammelt  sind.  Beidemal  erkundigt 
sich  Sokr.  nach  dem  Schönsten  unter  den  Knaben  und  gewinnt  in 
ihm  einen  Gesprächsteilnehmer.  Beidemal  sucht  Sokr.  auf  diesen 
Knaben  ethisch  erziehend  einzuwirken.  Beidemal  schildert  er  in 
anmutiger  Weise  das  Leben  und  Treiben  der  Jugend  in  der 
Palaistra"  usw.  (71)  . . .  „Das  Gesagte  wird  genügen,  um  klarzumachen, 
daß  Ly  und  Ch  in  demselben  Stil  geschi-ieben  sind."  —  S.  38  hat 
sich  V.  A.  auf  die  erst  von  ihm  richtig  angewandte  (!)  Sprach- 
statistik berufen,  die  das  Ergebnis  habe,  „daß  Eu,  Ch,  ßp  I  dem  Ly 
am  nächsten  stehen".  —  „Beide  sind  auch  von  einer  gewissen 
Spitzfindigkeit  erfüllt,  die  es  mit  der  logischen  Korrektheit  nicht 
allzu  streng  nimmt  und  nach  Art  der  Sophisten  mit  Virtuosität  im 
avTikiyeiv  prunkt.  Hinter  diesem  eristischen  Schleier  werden 
aber  bereits  positive  platonische  Gedanken  sichtbar ,  die  über  den 
sokratischen  Standpunkt  hinausfiihi-en.  l^y  und  Ch  bilden  in  dem 
gleichen  Sinne  ein  Dialogenpaar  wie  G  und  Me,  Sy  und  Phn,  So 
und  Po.  Sie  sind  von  PL  als  Zyf:illingsdialoge  mit  Bewußtsein 
und  Absicht  konzipiert,  ohne  darum  ihrem  Gedankengehalt  nach  zu 
einem  Ganzen  zusammenzuschließen.  In  allen  4  Fällen  deutet 
dieses  Verhältnis  auch  auf  zeitliche  Nachbarschaft." 

V.  A.  glaubt  aber  zeigen  zu  können ,  daß  der  Ch  später  sei 
als  der  Ly.  (S.  109  :)  „Enthält  er  doch  ...  in  deutlichen  Worten 
die  Forderung  einer  Wissenschaft  vom  Guten  und  Bösen  als  der 
allein  möglichen  Grundlage  der  Tugend  sowohl  als  der  Staats- 
ordnung ,  also  das  Schlußergebnis ,  auf  welches  .  .  ,  Pr,  La,  ßp  I 
und  Ly  den  Leser  allmählich  vorbereiten."  Insbesondere,  meint 
V.  A.  (S.  117),  werde  das  Zeitverhältnis  zwischen  Ch  und  Ly  klar, 
wenn  man  die  Argumentation  Ch69d  —  72  a  aufmerksam  lese.  Sie 
wollte  dartun,  „daß,  selbst  wenn  man  die  Möglichkeit  einer 
EniOTi^{.iij  £7iiottjfxijg  zugeben  wollte,  diese  doch  nicht  wissen 
könnte,  was  einer  weiß  und  was  er  nicht  weiß.  Kritias  ist  der 
Meinung,  wer  die  i/ciovy/x)]  besitzt,  die  sich  selbst  erkennt 
(e7tiaT}'ji.njV  ij  avzrj  avzijv  yiyvojoyfet.),  der  sei  notwendig  selbst  so 
beschaffen,    wie    das    beschaffen   ist,    was  er  besitzt.     Daß  Ej-itias 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    1 29 

hier  von  der  .  .  .  Stelle  des  Ly  17c  Gebrauch  macht:  evia  (.liv 
olov  av  fj  To  TTagov,  Toiaird  iavi  y.al  avrct,  Ivia  de  ov,  zeigt  die 
Übereinstimmung  des  Ausdrucks !  Im  Ly  mrd  der  Begriff  der 
Parusie  der  Idee  (denn  um  diese  handelt  es  sich  hier)  von  Sokr. 
selbst  als  etwas  Neues  eingeführt  und  ausführlich  erläutert  und 
von  einer  anderen  Art  der  Parusie  unterschieden;  im  Ch  benutzt 
Ki'itias  diesen  als  bekannt  vorausgesetzten  Begriff  zu  seiner  Argu- 
mentation. Also  ist  der  Ch  nach  dem  Ly  geschrieben.  —  Kritias 
schließt  also  :  'Wer  die  Ex'kenntnis  besitzt,  die  sich  selbst  erkennt, 
der  ist  notwendig  ein  sich  selbst  Erkennender.'  Daß  hier  ein 
grober  Fehlschluß  vorliegt,  bedarf  für  uns  keines  Beweises.  Denn 
korrekt  hätte  der  Schluß  lauten  müssen :  Wer  das  Wissen  besitzt, 
das  um  das  Wissen  weiß,  der  ist  selbst  ein  um  das  Wissen  (nicht 
etwa  um  sich  selbst)  Wissender.  Sokr.  aber  erhebt  keinen  Ein- 
wand gegen  dieses  Sophisma  .  .  .  Daß  PL  dieses  Sophisma  selbst 
gebilligt  haben  sollte,  ist  unwahrscheinlich.  Er  will  aber  auf  diesen 
Punkt  nicht  eingehen." 

Mir  ist  hier  v.  A.  leider  ganz  unverständlich.  Erstens  bezweifle 
ich,  ob  hier  überhaupt  ein  Sophisma  vorliegt.  Wenn  einer  eine 
Erkenntnis  besitzen  sollte ,  deren  Eigentümlichkeit  es  wäre ,  daß 
sie  auf  sich  selbst  als  das  erkennende  Subjekt  sich  zurückbeziehe, 
so  wird  er  mit  dieser  Erkenntnis  sich  auf  sich  selbst  beziehen. 
Weiter  aber  ist  mii'  unklar,  was  das  Gerede  von  der  Parusie  der 
Idee  für  Ch  69d — 72  a  für  eine  Bedeutung  haben  soll.  Und  die 
ganze  Bezugnahme  jener  Argumentation  auf  Ly  17  c  scheint  mir 
erträumt  zu  sein.  —  Die  Stützen ,  welche  sich  v.  A.  für  seine 
chronologische  Konstruktion  damit  schafft,  daß  er  auch  das  Ver- 
hältnis von  Ch  und  Eus,  Ch  und  Rp  I,  Ch  und  Eu,  La  und  Ly 
usw.  untersucht,  sind  vielleicht  weniger  gebrechlich,  aber  nirgends 
habe  ich  eine  gefunden,  die  mir  stai'k  genug  scheint,  um  den  ganzen 
Bau  der  v.  Arnimschen  Chronologie  zu  tragen.  Daß  ich  ihm 
namentlich  bezüglich  des  Ly,  auf  den  für  ihn  so  viel  ankommt, 
Unrecht  geben  muß,  werden  wir  später  sehen.  Auch  das  muß  ich 
noch  bemerken ,  daß  mir  doch  wahrhaftig  die  Verwandtschaft  des 
Ch  mit  dem  La  viel  enger  zu  sein  scheint  als  mit  dem  Ly.  Eine 
ähnliche  FüUe  von  Parallelstellen,  wie  sie  Pohlenz  für  jene  beiden 
nachweisen  konnte,  ist  jedenfalls  für  Ch  und  Ly  nicht  aufzubringen. 
Und  wenn  man  mit  Wahrscheinlichkeiten  kommen  darf,  die  auf 
Analogien  aus  der  Literaturgeschichte  gegründet  sind ,  so  glaube 
ich:  gerade  die  große  Ähnlichkeit  der  szenischen  Einkleidung,  die 
in    der   Tat   zwischen    Ch  und  Ly   besteht  und  aus  der  notwendig 

Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft.    Bd.  191  (1922.  I).  9 


130  Constantin  Eitler. 

auch  in  der  Schilderung  der  Einzelumstände  manche  Gemeinsam- 
keiten sich  ergeben  mußten ,  spricht  eher  dagegen  als  dafür ,  daß 
sie  zeitlich  einander  ganz  nahe  liegen. 

In  der  Erklärung  des  philosophischen  Gehalts  des 
Ch  gehen  die  Meinungen  der  Gelehrten  noch  so  weit  auseinander, 
daß  ich  mich  begnügen  muß,  eine  Auswahl  derselben  ziemlich  un- 
vermittelt nebeneinander  zu  stellen.  Gomperz  schreibt:  „Wie 
sollen  wir  über  den  unbefriedigenden  Schluß  des  Gesprächs  urteilen? 
Ist  er  ganz  und  gar  auf  Rechnung  jener  ersten  platonischen  Manier 
zu  setzen ,  welche  die  verschlungenen  Gedankenfäden  nicht  voll- 
ständig zu  entwirren,  sondern  den  Geist  des  Lesers  dabei  zu  selbst- 
tätiger Mitarbeit  heranzuziehen  liebt?  Nicht  ganz  und  gar,  so 
meinen  wir.  Ein  Hauptpunkt  freilich  wird  genügend  aufgehellt. 
Den  Wesensgrund  aller  Tugend,  den  Urquell  der  Glückseligkeit 
bildet  das  Wissen  von  den  Lebenszwecken,  die  Einsicht  in  Güter 
und  Übel  und  ihr  Wertverhältnis.  Darin  stimmt  der  Ch  mit 
seinem  Zwillingsbruder,  dem  La,  genau  überein.  Doch  nicht 
minder  darin,  daß  die  spezifische  Eigenart  der  Einzeltugend,  hier 
der  Sophrosyne,  dort  der  Tapferkeit,  nicht  mit  gleicher  Sicherheit 
und  Deutlichkeit  hervortritt.  Auch  hierüber  fehlt  es  nicht  an 
orientierenden  Winken;  allein  sie  weisen  eher  auf  die  Richtung 
hin,  in  welcher  die  Gedankenarbeit  des  Verfassers  sich  bewegt, 
als  auf  ein  von  ihr  schon  erreichtes  Ziel.  In  diesem  Betracht  ist 
der  3.  Definitionsversuch :  'Sophrosyne  heißt :  Das  Eigene  tun' 
nicht  wenig  bedeutsam.  In  der  Rp  nämlich  gewinnt  das  Prinzip 
der  Arbeitsteilung,  das  Vermeiden  jedes  Eingriffs  in  fremde  Rechts- 
und Wirkungssphären,  die  hervorragendste  Bedeutung.  Dort  wird 
dieser  Grundsatz  nicht  ohne  alle  Gewaltsamkeit  mit  dem  Wesen 
der  Gerechtigkeit  in  eins  gesetzt.  Daß  auch  schon  im  Ch  die 
wirtschaftliche  Seite  desselben  Prinzips  berührt  wird ,  trägt  dazu 
bei,  der  Übereinstimmung  den  Charakter  des  Zufälligen  zu  nehmen. 
Auch  den  Kern  der  mit  der  Gerechtigkeit,  zumal  in  Pl.s  Auf- 
fassung, eng  verwandten  Sophrosyne  erblickt  die  Rp  in  der  rich- 
tigen Abgrenzung  verschiedener  Wirkungskreise,  und  zwar  in  der 
angemessenen  Koordinierung  der  zum  Befehlen  und  der  zum  Ge- 
horchen bestimmten  Seelenteile.  Die  Vermutung  läßt  sich  kaum 
abweisen ,  daß  derartige  Gedanken  dem  Geiste  Pl.s  zur  Zeit, 
da  er  den  Ch  schrieb,  bereits  aufgedämmert,  aber  noch  nicht  zu 
völliger  Klarheit  und  Reife  gediehen  waren." 

Natorp  schreibt  (S.  24):   „Bonitz  kam  auf  den  offenbar  miß- 
lingenden Versuch ,    in    der  Definition    der  Besonnenheit    das  nicht 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    131 

bloß  nominelle  Thema  zu  sehen,  nur  weil  er  die  anscheinend  gänz- 
liche Vernichtung  des  Begriffs  der  Selbsterkenntnis ,  die  den  erst 
befremdenden  Schluß  des  Gesprächs  bildet,  für  endgültig  nahm 
und  bei  einem  so  ausschließlich  negativen  Ergebnis  sich  begreiflich 
nicht  beruhigen  mochte.  Das  Bedenken  fällt  weg,  wenn  sich  be- 
weisen läßt,  daß  die  Selbsterkenntnis  doch  bestehen  bleiben  soll 
und  es  in  der  Tat  nur  der  (absichtliche)  Fehler  der  Untersuchung 
war  (75  e) ,  wenn  es  in  ihr  anders  herauskam.  Merkwürdig  ist 
nun  allerdings,  wie  PI.  das  Problematische  dieses  Begriffs  empfindet, 
den  doch  keine  Philosophie  entbehren  kann ,  mit  dem  die  sokra- 
tische  steht  und  fällt ;  mit  welcher  Freiheit  er,  der  echteste  Sokra- 
tiker,  durch  den  Mund  des  Sokr,  seine  Schwierigkeit  aufdeckt,  bis 
zur  scheinbar  gänzlichen  Selbstaufhebung  dieses  Begriffs  .  .  .  Ein 
Ding,  das  seine  eigentümliche  Kraft  in  Richtung  auf  sich  selbst 
und  nicht  auf  ein  anderes  ausübt?  Müßte  nicht  das  Hören,  um 
von  sich  selber  gehört  zu  werden,  wiederum  Schall  sein,  und  so 
fort?  Sokr.  getraut  sich  nicht,  eine  so  große  Frage  zu  entscheiden. 
Nur  das  Wunder,  das  heißt  die  völlige  Unvergleichbarkeit  des  Selbst- 
bewußtseins" (vgl.  S.  27!)  „ist  damit  eindringlich  gekennzeichnet. 
Aber  sicherlich  nicht  wird  darum  der  Begriff  selbst  etwa  preis- 
gegeben. (S.  25)  .  .  .  Aber  allerdings  der  nicht  von  Sola-.,  sondern 
vom  Mitunterredner  aufgestellte  Begriff  der  Selbsterkenntnis,  wo- 
nach sie ,  im  Unterschied  von  aller  Erkenntnis  eines  bestimmten 
Objekts  und  abseits  von  dieser,  nur  die  Erkenntnis  bedeuten  soll, 
ob  man  erkennt  oder  nicht,  dieser  wird  nicht  etwa  bloß  zweifel- 
haft gemacht,  sondern  gänzlich  vernichtet.  Eine  Selbsterkenntnis 
dagegen,  die  von  der  Erkenntnis  des  Objekts,  nämHch  des  Guten, 
nicht  getrennt,  sondern  mit  ihr  eins  wäre,  würde  nicht  angefochten, 
und  das  hohe  Lob ,  welches  der  Selbsterkenntnis  gezollt  wird, 
wenn  sie  nicht  unter  den  aufgezeigten  Schwierigkeiten  litte,  soll 
offenbar  gelten  von  dieser  richtiger  definierten  Selbsterkenntnis, 
die  in  der  Tat  den  dargelegten  Schwierigkeiten  nicht  unterliegt  .  .  . 
Die  Selbsterkenntnis  wird  mit  der  Erkenntnis  des  Guten  dann  eins 
sein,  wenn  das  Gute  eins  ist  mit  dem  wahren  Selbst  des  Menschen . . . 
Die  Rechenschaft  von  unserem  Tun ,  wiefern  es  gut  ist ,  ist 
Rechenschaft  von  sich  selbst  und  vor  sich  selbst,  ist  praktisches 
Selbstbewußtsein,  weil  die  Norm,  das  Kriterium  des  Guten  in  nichts 
als  der  Einheit  des  praktischen  Bewußtseins ,  der  Einstimmigkeit 
mit  dem  eigenen  Gesetz  des  Bewußtseins  liegt.  Das  Gesetz  des 
Guten  ist  das  Gesetz  des  praktischen  Bewußtseins,  mithin  Selbst- 
erkenntnis   eins    mit   Erkenntnis    des    Guten.      Also    die    zu    einem 

9* 


132  Constantin  Ritter. 

befriedigenden  Verständnis  des  Dialogs  notwendig  zu  postulierende 
Auflösung  des  Problems  ist  so  echt  sokratisch ,  wie  der  Begriff 
der  Selbsterkenntnis  es  ist;  ein  Sokratiker  konnte  sich  die  sokra- 
tische  Selbsterkenntnis  nur  so  auslegen ;  somit  sciieint  es  un- 
bedenklich ,  eben  diese  Lösung  als  die  von  PI.  gewollte  anzu- 
nehmen .  .  ."  (S.  27:)  Es  ist  „die  unvergleichliche  Eigentümlich- 
keit des  Bewußtseins ,  daß  es  zugleich  Bewußtsein  seiner  selbst 
und  des  Objekts  ist.  Auch  hat  das  Selbstbewußtsein,  so  ver- 
standen ,  nicht  den  leeren  Sinn  der  Tautologie ,  daß  es  sei  das 
Bewußtsein  des  Bewustseins ,  und  folgerecht  so  weiter  ins  Un- 
endliche ;  es  besagt  vielmehr  das  Bewußtsein  der  Gesetzlichkeit 
der  dabei ,  ja  eben  dadurch  stets  auf  ein  Objekt  gerichteten  Er- 
kenntnis.'' So  weit  etwa  komme  ich  mit  meinem  Verstände  nach. 
Dann  folgen  Sätze ,  die  mir  nur  dämmerhafte  Vorstellungen  er- 
wecken, und  von  denen  ich  manches  nur  mit  stillem  Widerspruch 
abschreiben  kann.  Sie  sind  aber  kennzeichnend  für  Natorp  und 
die  ganze  M  a  r  b  u  r  g  e  r  Schule.  Und  es  wäre  unverantwortlich, 
wenn  ich  sie  unterdrückte:  „So  fragt  sich  nur  noch:  hängt  etwa 
gerade  die  Erkenntnis  des  Guten  innerlich  zusammen  mit  dem 
Bewußtsein  der  Erkenntnisform ,  nämlich  der  Form  der  Gesetz- 
lichkeit überhaupt?  Nach  Pl.s  Denkweise  unzweifelhaft  ja.  Nach 
seinen  späteren  Darlegungen,  vom  G  an,  ist  es  genau  der  Charakter 
der  Gesetzlichkeit,  der  eine  Handlung  als  gut  unterscheidet.  Aber 
schon  der  Rationalismus  der  sokratischen  Ethik  war  notwendig  zugleich 
Formalismus  —  jedenfalls  nach  Pl.s  Auffassung;  und  so  erklärt 
sich  die  Zurückführung  des  Guten  nicht  bloß  auf  Erkenntnis  über- 
haupt, sondern  auf  Selbsterkenntnis,  d.  h.  auf  diejenige  Erkenntnis, 
welche  die  gesetzliche  Form  des  Erkennens  selbst  zum  Inhalt  hat, 
auch  schon  aus  der  eigenen  Begriffswelt  des  Sokr.,  wie  wenigstens 
PI.  sie  aufgefaßt  hat.  —  Dies  mußte  nun  aber  weiter  darauf  hin- 
führen, daß  ganz  allgemein  die  Form  der  Erkenntnis  es  ist,  welche 
den  Inhalt  bestimmt.  Dieser  Gedanke  aber  führt  schon  in  das 
Herz  der  Ideenlehre  .  .  .  Die  Form  der  Erkenntnis  überhaupt  ist 
Gesetzlichkeit;  diese  Form  aber  ist  es,  welche  den  Inhalt,  den 
reinen  Inhalt  der  Erkenntnis  konstituiert;  denn  es  ist  allgemein 
das  Gesetz,  welches  in  der  Erkenntnis  und  für  sie  den  Gegenstand 
schafft.  Das  ist  der  letzte  Sinn  der  'Idee' ;  und  eben  dies  ist  die 
Lösung  der  Rätsel,  die  der  Ch  im  Begriff  der  Selbsterkenntnis 
aufdeckt,  allerdings  ohne  die  Lösung  direkt  zu  geben." 

Pohlenz  sagt  (S.  48):   „Das  negative  Ergebnis  des  Ch  ist  .  .  . 
nicht  wie  beim  La  dadurch  hervorgerufen,  daß  PI.  ein  Problem  for- 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    133 

muliert,  sondern  dadurch,  daß  er  Kritik  an  fremden  Ansichten  übt  und 
diese  als  unhaltbar  erweist.  Es  ist  der  Elenktiker  Sokr.,  in  dessen 
Spuren  PL  wandelt."  Bewußt  beschränkt  er  sich  darauf,  falsche 
Lehren  aus  dem  Weg  zu  räumen,  aber  man  merkt,  „daß  ihm  eine 
positive  Lösung  durchaus  vorschwebt",  für  die  er  „unzweideutige 
Fingerzeige  gibt.  Verstehen  mußte  sie  jedenfalls  der  ohne  weiteres, 
der  mit  dem  Gedankengange  des  La  vertraut  war".  —  Daß  die  be- 
sprochene Lehre  von  der  E7tiOT^i.u]  hriOTi]t.u]g  von  einem  Sokra- 
tiker  stammt,  darüber  .,kann  kaum  ein  Zweifel  sein".  Und  daß 
PI.  den  Fehlschluß  bemerkt,  der  in  der  Vertauschung  der  i^iortj/^n] 
eavTOc  mit  der  ircioir^f-ii]  favxT]g  liegt,  zeigt  wohl  Sokr.'  Bemerkung 
69  e  ov  zovro  af-iq^iaßr^rcu,  tog  ovx  oxuv  xb  avxo  yiyvcöay.ov  xig  l'xjj, 
aixog  avxov  yvwoexai.  Aber  wer  ist  der  Mann,  „mit  dem  PI.  sich, 
übrigens  in  durchaus  freundschaftlicher  Weise,  auseinandersetzt?" 
P.  gibt  die  Antwort:  „Ich  weiß  es  nicht,  und  viel  kommt  auch 
nicht  auf  den  Namen  an ,  denn  die  Definition  der  GiOfpQoavvi]  als 
irriöxriti]  erTiaxr'^i.ir^g  wird  später  nie  wieder  erwähnt.  [Die  Frage 
an  sich,  ob  es  eine  e^riaTijfirj  t7iiaxr^ni]g  gebe,  wird  bekanntlich 
Th  00  b  von  ganz  anderem  Gesichtspunkte  aus  berührt,  sicher  ohne 
Zusammenhang  mit  Ch  69  d.]  Sie  war  ein  ephemerer  Einfall,  den 
PI.  wohl  endgültig  beseitigt  hat."  In  einer  Anmerkung,  die  das 
Verhältnis  von  Xen.  Mem.  IV,  2,  25—29  und  Ch  71  d  beleuchtet 
und  freie  Benützung  Pl.s  durch  Xenophon  für  möglich  erklärt, 
fügt  er  noch  bei:  „Im  übrigen  kann  der  Gegner  Pl.s  hier  Anti- 
sthenes  sein,  aber  einen  Beweis  sehe  ich  auch  hier  bei  Joel  nicht 
erbracht."  Die  vorsichtige  Zurückhaltung,  die  P.  hier  übt,  dürften 
sich  andere  zum  Muster  nehmen.  Eine  ganz  unglückliche  Ver- 
mutung, die  nicht  bloß  von  P.  mit  Entschiedenheit  abgelehnt  wird, 
war  die  Hörn  eff  er  s  ^),  PI.  polemisiere  hier  und  in  anderen  Früh- 


^)  Ich  hatte  im  Sinne,  Horneff  er,  dem  ich  zum  Hp  II  und  La  etwas 
länger  das  Wort  gelassen,  hier  mit  dieser  ganz  kurzen  Bemerkung  ab- 
zutun.  Aber  ich  möchte  nicht  unbillig  sein.  Und  nachdem  ich  soeben 
seinen  ganzen  Aufsatz  nochmals  durchgelesen,  will  ich  wenigstens  aus- 
sprechen, daß  ich  ihn  immerhin  für  geeignet  halte,  gut  einzuführen  in 
die  schwierigen  Probleme  des  Ch.  Meine  Zustimmung  muß  ich  ihm  frei- 
lich versagen.  Die  Gründe  wird  H.  in  den  Sätzen  finden,  die  aus  meinen 
eigenen  Arbeiten  sogleich  folgen.  Doch  noch  einiges  zur  Ergänzung: 
H.  schreibt  (S.  62):  „Die  Untersuchung  über  die  Selbsterkenntnis  bildet 
den  Höhepunkt,  das  eigentliche  Ziel  des  Dialogs  .  .  .  Und  .  .  diese  Unter- 
suchung läuft  auf  eine  Widerlegung  der  Selbsterkenntnis  hinaus."  Ich 
meine,  wie  z.  B.  Natorp  (s.  oben),  mit  der  Anfechtung  der  Möglichkeit 
der  Selbsterkenntnis  und   der  Bestreitune;  ihres  Nutzen?  kann   es   dem 


134  Constantin  Ritter. 

dialogen  gegen  Sokr.  (Im  Gegenteil,  meint  P.,  dieser  wird  uns,  wie 
im  La  als  Verkörperung  der  avdQsia,  so  hier  als  Verkörperung  der 
richtig  gefaßten  OLOcpQoovvi]  vorgestellt.)  Ich  möchte  die  Frage 
aufwerfen:  kann  denn  die  fragliche  Person  nicht  Kritias  sein? 
Das  scheint  mir  am  nächsten  zu  liegen.  Aber  allerdings,  es  kommt 
auf  den  Namen  nichts  an.  Und  zwar  auch  dann  nicht,  wenn  wir 
es  nicht  mit  einem  bloß  „ephemeren  Einfall"  zu  tun  haben.  Gewiß 
wird  im  Th  die  Frage  nach  der  MögHchkeit  einer  hcLGni]i.n]  hm- 
aT'ijf.ir]g  von  ganz  anderem  Ausgangspunkt  und  unter  ganz  anderem 
Gesichtspunkt  aufgeworfen.  Aber  ich  kann  mir  nicht  vorstellen, 
daß  PI.  bei  jenen  späteren  Erörterungen  gar  nicht  an  das  gedacht 
hätte,  was  er  im  Ch  geschrieben  hatte.  Und  der  von  P.  aus  67  a 
herausgehobene  Satz  ist  doch  nicht  ganz  ohne  inhaltliche  Ver- 
wandtschaft mitThöObc  (xeytotov  ds  %ovt  tvi  Trj  r^i-ieiiQa  zi^vT}^ 
ßaaavlteiv  övvazbv  eivai  7iavTL  tqotk^,  Ttovegov  eidiolov  -/.al  ipeuöog 
anoiLxvu  rov  vaov  ij  didvoia  rj  y6vi(.iov  re  y.ai  aXtid^lg.  Immerhin: 
die  e;7tiOT7Jf.nj  hiioiri^i]g  im  Th  hat  erkenntnistheoretische,  die  im 
Ch  in  erster  Linie  ethische  Bedeutung.  Es  verleugnet  sich  nicht, 
daß  sie  eben  aus  der  iTiioitju)]  eavvov  umgebogen  ist.  Aber  das 
praktische  Handeln  des  Menschen  muß  von  einem  Sokratiker  stets 
in  Abhängigkeit  von  seinem  Erkennen  gedacht  werden. 

Der  philosophische  Gedankengang  des  wichtigsten  Abschnitts 
läßt  sich  doch  wohl  (vgl.  meine  Darstellung  P].  I  S.  346  ff.)  in 
aller  Kürze  mit  folgendem  widergeben :  Kritias  hat  die  Gleichung 
aufgestellt:  oiocpQoavrr]  =  »^  tiov  ayaO^iov  jiqä^ig  oder  jton^aig. 
Er  will  es  aber  nicht  für  möglich  gelten  lassen,  daß  jemand  die 
Eigenschaft  der  otocpQOOvvi]  besitzen  könnte,  ohne  das  selbst  zu 
wissen.    Daraus  müssen  wir  folgern:  ococpQoavvi]  ist  Tun  des  Guten 

Verf.  nicht  Ernst  sein.  Seine  Absicht  ist  nur,  den  Leser  dazu  zu  nötigen, 
daß  er  scharf  zvisehe,  in  welchem  Sinne  die  sokratische  Forderung  zu 
verstehen  sei.  Manche,  die  sie  vernommen  hatten,  stimmten  ihr  wohl 
zu,  ohne  sie  tief  genug  zu  fassen.  Auch  der  Eitelkeit  eines  Kritias  be- 
hagt  sie.  Er  war  auch  darin  mit  Sokr.  einig,  daß  dadurch  der  höchste 
Lebensinhalt  vind  Lebenszweck  erkannt  werden  solle.  Jeder  müsse  wissen, 
was  für  ihn  otxeiov  sei,  und  darnach  handeln.  Aber  er  ist  nicht  dazu 
vorgedrungen,  in  wissenschaftlichem  Forschen  sich  klar  zu  machen,  daß 
eben  das  Zusammenwirken  mit  anderen  Menschen  in  geordneter  Gemein- 
schaft dem  tiefsten  Seelenbedürfnis  entspreche;  er  hat  so  wenig  wie 
Kallikles  im  G  eine  Ahnung  von  der  ysco/uiTQtxtj  iaoTTjg,  welche  die  Rechte, 
auf  die  er  als  Geistesaristokrat  pochen  mag,  in  Beziehung  setzt  zu 
Pflichten.  Es  ist,  nebenbei  gesagt,  entschieden  unrichtig,  was  H.  S.  73 
über  die  Rolle  des  Kritias  im  Dialog  und  besonders  sein  Verhältnis  zu 
Sokr.  ausspricht.  —  Das  mag  genügen. 


Ber.  über  d.  in  d.  letzteii  Jahrzeknten  über  PL  erschienenen  Arbeiten.    I35 

aus  richtiger  Einsicht.  Und  wenn  Sokr.  dem  Kritias  einwendet, 
daß  es  Leute  gebe,  die  Gutes  vollbringen,  ohne  es  zu  wissen,  und 
dafüx'  das  Beispiel  des  Arztes  anführt,  der  bei  einer  glückhchen 
Kur  nicht  wissen  könne,  ob  für  seinen  Patienten  die  zurückgegebene 
Gesundheit  ein  Gewinn  sei,  so  ist  daraus  eben  weiter  zu  schließen, 
daß  das  Werk,  um  das  es  sich  hier  handelt,  an  und  für  sich  kein 
ayaiyöv  ist.  Die  Erkenntnis,  aus  der  heraus  der  atöq^Qiov  handelt, 
ist  nicht  irgendwelche  beliebige  Fachkenntnis,  wie  sie  z.  B.  der 
Arzt  besitzt.  Doch  kann  uns  dessen  Beispiel  immerhin  lehren, 
daß  die  Ausführung  des  Guten  im  Einzelfalle  auch  Fachkenntnisse 
erfordert.  Denn  wer  genau  wüßte,  der  Tod  eines  Menschen  be- 
deutete einen  schweren  Verlust,  weil  sein  Wirken  Gott  wohlgefälhg 
und  gesegnet  ist,  besäße  aber  die  Kenntnisse  nicht,  durch  deren 
Anwendung  dieses  Leben  erhalten  werden  könnte,  wäre  im  Besitz 
seiner  otocfQooivri  hilf-  und  machtlos.  Trotzdem  ist  sie  dyad-öv. 
Sonst  verdiente  sie  nicht  als  ccqeh]  anerkannt  zu  werden.  Ja,  es 
ist  klar,  daß  erst  durch  sie  alles  andere  Wissen  sicheren  positiven 
Wert  erhält.  Dieser  Gedanke  wird  in  späteren  Dialogen ,  wie 
Eus,  E,p  und  Po,  deutlicher  ausgeführt.  Und  während  es  sich 
dabei  zeigt,  daß  selbst  die  Wissenskunde  (die  e;ciaTrji.irj  tri  ianjf.ir^g), 
die  als  rein  formale  die  Merkmale  der  Wahrheit  und  Falschheit 
jedes  Satzes  liefert  und  damit  die  Möglichkeit  zu  kritischer  Ent- 
scheidung bietet,  der  höchsten  Erkenntnis  des  absolut  Guten  und 
unbedingt  Wertvollen  untergeordnet  werden  muß,  wird  anderseits 
klar,  daß  diese  Erkenntnis  des  höchsten  Inhalts  selber  sich  nur  in 
wissenschaftlicher  Form  vollenden  und  nur  dadurch  dem  denkenden 
Geiste  zum  unerschütterlich  sicheren  Besitz  gemacht  werden  kann. 

Die  Probleme  sind  hier  im  Ch  nur  angedeutet.  PI.  hatte  erst 
angefangen,  mit  ihnen  zu  ringen.  An  Andeutungen  aber  ist  dieser 
Dialog  erstaunlich  reich.  Und  keinen  seiner  Sätze  möchte  ich  als 
„ephemeren  Einfall"   behandeln. 

Zur  Ergänzung  seien  aus  meinem  Piaton  I  noch  folgende 
Bemerkungen  ausgezogen  (354):  „Es  wird  zu  folgern  sein,  daß  bei 
der  problematischen  Erkenntniskunde  ein  Unterschied  zu  machen 
wäre  zwischen  dem  erkennenden  Akte  und  einem  schon  früher 
vollzogenen  Erkenntnisakt,  der  jetzt  als  vollzogener  für  die  Be- 
trachtung gegenständlich  geworden  ist.  Wenn  Sokr.  diese  Unter- 
scheidung scheinbar  abweist  und  damit  die  Erkenntniskunde  als 
ein  Unding  erscheinen  läßt,  so  dienen  die  Analogien,  deren  er  sich 
zu  diesem  Behufe  bedient,  zum  Teil  eher  dazu,  sie  zu  stützen,  als 
gründlich  abzutun  ...    (355)  Weiter  läßt  sich  folgern,  daß  die  Form 


136  Constantin  Ritter. 

des  Wissens  ohne  einen  bestimmten  Inhalt,  der  als  solcher  irgend- 
einer einzelnen  Fachwissenschaft  angehört ,  gar  nicht  bestehen 
kann.  Umgekehrt  scheint  es,  daß  jede  bestimmte  Wissenschaft, 
die  diesen  Namen  verdient,  z.  ß.  die  ärztliche,  gegi'ündet  sein 
muß  auf  die  bewußte  Anwendung  der  Prinzipien  und  Bedingungen 
alles  Erkennens.  (Ohne  diese  Grundlage  wäre  sie  bloße  Routine.) 
Jede  Einzelwissenschaft  schlösse  dann  die  Erkenntniskunde  in  sich; 
und  es  ließe  sich  daraus  wieder  ein  Beweis  dafür  ableiten,  daß 
sie  verschieden  ist  von  dem,  was  wir  mit  acücpQoocvrj  etwa  be- 
zeichnen Avollen  .  .  .  Anderseits  aber  ergibt  sich  .  .  . ,  daß  die 
aiücfQ.  als  Wissen  von  dem  Guten  eben  auch  streng  erkenntnis- 
mäßige Form  haben  muß,  und  wenn  wir  die  aioq^Q.  beschreiben 
wollen,  was  Sache  der  Ethik  sein  wird,  so  ergibt  sich  für  diese, 
daß  sie  an  der  Erkenntnistheorie  ihre  notwendige  Ergänzung  und 
Grundlage  habe.  —  Daß  PL  im  Ch  über  die  einseitige  Betrachtung 
ethischer  Probleme  hinausstrebt,  verrät  sich  auch  in  der  Ausfülir- 
lichkeit,  mit  der  er  den  Sinn  der  Reflexbegriffe"  (d.  h.  von  Be- 
griffen wie  hiLOzr](.n]  aniavTJiiirjg,  eavrr^g  vmI  tcov  aXXcov  oxpscov 
oij.iig,  a-^o^  airrjg  y,al  riöv  a?Mov  a/.oc~jv,  do^cc  do^cov  y.ai  aii^g) 
„erörtert.  Überhaupt  tritt  ein  logisches  Interesse  neben  dem 
ethischen  bedeutsam  hervor"  .  .  .  (357)  „Daß  die  GioqiQOGvvi]  im 
Tun  des  Guten  sich  äußert  und  Kenntnis  des  Guten  zu  ihrer 
Wurzel  hat,  wird  als  positives  Ergebnis  dem  Ch  entnommen 
werden  dürfen.  Das  Beispiel  vom  Wirken  des  Arztes  ist  dazu 
angetan,  deutlich  zu  machen,  daß  der  gute  Erfolg,  den  ein  Mensch 
mit  seinem  Handeln  erzielt,  jedenfalls  nur  dann  ihm  als  Verdienst 
angerechnet  werden  darf,  wenn  er  ihn  als  Erfolg  vorausgesehen, 
also  bei  Beginn  seines  Handelns  beabsichtigt  hat,"  worin  der  Keim 
der  Erkenntnis  steckt,  .,daß  nur  der  Wille  sittlich  zu  beurteilen  ist". 
Auch  V.  Arnim  soll  noch  einmal  zu  Wort  kommen.  Er 
schreibt  (S.  114 f.)  über  die  in  67c  ff.  behandelten  Reflexbegriffe: 
Es  wird  „für  jedes  seelische  Vermögen  der  ihm  entsprechende 
Gegenstand  angegeben ,  auf  den  sich  seine  spezifische  Energie 
richtet.  Wie  der  Sehkraft  die  Farbe,  dem  Gehör  der  Klang,  so 
entspricht  der  S7Tidij.iia  die  Lust  (J^dovi^,  der  ßovXrjOig  das  Gute, 
dem  iQcog  das  Schöne.  Nur  bei  der  öö^a  und  e7iiGTtj(.u]  vermeidet 
PI.  aus  leicht  begreiflichen  Gründen,  ihre  spezifischen  Gegenstände 
anzugeben.  Er  hätte  sie  nicht  angeben  können,  ohne  sich  in  tief- 
gehende philosophische  Untersuchungen  einzulassen,  welche  den 
Gang  der  vorliegenden  Untersuchung  unterbrochen  und  die  künst- 
lerische Einheit    des  Ch  aafirehoben  hätten  .  .  .    Ein  aufmerksamer 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    137 

Leser  konnte  diese  Lücke  nicht  übersehen  und  mußte  sich  fragen : 
was  ist  denn  der  spezifische  Gegenstand  der  öo^a,  und  was  ist 
der  von  ihm  verschiedene  spezifische  Gegenstand  der  smaTijf.ir^? 
Diese  Frage  wollte  PI.  dem  Leser  nahelegen,  die  Antwort  aber 
nicht  aussprechen,  die  er  selbst  für  sie  bereit  hielt.  Diese  konnte 
nur  lauten,  daß  die  Idee  der  bnioirjin]  und  die  im  Werden  be- 
gi-iffene  Körperwelt  der  öota  als  ihr  eigentümliches  Objekt  ent- 
spreche. Mit  anderen  Worten:  PI.  hätte  diese  Ch-Stelle  nicht  in 
dieser  Form  niederschreiben  können,  wenn  er  nicht  bereits  die 
Ideenlehre  konzipiert  gehabt  hätte.  Mit  der  Stufenleiter  der  Er- 
kenntnisvennögen :  ai'oi^r^oig.,  dö^a,  eTTiOTr^ui^  und  der  Lehre  vom 
spezifischen  Gegenstand  jedes  derselben  ist  die  Ideenlehre  ipso 
facto  gegeben."  —  Ich  hoffe,  daß  kein  unbefangener  Leser  die 
von  PI.  ihm  nahegelegte  Frage  so  wie  v.  A.  beantworten  wird. 
Oder  ist  denn  gegen  die  erkenntnistheoretische  Stufenleiter :  Sinnes- 
wahrnehmung, Vermutung,  Wissen  etwas  Vernünftiges  einzuwenden? 
Und  wenn  auch  wir  sie  gutheißen,  haben  wir  damit  etwa  die 
„Ideenlehre"  ?  Vielleicht  ja.  Doch  nur,  wenn  man  etwas  ganz 
anderes  darunter  versteht,  als  was  die  Erklärer,  die  die  Sprüchlein 
des  Aristoteles  über  Piaton  nachsagen,  darunter  verstanden  wissen 
wollen.  Auch  die  übrigen  philosophischen  Erklärungen  v.  Arnims 
zum  Inhalt  des  Ch  scheinen  mir  unbrauchbar,  eben  weil  er  alles 
dui'ch  die  üblichen  aristotelischen  Brillen  betrachtet. 

Hören  wir  auch  noch  einige  nicht  philologische  Erklärer. 
Pfleiderer  S.  138:  „Neben  der  leichten  Anstreifung  vor- 
sokratischer  Philosopheme"  in  den  „Anfangsdialogen",  sind  „be- 
sonders bedeutsam  die  Ansätze  zur  späteren  Vornahme  gewisser 
tieferer  Fragen  aus  der  Erkenntnislehre  und  Psychologie.  Hieher 
gehört  die  merkwürdige  Abschweifung  im  2.  Teil  des  Ch  über  das 
'Wissen  des  Wissens',  seine  Möglichkeit  und  seinen  Wert,  auf 
was  in  leichter  Anlehnung  an  das  eigentlich  ethische  Thema  der 
Gioq^oooiv)]  durch  das  altsokratische  yvcjd^i  aacTor  übergeleitet 
wird.  Aber  während  Sokr.  seinen  Leibspruch  teils  praktisch  ver- 
steht und  auf  die  Erkenntnis  des  Maßes  und  der  Art  der  eigenen 
Begabung  bezieht,  teils  mehr  nur  allgemein  theoretisch  mit  dem- 
selben die  Klärung  und  Verständigung  in  der  geistigen  Begriffswelt 
verlangt,  gibt  ihm  erst  PI.  auf  der  Grundlage  jener  ursprünglichen 
Bedeutungen  die  zugespitztere  Wendung,  daß  es  sich  in  letzter 
Hinsicht  um  die  Erfassung  des  eigenen  Geistes,  seiner  Gesetze 
und  Erkenntnisbedingungen  handle.  Wenn  auch  noch  ohne  weiteren 
.  Verfolg    und    völlige    KJarheit,    blitzt    also    erstmals    die   Grundlage 


138  Constantin  Ritter. 

einer  feineren  Erkenntnistheorie  auf,  welche  namentlich  Fichte 
später  beinahe  wörtlich  wie  PI.  67  cd  als  das  'Sehen  des  Sehens' 
im  Unterschied  von  dem  harmlos  einfachen  und  unreflektierten 
Gebrauch  desselben  bezeichnet  hat.  Auch  die  bekannt  schwierige 
Frage  der  Ethik,  ob  es  ein  WoUen  des  Wollens,  ein  vouloir  vouloir 
gebe,  wie  Leibniz  es  bekämpft,  taucht  im  gleichen  Zusammenhang 
einen  Augenblick  auf.  Wie  aber  schon  bei  Soki*.  derartiges 
Formale  nie  bloß  Übung  der  Dialogik  und  Dialektik  am  vile  corpus 
der  sich  zufällig  darbietenden  sittlichen  Gegenstände  gewesen  war, 
so  teilt  PI.  ganz  jene  Grundüberzeugung  des  Meisters  von  der 
Wissensnatur  der  Tugend  und  umgekehrt,  also  daß  sich  auch  ihm 
Dialektik  und  Ethik  zu  unteilbarer  Einheit  verknüpfen  und  das 
Formallogische  mit  Materialethischem  Hand  in  Hand  geht.'^ 

Dann  Kühne  mann  (S.  258):  „Daß  .  .  .  besonnen  sei,  wer 
sich  selbst  kennt  und  prüfen  kann,  was  er  weiß  und  was  nicht 
und  was  ein  anderer  weiß  und  nicht  weiß  oder  zu  wissen  glaubt: 
das  ist  genau  die  Umschi-eibung  dessen,  was  Sokr.  tat  und  wollte. 
Sein  gesamtes  Tun  erscheint  hier  zusammengefaßt  als  die  eigent- 
liche Darstellung  der  griechischen  IJrtugend.  Das  sokratische 
Wissen  wäre  die  eigentliche  Besonnenheit.  Der  verwaschene 
Tugendbegriff  hat  durch  sein  Tun  Inhalt  und  Bestimmtheit  ge- 
wonnen. Ein  Lebenssinn  ist  mit  ihm  erschienen.  Aber  PI.  geht 
über  Sokr.  hinaus,  indem  er  an  dieser  Stelle  die  Idee  und  das 
schwierige  Problem  einer  ganz  neuen  Art  von  Wissenschaft  ent- 
deckt. Er  stellt  eine  neue  Frage,  mit  der  neue  Arbeiten  gefoi'dert 
sind.  Weißt  du  denn,  wer  du  bist?  Oder  bist  du  denn  gewiß, 
daß,  wenn  du  dich  gut  weißt,  dies  Wissen  auch  wirklich  ein 
Wissen  ist?  Das  ist  die  Frage  des  Sokr.  Wenn  er  ihre  Er- 
örterung erzwingt,  so  kommt  die  erste  Vorahnung  heraus  von  dem 
Bewußtsein,  wie  es  sein  müßte,  um  Wissen  und  zwar  praktische 
Vernunft  zu  sein."  (260)  „Sofern  die  Philosophie  unser  Weissen 
der  Welt  enthalten  soU  und  mit  dieser  Idee  erst  Gewißheit  ge- 
geben wäre,  daß  wtr  Wissen  haben,  insofern  wäre  die  ausgeführte 
Idee  vom  Wissen  die  Grundlegung  der  Philosophie,  und  mit  dem 
Problem  der  Wissenschaft  vom  Wissen  ist  das  Problem  der  Philo- 
sophie gestellt  .  .  .  Ein  Höhepunkt  der  Entwicklung  ist  hier  er- 
reicht .  .  .  Was  Pl.s  Meinung  vom  Nutzen  oder  von  der  Tugend 
dieses  Wissens  sei,  blickt  kenntlich  genug  durch  die  absichtlich 
resultatlosen  Gedankengänge  hindui'ch.  Mit  jenem  Wissen  würde 
jeder  sich  begrenzen  in  der  Sphäre  seiner  Sachkenntnis  .  .  .  Daher 
wäre   jeder    bewußt    des  Gesetzes,    dem    er    in   seinem  Handeln  zu 


Ber.  Ober  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PL  erschienenen  Arbeiten.    139 

folgern  hat  .  .  .  Wir  begreifen,  wie  in  einem  letzten  Zielgedanken 
alle  ,  .  .  Bemühungen  zusammengehen.  Wenn  wir  mit  dem  Wissen 
uns  beschäftigen  und  den  Begriff  der  Tugend  suchen,  so  recht- 
fertigt sich  das  alles  in  unserer  letzten  positiven  Idee :  der  Herr- 
schaft der  Vernunft  im  Staat.'' 

Endlich  H.  Maier:  „Daß  die  Formel  za  eaiTol  TzqäTieiv  auf 
Antisthenes  zurückgeht,  hat  schon  Zeller  11,  1*  S.  304,  1  gezeigt 
(vgl.  Joel  I  490).  .  .  .  Kritias  im  Ch  61  b  ff.  übernimmt  die  anti- 
sthenische  Formel,  ist  aber  selbst  noch  so  weit  Junker,  daß  er 
dem  Proletarier  Antisth.  nicht  bis  in  die  äußersten  Konsequenzen 
folgt  .  .  .  Aus  Xenophon  wird  deutlich,  daß  in  der  antisthenischen 
Vorlage  das  xa  laizoov  rrgövreiv  zunächst  den  Sinn  hatte :  in 
seinem  Tätigkeitskreis  tätig  sein.  Aber  wii"  sehen  nun  im  Ch, 
wie  diese  Formel  in  die  Bedeutung  übergeleitet  wird,  die  sie  dann 
später  bei  Antisth.  definitiv  erhalten  hat :  das  ra  eavtov  /rgdzTeiv 
ist  einwandsfrei ,  soweit  es  ein  xaPaöi^  xat  XQ)]oiuiog  vi  rcoiEiv 
ist,  d.  h.  soweit  die  noiovciEva  auf  das  Gute,  auf  das  sittliche 
Ideal  bezogen  werden.  Alles  aber,  was  auf  das  Ideal  bezogen, 
dem  sittlichen  Zweck  untergeordnet  ist,  ist  des  Menschen  Eigenes, 
das  seiner  Natur  Entsprechende  (oiy.eia)',  dagegen  sind  die /covijqcc 
aUe  aXXözQia.  So  ergibt  sich  zä  eavroc  ttqcczzeiv  =  das  in  die 
Machtsphäre  des  sittKchen  Willens  Fallende  tun  =  tugendhaft 
leben  .  .  .  Antisth.  hat  die  Formel  von  Sokr.  übernommen.  Bei 
diesem  aber  hatte  sie  den  Sinn:  das  in  dem  eigenen  natürlichen 
Tätigkeitskreis  Liegende  lücpslluwg  (im  sittlichen  Sinn,  /.leid  zov 
'/mIov)  tun.  Hiezu  vergleiche  man  nun  die  platonische  Haupt- 
tugend, die   di/Mioairij,  in  Rp  433  a.'- 


Euthypliroii  (=  Eu) ,  behandelt  von  Räder  S.  129 — 30, 
Pfleiderer  S.  257  ff.,  v.  Arnim  S.  141—54,  Ritter  S.  359—68, 
Wilamowitz  S.  200—205,  Frachter  S.  249 — 51.  M.  Hoffmann, 
Ztschr.  f.  Gy.-Ws.  1904  S.  87—92,  Windelband-Bonhöffer  S.  147, 
Gomperz  S.  289 — 93.  Dazu  G.  Schneider,  Der  Begriff  der  Frömmig- 
keit in  Lessings  Nathan  und  in  Pl.s  Eu  bei  Fries  &  Menge,  Lehi'pr. 
1905  S.  1—13,  Fr.  Falbrecht,  Pl.s  Eu  im  Jahrb.  d.  V.  f.  wiss. 
Pädag.  1906  S.  40 — 116,  A.  v.  Kleemann,  Die  Stellung  des  Eu 
im  Corpus  Platonicum,  J.-Ber.  d.  Akad.  Gy.  Wien  1908  (S.  3—19). 
Neuere  erklärende  Ausgabe  von  M.  Schanz,  Leipzig^). 


^)  Aul3erdem  nach  Frachter  von  Cron-Uhle,  Schmelzer-Petersen  1912, 
Th.  Christ,  v.  Bamberg. 


140  Constantin  Ritter. 

Prächter  setzt  nach  dem  Ch  das  erste  Buch  der  Rp  an, 
darauf  Eu  und  nach  diesem  Ly.  Er  sagt  (S.  251),  diese  Stellung 
habe  er  dem  Dialog  „nach  den  Resultaten  der  Sprachstatistik  und 
seinem  Gesamtinhalte  bestimmt"  und  gibt  dazu  die  nähere  Aus- 
führung: .,Die  Frömmigkeit  ist  im  Pr  und  G  der  Gerechtigkeit 
koordiniert,  in  unserem  Gespräche  (11  e  ff.)  steht  sie  zu  ihr  im 
Verhältnis  der  Subordination,  und  in  der  Rp  erscheint  sie  nicht 
mehr  unter  den  Haupttugenden.  Man  hat  daraus  geschlossen,  daß 
die  Abfassungszeit  der  Schrift  zwischen  die  des  Pr  und  des  G 
einer-  und  der  Rp  anderseits  falle  (Gomperz,  Gr.  D.  II,  1  S.  289, 
93,  95).  Mit  Unrecht ,  wie  mir  scheint.  Beide  Auffassungen, 
die  koordinierende  wie  die  subordinierende,  wurzeln  in  volkstüm- 
lichen Anschauungen  (L.  Schmidt,  Ethik  d.  a.  Gr.  I  S.  303  f.,  08, 
R.  Hirzel,  Themis,  Dike  u.  Verw.  S.  180  f.),  und  PI.  konnte  im 
Eu  die  subordinierende  um  so  unbedenklicher  herausgreifen,  als 
sie  ihm  zwar  für  die  Einführung  eines  Definitionsversuches  einen 
brauchbaren  Anknüpfungspunkt  bot,  für  den  Inhalt  der  Definition 
aber  belanglos  war,  da  es  sich  bei  diesem  nur  um  die  'Götterpfiege' 
als  solche,  nicht  um  ihr  logisches  Verhältnis  zur  Gerechtigkeit 
handelte."  Durch  diese  kritische  Bemerkung  halte  ich  den  Streit 
über  den  betreffenden  Punkt  für  völlig  erledigt  und  Ausführungen, 
wie  sie  z.  B.  Räder  S.  129  und  Kleemann  S.  5  geben,  nach  denen 
der  G  dem  Eu  vorausgehen  müßte,  für  endgültig  abgetan.  Freilich 
Gomperz  erklärt  (S.  295):  „Es  bleibt  dabei,  daß  die  Unter- 
ordnung eines  Begriffes  unter  einen  anderen  und  ihre  Nebenordnung 
verschiedene  Dinge  sind  und  daß  das  Volksbewußtsein  entweder 
die  im  G  vorausgesetzte  Koordination  oder  die  im  Eu  geheischte 
Subordination,  nicht  aber  die  eine  sowohl  wie  die  andere  als  an- 
nehmbar erachten  konnte."  Doch  auch  v.  Arnim  hat  sich  diesen  | 
Folgerungen  nicht  gefügt.  (S.  152:)  „Auch  im  Me  wird  die  oOLOTVjg  \ 
neben  der  ör/Mioavvrj  genannt,  so  daß  der  Eu,  wenn  nach  dem  G, 
aus  demselben  Grunde  auch  nach  dem  Me  geschrieben  sein  müßte. 
Mit  Recht  hat  schon  Shorey  .  .  ,  diese  Schlüsse  als  'utterly 
fantastic'  bezeichnet.  Daß  PI.  die  boiozr.g  im  Eu  nicht  eliminieren 
wollte,  geht  aus  der  Stelle  N  67  d — 68  a  hervor."  Auch  das  gebe 
ich  Prächter  zu,  daß  die  in  14  abbiegende  Beweisführung  leicht 
richtiggestellt  werden  kann  von  einem  Leser,  der  mit  den  Ergeb- 
nissen des  La  und  Ch  vertraut  ist,  und  daß  hiedurch  die  Ver 
mutung  sehr  nahe  gelegt  wird,  diese  anderen  Dialoge  gehen  dem 
Eu  voraus.  Weiter  möchte  ich  mit  ßonhöffer  sagen:  „Be- 
achtenswert  ist,    daß    im  Eu   für   die  Einheitlichkeit  des  logischen 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PL  erschienenen  Arbeiten.    141 


Begriffs,  die  auch  in  den  vorangehenden  Dialogen'^  —  gemeint 
sind  La  und  Ch  —  „deutlich  gefordert  war,  bereits  die  auf  die 
Ideenlehre  hinweisenden  Ausdrücke  löea,  et  Sog,  .ragadety^ua  auf- 
treten, die  vielleicht  dafür  sprechen,  daß  der  Dialog  nicht  zu  den 
frühesten  gehöi-t,  sondern  in  der  Zeit  zwischen  G  und  Me  ent- 
standen ist."  Bestimmteres  sollte  nicht  behaujitet  werden,  ehe  die 
sprachlichen  Untersuchungen  erweitert  sind,  die  vielleicht  vollends 
über  die  Unsicherheit  des  Zeitansatzes  hinweghelfen  können.  In- 
zwischen möchte  ich  aufrechterhalten ,  was  ich  PI.  I,  368  ge- 
schrieben habe :  die  künstleiische  Ruhe,  mit  der  nicht  bloß  Sokr., 
sondern  auch  sein  Gegenspieler,  der  eifernde  Fanatiker  Euthvphron, 
gezeichnet  ist,  lasse  die  Vermutung  Schleiermachers  richtig  er- 
scheinen, daß  die  Abfassungszeit  der  Verhandlung  der  Anklage 
gegen  Soki\  voi-ausliege  ^).  Andernfalls  müßte  der  Eu  ,,um  erheb- 
liche Zeit  von  dem  Prozeß  abgerückt  werden  und  dürfte  dann 
wohl  erst  nach  dem  G  anzusetzen  sein,  wogegen  doch  gar  manches 
einzuwenden  wäre"  2). 

Ich  glaube  mich  aber  verpflichtet,  wenigstens  einiges  von 
dem  anzuführen,  was  andere  noch  haben  ermitteln  wollen. 
v.  Arnim  meint  (S.  141):  Der  Eu  bilde  „einen  integrierenden 
Bestandteil  der  Dialogreihe,  in  welcher  PI.  beweisen  will,  daß  auf 
der  eniOTri(.ii]  tov  ctyad^ov  alle  Tugenden  beruhen".  Deshalb  muß 
er  „vor  dem  Eus  geschrieben  sein,  in  dem  diese  Dialogreihe  ihren 
Höhepunkt  erreicht".  (143:)  Durch  die  Ausführungen  über  das 
Gerechte  in  7  c  ff.  „fühlen  wir  uns  an  Ep  I  erinnert,  wo  sowohl 
die  Gerechtigkeit  als  die  Unmöglichkeit  friedlichen  Zusammenlebens 
der  Ungerechten  51b  c  dargelegt  wird.  Man  wird  zugeben  müssen, 
daß  die  Eu-Stelle  demjenigen  Leser  mehr  bietet,  der  die  Ep-Stelle 
schon  kennt.  Auch  die  Worte  Eu  7  c  aviEQ  v.ala  tjyovviaL  — 
HioovoL  erinnert  an  Ep  I  34  c  uv.bg  f.iev  —  novr^QOcg  f^iioelv". 
Ferner  (144),  die  Definition  S  ar  TtävzEg  01  d^eol  /.iiawaiv,  avoaiov 
EOTiv,  o  ö  av  (piXwaiv  oaiov  ist  „gewissermaßen  die  Grundsäule 
der  idealistisch-intellektualistischen  Philosophie  Pl.s  .  .  .  Ohne 
die  hier  entwickelte  Grundüberzeugung,  daß  das  Gute  geliebt  wird, 
weil  es  gut  ist,  und  nicht  etwa  gut  ist,  weil  es  geliebt  wird,  ist 
der  gacze  Piatonismus  undenkbar.  Daß  PI.  den  L}-,  der  diese 
Frage  als  Aporie  behandelt,  so  nicht  hätte  schreiben  können,  wie 
er  ihn  geschrieben  hat,  nachdem  er  die  Frage  im  Eu  dogmatisch 
entschieden  hatte,  gehört  zu  den  absolut  sicheren  Ergebnissen  der 

*)  Wilamowitz  freilich  (S.  201  A.)  findet  das  „unbegreiflich". 

2)  Obgleich  z.  B.  Schanz  (3.  Jahr.-Ber.  1895  S.  58)  diesen  Ansatz  macht 


142  Constantin  Ritter. 

vergleichenden  Analyse"  [??].  —  (145)  „Das  logische  Verhältnis 
der  Spezies  (f^oQiov)  zum  Gattungsbegriff  wird  mit  einer  Breite 
und  Ausführlichkeit  erläutert,  die  uns  zeigt,  daß  dieser  Punkt  Pl.s 
Lesern  noch  nicht  geläufig  war,  und  daß  er  ihnen,  abgesehen  von 
dem  besonderen  Gegenstand,  eine  allgemeine  logische  Belehrung 
erteilen  will.  Vergleicht  man  diese  Erörterung  mit  der  im  Pr 
29  c — 30  a,  so  sieht  man  auf  den  ersten  Blick,  daß  im  Pr  das 
Verhältnis  der  Einzeltugenden  zur  Gesamttugend  nicht  mit  der- 
selben logischen  Schärfe  wie  im  Eu  dargestellt  wird  ...  Es  ist 
klar,  daß  „die  Formulierung  im  Pr  zum  Teil  hätte  anders  gegeben 
werden  müssen",  wenn  die  Erörterung  des  Eu  schon  vorgelegen 
hätte."  —  (146)  „Pr  31b  iyw  y.ev  yäq  avrbg  vtvsq  ye  sfiavtov . 
(falijv  av  xal  zfjv  diY.aiooivrjv  oaiov  eivai  v.al  ttjv  oGiÖTtjTa  diy.aiov. 
Zu  dieser  Stelle  steht  der  Satz  des  Eu:  tÖ  /UfV  ooiov  Ttäv  diy.aiov, 
ro  di  dty.aiov  ov  jcav  oaiov  in  einem  nicht  wegzuleugnenden 
Widerspruch.  Es  muß  aber  der  Satz  im  Eu  als  nachträgliche  Be- 
richtigung der  Pr-Stelle  und  nicht  umgekehrt  aufgefaßt  werden,, 
weil  er  der  in  der  E,p  vorgetragenen  Form  der  platonischen' 
Tugendlehre  näher  steht."  (146 f.:)  „Ohne  daß  die  Formulierung, 
Euthyphi'ons  dazu  streng  genommen  die  Berechtigung  gibt,  wird 
von  Sokr.  die  d^egaTteia  als  eine  TS%vrj  oder  STtiorrj^r]  tov  d^eqa-\ 
TtBvuv  gedeutet  .  .  .  Offenbar  erklärt  sich  das  nur  daraus"  [?], 
„daß  Pl.s  Leser  schon  gewohnt  sind,  die  Tugenden  als  STTiGT^juai,: 
aufgefaßt  zu  sehen.  Das  ^egoTteveiv,  auf  das  sich  die  boiorrjg  alsi 
e7tLGtr'jf.iiq  bezieht,  wird  dann  weiter  als  ctiq^eXelv  =  ßeXxiovg  rcoisTv 
aufgefaßt  .  .  .  Der  Übergang  .  .  .  entbehrt  jeder  Begründung." 
Ich  glaube,  er  bedarf  einer  solchen  nicht,  v.  A.  dagegen  bemerkt: 
„Ganz  anders  verfährt  PI.  an  der  Parallelstelle  Ep  I  35  b.  Da 
läßt  er  sich  die  Identifikation  von  ßXdnreod^ai  und  xbiqovq  yiyveaS-ai, 
erst  ausdrücklich  von  dem  Mitunterredner  zugestehen  .  .  .  Die 
Eu-Stelle  konnte  nur  deswegen  so  leicht  über  die  keineswegs 
selbstverständliche  Identifikation  hinweggleiten,  weil  sie  bereits  in 
Rp  I  eine  Rolle  gespielt  hatte  .  .  .  Die  Gleichung  d^egaiteveiv  = 
ßsXriovg  ^toielv  kennt  auch  .  .  .  der  La."  Eben  deshalb  genügte 
schlimmstenfalls  die  Annahme,  der  niemand  widerspricht,  daß  der 
La  dem  Eu  vorausgegangen  sei. 

Gomperz:  Die  Analyse  des  Gesprächs  im  Eu  liefere  „gute 
Gründe  zu  der  Annahme,  daß  er  dem  Pr  und  dem  G  nachgefolgt 
und  der  Rp  vorangegangen  ist".  Die  Gründe  bezüglich  des  G 
kennen  wir  schon ,  ich  habe  sie  aber  nicht  gut  gefunden.  Bezüg- 
lich des  Pr  aber  wird  niemand  Widerspruch  erheben. 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    I43 

Der  Gedankengehalt  ist  so  kurz  und  gut  von  Bonhöffer 
widergegeben,  daß  ich  ihn  hier  ausschreiben  kann:  „Im  Eu  wird  .  .  . 
der  Begriff  der  Frömmigkeit,  des  oaiov  und  avoaiov,  behandelt. 
Der  wegen  Asebie  angeklagte  Freigeist  Sokr.  möchte  von  dem 
Wahrsager  Euthyphron,  der  in  frommem  Eifer  seinen  Vater  auf  den 
Tod  ^)  angeklagt  hat,  sich  über  das  Wesen  der  Frömmigkeit  be- 
lehren lassen.  Die  Hauptbedeutung  des  Dialogs  liegt  .  .  .  eben  in 
diesem  gelungenen  Kontrast  zwischen  dem  beschränkten  Orthodoxen, 
dessen  unklare  und  unwürdige  Vorstellungen  von  Frömmigkeit 
deutlich  zutage  treten,  und  dem  ernsten  Philosophen,  dem  es  um 
eine  autonome  und  eben  damit  sittliche  Begründung  derselben  zu 
tun  ist.  Man  mag  der  im  2.  Teil  gegebenen  Bestimmung  des 
ooiov  als  einer  Art  des  ör/.aiov,  nämlich  des  auf  die  tiov  d^eiov 
d-EgaTTEia  bezüglichen,  einen  positiven  Wert  beimessen  und  auch 
diesen  Dienst  der  Götter  im  höheren  Sinne,  der  gewiß  derjenige 
des  PI.  war,  nämlich  als  Mitwirkung  an  der  Erfüllung  des  heiligen 
Gotteswillens  verstehen ;  aber  der  philosophische  Höhepunkt  des 
Dialogs  besteht  in  der  Diskussion  über  den  Satz  ooiov  =  rölg 
d^eoiq  TTQoaq^iXtg^  deren  wenn  auch  nicht  direkt  ausgesprochener 
Ertrag  der  ist,  daß  wü'  nur  das  als  oatov  anerkennen,  was  alle 
Götter  —  und  zwar  nicht  zufällig,  sondern  notwendig,  kraft  ihres 
göttlichen  Wesens  lieben  (9e):  das  ooiov  ist  nicht  von  dem  will- 
kürlichen Wohlgefallen  der  Götter  abhängig,  sondern  etwas  an  sich 
Gutes,  und  es  wird  von  den  Göttern  geliebt,  weil  sie  nichts  anderes 
als  das  wahrhaft  Gute  lieben  können,  weil  der  Wille  Gottes  zu- 
sammenfällt mit  dem,  was  der  Mensch  kraft  seiner  Vernunft  als 
den  wahren  Zweck  der  Welt  und  des  Lebens  erkennt." 

Natorp  (Pl.s  Ideenlehre  S.  38  A)  wül  die  Echtheit  der 
Schrift  2)  .  nicht  gelten  lassen:  „Sie  scheint  in  zu  auffallender  Weise 
ihren  ganzen  wesentlichen  Inhalt  anderen,  echten  Schriften  Pl.s  zu 
entnehmen;  und  sonst  hat  sie  viel  Befremdliches.  Sie  bedürfte 
zum  wenigsten  erst  einer  befriedigenderen  Erklärung,  als  sie  bisher 
gefunden  hat,"*  — ?  „wenn  man  sie  als  platonisch  gelten  lassen 
sollte.  Wenn  echt,  gehört  sie  unbedingt  in  die  nächste  Nähe  des 
Me"  —  nämlich,    weil    „gleichsinnig"  mit  dessen  Ausführungen  in 


^)  Das  wird  zu  berichtigen  sein.  Hoffmann  (S.  89)  erklärt:  „Die 
KHage  kann  nur  auf  unabsichtliche  Tötung  gehen,  worauf  Verbannung 
für  einige  Zeit  als  Strafe  stand." 

-)  Von  der  Schneider  urteilt:  „nach  meiner  Überzeugung  gehört  sie 
zu  dem  Wertvollsten  und  Bedeutendsten,  was  jemals  Menschen  gedacht 
und  geschrieben  haben". 


144  Constantin  Ritter. 

Eu  4d,  6d  „die  Idee'"  auftritt;  „keinesfalls  mit  Ap  und  Cr  zu- 
sammen". 

Mit  Eecht  wii-d  gewiß  auch  betont,  daß  die  Logik  im  Eu  eine 
bedeutendere  Rolle  spiele  als  in  manchen  anderen  der  kleinen 
Dialoge;  sogar  den  Ch  eingeschlossen,  meine  ich.  Einige  Sätze, 
von  V.  Arnim  und  von  Gomperz ,  die  darauf  Bezug  haben ,  sind 
•oben  ausgeschrieben.  Bei  Gomperz  trägt  S.  295  die  Überschrift 
„Logische  Gewaltsamkeiten  des  Eu".  Belehrung  über  diese  Dinge 
wird  man  zuerst  bei  L  u  t  o  s  1  a  w  s  k  i  suchen  ,  dessen  Buch  durch 
seinen  Titel  The  origin  and  growth  of  Plato's  Logic  bestimmte 
Erwartungen  erregt.  Beim  Eu  wird  man  sie  durch  das,  was  Luto- 
slawski  bietet ,  kaum  voll  befriedigt  finden.  Wir  lesen :  PI.  stand 
noch  ganz  unter  dem  Einfluß  des  Sokr.  Übrigens  sehen  wir  ihn 
vertraut  mit  der  Regel ,  daß  ein  Begriff  zu  definieren  sei  durch 
Unterordnung  unter  einen  höheren  mit  Angabe  der  differentia  speci- 
fica:  12  c  el  /.teQog  to  oaiov  tov  dr/.aiov,  dei  .  .  i^svQelv  ib  Ttoiov 
f-itQog.  Von  Induktion  und  Analogie  macht  er  häufigen  Gebrauch. 
Dabei  dringt  er  auf  TTnveränderlichkeit  der  Begriffe,  zeigt,  daß  zu 
ihrer  Erfassung  die  Aufzählung  von  Beispielen  nicht  genüge,  und 
sucht  das  kennzeichnende  Merkmal.  Dieses  heißt  hier  elöog,  mit 
demselben  Wortgebrauch,  den  auch  Thukydides  hat  (sidog  vöoov 
2,  50).  Auch  die  Verwendung  von  Idea  in  6  e  weicht  von  dem 
Gebrauch  älterer  Prosaiker  nicht  ab.  Zu  chronologischen  Schlüssen 
bieten  also  beide  keinen  Anhalt.  Auch  TiaQccdsiyfAa  nicht.  —  „Eine 
wichtige  logische  Unterscheidung  macht  der  Eu  zwischen  Tätigkeit 
und  Eigenschaft:  die  Eigenschaft  ist  Wirkung  einer  bestimmten 
Tätigkeit,  aber  niemals  Ursache  oder  Grund  dieser  Tätigkeit  (10  c). 
Das  wird  hier  durch  eine  Anzahl  von  Analogien  deutlich  gemacht, 
bevor  es  in  allgemeiner  Form  zum  Ausdruck  kommt.'" 

Gomperz  (S.  296)  macht  „auf  die  überraschende  Parallele 
aufmerksam ,  welche  Kants  'Religion  innerhalb  der  Grenzen  der 
bloßen  Vernunft'  zu  dem  Grundgedanken  des  Eu  darbietet".  In 
der  Tat  sind  die  von  ihm  angezogenen  Sätze  eine  treffliche  Be- 
leuchtung des  platonischen  Gesprächs. 

Auch  die  Sätze,  mit  denen  Hoffmann  seinen  Aufsatz  ab- 
schließt, halte  ich  für  beachtenswert:  „Der  ungerechte  Mensch 
kann  nicht  fromm  sein;  der  gerechte  wird  es,  indem  er  sein  ganzes 
Tun  in  den  Dienst  der  Götter  stellt:  die  Frömmigkeit  ist  also  die 
Vollendung  der  menschlichen  Gerechtigkeit  .  .  .  Zwar  erhebt  sich 
das  Bedenken,  daß  auch  der  gerechteste  Mensch  nicht  vollkommen 
ist   und   deshalb    auch  der  Gnade  der  Götter  bedarf.     Darauf  geht 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    I45 

die  platonische  Ethik  nicht  näher  ein;  doch  wird  im  10.  Buch  der 
Rn,  am  Schlüsse  dieser  großen  Darstellung  der  Gerechtigkeit  das 
Vei'trauen  ausgesj^rochen  (13  a),  daß  die  Götter  den  nicht  ohne 
Fürsorge  lassen,  der  entschlossen  ist,  sich  gerecht  zu  zeigen  und 
die  Tugend  zu  üben ,  soweit  es  dem  Menschen  möglich  ist ,  gott- 
ähnlich zu  werden.  Das  Bewußtsein  der  Sündhaftigkeit ,"  welches 
in  den  hebräischen  Psalmen  so  ergreifenden  Ausdruck  findet ,  ist 
der  griechischen  Philosophie  fremd;  sie  findet  die  Frömmigkeit  in 
dem  Streben  nach  Gerechtigkeit,  die  christliche  Lehre  in  dem  Gebet 
um  Erlösung  von  der  Sünde,  damit  unser  Handeln  gerechtfertigt  sei." 

Eitel  Faselei  finde  ich  in  einem  Aufsatz  E.  Höttermauns, 
Pl.s  Polemik  im  Eu  und  Cra,  Ztschr.  f.  d.  G.-Ws.  1910  S.  65  ff. 
Ich  werde  zur  Kennzeichnung  desselben  beim  Cra  einige  Sätze  an- 
führen. Manches  Gute  enthält  dagegen  der  Aufsatz  Kleemanns. 
Seine  „Analyse  der  Lehren  des  Dialogs"  auf  S.  5 — 13  kann  dem 
Lehrer,  der  den  Eu  in  der  Schule  zu  erklären  hat,  neben  der  von 
G.  Schneider  zur  Beachtung  empfohlen  werden.  Er  zeigt,  mit  welch 
künstlerischer  Sicherheit  und  psychologischer  Feinheit  hier  der 
Kampf  zweier  Weltanschauungen  dargestellt  wird,  deren  eine,  von 
dem  Seher  Euth^-phron  vertreten,  sich  als  feige  und  selbstsüchtige 
Deisidämonie  kennzeichnet  und  darauf  hinausläuft ,  daß  die  jeder 
Fessel  entkleidete  Willkür  der  Götter  für  den  Menschen  höchstes 
Gesetz  sein  soll ,  während  Sokr.  als  Vertreter  der  anderen  zum 
Bewußtsein  bringen  will,  daß  auch  die  Götter  eine  höchste  Macht 
über  sich  anerkennen,  deren  Gebote  für  sie  bindend  sind,  nämlich 
das  Gute  (im  Sinn  der  „Idee"  des  Guten),  und  daß  darum  die 
Menschen  dieses  Gute  um  seiner  selbst  willen  zu  erstreben  haben, 
womit  sie  dann  eben  auch  ihre  Pflicht  gegen  die  Götter  erfüllen. 
Mit  Scharfblick  deckt  er  auch  die  Fäden  auf,  die  den  1.  und  2.  Teil 
des  Dialogs  zusammenhalten,  und  läßt  uns  (S.  9)  erkennen,  daß  die 
begriffliche  Unterordnung  der  Frömmigkeit  unter  die  Gerechtigkeit 
als  Resultat  der  bisherigen,  scheinbar  ergebnislos  verlaufenen  Unter- 
suchung zu  betrachten  ist  und  deshalb  Gomperz  Unrecht  hat  mit 
seiner  Behauptung  (394  f.),  daß  die  Zustimmung  Euthyphrons  zu 
der  von  Sokr.  vorgeschlagenen  Fassung  des  Begriffsverhältnisses 
nur  durch  einen   „logischen  Gewaltakt"   zustande  komme. 

Freilich  die  chronologischen  Schlüsse  K.s,  aus  denen  sich  ihm 
die  Folge  (G  — )  Sy  —  Eu  —  Me  —  Rp  ergibt ,  muß  ich  ablehnen. 
Ihre  Stützen  sind  alle  gebrechlich.  Z.  B.  sagt  K.  (S.  19):  „Es 
wäre  .  .  unverständlich,  wenn  PI.  erst  im  Me  die  wahre  Ursache 
der  Verurteilung    des  Sokr.    dargelegt    und    sodann   im  Eu    gezeigt 

Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft.    Bd.  191  (1922.  I).  10 


146  CoKstantüi  Eitter. 

hätte,  wer  den  Prozeß  nicht  veranlaßt  hat"  —  als  ob  es  die  vor- 
nehmste Absicht  des  Eu  wäre,  eben  das  zu  zeigen.  —  Oder:  Aus 
Sy  Ole  soll  zu  ersehen  sein,  daß  der  Begriff  des  Mittleren  hier 
zum  erstenmal  untersucht  werde ;  dagegen  dem  Eu  sei  dieser  schon 
vertraut,  wie  lleff.  zeige.  Aber  in  der  Tat  handelt  es  sich  dort 
nicht  um  den  Begriff  des  Mittleren;  jedenfalls  ist  der  logische  Prozeß 
in  den  beiden  verglichenen  Stellen  ein  erheblich  verschiedener.  — 
Aus  dem,  was  über  die  Unsterblichkeit  im  Me  gesagt  oder  an- 
gedeutet, im  Eu  nicht  gesagt  wird,  läßt  sich  so  wenig  schließen, 
wie  die  viel  auffallenderen  Unterschiede  zwischen  Sy  und  Phn  in 
diesem  Punkt  einen  sicheren  chronologischen  Schluß  ermöglichen. 
Nicht  einmal  was  K.  gegen  den  für  mich  recht  bestechenden  Schleier- 
macherischen Ansatz  des  Eu  auf  die  Zeit  des  schwebenden  Pro- 
zesses im  Jahr  399  vorbringt,  scheint  mir  von  Bedeutung.  Ja,  ich 
begreife  nicht,  wie  K.,  der  doch  (S.  18)  ausspricht:  „Deutlicher", 
als  er  es  durch  den  Mund  des  Euthyphron  3  a  tut,  „konnte  es  PI. 
wohl  nicht  sagen ,  daß  die  Anklage  auf  Asebie  nur  ein  Yorwand 
war,  daß  die  Rechtgläubigen  in  Sokr.  vielmehr  einen  wackeren 
Mann  verehrten  und  mit  jener  Anklage  durchaus  nicht  einverstanden 
waren,"  vorher  (S.  3  f.)  zur  Unterstützung  Überwegs  schreiben  kann: 
„hätte  PI.  den  Eu  als  Flugschrift  während  des  Sokr. -Prozesses  er- 
scheinen lassen,  so  hätte  dies  für  den  Angeklagten  um  so  schlimmere 
Bedeutung  gehabt,  je  mehr  Leser  sich  dafür  gefunden  hätten.  Die 
Behauptung  der  Ankläger,  Sokr.  habe  die  Staatsreligion  nicht  an- 
erkannt, wird  ja  durch  den  Dialog  schlagend  bestätigt." 

Ganz  ausgezeichnet  ist  Schneiders  kurzer  Aufsatz.  Ich 
empfehle  ihn  namentlich  jedem  Lehrer,  der  den  Eu  in  einer  Schul- 
klasse zu  behandeln  hat.  Auch  Falbrecht  verweist  auf  ihn. 
Dessen  eigene  Behandlung  des  Dialogs  ist  aber  hölzern  und  lang- 
weilig: ein  wenig  ermutigendes  Beispiel  dafür,  was  herauskommt, 
wenn  man  einen  platonischen  Dialog  nach  Herbart  -  Zillerischer 
Methode  traktieren  will.  Einiges  Gute  findet  sich  ja  auch  auf  den 
langen  77  Seiten,  aber  die  Körner  sind  recht  spärhch  zwischen 
der  Masse  der  Spreuhülsen  und  die  Schulmeisterweisheit  gibt  sich 
gar  zu  breit  und  aufdringlich. 

Schließlich  noch  eine  kritische  Bemerkung  zu  v.  Arnims 
Ausführungen  auf  S.  149.  Ich  meine,  er  legt  viel  zu  viel  hinein  in 
die  Worte  des  Sokr.  14c:  ov  7tQüdv(.iög  ^e  ei  öidd^ai'  drjXog  W 
ytal  yag  vvv  STteLÖr^  hz  avzi^  tjod-a,  aTtsrQanov'  o  el  anexQivco, 
txavcög  av  r^ör]  Ttaga  oov  ri^v  oaioTrjza  if.iEfia&^-/.i].  Ich  erinnere 
an  12  e  f.:    Kakcug  yi  /noi    (paivEL  Xäyuv    aXXä    afiii<QOÜ   rivog  s'vi> 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    147 

evÖEijg  el(.ii  und  an  \-iele  ähnliche  Wendungen  in  anderen  Dialogen, 
z.  B.  Pr  28 6  vvv  TteTieio^iai.  TrXriv  OfAi/.QOv  ti  fiot  i/^tTtodcov,  0 
dr^lov  Ott  ngcüTayogag  gadiiog  i7t€y.did(i^si,  snEidt]  xat  ra  noXXä 
Tatra  i^ediöa^e  und  ebendort  29b,  oder  Ch  73  d,  So  49  de,  Phi  20  c  ^). 


^)  Auch  Joel  wollen  wir  noch  hören  über  den  Eu.  Anknüpfend 
an  seine  unten  abgedruckte  Bemerkung  fährt  er  fort:  „Ich  finde, 
daß  PI.  den  Kyniker  mit  seiner  Forcierung  des  &(o(fi^g  und  seinem" 
—  angeblichen  —  „Fehler,  die  Substanz  aus  dem  Accidens  zu  begründen, 
noch  ausführlicher  kritisiert,  und  zwar  im  Eu,  den  ich  bei  dieser  Ge- 
legenheit" —  man  höre.'  —  „als  eine  satirische  Recension  des  Antisthenes 
deuten  möchte."  —  Wirklich?  im  Ernst?  Ein  schönes  Beispiel,  wie  kluge 
urteilsfähige  Menschen  durch  eine  Hypothese  fasciniert  werden  können. 
Es  ist  mir,  als  sähe  ich  einem  in  Hypnose  auf  fremde  Eingebungen 
blindlings  aber  sicher  Handelnden  zu,  wenn  ich  die  Einzel ausführungen 
der  These  lese,  aus  denen  ich  mit  folgendem  einen  Auszug  gebe:  „Muß 
wirklich  ein  PI.  eine  besondere  Schrift  loslassen,  um  einen  Dummkopf 
lächerlich  zu  machen?  Ist  es  nicht  würdiger  der  platonischen  Kunst 
und  fast  selbstverständlich"  (?)  .,für  sie,  daß  in  der  Maske  des  Lächer- 
lichen ein  ernsterer  Gegner  steckt  und  der  Kritik  erliegt?  Trägt  nicht 
das  ganze  Gespräch  den  sichtbarsten  Stempel  der  Fiktion?  .  .  Glaubt 
irgend  jemand  ernstlich,  daß  Euthyphro  seinen  eigenen  Vater  dem  Blut- 
richter überwies?  .  .  Das  ist  burleske  Phantasie,  wie  sie  PI.  z.  B.  im  Ion 
spielen  läßt"  —  dieser  Ion  bietet  sich  immer  bequem  dar,  wenn  man  PI. 
irgendeiner  Ungeschicklichkeit  überführen  will ;  und  wer  nun  gar,  gleich 
Joel,  auch  den  Clitophon  und  Alcibiades  I  als  echt  nimmt,  der  hat  schon 
eine  ziemlich  breite  Grundlage  für  Folgerungen,  die  einen  Nebelschleier 
aufsteigen  lassen  —  n^^^  in  den  Fechtern  des  Eus,  die  Eristiker  werden, 
und  wie  man  bereits  in  diesen  beiden  satirischen  Dialogen  raehr  oder 
minder  deutlich  als  kritisches  Objekt  Antisthenes  erkannt  hat,  so  wird 
es  bald  auch  im  Eti  ergehen.  .  .  .  Antisthenes  fühlt  sich  als  Prophet  .  . 
PI.  kann  Ant.,  den  er  auch  Phi  44b  51a  mit  einem  Seher  vergleicht,"  (!) 
„nicht  schwerer  treffen,  als  wenn  er  ihn  als  gewöhnlichen  Mantiker  be- 
handelt, wie  er  ihn  als  Dichterinterpreten  mit  den  ihm  verhaßten  Rhap- 
soden zusammenwirft  .  .  .  Die  platonische  Satire  läßt  nun  auch  Euthyphro 
ganz  mit  antistheuischen  Allüren  auftreten'"  —  wirklich?  hat  irgendein 
unbefangener  Leser  den  Eindruck,  daß  er  es  mit  einem  Kyniker  zu  tun 
habe?  —  „Aber  nun  der  eigentliche  Gesprächsinhalt  und  vor  allem  das 
Motiv  des  Dialogs?  Was  soll  die  tolle  Anklage  des  Sohns  gegen  den 
Vater?  Als  konkreter  Fall  ist  sie  unverständlich  .  .  .  Der  Fall  ist  so 
verschmitzt,  daß  die  Anklage  des  Euth.  gegen  seinen  Vater  möglichst 
närrisch  erscheint.  Aber  die  These  des  Euth.  ist  garnicht  lächerlich.  Er 
sagt  .  . :  ich  behaupte  .  . ,  daß  es  fromm  ist,  den  Täter  jedes  Verbrechens 
zu  verfolgen,  und  wenn  es  der  Vater  oder  die  Mutter  ist.  Das  ist  nicht 
die  These  eines  abergläubischen  Dummkopfs  wie  Euthyphro ,  sondern 
eines  Doktrinärs."  —  Kann  denn  der  abergläubische  Dummkopf,  der  be- 
schränkte Fanatiker  keiner  doktrinären  These  folgen?  Man  denke  an 
den   tollen  Agostino   in   K.  F.  Meyers  Jürg  Jenatsch.  —   „Gab   es  eine 

10* 


148  Constantin  Ritter. 

Apologia  (=  Ap)  behandelt  von  M.  Schanz  in  der  Einleitung 
seiner  Ausgabe  mit  deutschem  Kommentar,  Leipzig  1893.  S.  1 — 112, 

solche  Doktrin?  Ich  meine,  m.an  wird  hier  an  die  bekannte  These  der 
Stoa  denken  müssen,  daß  es  dieselbe  Sünde  ist,  ob  man  seinen  Vater  oder 
einen  Sklaven  ungerecht  töte."  —  Warum  soll  man  nicht  an  religiöse 
Sühn  Vorschriften  denken,  die  doch  auch  zwischen  den  unrein  gewordenen 
Personen  im  allgemeinen  nicht  unterscheiden?  —  „PI.  bekämpft . .  in  Euth. 
einen  Vorläufer  der  Stoa,  nnd  als  Zeitgenosse  bietet  sich  nur  Antisth.  .  . 
Ist  der  Fall  Eu  nicht  nur  eine  Anwendung  des  Satzes,  daß  vor  der  Sixr] 
die  Familienbande  zurücktreten  müssen,  die  der  Kyniker  doch  auch  sonst 
mißachtet?  Und  tatsächlich  lesen  wir  als  Satz  des  Antisth.  L.  D.  12: 
öCxacuv  ntoi  nXti'ovog  noitityO^ui,  tov  avyysrovg.  Kann  nun  PI.  die  These 
des  Kynikers  boshafter  satirisch  treffen,  als  wenn  er  aus  dem  vom 
Kyniker  gebotenen  Extrem  Ernst  macht  und  wirklich  einen  Narren  als 
Ankläger  des  eigenen  Vaters  vorführt?  .  .  'HQaxhigl  ruft  Sokr.  (4a),  als 
er  von  der  Anklage  hört,  —  dieser  Ausruf  ist  bei  PI.  wie  bei  Xenophon 
immer  das  Signal,  daß  eine  Paradoxie  des  Kynikers  citirt  wird  .  .  ."  So 
geht's  noch  Seitenlang  —  4  enggedruckte  Seiten  —  ich  möchte  sagen, 
mit  geistreichem  Gewitzel:  aber  nein,  mit  bitterem  durch  Scharfblick 
und  fleißige  Sammeltätigkeit  unterstütztem,  jedoch  m.  E.  von  einer 
Wahnidee  geleitetem  Ernste  fort.  —  Aus  der  Erörterung  der  im  Dialog 
aufgestellten  Definitionen  muß  ich  noch  einige  bezeichnende  Sätze  ent- 
nehmen, die  mir  in  der  Tut  beachtenswert  scheinen  (.512  f.):  „Zum 
folgenden  Definitionsversuch  muß  der  v,'eisheitgeschwollene  Euth.  erst 
geschoben  werden.  Was  soll  es  bedeuten,  daß  Sokr.  ihm  eine  Definition 
in  den  Mund  schiebt,  vim  sie  ihm  wieder  zu  nehmen?  .  .  Es  ist  wieder 
klar,  daß  sie  von  einem  anderen  geboten  ist,  der  hinter  Euth.  steht  .  . 
Die  Definition  .  .  lautet :  das  oatov  ist  das  äi'xaiov,  soweit  es  sich  auf  die 
Pflichten  gegen  die  Götter  bezieht,  im  Unterschied  vom  übrigen  Ji'xuiot  . . 
Die  Definition  ist  .  .  dieselbe  wie  die  des  xenophontischen  Sokr.  .  .  Die 
Übereinstimmung  erklärt  sich  nur  so ,  daß  beide  die  Definition  des 
Antisthenes  aussprechen  ...  Es  ist  nicht  das  einzige  Mal,  daß  bei  PI. 
eine  Definition  des  xenophont.  Sokr.  einem  andern  in  den  Mund  gelegt 
und  von  Sokr.  gerade  widerlegt  wird:  es  geschieht  auch  z.  B.  im  La 
und  Ch  und  ist  eben  nur  so  zu  verstehen,  daß  PL  eine  andere,  die 
antisthenische  Sokratik  widerlegt,  der  Xenophon  folgt."  Was  Joel  weiter 
anschließt,  verliert  sich  wieder  in  dämmerhaftes  Dunkel,  wo  frei  spielende 
Phantasie  kaum  vom  kritischen  Verstand  zurechtgewiesen  werden  kann.  — 
In  anderem  Zusammenhang,  im  2.  BanJ,  kommt  J.  noch  einmal  auf  den 
Eu  zu  sprechen.  Er  will  da  zeigen,  daß  der  „Sophist"  Antiphon,  den 
Xen.  Mem.  I,  6  mit  Sokr.  disputieren  läßt,  keine  andere  Person  sei,  als 
der  bekannte  Eedner  und  Staatsmann  aus  Rhamnus.  Zum  Beweis  dafür, 
daß  mit  ihm  Antisth.  einen  Strauß  gehabt  habe ,  führt  er  u.  a.  ff.  an 
(S.  647):  In  seiner  Rede  xarrc  Tfjg  firjToviäi  läßt  Antiphon  „einen  Sohn  als 
Ankläger  den  Mord  seines  Vaters  sühnen ,  den  seine  .  .  Gattin  getötet 
haben  soll.  A.  behandelt  da  die  Frage,  ob  es  (vafßf'i  ist,  seine  Eltern 
wegen  Totschlags  anzuklagen,  —  das  ist  aber  die  Frage  des  platonischen 
Eu,  der,  wie  sich  zeigte,  gegen  Antisth.  gerichtet  ist.    [Selbst  das  Landlos 


Ber.  über  d.  in  J.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    I49 

Gomperz  S.  79  ff.,  Eäder  S,  89—92,  Wilamowitz  S.  153  ff.  und 
179  f.,  Pohlenz  S.  18—23,  Windelband-Bonhöffer  S.  148  f.  Apelt 
in  der  Einleitung  zu  seiner  Übersetzung  S.  1 — 16.  Als  neuere  er- 
klärende Ausgabe  liegt  mir  vor  ^)  Piatons  Verteidigungsrede  des  Sokr. 
und  Kriton,  für  den  Scliulgebrauch  erklärt  von  H.  Cron,  12.  Aufl. 
von  H.  Uhle,  Leipzig  (Teubner)  1912.  Dazu  kommt  I.  Bruns,  Das 
literarische  Porträt  der  Griechen  im  5.  und  4.  Jahrh.,  Berlin  1896- 
R.  Pühlmann,  Sokrates  und  sein  Volk.  Ein  Beitrag  zur  Geschichte 
der  Lehrfreiheit  (Histor.  Bibl.  8)  1899.  Fr.  Beyschlag,  Die  An- 
klage des  Soki'.  Progr.  Neustadt  a.  H.  1900,  08  S.  Ad.  Menzel, 
Untersuchungen  zum  Sokr.-Processe,  Wiener  Ak.  Sitz.-B.  ph.-h.  Kl. 
1902  (145)  II,  S.  1—64.  A.  E.  Taylor,  Varia  Socratica,  St.  Andrews 
University  Publications  N.  IX,  1911,  insbes.  S.  1 — 39,  H.  Maier, 
Sokrates,  1913,  Kap.  7,  insb.  S.  463—498,  E.  Horneffer,  Sokr.  und 
die  Ap ,  mit  Einem  Beitrag :  Das  delphische  Orakel  als  ethischer 
Preisrichter  von  R.  Herzog,  1922. 

Bei  der  Ap  ist  die  alte  Streitfrage  noch  nicht  entschieden, 
wie  eng  sie  sich  anschließe  an  die  von  Sokr.  selber  gehaltene 
Verteidigungsrede.  Die  Frage  des  zeitlichen  Ansatzes  hängt  damit 
eng  zusammen.  Natürlich.  Denn  wer  mit  Schleiermacher  an- 
nehmen wollte,  „daß  wir  an  dieser  Rede  von  der  wirklichen  Ver- 
teidigung des  Sokr.  eine  so  treue  Nachschrift  aus  der  Erinnerung 
haben,  als  bei  dem  geübten  Gedächtnis  des  PI.  und  dem  notwendigen 
Unterschiede  der  geschriebenen  Rede  von  der  nachlässig  ge- 
sprochenen nur  möglich  war",  mußte  sich  die  Niederschrift  und 
Veröffentlichung  fast  unmittelbar  nach  dem  Prozeß  erfolgt  denken. 
Umgekehrt,  je  auffallender  man  sich  die  Abweichungen  vom  wirk- 
lichen Hergang  denkt ,  desto  längere  Zwischenzeit  muß  man  an- 
nehmen, weil  doch  gewiß  kein  Zug  der  Darstellung  dem  lebendigen 
Gedächtnis  vieler  Zeugen  der  Verhandlung  Hohn    sprechen  durfte. 

Besonders  gründlich,  freilich  nicht  eben  glücklich  ist  alles 
Einschlägige  erörtere  worden  von  Schanz.  Ich  habe  mir  einst 
einen  Auszug  aus  seiner  Einleitung  gemacht  und  seine  Sätze  beim 


auf  Naxos,  Eu  4  c,  ist  bei  Antiphon  gegeben  ...  Es  bestätigt  sich  wieder, 
was  man"  (?)  .,längst  erkannte:  daß  PL  im  G  von  der  Eigorosität  des 
Kynikers  angesteckt  ist. und  der  Eu  zu  jenen  Dialogen  gehört,  in  denen 
PI.  gegen  die  bisherige  Autorität  die  Waffen  kehrt".]  ,,Xun  klärt  sich  der 
Sachverhalt  ganz:  der  Eu  kritisiert  eben  diese  antisthenische  Apologie 
Orests,  die  selbst  wieder  durch  Antiphon  kritisch  angeregt  ist"  .  .  . 

')  Außerdem  verzeichnet  Prächter:   Schmelzer-Petersen,  Th.  Christ, 
V.  Bamberg,  Bertram-Koch  (zusammen  mit  Kriton). 


150  Constantin  Ritter. 

Abschreiben  durch  Einwände  unterbrochen,  die  sich  mir  unmittelbar 
aufdrängten.  Mit  diesen  durchsetzt,  will  ich  sie  auch  hier  geben. 
(S.  69):  „Es  fragt  sich,  ob  wir  die  Ap  als  eine  Reproduktion  der 
vor  Gericht  gehaltenen,  oder  als  eine  freie  Schöfung  Pl.s  zu  halten 
haben.  Die  Entscheidung  ist  absolut  notwendig,  wenn  wir  das  Werk 
richtig  würdigen  wollen."  (S.  71):  „Eines  dürfte  unbestritten  sein, 
daß.  das  Ziel  jeder  Verteidigung  vor  allem  sein  muß,  die  Anklage 
zu  entkräften,  um  dadurch  die  Freisprechung  zu  erreichen."  — 
Das  eben  möchte  ich  für  den  vorliegenden  Fall  aufs  allerentschie- 
denste  bestreiten ,  und  Schanz  selbst  nimmt  es  eigentlich  zurück 
damit,  daß  er  der  xenophontischen  Apologie  folgen  will,  nach  der 
Sokr.  sich  gar  nichts  anderes  wünschte,  als  jetzt  vom  Schauplatz 
des  Lebens  abtreten  zu  dürfen.  —  „Steht  die  Sache  des  Au- 
geklagten auf  schwachen  Füßen,  so  wird  er  wenigstens  den  Schein 
der  Widerlegung  zu  erzeugen  versuchen.  Aber  kein  Angeklagter 
wird  die  Anklagepunkte  noch  erweitern  oder  sie  so  verändern,  daß 
er  sich  die  Verteidigung  wesentlich  erschwert.  Und  doch  ist 
beides  von  der  Ap  geschehen  .  .  .  Die  Verteidigung  mußte  um 
jeden  Preis  zeigen ,  daß  Sokr.  an  die  Gemeindegötter  glaubt,  und 
daß  er  keine  anderen  Götter  einführen  will.  Ist  dies  bewiesen 
und  damit  der  erste  Anklagepunkt  entkräftet,  so  fällt  damit  auch 
die  Verderbung  der  Jugend  weg ;  denn  die  Annahme ,  daß  Sokr. 
anders  glaubt  und  anders  lehrt,  muß  doch  von  vornherein  abgelehnt 
"werden."  —  Sehr  schlechte  Begründung!  Seinen  Glauben  an  die 
Götter  der  Stadt ,  als  innere  Herzensüberzeugung ,  hätte  der  An- 
geklagte niemals  beweisen  können ;  nur  daß  er  ihnen  äußerlich  alle 
schuldigen  Ehren  erweist.  Dabei  hätte  doch  ganz  wohl  der  Ver- 
dacht bestehen  können ,  daß  er  sie  im  vertraulichen  Kreise  vor 
seinen  Schülern  heruntersetze.  (S.  72:)  „In  der  Ap  tritt  uns 
das  Ungeheuerliche  entgegen,  daß  der  Angeklagte  den  Klagegrund 
zu  seinen  Ungunsten  verschiebt.  Während  er  nur  der  Einführung- 
neuer  Gottheiten  beschuldigt  wird,  läßt  er  sich  von  Meletos  die 
Anklage  dahin  erläutern,  daß  er  zum  Atheisten  gemacht  wird,  und 
verteidigt  sich  daraufhin  gegen  den  Atheismus."  —  Darauf  haben 
andere  schon  sehr  verständig  das  Nötige  geantwortet.  [Und  es 
werden  nachher  solche  Antworten  folgen.]  —  „Solche  Erscheinungen 
finden  nur  dadurch  ihre  Erklärung,  daß  unser  Schriftstück  nicht 
eine  gerichthche  Verteidigung,  sondern  eine  Rechtfertigung  des 
Sokr.  ist,  daß  es  sich  nicht  um  die  Widerlegung  einiger  Anklage- 
punkte ,  sondern  um  die  Erkenntnis  und  die  richtige  Erfassung 
eines    großartigen    Lebens    handelt."    —    Gewiß!    aber    warum    soll 


Ber,  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PL  erschienenen  Arbeiten.     151 

Sokr.  nicht  eben  die  Gelegenheit,  da  er  vor  so  vielen  Männern 
öffentlich  sprechen  mußte,  dazu  benützt  haben,  sein  ganzes  Leben 
und  Streben  zu  beleuchten?  Das  eben  scheint  mir  die  fueyaXr,- 
yoQia,  die  ja  auch  der  Verfasser  der  „xenophontischen"  Apologie  an- 
erkennt. Und  ist  es  denn  nicht  Sokr. ,  dessen  Bild  PL  auch  im 
Th  noch  vor  Augen  hat  an  der  bekannten  Stelle,  wo  er  den  Philo- 
sophen schildert,  der  vor  Gericht  gezogen  alles  das  übersieht  und 
mißachtet ,  was  der  gewiegte  Weltmann  als  selbstverständliche. 
Klugheitsregel  für  sein  Verhalten  befolgt  und  was  der  gewöhnHche 
Richter  an  Ehrerbietung  und  Rücksichtnahme  auf  seine  Person 
verlangt?  Eben  an  Schanzens  Kritik  bestätigt  sich  der  Satz 
Th  72  c  C0g  etxorwg  0/  sv  raig  cpi).ooo(fiaig  no}^vv  xqovov  diaTQiif.iavT€g 
eig  ra  dr/MOvtJQia  lorreg  ye'LoloL  (faivovvm  o/jzoQeg,  denn  rot;,' 
Xoyoig  SV  eiQ^vrj  eni  axol^g  rtOLOvvzai  und  (74  c)  ?.r]Qc6Ö£ig  öo'/.oiaiv 
elvai  —  ov  uorov  Qqaziaig,  aXXa  %al  zw  aXXto  oxlqj.  (73 :)  „Eine 
Unmöglichkeit  daun  die  Angabe,  daß  Sokr.  durch  den  delphischen 
Orakelspruch  erst  zu  seiner  Menschenprüfung  veranlaßt  wurde  .  .  . 
Die  Folge  ist  damit  zur  Ursache  gemacht.  Dies  kann  ein  Schrift- 
steller tun,  der  jene  Elenktik  auf  den  göttlichen  Ursprung  zurück- 
führen will,  nicht  aber  Sokr.,  der  kurz  zuvor  erklärt  hatte,  nur  die 
volle  Wahrheit  sagen  zu  wollen,  und  jetzt  die  Deutung  eines  Vor- 
gangs vorbringt ,  die  alle  Richter  sofort  als  eine  falsche  erkennen 
müssen  und  durch  die  er  sich  nur  schaden  mußte."  —  Nach 
„Xenophon"  sind  die  Zuhörer  sehr  ungehalten  gewesen,  wie  Soki*. 
von  diesem  delphischen  Orakel  erzählte.  Aber  so  pedantisch,  wie 
Seh.,  braucht  man  wirklich  die  Versicherung  der  strengen  Wahr- 
heitstreue nicht  zu  nehmen ,  daß  eine  durchsichtig  ironische 
Begründung  damit  ausgeschlossen  würde.  —  (74  :J  „Auch  die 
1.  Rede  gibt  sich  den  Anschein  einer  Improvisation  .  .  .  Nun  hat 
aber  die  Disposition  gezeigt ,  daß  wir  ein  künstlich  aufgebautes 
Ganze  haben,  das  von  der  Improvisation  so  weit  als  möglich  ent- 
fernt ist."  — ?  Muß  denn  die  Improvisation  eines  Sokr.,  der  täg- 
lich die  Kunst  des  lebendigen  Wechselgesprächs  übt  und  darin 
anerkannter  Meister  ist,  ungeschickt  sein?^)  —  „Bekannt  ist  die 
Eigentümlichkeit  der  Anrede  in  der  Ap.  Mit  peinlicher  Strenge 
wird  (ij  avÖQCg  öi/.aoiai  vermieden;    erst  nach  dem  Urteil  werden 


^)  Freilich  Joel  (I  S.  477)  sekundiert  Schanz  und  behauptet:  „Es  hieße 
doch  die  wunderbar  durchdachte  Kunst  gerade  in  der  scheinbaren  Schlicht- 
heit und  Natürlichkeit  der  Ap  gänzlich  verkennen,  wenn  man  glauben 
wollte,  es  könne  jemand  so  aus  dem  Stegreif  sprechen"  —  „jemand"? 
ja,  ein  Sokr.,  obgleich  auch  Busse,  Sokrates,  1914,  S.  5  das  verkennt. 


152  Constantin  Ritter. 

die  aTtox^jr^cpiödi-iEvoi  mit  diesem  Namen  angeredet  ...  Es  dürfte 
feststehen,  daß  dieses  Kunstmittel  nicht  in  einer  improvisierten  Rede 
zur  Anwendung  kam."  —  Geradezu  unbegreifliche  Behauptung!  — 
„Wäre  die  Ap  die  wirkliche  Bede  des  Sokr.,  so  müßten  wir  an- 
nehmen ,  daß  PI.  erst  diesen  Zug  derselben  beifügte.  Allein  in 
diesem  Fall  hätte  er  einen  fremdartigen  Zusatz  gemacht,  dem  die 
Pointe  fehlt.  Denn  das  Kunstmittel  konnte,  bevor  der  Ausgang 
des  Prozesses  vorlag,  ja  nicht  in  Anwendung  kommen."  —  Hier 
scheint  der  gelehrte  Kritiker  wirklich  mit  Blindheit  geschlagen. 
Wem ,  als  eben  ihm ,  brauche  ich  zu  sagen ,  daß  Sokr.  nur  sein 
eigenes  Gewissen  und  Gott  als  Richter  über  sich  anerkennt,  jeden- 
falls nicht  das  durch  den  Zufall  des  Loses  gebildete  Volksgericht?  — 
S.  76  ff.  bespricht  Seh.  die  „xenophontische"  Apologie.  Er 
zweifelt  gar  nicht  an  ihrer  Echtheit  und  geht  schweigend  hinweg 
über  die  Tatsache,  daß  der  Verfasser  der  Schrift  nicht  bloß ,  wie 
auch  ihm  klar  ist,  die  platonische  Ap,  sondern  auch  den  frühestens 
um  385  entstandenen  Phn  benützt  hat.  In  §  28  ist  das  ganz  un- 
verkennbar. Sollte  wirklich  Xenophon  der  Verfasser  sein,  so  zeigte 
er  sich  da  in  recht  üblem  Lichte.  —  Seh.  erklärt:  „Die  xenophon- 
tische Apologie  ist  ein  Protest  gegen  die  platonische ,  und  zwar 
schon  im  Eingang :  wenn  Xen.  seine  Apol.  damit  beginnt ,  daß  er 
nachweist,  daß  Sokr.  auf  jede  Vorbereitung  verzichtet  habe  und 
diesen  Verzicht  sogar  auf  eine  göttliche  Mahnung  zurückführt,  so 
liegt  darin,  daß  Sokr.  improvisiert  habe."  —  Ich  schreibe  wieder 
meine  Zwischenbemerkungen  mit  ab :  Bei  PI.  ist  es  ja  auch  so 
dargestellt,  daß  Sokr.  improvisiert  habe!  —  (S.  80:)  „Würden  wir 
in  der  Ap  die  wirkliche  Rede  des  Sokr.  haben,  so  hätte  natürlich 
Xenophon  die  Reproduktion  Pl.s  nicht  bemängeln  können  und  nicht 
bemäugelt."  —  Jener  Xenophon,  der  sich  frühestens  IV2  Jahr- 
zehnte nach  den  Ereignissen,  deren  Zeuge  er  selber  gar  nicht  ge- 
wesen war,  bemüßigt  fühlte,  mit  der  platonischen  Ap  und  dem  Phn 
in  Wettbewerb  zu  treten,  hätte  sich  „natürlich"  mit  Pl.s  Wider- 
gabe  der  „wirklichen"  Rede  zufrieden  gegeben?  Woher  wollte  er 
überhaupt  wissen,  wie  weit  PI.  von  der  „Wirklichkeit"  abgewichen 
war?  —  n^ß^i-  vermißt  eine  Motivierung  der  fisyaXrjyoQia,  mit  der 
Sokr.  den  Tod  dem  Leben  vorzog."  Er  „will  die  Todesverachtung 
des  Sokr.  erklären.  Während  PI.  zunächst  auseinandersetzt,  daß 
einer  göttlichen  Mission  gegenüber  der  Tod  gar  nicht  in  die  Wag- 
schale gewoi'fen  werden  darf",  —  das  ist  ja  wirklich  das  Ent- 
scheidende, und  eben  damit  verwahrt  er  sich  am  besten  gegen  den 
Vorwurf    der    aoißeia;    wenn    er    dann    noch    erwähnt,    daß    der 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    153 

delphische  Apollon  ihm  Anerkennung  und  Aufmunterung  habe  zuteil 
werden  lassen,  so  erhellt  daraus,  daß  es  eben  die  in  Athen  selbst 
verehrten  Götter  sind ,  denen  er  dient  —  „dann  aber  durch  Be- 
trachtung des  Zustandes  nach  dem  Tod  dem  Sokr.  ein  günstigeres 
Los  in  Aussicht  stellt,  hat  Xen.  eine  viel  einfachere  Erklärung 
zur  Hand:  der  Tod  befreit  ja  Soki*.  von  den  Leiden  und  Be- 
schwerden des  Alters,  welche  im  Anzug  sind,  und  naht  sich  in 
der  leichtesten  Form".  So  steht  es  gedi-uckt  auf  S.  78.  80  f.!  Und 
mit  ähnlichem  Gerede  fährt  Seh.  fort:  „Einen  Vorteil  gewährt 
uns  dieser  zweite  Bericht  besonders  dadurch,  daß  er  uns  die  plato- 
nischen Angaben  in  das  rechte  Licht  rückt  und  das,  was  wir  oben 
aus  inneren  Gründen  erschlossen  haben,  bestätigt.  So  haben  wir 
erkannt,  daß  die  Anklageformel  bei  PI.  willkürlich  verschoben  ist 
—  Xen.  bestätigt  diese  Annahme.  Wir  haben  behauptet,  daß 
Sokr.  sich  unmöglich  so  auf  die  Anklagepunkte  verteidigt  haben 
konnte  —  wir  finden  in  der  Tat  bei  Xen.  eine  Verteidigung ,  die 
sich  an  die  Anklage  anschließt  und  in  den  Rahmen  einer  Gerichts- 
verhandlung paßt."  —  'Du  gleichst  dem  Geist,  den  du  begreifst, 
nicht  mir!'  Den  Verfasser  der  angeblichen  xenophontischen  Apo- 
logie kann  Schz.  verstehen,  PI.  nimmermehr.  Aber  auch  den  Sokr. 
nicht.  —  Doch  weiter :  „Wir  erachten  es  für  ausgeschlossen,  daß 
Sokr.  statt  einer  Strafe  eine  Belohnung  für  sich  beantragte"  — 
damit  vergleiche  man  den  Satz  von  Ed.  Schwartz  (Charakterköpfe 
S.  47):  „er  wäre  mit  einer  Geldstrafe  davongekommen,  wenn  er 
nicht,  nach  attischem  Bechtsbrauch  aufgefordert,  anzugeben,  auf 
welche  Strafe  er  sich  einschätze ,  geantwortet  hätte ,  daß  ihm  die 
Speisung  am  Herde  des  Staates,  im  Prytaneion,  zukäme,  eine  der 
höchsten  Ehren,  die  die  Gemeinde  vergab.  Das  erboste  das  Volks- 
gericht, und  es  verurteilte  ihn  zum  Tode"  — ;  „wir  staunten  über 
die  Inkonsequenz,  daß  er  sich  schließlich  zu  dem  Antrag  auf  eine 
Geldstrafe  herbeiließ,  obwohl  er  versichert  (37b),  .toAAol'  deto 
fuavTov  ye  adt'/.r^O£iv  -/.al  xai  £(.iavTOv  egeiv  avTog,  wg  a^iog  slf-tl 
Tov  TiaKOv'^  —  Seh.  glaubt  es  dem  PI.  nicht,  daß  Geldeinbuße 
für  Sokr.  kein  xazoV  war.  Auch  Polos  hat  es  dem  Sokr.  nicht 
geglaubt,  und  keiner  ix  tov  noXkov  ox^ov  wird  es  glauben.  —  „Xen. 
berichtet  uns  das,  was  zu  dieser  Äußerung  stimmt,  nämlich  daß 
Sokr.  auf  Stellung  eines  Strafantrags  verzichtete ;  er  gibt  uns  auch 
die  Motivierung  dazu :  ein  Strafantrag  involviere  ein  Bekenntnis 
der  Schuld."  —  Das  kann  sogar  aus  Pl.s  Darstellung  geholt  sein.  — 
Man  höre  hiei'  aber  auch  Pöhlmann  (S.  108  A.  2):  „Allerdings 
sagt   die    pseudo-xenophontische  Apologie  (§  23),    Sokr.   habe  sich 


154  Constantin  Ritter. 

zu  keinem  avTLTif.iri(.ia  herabgelassen,  weil  dies  ein  Schuldgeständnis 
gewesen  wäre.  Allein  schon  die  unmittelbar  vorhergehende  Be- 
merkung über  die  '^ovvayoQevovceg  cfiloi^  des  Sokr.  beweist  eine 
so  völlige  Unkenntnis  des  Prozeßganges ,  daß  diese  wesentlich 
jüngere  und  nicht  von  einem  Augenzeugen  herrührende  Quelle  (vgl. 
Wilamowitz,  Hermes  1897,  S.  99)  von  vornherein  verdächtig  v>'ird^). 


^)  Hätte  ich  hier  die  Schriften  über  Xenophon  zu  besprechen  anstatt 
denen  über  PI.,  so  müßte  ich  genauer  auf  den  Streit  über  die  Echtheit 
der  xenophontischen  Apologie,  und  namentlich  auch  auf  die  darüber  in 
den  N.  Jb.  f.  d.  kl.  Alt.  V  (1900)  S.  389—405  von  M.  Wetze  1  vorgelegte 
Untersuchung  nebst  0.  Immisch s  Deuterologie  S.  405—415  ebendort, 
eingehen.  Hier  bemerke  ich  nur,  daß  mir  beide  den  Beweis  der  Echt- 
heit keineswegs  erbracht  zu  haben  scheinen.  Ich  stimme  Ad.  Menzel 
zu,  der  in  Wetzeis  Abhandlung  „Übertreibung  und  unlogische,  wider- 
spruchsvolle Argumentation"  findet  (S.  5  A.  3).  Im  einzelnen  wäre  gegen 
W.  so  ziemlich  alles  zu  wiederholen,  was  oben  gegen  Schanz  gesagt 
worden  ist.  Und  wenn  Immisch,  auf  sprachlichen  Beobachtungen  fußend, 
gegen  Kai b eis  im  Hermes  1890  (25)  S.  581  gefälltes  Urteil  „in  der  Apo- 
logie Xenophons  Stil  und  Art  wiederzufinden ,  ist  mir  nicht  gelungen" 
die  Erklärung  setzt:  „Wäre  die  Apologie  ohne  V'erfassernamen  da,  man 
könnte  auf  Grund  der  sprachlichen  Kennzeichen  kaum  anders  als  sie 
eben  dem  Schriftsteller  zuzuweisen,  dessen  Namen  sie  eben  jetzt  in  der 
Überlieferung  trägt",  so  behaupte  ich  dagegen  wieder:  es  ist  nicht  anders 
zu  erwarten,  als  daß  ein  Mann,  der  sein  Machwerk  für  xenophontisch 
ausgibt,  sich  in  Xenophon  so  eingelesen  hat,  daß  er  ungefähr  in  seiner 
Art  sich  ausdrücken  kann  oder  mindestens  eine  Anzahl  von  Wörtern  und 
Wendungen  aus  ihm  sich  angeeignet  hat.  (Passend  zieht  Fr.  Beyschlag 
in  der  sogleich  anzuführenden  Abhandlung  die  Worte  Lessings  heran: 
„Ich  weiß,  daß  man  Schreibarten  nachahmen  kann ;  ich  weiß,  daß  es  eine 
wahre  Unmöglichkeit  ist,  alle  .kleinen  Eigentümlichkeiten  eines  Schrift- 
stellers so  genau  zu  kennen,  daß  man  den  geringsten  Abgang  derselben 
in  seinem  Nachahmer  entdecken  soUte.")  Ich  glaube,  wenn  man  z.  B. 
das  Schlußkapitel  der  Memorabilien,  das  Immisch  für  gefälscht  hält,  in 
derselben  Weise  wie  die  Apologie  auf  seine  Sprache  prüft,  so  wird  das- 
selbe Ergebnis  herauskommen,  wahrscheinlich  auch  bei  den  Stücken  aus 
angeblichen  Briefen  Xenophons.  Daß  in  der  umstrittenen  Apologie  der 
Phn  benützt  ist,  und  zwar  in  sehr  ungeschickter  plumper  Weise,  sollte 
wirklich  kein  Philologe  verkennen.  Ob  dem  Xenophon  solche  Ungeschick- 
lichkeit zuzutrauen  ist,  darauf  wage  ich  keine  Autwort.  Als  sicher  könnte 
diese  nur  gegeben  werden  auf  Grund  so  peinlicher  Stiluntersuchungen, 
wie  sie  für  die  platonischen  Schriften  durchgeführt  sind.  Die  Ansätze 
zur  Prüfung  des  xenophontischen  Stils  sind  noch  viel  zu  dürftig.  Und 
einige  Doktorarbeiten  der  üblichen  Art  würden  auch  nicht  viel  Förderung 
bringen.  —  Ganz  ähnlich  meinen  Ausführungen  finde  ich  die  von  Bey- 
schlag im  Philol.  1901  (37)  S.  496—517  entwickelten.  Auch  weitere  von 
diesem  gegen  die  Echtheit  geltend  gemachte  Gründe  stimmen  völlig  mit 
Bedenken,   die  mir  aufgestiegen  sind,  überein.     Ich  zitiere  noch,  was  B. 


II 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.   I55 

Auch  die  Voraussetzung  der  Angabe  ist  falsch.  Denn  aus  PI. 
sehen  wir,  daß  Sokr.  eine  Form  des  ai'TiTi/iir^i.ia  wählen  konnte, 
welche  gerade  das  Gegenteil  eines  Schuldbekenntnisses  war."  — 
Einen  anschließenden  Abschnitt  über  „die  Anytosepisode  im  Me" 
habe  ich  hier  nicht  zu  berücksichtigen.  Nach  ihm  wird  die  Kom- 
position der  Ap  besprochen.  Daraus  noch  einiges :  (S.  93 :)  „PI-, 
der  keine  Gerichtsrede ,  sondern  ein  für  die  Nachwelt  bestimmtes 
Lebensbild  seines  Lehrers  schreibt,  konnte  gar  nicht  den  Vorwurf 
des  Meletos,  daß  Sokr.  nicht  an  die  Götter  der  Gemeinde  glaube, 
sondern  neue  Gottheiten  einführe,  widerlegen,  wenn  er  den  Meister 
richtig    zeichnen    wollte."   —  "Was    folgt    daraus    für   die  Rede  des 


gegen  den  Schluß  seines  Aufsatzes  S.  518 f.  sagt:  „So  stehen  wir  vor 
folgendem  chronologischen  Ergebnis:  Die  angeblich  xenophontLsche  Ap 
folgt  zunächst  zeitlich  der  platonischen  Ap,  gibt  ein  Resume  aus  dem  Cr 
und  eine  Parallele  aus  dem  Eu  Pl.s  .  .,  ahmt  ferner  .  .  den  .  .  Me  .  .  mit 
emem  dabei  unterlaufenden  Mißverständnis  nach,  schließt  sich  an  die 
Memorabilien  an ,  die_  frühestens  nach  393  verfaßt  sind ,  kopiert  außer 
sonstiger  Verwertung  eine  Scene  ai;s  Pl.s  Phn.'"  Sie  kann  nicht  echt  sein. 
Und  „jedenfalls  aber  kann  sie  als  primäre  Quelle  für  den  sokratischen 
Prozeß  und  die  Sokratik  überhaupt  nicht  länger  gelten;  ja  auch  als 
Quelle  zweiten  Grades  wird  sie  stets  nur  mit  größter  Vorsicht  zu  ver- 
■  werten  sein."  „Auch  wäre  ihre  Authentizität  im  Zusammenhang  mit 
ihrer  alsdann  gegebenen  zeitlichen  Stellung  nur  geeignet,  auf  das  aus 
anderweitigen  Zeugnissen  feststehende  Charakterbild  unseres  Schrift- 
stellers den  dunkelsten  Schatten  zu  werfen.''  Auch  TaA^lor  spricht  aus 
(S.  37),  daß  die  Schrift  nicht  bloß  aus  der  platonischen  Ap,  sondern  auch 
aus  dem  Phn  geschöpft  habe,  will  aber  trotzdem  Xenophon  als  Verfasser 
festhalten,  der  ja  auch  bei  Abfassung  der  Mem.  und  der  Cyrop.  den  Phn 
offenbar  habe  vor  sich  liegen  gehabt  (S.  32  f.)  und  seine  ganze  Kenntnis 
der  letzten  Lebenstage  des  Sokr.  eben  den  Dialogen  Pls.  verdanke. 
Joel,  der  sich  ja  überhaupt  von  Schanz  hat  mächtig  imponieren  lassen, 
schreibt  {I  S.  479 f.):  ..Zeller  will  die  doch  weit  natürlicher  klingende  An- 
gabe der  xenophont.  Ap.,  daß  Sokr.  jede  Abschätzung  abgelehnt,  gegen- 
über den  piaton.  Äußerungen  nicht  gelten  lassen.  Aber  diese  wider- 
sprechen auch  der  Notiz  Diog.  11  41  f.  und  man  müßte  nicht  nur  den 
nichtxenophontischen ,  sondern  auch  den  späten  Ursprung  der  unter 
Xenophons  Namen  gehenden  Ap.  nachweisen,  um  deren  objektive  Angabe 
zu  bezweifeln.  Doch  die  Athetese  der  xenophont.  Ap.  ist  ein  Überrest 
aus  einer  h^-perkritischen  Periode  der  Altertumswissenschaft  und  sie 
scheint  jetzt  von  immer  mehr  Forschern  zurückgenommen  zu  werden  .  .  . 
Ist  aber  die  xenoph.  Ap.  echt  oder  nur  von  frühem  Ursprung,  so  verliert 
mit  dieser  die  platonische  Verteidigungsrede  wegen  ihrer  mannigfachen 
Differenzen  den  historischen  Charakter  und  behält  nur  den  literarisch 
fiktiven.  An  sich  ist  es  kaum  denkbar,  daß  Lysias  und  noch  weit  Spätere 
Verteidigungsreden  des  Sokr.  schrieben,  wenn  man  die  platonische  Ap 
historisch  nahm,'" 


156  Constantin  Ritter. 

Sokr.  selbst,  wenn  er  den  Riclitern  „nichts  als  die  lautere  Wahr- 
heit" sagen  wollte?  —  (S.  97:)  „Wir  erwarten,  daß  Sokr.  jede 
Straf be Stimmung  ablehnt."  —  Konnte  er  das,  wenn  er  sich,  nach 
Sch.s  Vorstellung,  im  üblichen  Geleise  hielt?  Wäre  doch,  wenn 
er  keinen  Gegenvorschlag  machte,  mit  der  Verurteilung  auch  schon 
der  Strafantrag  des  Klägers  angenommen  gewesen.  —  „Und  so 
berichtet  uns  auch  eine  Quelle ,  deren  Authentizität  wir  keinen 
Grund  haben  anzufechten."  — ?  „Anders  PI.  Auf  der  einen  Seite 
überbietet  er  durch  seine  Dichtung  den  historischen  Vorgang  .  .  ., 
auf  der  anderen  unterbietet  er  ihn  in  kläglicher  Weise"  — ?  der 
tölpische  PI.!  —  „indem  schließlich  sein  Sokr.  mit  einer  Geldstrafe 
kommt.  Wie  ist  die  ungeheure  Kluft  zu  überbrücken?"  —  Nun, 
Seh.  gelingt  es.  Er  entdeckt :  „PI.  wollte  in  der  Ap  nicht  bloß 
seinen  Lehrer  rechtfertigen  ...  Es  werden  Stimmen  laut  geworden 
sein,  daß  die  Jünger  ihrem  Meister  hätten  beispringen  und  ihn 
durch  ein  materielles  Opfer  retten  sollen  ,  .  .  PI.  läßt  seinen  Sokr. 
den  Antrag  auf  Geldstrafe  stellen,  und  trotzdem  wird  er  von  den 
Richtern  zum  Tod  verurteilt.  Der  erdichtete  Vorgang  spricht 
deutlich  genug.  Der  Antrag  auf  eine  Geldstrafe  hätte  nichts  ge- 
holfen. Die  Stimmung  gegen  Sokr.  war  zu  erbittert;  mau  wollte 
seinen  Tod.  In  diese  Beleuchtung  gerückt,  verliert  der  Antrag 
des  Sokr.  auf  Geldstrafe  einen  großen  Teil  des  Anstößigen."  — 
Für  Seh.  wenigstens.  Tatsächlich  ist  seine  Beleuchtung  recht  un- 
geschickt. Eine  verhältnismäßig  geringe  Zahl  von  Stimmen  — 
wie  viele,  wird  nacher  untersucht  werden  —  soll  gefehlt  haben 
und  es  wäre  Freispruch  erfolgt.  Jetzt  handelte  es  sich  um  die 
Abschätzung  der  Strafe.  Es  ist  mir  undenkbar,  daß,  wenn  Sokr. 
einfach  30  Minen  beantragt  hätte,  den  etwa  6  fachen  Betrag  seines 
ganzen  Vermögens,  nun  mit  großer  Majorität  die  Todesstrafe  ver- 
hängt worden  wäre,  d.  h.  daß  viele  der  Richter,  die  ihn  für  unschuldig 
erklärt  hatten,  jetzt  sich  denen  angeschlossen  hätten,  die  den  Tod 
wollten.  Nur  allein  der  Antrag  auf  Speisung  im  Prytaneion,  der 
von  ihm  zwar  nicht  förmlich  eingebracht,  aber  doch  angedeutet 
wurde ,  erklärt  das  Verhältnis  der  Stimmen  bei  der  zweiten  Ent- 
scheidung i).  —  (S.  99:)   „Wir  können  nicht  von  vornherein  als  un- 

1)  Auch  hier  schließt  sich  J  o  e  1  (478  i.)  wieder  an  Schanz  an :  Aller- 
dings „müssen  sokratische  Äußerungen  vor  der  Strafbestimmung  die 
Richter  derart  empört  haben,  daß  die  Verurteilung  zum  Tode  mit  weit 
größerer  Majorität  erfolgte.  Aber  muß  darum  Sokr.  die  Ehrenspeisung 
im  Prytaneion  sich  zuerkannt  haben ,  genügt  nicht  jene  Ablehnung 
jeglicher  Straieinschätzung,  welche  die  xenophont.  Ap.  berichtet  und  die 
den  verwöhnten  Richtern  als  empörender  Trotz  erscheinen  konnte?" 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    157 

möglich  hinstellen,  daß  wirklich  Sokr.  im  Prozeß  noch  zum  dritten- 
mal   sprach,    zumal    auch    bei  Xenophon    eine    solche    3.  Rede  er- 
scheint.    Allein    selbstverständlich  ist  es  nicht  möglich,    daß  Sokr. 
in  einer  so  langen  Rede  sich  erging  und  eine  i^hilosophische  Dispu- 
tation zum  besten  gab."  —  Die  lange  Rede  nimmt,    ausdrucksvoll 
gesprochen,   11  Minuten  in  Anspruch;  ihr  erster  Teil,    der  zu  den 
Richtern  im  allgemeinen  als  Nachwort  gesprochen  ist,    -t  Minuten. 
Ich  glaube,  hier  namentlich  wird  PI.    etwas  erweitert  haben.     Daß 
jedoch  die  Richter  allgemein  noch  3 — 4  Minuten  ausgehalten  hätten, 
wenn    sie    sahen ,    der    Verurteilte    möchte    ein    Schlußwort    an  sie 
richten,    kann    mir    niemand    unglaublich    machen.     Und  weiter  er- 
scheint es  mir  gar  nicht  unmöglich,    daß  jenem  noch  die  erforder- 
liche Zeit    von    5 — 7  Minuten    vergönnt    wurde,    um  denen  einiges 
ans  Herz    zu    legen ,    die  für  ihn  sich  erklärt  hatten.     Aber  natür- 
licli   gebe    ich    zu ,    daß    hier    PI.    einiges    de    suo    beigefügt   haben 
wird.    Menzel  (S.  50)  äußert  sich  hier  folgendermaßen:    „Die  letzte 
Rede    fällt    aus    dem   Rahmen    der    eigentlichen   Prozeß  Verhandlung 
heraus.    Dennoch  liegt  absolut  kein  Grund  vor,  die  Tatsache  einer 
8,  Rede    zu    bezweifeln.     Nach  attischem  Prozesse    blieb  der  Ver- 
urteilte   bis    zur   Abholung   durch   die  Vollstreckungsorgane  —   die 
Eilfmänner    —    an    der    Gerichtsstätte    unter    der   Bewachung    der 
Justizsoldaten  (Skythen).    Niemand  hinderte  den  Verurteilten,  diese 
Zwischenzeit  zu  einer  Rede  zu  benützen.    (Meier-Schömann-Lipsius 
S.  957,  Note  550);  ob  die  Richter  noch  verbleiben,  hing  natürlicli 
von  ihrem  Belieben  ab."     S.   101  f.  handelt  es  sich  um  „die  Grund- 
idee der  Ap".     „Leitstern  muß  die  von  uns  festgestellte  Tatsache 
sein,  daß  die  Ap  nicht  die  wii-kliche  (sei  es  mit  größerer  oder  mit 
geringerer  Treue  nacherzählte)  Rede  des  Sokr.  vor  Gericht,  sondern 
die    erst    nach    dem  Tode  des  Sokr.  von  PI.  fingierte  ist.     Daraus 
hat  sich  uns  die  unabweisbare  Folgerung  ergeben,    daß  der  Zweck 
der  Ap  nicht  die  Lossprechung  von  Schuld  und  Strafe  vor  Gericht, 
sondern    vielmehr    die  Rechtfertigung    des  Meisters  vor  dem  gebil- 
deten Publikum  ist."  —  Recht  sonderbar  dargestellt!    Der  Beweis, 
den  Seh.  uns  vortrug ,    ging  doch  den  umgekehrten  Weg :     Er  hat 
gefunden,  daß  der  eigentliche  Zweck  der  Reden  nicht  Verteidigung 
gegen    die    Vorwürfe    der   gerichtlichen    Ankläger,    sondern  Recht- 
fertigung   der    ganzen    Lebensführung    des    Sokr.    ist,    —    und  das 
findet    natürlich  jeder    aufmerksame    Leser.      Aus    diesem    Befund 
schließt  er:     Die  Rede  kann  nicht  die  vor  Gericht  gehaltene  sein. 
Jetzt  aber  behauptet  er:  Die  Einsicht,  daß  wir  nicht  die  wirkliche 
Gerichtsrede    vor    uns    haben ,    ist    die    erste    Voraussetzung    und 


158  Constantin  ßitler. 

Grundbedingung  des  Verständnisses !  Nur  so  erscheinen  freilich 
seine  so  gar  wortreichen,  bei  diesem  EJreisgang  der  Beweisführung 
das  Meiste  2 — 3  mal  uns  vorhaltenden  Erörterungen  von  besonders 
großem  Gewicht  gegenüber  den  Behauptungen  der  meisten  anderen 
Erklärer,  die  sagen :  wie  eng  sich  PI.  an  Sokr.  angeschlossen  habe, 
darauf  kommt  es  für  das  Verständnis  der  vorliegenden  Schrift 
wenig  an.  —  S.  104,  nach  Herausstellung  von  „Ergebnissen  der 
platonischen  Ap"  geht  Seh.  sogar  so  weit,  zu  ei'klären:  „Ob 
der  eine  oder  der  andere  Gedanke  aus  der  Rede  des  Sokr.  ver- 
wertet wurde,  läßt  sich  nicht  feststellen,  ist  überdies  wenig  wahr 
scheinlich." 

S.  104 — 110  bemüht  sich  Seh.  „das  Wesen  der  Sokratik  in 
der  Ap"  zu  kennzeichnen.  Ich  habe  schon  kundgegeben,  daß  ich 
der  Meinung  bin,  dieses  zu  erfassen,  sei  Seh.  nicht  fähig  gewesen. 
Es  würde  aber  zu  weit  führen,  wollte  ich  seine  Behauptungen,  die 
mir  schief  und  verkehrt  scheinen,  einzeln  vornehmen.  Schließlich 
lehnt  er  mit  Recht  jeden  Zweifel  an  der  Echtheit  der  Ap  ab  und 
gibt  über  die  Abfassungszeit  einige  Aufstellungen.  „Wir  bekommen 
folgende  chronologische  Reihenfolge:  1.  die  platonische  Ap ;  2.  die 
xenophontische  Ap  5  .3.  die  Rede  des  Polykrates;  4.  die  Memora- 
bilien  Xenophons ;  5.  die  Gegenrede  des  Lysias  und  6.  der  Busiris 
des  Isokrates."  Da  Lysias  um  380  gestorben  ist,  haben  wir  dies 
Jahr  als  untere ,  399  als  obere  Grenze.  Aber  man  darf  weiter 
behaupten:  „Die  Ap  fäUt  in  den  Anfang  der  schriftstellerischen 
Tätigkeit  Pl.s"  und  ist  „bald  nach  dem  Tode  des  Sokr.  geschrieben". 
Der  Cr  nimmt  45  b  auf  Ap  37  c  d  Bezug,  ist  also  später.  So 
wahrscheinlich  auch  der  Eu.  Für  den  Me  ist  Abfassung  nach  der 
Ap  wahrscheinlich.  Dagegen  darf  für  den  G  aus  der  in  Ap  39  b 
enthaltenen  Prophezeihung  wohl  gefolgert  werden,  daß  er  ihr  vor- 
ausging. —  Die  ganze  Berechnung  ist  schon  deshalb  sehr  mangel- 
haft, weil  Seh.  die  Abhängigkeit  der  „xenophontischen"  Apologie 
vom  Phn  nicht  bemerkt  hat. 

Schleiermacher  also  meinte,  wir  haben  an  der  Ap  eine  „so 
treue  Nachschrift  von  der  wirklichen  Verteidigung  des  Sokr.,  als 
nur  möglich  war"  ;  Schanz  meinte,  es  sei  wenig  wahrscheinlich,  daß 
in  ihr  auch  nur  „der  eine  oder  der  andere  Gedanke  des  Sokr.  ver- 
wertet wurde".  Die  meisten  Beurteiler  werden  überzeugt  sein,  daß 
wir  es,  um  einen  Ausdruck  von  Gomperz  zu  brauchen,  mit  „stili- 
sierter Wahrheit",  mit  künstlerisch  gestalteter  Widergabe  zu  tun 
haben.  Die  Einzelausführungen  neuerer  Erklärer  nehmen  vielfach  auf.. 
Schanz  Bezug,  auch  wo  dieser  nicht  genannt  wird,  und  so  gebührt 


i 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    159 

ihm    jedenfalls     die     Anerkennung,    daß     er    durch    Hervorlockung 
kräftigen  Widerspruchs  das  Seinige  zur  Klärung  beigetragen  habe. 

Wilamowitz  spricht  (S.  163)  von  freier  Nachdichtung,  in 
der  die  zwei  ersten  Reden ,  vor  und  nach  dem  Schuldigspruch, 
widergegeben  seien,  und  erklärt  die  dritte,  das  Schlußwort,  für 
Pl.s  Erfindung.  Er  sagt,  PI.  habe  mit  künstlerischer  Meisterschaft 
die  Verteidigungsrede  so  ausgeführt ,  daß  sie  den  wahren  Grund 
der  Verurteilung  an  das  Licht  zieht,  (ß.  180:)  „So  ist  in  freiestem 
Anschluß  an  das ,  was  Sokr.  wirklich  gesagt  hatte  und  was  bei 
vielen  noch  in  frischem  Gedächtnis  leben  mußte,  doch  etwas  weit 
Größeres  herausgekommen,  als  die  wirkliche  Rede  des  Sokr.  oder 
die  Verteidigungsschrift  eines  Schülers  erreichen  konnte."  Er 
rechnet  die  Ap  zusammen  mit  Cr,  La,  Ly,  Ch  und  Eu  als  den 
Schriften,  deren  jede  das  Bild  des  Lehrers,  dessen  Gedächtnis  PI. 
zu  Ehren  bringen  will,  von  einer  anderen  Seite  beleuchtet,  und 
sieht  sie  als  deren  früheste  an. 

Ähnlich  äußert  sich  Gomperz.  (S.  81:)  „Die  Ap  ist  kein 
buchstabengetreuer  Bericht.  Sie  schildert  auch  die  äußeren  Vor- 
gänge des  Gerichtsverfahrens  in  einer  Weise ,  die  ich  stilisierte 
Wahrheit  nennen  möchte."  Er  bewundert  (S.  83)  „den  außer- 
ordentlichen Aufwand  an  sachwalterischer  Kunst",  der  die  ganze 
Schrift  „bei  aller  Unscheinbarkeit  der  Darstellung  und  aller  an- 
gebhchen  Planlosigkeit  der  Anordnung  auszeichnet".  Auch  hegt 
er  „nicht  das  leiseste  Bedenken",  „den  Ton  der  Reden  für  den 
echten  und  ursprünglichen  zu  halten.  Mit  nicht  geringerer  Zu- 
versicht möchten  wir  dies  von  dem  Geist  behaupten ,  in  welchem 
die  Verteidigung  geführt  wird.  In  diesem  wie  in  jenem  Betracht 
könnten  Abweichungen  von  der  historischen  Wahrheit  nicht  als 
1  künstlerische  Freiheit  gelten,  man  müßte  sie  zugleich  ungeschickt 
und  pietätlos  heißen.  Auch  steht  der  Geist  und  die  Absicht  der 
Verteidigung  mit  allem ,  was  wir  vom  historischen  Sokr.  wissen, 
ebenso  wie  mit  der  durch  die  Anklage  geschaffenen  Lage  im  besten 
Einklang.  Wer  möchte  es  von  vornherein  für  irgend  wahrschein- 
lich halten,  daß  Sokr.  um  jeden  Preis  sein  Leben  retten  wollte? 
Aber  auch  das  gilt  uns  als  eine  Wiilkürbehauptung ,  wenn  man 
meint,  er  habe  um  jeden  Preis  sterben  wollen ,  sei  es  aus  Scheu 
vor  den  Gebrechen  des  Alters,  sei  es,  um  seine  Laufbahn  durch 
den  Märtyrertod  zu  krönen.  Die  Wahrheit  scheint  uns  vielmehr  diese. 
Das  Leben  besaß  für  ihn  nur  dann  irgendeinen  Wert,  wenn  er  es 
^  in  der  bisherigen  Weise  fortführen  und  den  eigenartigen  Beruf, 
den    er    ergriffen    hatte,    ungehindert    ausüben   konnte.      Innerhalb 


IQQ  Constantin  Ritter. 

dieser  Grenzen  zeigt  ihn  uns  die  Ap  sogar  zu  dem  Zugeständnis 
bereit,  das  in  der  Leistung  einer  Geldbuße  gelegen  ist.  Von  dieser 
Linie  weicht  er  jedoch  um  keines  Haares  Breite  ab;  hier  ist  er 
jedem  Kompromisse  feind,  auch  jedem  stillschweigenden  Pakt  aufs 
äußerste  abhold".  G.  gibt  auch  zu  bedenken  (S.  87),  daß  „kein 
antiker  Schriftsteller  Bedenken  getragen  hat,  die  Reden  seiner 
Helden  umzubilden,  zu  verschönern,  dem,  was  ihm  als  Vollkommen- 
heit galt,  näher  zu  bringen'\  „Es  wäre  einem  Wunder  gleich  zu 
achten,  wenn  PL,  in  dessen  Staatstheorie  die  'heilsame  Unwahr- 
heit' eine  so  große  Rolle  spielt,  in  der  schriftstellerischen  Praxis 
es  anders  gehalten  und  den  Strom  seiner  Beredsamkeit  von  der- 
artigen Skrupeln  hätte  eindämmen  lassen.  Andrerseits  wäre  es 
ihm  und  vor  allem  seinen  sokratischen  Genossen  sicherlich  als 
pietätlose  Anmaßung  erschienen,  wenn  er  die  in  Wirklichkeit  ge- 
haltenen Verteidigungsreden  des  Meisters  einfach  über  Bord  ge- 
worfen und  ganz  und  gar  durch  Erzeugnisse  seines  eigenen  Geistes 
ersetzt  hätte.  Darum  durften  wir  mit  Fug  von  Wahrheit  und 
Dichtung  sprechen ,  auf  deren  durchgängige  Sonderung  wir  ver- 
zichten müssen.  Nur  daß  der  gesamte  künstlerische  Aufbau  Pl.s 
Werk  ist,  möchten  wir  mit  einiger  Zuversicht  behaupten;  nicht 
minder,  daß  die  zugleich  kürzeste  und  mit  dem  Vex'lauf  des  Pro- 
zesses am  engsten  verknüpfte  zweite  Rede  am  meisten  von  echtem 
sokratischen  Gut  enthält'". 

Pohlenz  hält  mit  seinem  Urteil  vorsichtig  zurück,  zeigt  sich 
aber  immerhin  stärker,  als  billig  ist,  von  Schanz  beeinflußt.  (S.  20:) 
„'Ich  weiß,  daß  ich  viele  Feinde  habe,  und  will  euch  zeigen,  wie 
die  Feindschaft  entstanden  ist,  obwohl  ich  mir  dadurch  neuen  Haß 
zuziehe'  —  so  kann  der  Angeklagte  sprechen,  aber  nur,  wenn  ihm 
am  Freispruch  nichts  liegt."  Und  „war  es  denn  notwendig  und 
klug,  dieses  Thema  so  genau  auszuführen,  obwohl  ein  Verschweigen 
keinesfalls  Mangel  an  Offenheit  bedeutet  hätte?"  Und  so,  wie  in 
28  a  „spricht  überhaupt  nicht  der  Angeklagte".  Doch  zweifelt  P. 
nicht,  „daß  auch  in  diesem  Abschnitte  PI.  sehr  viel  aus  Sokr.' 
wirklicher  Rede  herübergenommen  hat",  ja  er  erklärt  sogar  zwischen 
hinein,  er  sei  „natürlich  weit  entfernt  zu  leugnen,  daß  Sokr.  an 
sich  so  gesprochen  haben  kann".  Ich  betone:  es  lag  ihm  wirklich 
nichts  am  Freispruch.  Aber  daran  lag  ihm ,  den  zahlreich  ver- 
sammelten Mitbürgern ,  die  ihm  hier  eine  Stunde  lang  wirklich 
Gehör  schenken  mußten  und  nicht  weglaufen  konnten,  recht  gründ- 
lich einmal  als  Warner  und  Mahner  ins  Gewissen  zu  reden.  Man 
vergleiche,    wie  sich    bei    Shakespeare    Coriolan    gegen    die    Menge 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    161 

benimmt ,  deren  Zustimmung  er  brauchte ,  damit  seine  Wahl  zum 
Konsul,  die  der  Senat  vollzogen  hat,  giltig  sei.  Seine  f.teyaXt^yoQia 
ist  ja  freilich  Dichtung,  aber  ihr  mächtiger  Eindruck  beruht  auf 
der  treffenden  Zeichnung  eines  stolzen  unabhängigen  Charakters. 

Trefflich  finde  ich,  von  einigen  Kleinigkeiten  abgesehen,  die 
Ausführungen  Apelts.  (S.  6:)  „Dem  Auftreten  des  vielleicht 
volkstümlichsten  Mannes  Athens  vor  Gericht  eine  ganz  andere 
Färbung  zu  geben,  als  ihr  tatsächlich  zukam,  konnte  selbst  ein  PI. 
nicht  .  .  .  wagen.  Daß  die  Ap  wohl  nur  wenige  Jahre  nach  dem 
Tode  des  Sokr.  abgefaßt  ist,  darüber  herrscht  ziemliche  Überein- 
stimmung. Bei  dem  großen  Aufsehen  aber ,  das  der  Prozeß  er- 
weckt, und  der  Teilnahme,  die  er  gefanden,  war  es  selbstverständ- 
lich, daß  ein  wenn  auch  mit  den  Rechten  literarischer  Widergabe 
ausgerüsteter  Berichterstatter  sich  keiner  groben  Verstöße  gegen 
die  Tatsachen  schuldig  machen  konnte."  (7)  „Auch  der  Umstand, 
daß  Sokr.  sich  ab  und  zu  auf  Dinge  einläßt ,  die  nicht  un- 
mittelbar den  Wortlaut  der  Anklage  zum  Gegenstand  haben,  gibt 
keinen  Grund  zu  der  Annahme  ,  das  sei  ein  dem  Sokr.  nicht  zu- 
zutrauendes Hineintragen  ungehöriger  Dinge  in  die  an  die  Anklage 
gebundene  Verteidigung ;  denn  neben  der  eigentlichen  Anklage 
stehen  doch  im  Gerichtsverfalu-en  die  Beden  der  Ankläger,  die 
manches  enthalten  mochten,  was,  ohne  im  strengen  Sinn  zur  An- 
klage zu  gehören,  eine  Entgegnung  forderte."  Und  „ganz  ab- 
gesehen von  der  Frage ,  ob  es  nicht  doch  zuweilen  im  Interesse 
eines  Angeklagten  liegen  kann,  die  Anklage  nach  dieser  oder  jener 
Seite  hin  zu  erweitern ,  ist  es  gewiß  bei  niemandem  weniger  an- 
gebracht als  bei  Sokr.,  ihn  zum  achtsamen  Befolger  juristischer 
Technik  und  Taktik  zu  machen.  Wenn  irgend  jemand,  so  war  er 
der  Mann,  sich  nicht  an  vermeintliche  Regeln  zu  binden,  sondern 
frank  und  frei  den  Eingebungen  seines  Geistes  zu  folgen.  Aber 
liegt  denn  die  Sache  hier  wirklich  so,  daß  Sokr.  sich  einer  starken 
Sünde  wider  den  Geist  der  Eechtspraxis  schuldig  macht?  Durch 
nichts  kann  mau  sich  vor  Gericht  eine  bessere  Position  verschaffen 
als  dadurch,  daß  man  den  Gegner  in  recht  ernste  Widersprüche 
mit  sich  selbst  verwickelt.  Man  macht  ihn  dadurch  mundtot.  Und 
das  ist  es,  was  Sokr.  vollständig  erreicht  durch  die  an  die  Spitze 
gestellte  Frage  nach  seinem  Gottesglauben  überhaupt.  Die  Anklage 
beruft  sich  zum  Beweise  ihrer  Eechtsgültigkeit  ledighch  auf  das 
daLnoviov  des  Sokr.  Es  war  also  ganz  richtig  und  sachgemäß, 
wenn  Sokr.,  um  den  Gegner  in  Widerspruch  mit  sich  selbst  zu 
bringen  und  ihn  dadurch  matt  zu  setzen,  sich  zunächst  nur  streng 

Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft.    Bd.  191  (1922.  I).  11 


162  Constantin  Ilitter. 

an  dieses  Argument  hielt.    Auf  Grund  desselben  konnte  er  schlagend 
beweisen,  daß  er  alles  andere  eher  als  ein  Atheist  sei.    Damit  hatte 
er  dem  Meletos  eine  entscheidende  Niederlage  beigebracht:  .der  Vor- 
wurf des  Atheismus,    der    zwar  nicht  einen  Teil  der  gerichtlichen 
Anklage  bildete,  aber  von  Sokr.  dem  Meletos  klugerweise  abgelockt 
worden  war,  war  in  sich  zusammengebrochen  mit  Hilfe  gerade  des 
einzigen  Beweismittels,  dessen  sich  der  Gegner  in  der  Anklage  be- 
dient  hatte  .  .  .     (10)  Man    kann    sich    ohne  Bedenken    alles,    was 
Sokr.  in  der  Ap  vorträgt,  recht  wohl  als  von  ihm  erwähnt  denken, 
mag    es    auch    in    anderer  Form    geschehen    sein.     Jedenfalls    wird 
man  dem  Sachverhalt  nicht  gerecht,  wenn  man  mit  polizeimäßigem 
Spürsinn  angebliche  Sünden  nach  dieser  Seite  hin  aufzudecken  be- 
müht   ist.     So    könnte   es  scheinen,    als  hätte  Sokr.,    wie  man  das 
tatsächlich    aus    der  Stelle   herausgelesen  hat,    seine  die  Menschen 
zur  Selbstkenntnis  anregende  Tätigkeit  erst  von  dem  Zeitpunkt  ab 
begonnen,    wo  ihm  Chairephon  den   Spruch  des  delphischen  Gottes 
mitgeteilt  hat.     Allein  näher  zugesehen,  handelt  es  sich  von  da  ab 
um  das  absichtliche  Aufsuchen  von  Männern,  die  in  dem  Rufe  be- 
sonderer Tüchtigkeit  in  irgendwelchem  Fache  stehen.     Das  schließt 
doch    nicht    aus ,    daß  Sokr.    schon  vorher  wie  auch  nachher  seine 
Kraft    und    seine  Zeit    oft    genug  aufldärenden  Unterhaltungen  mit 
ihm  sich  beliebig  zugesellenden  Leuten  gewidmet  hat.     Tut  er  doch 
selbst  (23c)    des  Umstandes  Erwähnung,    daß  er  bei  Prüfung  und 
Verhör  der  von  ihm  aufgesuchten  Zelebritäten  gewöhnlich  eine  Schar 
von    Jünglingen    als    Gefolge    um    sich   gehabt    habe ,    denen   diese 
Menschenprüfung,  diese  Demaskierung,  nicht  wenig  Vergnügen  be- 
reitet   habe.      Es    werden    also    hier    seine    gewöhnlichen    Begleiter 
hinreichend  scharf  unterschieden  von  jenen  vermeintlichen  Größen, 
die    er    eigens   für  seine  besonderen  Zwecke  aufsucht".     (13:)  Die 
Darstellung    der  Ap    „mag   im    einzelnen    nicht  jede  Äußerung  des 
Sokr.    mit  aktenmäßiger  Genauigkeit  widergeben ,    mag  nicht  jedem 
kleinen   Wechsel  in  der  Szenerie  des  gerichtlichen  Dramas  folgen, 
aber  wir  sind  dessen  sicher,    daß  sie  uns  den  Eindruck  widergibt, 
den    des  Sokr.  Auftreten    vor  Gericht  .  .    machen  mußte  .  .  .     Die 
etwaigen  Abweichungen,    die  sich  PI.  .  .  gestattet,    sind,   wenn  ich 
recht    sehe,    nur    dazu   bestimmt,    Ersatz  zu  schaffen  für  den  not- 
wendigen Nachteil,  in  dem  die  literarische  Widergabe  ihrem  Wesen 
nach  gegen  den  unmittelbaren  Eindruck  der  wirklichen  Aktion  stehen 
mußte."  —  Zu  den  Kleinigkeiten,    von  denen  man  absehen  könne, 
rechne  ich  die  Bemerkung  (S.  3),  daß  sich  „auffallenderweise  immer 
noch  Kritiker  finden,   welche"   die  andere  Apologie  dem  Xenophon 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    163 

absprechen ;  ebenso  den  verkünstelten  Erklärungsversuch  zum  Aus- 
gleich eines  Unterschieds  zwischen  den  beiden  Apologien  (S.  71) : 
„es  ist  wohl  denkbar,  daß  Sokr.  die  stolze  Bemerkung  über  Speisung 
im  Prytaneion  als  der  einzig  würdigen  Erwiderung  des  Staates  für 
seine  Verdienste  um  die  Bürgerschaft  in  seine  Rede  zwar  habe  ein- 
fließen lassen,  aber  als  bloße  Gewissensschärfung  für  die  Richter, 
ohne  sie  zu  einem  eigentlichen  Antrag  zu  formulieren,  und  daß  die 
darüber  entstehende  Unruhe  eine  irrtümliche  Auffassung  bei  PI.  vind 
vielleicht  aixch  bei  anderen  hervorrief." 

Demgegenüber  sehe  ich  mit  Befriedigung,  daß  Uhle  (S.  14) 
von  meinen  Ausführungen  (PI.  I  370),  auf  die  er  sich  beruft,  über- 
zeugt worden  ist ,  nur  aus  der  Tatsächlichkeit  dieses  Antrags  ^) 
könne  verstanden  werden,  daß  „bei  der  2.  Abstimmung  eine  weit 
größere  Mehrzahl  die  beantragte  Todesstrafe  beschloß".  Ganz  in 
Übereinstimmung  mit  meiner  oben  gegen  Schanz  vorgebrachten 
Meinung  finde  ich  auch  folgende  Worte  Uhles :  „Nach  der  Ent- 
scheidung ergriff  Sokr.,  beiden  Apologien  zufolge,  noch  einmal  das 
Wort  zu  einer  Ansprache  an  seine  Richter.  Der  attische  Rechts- 
brauch stand  dem  nicht  entgegen,  und  die  Erklärung  bei  PL,  daß 
Sokr.  dazu  die  Zwischenzeit  bis  zur  Abholung  ins  Gefängnis  be- 
nutzte ,  ist  ganz  glaublich.  Bezüglich  der  Richter  aber  kann  man 
annehmen,  daß,  wie  diejenigen,  die  für  seine  Freisprechung  ein- 
getreten waren ,  den  Wunsch  hegen  mochten ,  dem  nach  ihrer 
Meinung  unschuldig  Verdammten  noch  ein  letztes  Mal  zuzuhören, 
so  auch  von  den  verurteilenden  manchen  die  Neugier  noch  zu 
kurzem  Verweilen  veranlassen  konnte."^) 

Besonders  aufmerksam  machen  möchte  ich  aber  noch  auf 
Bruns.  Was  er  S.  189  if.  unter  den  Seitenüberschriften  „Voraus- 
setzungen der  platonischen  Ap  —  Methode  der  Ap  —  Aristophanes 
bei  PI.  —  Polykrates'  Klagerede  wider  Sokr.  —  Polykrates'  Tendenz 
und  die  Gegenschriften  —  Der  Sokr.  der  'Wolken'  kein  Typus  — 
Aristophanes  und  Sokr.  —  Der  Sokr.  der  'Wolken'  und  das  Publikum" 
und  dann  namentlich  S.  203 — 23  in  dem  ganzen  Kapitel,  das  die 
Überschrift  trägt  „Piatons  Apologie",  ausgeführt  hat,  gehört  jeden- 
falls zum  Besten ,  was  darüber  gesagt  worden  ist.  Es  wird  ja 
sowieso  niemand,  der  ein  anschauliches  Bild  von  Sokr.'  Persönlich- 


')  Vgl.  Ed.  Meyer,  Geschichte  des  Altertums  V^  S.  227:  „Wie  man 
es  für  möglich  hält,  daß  PI.  gewagt  hätte,  die  Forderung  der  Speisung 
im  Prytaneion  zu  erfinden,  verstehe  ich  nicht.  Nur  wenn  Sokr.  das 
wirklich  gesagt  hatte,  durfte  er  es  wiederholen." 

^)  Vgl.    noch  die  unten  zu  39  e  gemachten  Bemerkungen. 

U  * 


154  Constantin  Ritter. 

keit  gewinnen  will,  die  Nachzeichnung  seines  'literarischen  Porträts' 
durch  Bruns  unbeachtet  lassen;  aber  es  sollte  auch  niemand,  der 
die  Ap,  sei  es  sich  selber  oder  als  Lehrer  anderen,  Schülern,  ver- 
traut machen  will,  versäumen,  B.  nachzulesen.  Mit  manchem,  was 
er  sagt,  bin  ich  nicht  einverstanden.  B.  glaubt,  wie  Schanz  und 
Apelt,  an  die  Echtheit  der  xenophontischen  Ap  und  gesteht  Schanz 
zu,  er  habe  bewiesen,  die  Annahme,  daß  uns  die  wirkliche  Ver- 
teidigung des  Sokr.  vorliege,  sei  unhaltbar,  obgleich  er  gerade  die 
Gründe,  auf  die  Seh.  das  größte  Gewicht  legt,  verwirft.  Aber  un- 
übertrefflich finde  ich  die  Art,  wie  B.  uns  das  Sokratesbild  der  Ap 
durch  Beleuchtung  seiner  einzelnen  Züge  betrachten  lehrt;  ganz 
meisterhaft  in  allen  Einzelheiten  auch  die  S.  213  ff.  gegebene  Inhalts- 
darstellung und  ästhetische  Beurteilung  der  Ap.  Dabei  wird  offen- 
bar, daß  Schanzens  Behauptung  falsch  ist,  „die  richtige  Würdigung" 
der  ganzen  Schrift  hänge  davon  ab ,  ob  wir  sie  für  Reproduktion 
oder  für  freie  Schöpfung  zu  betrachten  haben.  Die  Würdigung  von 
B.  erkenne  auch  ich  bewundernd  als  richtig  an ,  obgleich  er  mit 
Seh.  in  jener  Frage  sich  gegen  mich  entscheidet,  während  ich  die 
von  Seh.  als  ganz  erbärmlich  mißlungen  ansehe.  Nur  einige  Sätze 
seien  hier  aus  dem  schönen  Buch  hei'ausgegriffen.  (S.  189 :)  „Man 
sieht,  PI.  vertuscht  nichts,  erleichtert  sich  die  Schwierigkeit  der 
Situation  nicht ,  er  tut  alles ,  um  auf  ihren  ganzen  Umfang  auf- 
merksam zu  machen."  (190:)  „Es  ist  nicht  wohl  möglich,  daß  so 
viele  Menschen  in  Soki\  einen  Sophisten ,  einen  Naturphilosopheu 
und  einen  ßeligionsverfälscher  sahen,  wenn  er  es  nicht  war.  Diesen 
Einwurf  zu  widerlegen  (was  er  durchaus  aufrichtig  als  äußerst 
schwer  bezeichnet  19a),  ist  das  erste  und  Hauptthema,  das  sich 
PI.  in  seiner  Apologie  gestellt  hat  und  das  er  nach  Lage  der  Dinge 
nach  dem  Prozeß  sich  stellen  mußte.  Er  ist  darauf  sofort  ein- 
gegangen und  hat  es  in  kurzer  einleuchtender  Weise  erledigt  (bis 
24  a).  Es  gab  nur  einen  Weg ,  er  mußte  die  Entstehung  dieser 
Mißverständnisse  erklären."  (191:)  „Der  Gedankengang  ist  klar 
und  verständlich,  von  einer  unleugbaren  inneren  Wahrscheinlichkeit. 
Haben  wir  Gründe,  anzunehmen,  daß  PI.  diese  Dinge  nicht  so 
ansah ,  wie  er  sie  darstellte '?  Ich  dächte ,  nein  .  .  .  Wie  es  der 
Würde  der  Sache  schlecht  entsprochen  haben  würde ,  so  ist  auch 
schlechterdings  kein  Grund  abzusehen ,  der  ihn  bewogen  haben 
könnte,  in  der  Darstellung  dieser  sehr  ernsten  Vorgänge  ein  Trug- 
bild an  Stelle  seiner  wirklichen  Überzeugung  zu  setzen.  Und  wenn 
diese  sich  nach  Pl.s  Auffassung  so  abgespielt  haben,  so  hat  seine 
Darstellung  für  die  genetische  Entwicklung  des  sokratesfeindlichen 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    1 65 

Urteils  sowie  für  die  Beschaffenheit  dieses  Urteils  für  uns  eine 
absolute  Gewähr."  (209:)  „Die  Ap  ist  der  erste  und  jedenfalls 
einer  der  glänzendsten  Versuche ,  die  die  Literaturgeschichte  auf- 
weist ,  die  umfassende  Charakteristik  eines  großen  Mannes  zu 
schreiben."  (211)  „PI.  kann  .  .  Fehler  gemacht  und  sich  geirrt 
haben,  es  erscheint  aber  völlig  ausgeschlossen,  daß  er  sich  absicht- 
liche Entstellungen  .  .  erlaubt  habe."  Er  „wußte  sehr  wohl,  daß 
man  seine  Schrift  nicht  mehr  als  gültige  Verteidigung  angesehen 
und  entgegenkommend  geprüft  haben  würde,  sobald  man  dem  Ver- 
fasser eine  absichtliche  Verschiebung  der  Wahrheit  hätte  nachweisen 
können.  Dazu  kommt,  daß  es  eine  völlige  Verkenuung  der  bei  PI. 
vorauszusetzenden  enthusiastischen  Stimmung  des  im  Innern  ebenso 
erschütterten  wie  überzeugungsfrohen  Schülers  ist,  wenn  man  ihm 
zutraut,  daß  er  in  dieser  tiefernsten  Zeit  mit  seinem  Meister 
literarische  Experimente  auf  eigene  Faust  gemacht  habe.  Betrachten 
•wir  nun  unter  der  Voraussetzung,  daß  PI.  mit  der  höchsten  Pietät 
lind  dem  Streben  nach  vollständiger  historischer  Treue  an  sein 
Werk  gegangen  ist ,  die  Form ,  die  er  gewählt  hat ,  so  erstaunen 
wir  über  die  außerordentliche  Kühnheit,  mit  der  er  sich  das  tech- 
nische Problem  gestellt  hat.  Es  galt ,  ein  ganzes  Menschenleben 
aufzurollen,  es  in  der  Größe  und  Reinheit  seiner  Ziele  ebenso  wie 
in  seiner  Wirkung  auf  Mit-  und  Nachwelt  zu  schildern.  Was  hätte 
hier  näher  gelegen,  als  einen  das  Einzelne  zusammenstellenden  Be- 
richt zu  geben,  Schlüsse,  aus  bedächtig  gruppierten  Tatsachen  ge- 
zogen, aneinanderzureihen?''  —  man  denke  an  die  xenophontischen 
Apomnemoneumata!  —  .,P1.  verzichtet  auf  alle  Vorteile  dieses  Ver- 
fahrens. In  dem  Wunsch,  die  Wahrheit  ganz  zu  geben,  wählt  er 
das  Kleid  der  Dichtung  .  .  .  Nicht  jede  Szene  aus  dem  Leben  des 
Sokr.  vermochte  den  beiden  Zielen  gerecht  zu  werden,  die  die  Ap 
sich  stellt,  den  Menschen  zu  zeichnen,  wie  er  sich  im  Augenblick 
zu  geben  pflegte ,  und  zugleich  den  vollen  Gehalt  seines  Lebens- 
werkes zu  erschöpfen.  Aber  V\enn  eine,  so  war  die  gewählte  dazu 
geeignet."  Sie  ermöglichte,  .,das  innere  Gleichgewicht  des  Helden 
dramatisch  zu  schildern,  in  Augenblicken,  v.-o  jeder  andere  mindestens 
einer  tiefen  Erschütterung  ausgesetzt  gewesen  wäre.  Zugleich  aber 
gestattete  sie  dem  Verfasser,  seinen  Sokr.  das  aussprechen,  zu 
lassen,  was  er  von  ihm  dachte.  Denn  es  hat  die  vollste  innere 
Wahrscheinlichkeit  für  sich ,  daß  in  diesen  Momenten  auch  der 
wirkliche  Sokr.  sein  ganzes  Sein  beurteilt  und  von  dem  geredet  hat, 
was  er  für  die  Welt  bedeute.  So  verschlingt,  unterstützt  durch 
die  Wahl   des  Augenblicks ,    die  Kunst  de.s  Verfassers  jene  beiden 


166  Constantin  Ritter. 

Ziele,  die  Eechtfertigung  und  die  Selbstdarstellung,  zu  einer  natür- 
lichen  Einheit'".  —  Ich  bemerke  nur  noch,  daß  m.  E.  mit  diesem 
Zugeständnis  über  den  Inhalt ,  den  die  von  Sokr.  selbst  gehaltene 
Verteidigungsrede  nach  „innerer  Wahrscheinlichkeit"  gehabt  haben 
möge,  die  Frage,  ob  nun  die  Ap  „Reproduktion"  oder  „freie 
Schöpfung"   sei,  fast  gegenstandslos  geworden  ist. 

Halt !  Eines  muß  ich  noch  nachtragen :  das  Urteil ,  das  B. 
über  den  Antrag  auf  Speisung  im  Prytaneion  abgibt.  Hier  sagt 
er  sich  entschieden  von  Schanz  und  von  der  „xenophontischen" 
Apologie  los.  Vor  allem  sei  es  unmöglich,  PL  zuzutrauen,  er  habe 
den  Antrag  auf  die  Bezahlung  von  30  Minen  erfunden.  ,.Wo  diese 
3  Versionen  vorliegen :  Verzicht  auf  den  Autrag ,  Antrag  auf 
Speisung ,  Antrag  auf  Geldstrafe ,  wird  ohne  weiteres  die  letzte 
unter  ihnen  als  die  glaubwürdigste  erscheinen  müssen,  und  zwar 
deshalb,  weil  sie  den  Hergang  am  wenigsten  theatralisch  darstellt." 
Es  war  dem  Wesen  des  Sokr.  entsprechend,  „daß  er  auch  in  dieser 
letzten  Situation  jede  Pose  vermied.  Er  mrd  genügend  gesagt 
haben,  daß  er  nicht  schuldig  sei.  Dann  fügte  er  sich  den  Forma- 
litäten des  Gesetzes ,  wie  er  dies  immer  getan.  Wie  die  Dinge 
lagen,  kam  dieser  Antrag  auf  30  Minen  auf  einen  Verzicht  heraus, 
er  vermied  nur  den  Anschein  eines  glänzenden  Bühnenabgangs  .  .  . 
Den  PI.  .  .  .  hinderte  seine  Pietät,  das  Faktum  zu  vertuschen. 
Aber  er  schwächte  es  ab,  indem  er  seinen  Sokr.  jenes  Wort  von 
dem  Prytaneion  voranschicken  ließ ,  welches  den  späteren  Straf- 
antrag  nunmehr  als  reinen  Hohn  erscheinen  läßt".  Hier  ,. geht  die 
jugendliche  Begeisterung  mit  dem  sonst  so  besonnenen  Künstler 
durch".  Hier  „charakterisiert  der  Dichter  PI.  den  Sokr.  nicht 
mehr  realistisch  nach  dem  Leben ,  sondern  der  enthusiastische 
Schüler  läßt  die  Empfindungen  seines  jungen  Herzens  ausströmen. 
Hier  für  kurze  Zeit  vergißt  er,  daß  er  den  Siebzigjährigen  reden 
lassen    will,    hier    spricht    der    noch    nicht    dreißigjährige    Autor". 

Pöhlmanns  Schrift  scheint  mir  entschieden  das  Beste  zu 
sein,  was  über  den  Prozeß  des  Sokr.  geschrieben  worden  ist;  vor 
allem  sehe  ich  die  Bemerkungen  für  voll  gelungen  an ,  mit  denen 
Th.  Gomperzens  Bemühungen  um  Rechtfertigung  der  athenischen 
Richter  abgetan  werden.  Sie  bleiben  m.  E.  in. voller  Geltung  auch 
nach  allem,  was  Menzel  gegen  sie  eingewendet  hat.  Ich  lasse  P. 
selbst  reden  (S.  23):  „Wenn  es  nach  Gomperz  das  'Verhängnis 
der  Philosophie'  gewesen  sein  soll,  daß  sie  von  Anfang  an  'auf 
die  nationale  Lebensansicht  und  Lebensordnung  zersetzend  ein- 
gewirkt hat',  so  teilt  die  Demokratie  diese  'Schuld'  mit  den  Philo- 


I 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    1(57 

sophen  durchaus.  Als  die  Demokratie  um  die  Wende  des  6.  Jahrh. 
mit  ihrem  Freiheits-  und  Gleichheitsprinzip  —  dem  Ei-gebnis  der 
denkbar  subjektivsten  Reflexion!  —  der  Gebundenheit  der  das 
ältere  Hellas  beherrschenden  nationalen  Lebensansicht  und  Lebens- 
ordnung entgegentrat,  hat  sie  in  ungleich  höhex'em  Grade  zer- 
störend und  zersetzend  auf  das  Bestehende  eingewii'kt,  als  dies 
irgendeine  zunächst  doch  immer  nur  auf  Minderheiten  wirkende 
Philosophie  zu  tun  vermöchte  .  .  .  (26)  Kein  Geringerer  als  Gom- 
perz  selbst  hat  darauf  hingewiesen,  wie  mächtig  die  demokratische 
Neugestaltung  der  staatlichen  und  gesellschaftlichen  Verhältnisse 
den  Geist  der  Kritik  entfesselt  hat,  wie  gerade  die  innere  Logik 
der  demokratischen  Entwicklung  selbst  die  Reflexion  über  eine 
'Fülle  von  Problemen'  erzeugt  hat,  die  eben  dieser  Neugestaltung 
'^entsprangen'.  Er  weist  darauf  hin,  wie  die  die  freie  Erörterung 
beherrschende  Frage  nach  der  Berechtigung  der  widerstreitenden 
Meinungen  und  Interessen  ganz  von  selbst  zu  der  prinzipiellen 
Frage  fühi'te :  Was  kann  im  Staatsleben  überhaupt  vor  Vernunft 
und  Gerechtigkeit  bestehen?  .  .  .  Die  'neue  Richtung',  als  deren 
'Stimmführer'  Sokr.  von  der  Demokratie  Athens  mit  Recht  ver- 
urteilt sein  soll,  wird  hier  .  .  .  ganz  unbefangen  ...  als  eine  gerade 
dem  demokratischen  Geist  immanente  psychische  Erscheinung  an- 
erkannt .  .  .  Das  'Denken  des  Zeitalters'  erscheint  hier  .  .  .  durch 
und  durch  infiziert  mit  zersetzender  Reflexion ;  es  charakterisiert 
sich  durch  eine  schwankende  Unsicherheit,  'übergroße  geistige 
Geschmeidigkeit'  .  .  .  (3-i) :  Es  ist  ja  eine  komische  Übertreibung, 
wenn  der  Euripides  der  aristophanischen  Komödie  sich  rühmt, 
daß,  seitdem  er  'der  Kunst  Gedanken  und  Begriffe  geliehen',  in 
Athen  jedermann  reflektiere,  sinniere  und  räsonuiere;  aber  so  viel 
ist  gewiß,  daß  dem,  was  auf  der  Bühne  sich  abspielte, eine  Parallel- 
bewegung im  Seelenleben  weiter  Volkskreise  entsprochen  haben 
muß."  Auch  Thukydides ,  „der  größte  Herzenskündiger  seines 
Volkes"  zeigt  uns  dies  ja.  Aber  „plötzlich,  wo  es  sich  um  Sokr. 
handelt,  ist  es"  bei  Gomperz  „das  gesamte  nationale  Wesen,  welches 
sich  gegen  die  auflösenden  Tendenzen'  aufbäumt ;  dasselbe  nationale 
Wesen,  dessen  'reichliche  Schwängerung  mit  Keimen  der  Skepsis' 
vorher  so  drastisch  geschildert  ist.  Und  während  wir  noch  ganz 
unter  dem  Eindruck  der  'Ruhelosigkeit  und  Neuerungssucht'  des 
Zeitalters  stehen,  sollen  wir  uns  auf  einmal  in  die  entgegengesetzte 
Vorstellung  hineinleben,  nach  welcher  die  vorherrschende  politische 
Richtung,  die  Demokratie,  von  dieser  Ruhelosigkeit  am  wenigsten 
ergriffen  erscheint."  —  Unter   anderem  macht  G.  dem  Sokr.  seine 


168  Constantin  Eitter. 

Zurückhaltung  vom  öffentlichen  Leben  zum  Vorwurf.  Die  Moti- 
vierung bei  PI.  findet  er  'befremdlich'.  „Es  'fällt  ihm  schwer, 
sich  einer  Regung  schmerzlichsten  Bedauerns  zu  erwehren',  wenn 
er  hier  die  'Uuverbesserlichkeit'  eines  Volkes  behauptet  sieht, 
welches  'Perikles  zu  seiner  Leichenrede  Modell  gestanden  hat, 
das,  durch  Niederlagen  gebeugt ,  durch  schmerzliche  Erfahrungen 
geläutei't,  wahrlich  nicht  als  ein  unbrauchbarer  Stoff  in  der  Hand 
wohlwollender  und  einsichtiger  Bildner  gelten  konnte\  „Wenn 
hier  etwas  Befremden  erregt"  entgegnet  P.,  „so  ist  es  nicht  Sokr., 
sondern  sein  neuester  Beurteiler!  Zunächst,  welch  eine  Begriffs- 
verwechslung !  Die  Masse ,  welche  die  Agora  und  die  Gerichte 
füllte,  ohne  weiteres  mit  dem  ganzen  Volke  zu  identifizieren,  welches 
einem  Perikles  Modell  gestanden !  Könnte  man  nicht  mit  dem- 
selben Rechte  darauf  hinweisen ,  daß  eben  diese  Masse ,  in  der 
Sokr.  den  gefährlichsten  Feind  von  Recht  und  Gerechtigkeit  er- 
blickte, einem  Aristophanes  für  die  Zeichnung  seines  Richterpöbels 
und  seines  schwachen  und  kindischen  Herrn  Demos  Modell  ge- 
standen ?  Dazu  welch  hochtönende  Phrase !  Diese  bunt  zusammen- 
gewürfelte Menge,  'ein  brauchbarer,  geläuterter'  Stoff  in  der  Hand 
eines  Bildners  wie  Sokr. !  .  .  .  Gomperz  ...  ist  sich  gar  nicht  be- 
wußt ,  daß  es  sich  hier  um  ein  großes  massenpsychologisches 
Problem  handelt,  daß  man  sich  bei  unserer  Frage  vor  allem  ver- 
gegenwärtigen muß ,  was  es  zu  bedeuten  hatte ,  daß  durch  die 
immer  größer  gewordene  Unmittelbarkeit  der  Volksherrschaft 
Politik  und  Rechtsprechung  in  stetig  steigendem  Maße  von  Massen- 
aktionen und  damit  von  den  Trieben  und  Instinkten  abhängig  ge- 
worden war,  welche  das  seelische  Kollektivleben  großer,  zu  gemein- 
samen Machtentscheidungen  berufener  Massen  beherrschen.  Der 
lebhafteste  dieser  Instinkte  ist  das  Gefühl  der  Macht  und  die 
Lust,  sie  so  zu  betätigen,  wie  es  dem  Machtgefühl  am  meisten 
schmeichelt.  Es  ist  ein  Naturtrieb,  der  gelegentlich  geradezu  in 
der  Durchbrechung  der  Schranken  von  Recht  und  Sittlichkeit  seine 
Befriedigung  sucht,  weil  es  sich  hier  am  augenfälligsten  zeigt,  daß 
das  'Volk'  Herr  über  alles,  daß  des  Volkes  WiUe  Gesetz  ist  .  .  . 
(53) :  PI.  .  .  .  hat  diese  elementare  Natur  der  Masse  vortrefflich 
geschildert  .  .  .  Auch  ihm  ist  ...  die  Massenpsyche  ein  Natur- 
phänomen ...  Er  kommt  demgemäß  zu  dem  Ergebnis ,  daß  der, 
welcher  sich  in  der  Gunst  der  Masse  behaupten  will,  sich  ihr 
gegenüber  ganz  so  verhalten  muß  wie  gegen  Naturgewalten  .  .  . 
Jedenfalls  entspricht  .  .  .  die  platonische  Charakteristik  der  Wirk- 
lichkeit  ungleich   mehr    als    die    naive    Ansicht,    daß    eine     solche 


1 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    169 

Masse —  der  ox^og  ayoQalog\  —  einen  brauchbaren,  'edlen  Stoffe 
in  der  Hand  eines  Bildners  wie  Sokr.  abgeben  könnte  .  .  .  Wahrlich, 
der  versteht  sich  auf  die  Massenseele  schlecht,  der  es  einem  Sokr. 
ijicht  nachempfinden  kann,  wenn  er  das  todesmutige  Ankämpfen 
eines  hilflosen  Einzelnen  gegen  die  elementare  Wucht  der  Volks- 
leidenschaft in  der  extremen  Demokratie  auf  die  Dauer  für  aus- 
sichtslos erklärt"  .  .  .  Übrigens  (73):  „in  der  Ap  erscheint  ja  Sokr. 
keineswegs  als  der  passive  Theoretiker,  der  den  Dingen  ihren 
liauf  läßt.  Er  wirkt  und  lehrt!  Und  dieses  Wirken  ist  für  ihn 
ein  Dienst,  den  er  seinem  Volke  und  damit  auch  dem  Staat  er- 
weist." Berücksichtigt  man  alles,  so  kann  nicht  „der  geringste 
Zweifel  bestehen ,  daß  die  modernen  Versuche ,  Sokr.  und  seine 
Lehre  in  einen  grundsätzlichen  Gegensatz  zu  Heimat  und  Vater- 
land ^) ,  zum  'gesamten  nationalen  Wesen'  zu  bringen,  historische 
Phantasien  sind ,  entsprungen  aus  unklaren  doktrinären  Begriffen, 
falschen  Fragestellungen,  ungenügender  Vertiefung  in  die  Realitäten 
geschichtlichen  Lebens".  Der  Widergabe  des  weiteren  Inhalts  der 
P. sehen  Schrift  darf  ich  nur  noch  wenig  Raum  lassen.  Die  Über- 
schriften der  übrigen  Kapitel  lauten:  „Sokrates  als  typischer  Re- 
präsentant der  Vollkultur  und  der  Konflikt  mit  dem  Massengeist  ^j. 
—  Der  Rechtsspruch  der  Polis.  —  Der  hellenische  Kulturstaat 
und  die  Denkfreiheit."  Daraus  noch  wenige  Einzelsätze.  „Aller- 
dings steht  Sokr.  in  einem  ausgeprägten  Gegensatz  zu  dem,  was 
man  so  'die  große  Allgemeinheit'  nennt,"  ...  zu  der  „großen  un- 
sichtbaren Gemeinde  der  Gewöhnlichkeit,  die  sich  weithin  über  alle 
Volkskreise  verbreitet,  .  .  .  damals  wie  heute.  Denn,  wie  Grote 
treffend  bemerkt  hat,  'wenn  heute  ein  neuer  Sokr.  auf  dem  Markt- 
platz an  Leute  beliebigen  Standes  und  beliebigen  Berufs  dieselben 
Fragen  richten  würde,  würde  er  demselben  arglosen  Dogmatismus, 
denselben  Gemeinplätzen  und,  in  der  Diskussion,  denselben  Wider- 
sprüchen begegnen'."     Nicht  bloß  das,  meine  ich:  er  würde  heute 

^)  Mit  diesem  Urteil  Pöhlmanns  stimmt  auch  Ed.  Meyer  überein. 
Nur  ein  paar  Worte  aus  seiner  Gesch.  d.  Altert,  sollen  das  hier  be- 
zeugen: „So  Großes  die  griechische  Nation  auf  allen  Gebieten  mensch- 
lichen Schaffens  geleistet  hat,  die  einzigartige  Stellung,  die  sie  in  der 
Geschichte  der  Menschheit  einnimmt,  beruht  doch  in  letzter  Linie  auf 
ihm.  Sokr.  hat  die  Summe  der  ganzen  bisherigen  Entwicklung  ihres 
Denkens  gezogen  und  das  Ergebnis  so  hingestellt,  daß  es  der  Menschheit 
nicht  wieder  verlorengehen  konnte.  Daß  er  das  konnte,  ist  das  Werk 
seiner  Individualität  .  .  ."  (V^  S.  461). 

^)  Auch  hiezu  sei  nochmals  an  die  in  der  vorigen  Anmerkung  ab- 
gedruckten Worte  Ed.  Meyers  erinnert. 


170  Constantin  Ritter. 

ebenso  schlimm  verdächtigt,  würde  bei  gebotener  Gelegenheit  an- 
geklagt und  bei  einer  Massenentscheidung  als  'Volksfeind'  und 
'Reaktionär'  zu  den  strengsten  Strafen,  die  unsere  Rechtsordnung 
kennt,  verurteilt  werden.  Und  so  geschäftig  dann  die  Presse  wäre, 
um  das  Volksgewissen  einzuschläfern  und  zu  beweisen,  daß  dem 
Mann  Recht  geschehen  sei ,  und  daß  keinerlei  parteipolitische 
Gründe  an  dem  Prozesse  beteiligt  seien,  daß  die  Männer,  die  die 
Anklage  geführt  und  die  das  Schuldig  gesprochen  haben,  höchst 
ehrenwerten  Charakters  seien,  —  es  wäre  mit  all  dem  nicht  zu 
beweisen,  was  die  Gomperz,  Schanz,  Wetzel  und  Menzel  bezüglich 
des  Sokr.  dartun  wollen. 

(84) :  „Die  Konsequenzen  der  sokratischen  Kritik  bedeuten  .  .  . 
die  theoretische  Vernichtung  der  obersten  gesetzgebenden  und 
richterlichen  Autorität  des  Demos  ^)  .  •  •  Es  leuchtet  ein,  daß  diese 
geistige  Reaktion  gegen  die  Gewaltherrschaft  der  'vielen',  die 
sich  .  .  .  vor  der  breiten  Öffentlichkeit  vollzog ,  eine  lebhafte 
Gegenwirkung  erzeugte  .  .  .  Wie  sehr  es  die  Verletzung  vulgärer 
Empfindungen  war,  welche  den  Sturm  gegen  Sokr.  entfesselte,  hat 
schon  PI.  treffend  hervorgehoben  .  .  .  Die  vom  Gleichheitsschwindel 
erfaßte  Masse  sieht  nun  einmal  in  einer  Besonderheit,  die  von  den 
Gewohnheiten,  dem  Tun  und  Denken  der  vielen  demonstrativ  abweicht, 
sehr  leicht  etwas  Anmaßendes.  Sie  empfindet  die  Existenz  einer 
solchen  Persönlichkeit  wie  einen  steten  Vorwurf  gegen  sich  selbst, 
wie  ein  Vergehen  an  der  Majestät  der  Gesamtheit.  Mit  dem 
Prinzip  der  Freiheit ,  welches  den  anderen  auch  darin  gewähren 
lassen  sollte,  gerät  hier  der  Gleichheitsinstinkt  in  Konflikt,  der  es 
nicht  vertragen  kann ,  daß  einer  'etwas  Besonderes  haben'  will 
(.  .  .  Ap  20d  .  .  .  vgl.  o5a  .  .  .),  zumal  wenn  er  ein  Mann  aus  dem 
Volke  selbst  ist.'"  (106):  „Hegel  hat  den  unglaublichen  Satz  aus- 
gesprochen, er  könne  nichts  Entehrendes  darin  sehen,  w^nn  Sokr. 
sich  nach  dem  Verdikt  der  Geschworenen  in  der  üblichen  Weise 
vor    dem  Gerichte  gedemütigt   hätte  ^j  •  •  •  Grote    der  Advokat  des 


^)  Vgl.  Ed.  Mb 3'^ er  a.  a.  0.  S.  444:  „Seine  Lehre  ist  die  schärfste 
prinzipielle  Absage  an  die  herrschende  Demokratie.'" 

2)  In  ähnlichem  Sinn  äußert  sich  Menzel  (S.  51):  „Die  B.ichter  um 
Gnade  zu  bitten,  galt  nach  attischem  Prozeßrechte  nicht  als  ungesetzlich; 
selbst  der  Vorsitzende  des  Gerichtshofs  machte  oft  davon  Gebrauch. 
Man  darf  nicht  übersehen,  daß  das  attische  Schwurgericht  das  souveräne 
Volk  repräsentierte.  Das  Recht  der  Begnadigung  stand  dem  Volks- 
gerichte zu."  Doch  verbessert  er  sich  selber  mit  einer  Anmerkung  (S.  52): 
„Ich   gebe   übrigens   zu,   daß  Sokr.  (bei  PI.)  einen  höheren  Maßstab  an- 


I 


Ber,  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.     I7I 

Demos ,  findet  alle  Umstände  des  Falls  für  die  Richter  entschul- 
digend .  .  .  (112):  Nach  Gomperz  standen  sich  in  der  Sache  des 
SoliT.  zwei  gleichberechtigte  Ansprüche  gegenüber :  das  'Recht  des 
Gemeinwesens,  sich  zu  behaupten  und  auflösenden  Tendenzen  ent- 
gegenzuwirken,' und  'das  Recht  der  großen  Persönlichkeit',  der 
Staatsgewalt  zum  Trotz  neue  Bahnen  zu  erschließen  ...  In  die 
nüchterne  Wirklichkeit  übersetzt  würde  .  .  .  jenes  "^Recht  des  Ge- 
meinwesens' gleichbedeutend  sein  mit  dem  'Recht'  jeder  beliebigen 
das  'Gemeinwesen'  vertretenden  Regierungsgewalt  .  .  .  Zahllose 
Märtj-rer  des  Geistes,  des  Glaubens,  des  Gewissens  sind  verdienter- 
maßen in  den  Tod  gegangen,  weil  sie  dies  wohlbegründete  'Recht' 
gegen  sich  hatten !  Wer  die  Macht  hat.  der  hat  auch  das  Recht, 
das  ist  die  logisch  unabweisbare  Konsequenz  und  das  praktische 
Ergebnis  dieser  Lehre." 

Aus  Menzels  Abhandlung  habe  ich  schon  mehrere  Sätze 
herangezogen.  Ich  weiß,  daß  sie  auf  Philologen  bedeutenden  Ein- 
druck gemacht  hat.  Mir  scheint  ihr  Verdienst  recht  mäßig.  Immer- 
hin ist  es  gut ,  daß  auch  ein  Jurist  sein  Urteil  über  den  Prozeß 
des  Soki\  abgegeben  hat.  Und  was  er  gegen  die  haltlosen  Ver- 
mutungen von  Schanz  vorbringt,  fällt  schwer  ins  Gewicht.  Zuerst 
gibt  er  eine  Kritik  der  Quellen,  bei  der  herauskommt,  daß  die  Ap 
Pl.s  —  wenigstens  in  ihrem  negativen  Teil  —  „einen  sehr  be- 
grenzten Wert  für  die  Erkenntnis  des  Sokr.-Prozesses  besitze, 
Xenophons  Memorabilien  nahezu  wertlos  seien ,  hingegen  dessen 
Apologie  des  Sokr.  höchst  beachtenswert  erscheine".  Im  positiven 
Teil  allerdings ,    meint  auch  M. ,    das  heißt  in  der  Schildei'ung  der 


zulegen  berechtigt  war,  wonach  die  Begnadigung  eines  Schuldigen  als 
unsittlich  erscheint."  Übrigens  möchte  ich  die  Frage  aufwerfen:  ob  nicht 
das  Volk,  das  im  Prozeß  der  Feldherrn  nach  der  Arginusenschlacht  den 
auf  das  bestehende  Recht  hinweisenden  Sokr.  überbrüllte,  mehr  Gi-und 
gehabt  habe,  auf  seine  Souveränität  zu  pochen,  als  die  etwa  500  Heliasten, 
die  später  über  ihn  zu  Gericht  saßen.  Ich  ziehe  hierher  auch  eine  Er- 
klärung von  Ed.  Schwär tz:  „Der  Konflikt  mit  der  siegreichen  demo- 
kratischen Restauration  konnte  nicht  ausbleiben,  die,  wie  alle  Restaura- 
tionen, das  deutliche  Gefühl,  das  Alte  nicht  wiederherzustellen  zu  können, 
damit  übertäubte,  daß  sie  den  kritiklosen  Glauben  an  die  Vorzüglichkeit 
der  wiederhergestellten  Ordnung  für  eine  Pflicht  des  guten  Bürgers  er- 
klärte. Die  Anklage,  daß  er  neue  Götter  einführe  und  die  Jugend  ver- 
derbe, war  leicht  zu  widerlegen;  nur  wollte  das  souveräne  Volk,  wenn 
es  richtete,  von  dem  Angeklagten  um  Mitleid  gebeten  sein.  Dessen 
weigerte  sich  Sokr. ;  denn  damit  hätte  er  aufgehört  das  zu  sein,  was  er 
sein  wollte,  das  Gewissen  seines  Volkes:  als  solches  konnte  er  nicht  um 
Gnade  bitten"  (a.  a.  0.  S.  561). 


172  Constantin  Ritter. 

Wirksamkeit  und  Mission  des  Sokr. ,  sei  gewiß  die  Darstellung 
Pl.s  ganz  zuverlässig.  Weiter  sucht  M.  den  Wortlaut  der  Klage- 
schrift festzustellen.  Er  wundert  sich  über  die  Unechterklärung 
der  von  Favorinos  mitgeteilten  Urkunde^).  „Vom  Standpunkt  des 
griechischen  Strafprozesses"  jedenfalls  ergibt  sich  kein  Bedenken 
gegen  die  Glaubwürdigkeit  des  Favorinosberichtes".  Noch  mehr 
wundert  er  sich  darüber,  daß  Schanz  den  Punkt  der  Verführung 
der  Jugend  aus  der  Anklage  streichen  will.  „Ist  ihm  nie  der  Ge- 
danke gekommen",  fragt  er,  „daß  das  Altertum  in  diesem  Punkte 
doch  vielleicht  besser  informiert  war  als  ein  deutscher  Gelehrter 
am  SchUisse  des  19.  Jahrhunderts?"  „Was  die  'juristische  Unhalt- 
barkeit'  betrifft,  so  traue  ich  mich  als  Jurist  wohl  auch  ein  Wört- 
chen mitreden  zu  können".  Es  folgt  unter  Ziffer  III  die  „Inter- 
pretation der  Klageschrift".  Da  heißt  es:  „Es  sind  3  Tatbestände, 
wegen  welcher  die  Anklage  erhoben  wird :  die  Nichtverehrung  der 
Staatsgötter,  die  Einführung  anderer  neuer  göttlicher  Dinge  und 
der  Jugend  Verderb.  Jedoch  sind  die  beiden  ersten  Teile  zu  einer 
Einheit  zusammengefaßt."  Beim  ersten  Punkt  „legt  PI,  dem  Sokr. 
Ausführungen  in  den  Mund,  welche  .  .  .  den  Anschein  wecken,  als 
handle  es  sich  um  den  Glauben",  nicht  um  die  Gottesverehrung, 
die  mit  rof^illieii'  gemeint  war.  „Wenn  Sokr.  wirklich  in  dieser 
Weise    gegen    die    Anklage    bei    Gericht    polemisiert    haben    sollte 

—  mir    erscheint    es    höchst  unglaubwürdig  — ,    so  hat  er  es  eben 

—  um  ein  dialektisches  Kunststück  auszuführen  —  mit  dem  wahren 
Sinn  der  Beschuldigung  nicht  sehr  genau  genommen".  Die  ganze 
Argumentation  gegen  den  2.  Vorwurf  in  der  Ap  „ist  vermutlich 
eine  Erfindung  Pl.s ;  sie  zeigt  aber  jedenfalls ,  daß  die  dait-iövia 
nicht  ohne  weiteres  als  'Gottheiten  aufgefaßt  werden  müssen",  d.h. 
nicht  notwendig  substantivisch.  M.  ist  „der  Ansicht,  daß  sich  die 
Anklage  absichtlich  eines  zweideutigen  Ausdrucks  bedient  hat,  um 

')  Dagegen  schreibt  auch  Wilamowitz  (II  S.  47):  „Es  ist  eine  starke 
Zumutung,  zu  glauben,  daß  der  Zettel,  auf  dem  Meletos  die  yoccff  q  bei 
dem  Könige  eingereicht  hatte,  fünfhundert  .Jahre  später  im  Metroon  er- 
halten war,  wo  ihn  Favorin  gesehen  haben  will.  "Wenn  er  das  Autograph 
des  Meletos  im  Aktenschranke  des  Archivs  vorgezeigt  erhielt,  so  werden 
wir  darin  nur  die  Geschicklichkeit  erkennen,  die  der  gläubigen  Neugier 
der  Fremden  die  kostbare  Eeliquie  vorzuweisen  wußte,  auch  dem  Kelten 
Favorin,  der  hier  seine  theoretische  Skepsis  vergaß."  —  Ich  wage  immer- 
hin in  Bescheidenheit  die  Frage:  Wenn  doch  der  Prozeß  des  Sokr. 
starkes  Aufsehen  erregte  und  bald  auch  außerhalb  Athens  aufs  eifrigste 
besprochen  wurde,  sollte  nicht  wirklich  der  Schriftsatz  der  Klage  zufolge 
davon  als  'Reliquie'  behandelt  worden  sein? 


Ber.  über  d.  in  d,  letzten  Jahrzehnten  über  PL  erschienenen  Arbeiten.    17  3 

in  der  Begründung  einen  möglichst  freien  Spielraum  zu  erlangen"  ^). 
In  gleicher  Absicht  ist  offenbar  auch  der  Ausdruck  zovg  veovg  dia- 
(ßO^eigsiv  recht  „farblos  gewählt".  Unter  IV  will  M.  den  „Asebie- 
begriff"  aufklären.  Er  folgert  „aus  dem  Wesen  der  griechischen 
Religion,"  „daß  .  .  .  ein  Bekenntniszwang  nicht  geübt,  wohl  aber 
alles  geahndet  werden  konnte,  was  als  Beleidigung  der  Staatsgötter 
und  eben  dadurch  als  Gefährdung  des  öffentlichen  Wohles  anzu- 
sehen war".  Dann  mustert  er  die  überlieferten  Fälle  von  Asebie- 
Anklagen,  widerspricht  dabei  der  Meinung  Leop.  Schmidts ,  „daß 
bei  der  Verfolgung  der  Philosophen  die  Religion  nur  den  Vorwand 
abgab  2),  das  eigentliche  Motiv  aber  ein  politisches  war",  gewinnt 
aber  dennoch  das  Ergebnis,  „daß  die  Asebie -Anklage  als  solche 
ohne  besondere  Zwischenursachen  einen  so  tragischen  Ausgang 
keineswegs  mit  sich  führte".  Dann  behandelt  er,  unter  V,  „die 
Rechtsgrundlage  der  Anklage".  Er  findet:  „der  erste  (Doppel-) 
Tatbestand  läßt  sich  ohne  Zwang  unter  das  Asebie-Verbrechen 
subsumieren".  Auch  der  Jugendverderb  war  „nach  attischer  Auf- 
fassung eine  kriminelle  Handlung"  ^).  Pöhlmann  irrt  sich  mit  der 
Annahme,  daß  die  Klage  gegen  Sokr.  auf  Grund  des  Psephisma 
des  Diopeithes  erfolgt  sei.  Sie  kam  ja  als  Privatklage  (nicht  als 
Eisangehe  infolge  bloßer  Denunziation  beim  Volk)  zustande  und 
konnte  (seit  Neuregelung  des  Rechtswesens  im  Jahr  403)  auch  in 
keiner  anderen  Form  zustande  kommen.  Unter  VI  bespricht  M. 
das  „Verhältnis  der  Anklage  zur  Amnestiegesetzgebung".  Das  ist 
'  vielleicht    der   wertvollste  Teil    seiner  Abhandlung;    aber   ich  kann 

')  Dem  entsprechen  etwa  die  Ausführungen  Bey Schlags  S.  42 f. 
„Ist  überhaupt  in  der  antiken  nöXig,  dem  'Stadtstaat',  in  dem,  um  einen 
modernen  Ausdruck  zu  gebrauchen,  'Staat  und  Kirche'  zu  einer  so  un- 
lösbaren Einheit  verbunden  waren,  eine  Klage  auf  Asebie  ohne  politischen 
I  Beigeschmack  denkbar?  Diese  Yerqviickung  von  politischen  und  religiösen 
Momenten  war  zudem  noch  durch  den  Umstand  erleichtert,  daß  dem 
attischen  Recht  eine  scharfe  Bestimmung  der  als  äof'ßeta  zu  qualifizieren- 
den Verbrechen  und  Vergehen  gefehlt  hat,  so  daß  dem  Ermessen  der 
Richter  und,  wie  ich  dieser  nach  dem  'Att.  Proz.'  S.  368  gegebenen  Dar- 
stellung beifüge,  der  Ankläger  ein  weiter  Spielravim  gelassen  war.  Und 
diese  Verquickung  von  politischen  und  religiösen  Motiven  lag  auch  im 
sokratischen  Prozeß  vor  und  führte  zu  jener  eigenartigen  Formulierung 
der  ffjKtf  /;,  deren  wenig  scharfe  Prägung  gerade  aus  diesem  Zusammen- 
fließen der  beiden  Momente  sich  erklärt." 

2)  Ahnlich  urteilt  Schwartz  (Charakterköpfe  S.  47):  „Prozesse 
wegen  Gottlosigkeit  waren  in  Athen  nie  ehrlich  gemeint." 

')  Hiezu  vgl.  auch  Taylor  S.  4,  der  mit  Recht  aus  der  Einleitung 
von  Isocrates  n.  diiiS.  argumentiert.  Unrichtig  scheint  mir,  was  Maier 
S.  478  behauptet. 


174  Constantin  Eitter. 

ihn  hier  übergehen.  Dann  folgt  unter  VII  „Die  Begründung  der 
Anklage".  Wii'  lesen:  „Der  Vorwurf  religiöser  Neuerung  wurde 
zweifellos  damit  begründet,  daß  Sokr.  sich  bekanntermaßen  auf  eine 
göttliche  Stimme  berufe,  welche  ihm  die  Zukunft  prophezeie.  Die 
attische  Staatsreligion  sei  damit  nicht  verträglich  .  .  Der  Jugend - 
Verderb  wurde  zweifellos  zunächst  mit  der  Verbreitung  dieser  Ab- 
weichungen von  der  Staatsreligion  begründet.  Das  zweite  Argument 
bildete  wohl  die  Erschütterung  der  väterlichen  Autorität  .  .  Ein 
weiterer  Vorwurf  .  .  scheint  sich  auf  die  Erziehung  zur  Untätigkeit 
bezogen  zu  haben  .  .  Wahrscheinlich  ist  auch  .  .  darauf  hingewiesen 
worden ,  daß  sich  Sokr.  vom  Staatsleben  fernhalte  und  auf  die 
Jünglinge  in  diesem  Sinne  einwirke ,  ein  solches  Verhalten  aber 
dem  öiFentlichen  Leben  die  besten  Kräfte  entziehe."  VIII  trägt 
die  Überschrift:  „Die  Persönlichkeit  und  die  Motive  der  Ankläger". 
Dabei  scheint  mir  Anytos,  wie  übrigens  von  den  meisten  Neueren, 
mit  zu  schönen  Farben  gemalt  zu  sein.  Daß  er  „einer  der  ver- 
dientesten Staatsmänner  Athens"  gewesen  sei,  möchte  ich  M.  nicht 
nachsprechen.  Seine  Ehrlichkeit  wird  ja  auch  von  PI.  nicht  in 
Zweifel  gezogen.  Aber  ein  sehr  beschränkter  Kopf  kann  er  des- 
halb doch  gewesen  sein.  Wenn  ein  solcher  sich  einer  politischen 
Partei  verschrieben  hat ,  so  weiß  er  selber  nicht ,  wie  weit  seine 
innere  Abhängigkeit  von  deren  Schlagworten  geht.  Und  die  ver- 
letzte Eitelkeit  eines  beschränkten  Menschen  pflegt  ihre  Racheakte 
vor  sich  selber  damit  zu  rechtfertigen,  daß  sie  nicht  aus  persön- 
licher Feindschaft,  sondern  um  des  allgemeinen  Besten  willen  unter- 
nommen werden.  Alle  möglichen  Umstände,  die  dem  Anj'tos  eine 
solche  Vorspiegelung  erleichtern  konnten,  hat  M.  S.  46  f.  treflfend 
bezeichnet.  Abschnitt  IX  bespricht  „die  Verhandlung  und  das 
Urteil".  Daraus  greife  ich  noch  ein  paar  Sätze  heraus,  die  Wider- 
spruch herausfordern:  „Ob  die  Meinung  des  Sokr.  über  die  Nach- 
wirkung der  alten  Verleumdungen  objektiv  begründet  war?  Das 
möchte  ich  bezweifeln  .  .  Der  Getroffene  selbst  hat  sie  natürlich 
nicht  vergessen  und  glaubt  an  einen  Zusammenhang,  der  in  Wirklich- 
keit nicht  besteht."  Ich  glaube,  hier  hat  wieder  Schwartz  Recht: 
daß  die  falsche  Darstellung  der  Person  des  Sokr.  in  den  Wolken 
„ein  starkes  Vorurteil  gegen  den  ohnehin  durch  sein  wunderliches 
Wesen  die  Philister  ärgernden  Mann  zur  Folge  hatte,  müssen  wir 
PI.  glauben".  Und  wenn  M.  fortfährt:  „Ebenso  halte  ich  die  Zurück- 
führung  der  Anklage  auf  persönliche  Feindschaft  verletzter  Be- 
völkerungsklassen ,  wie  sie  Sokr.  bei  PI.  vertritt ,  für  eine  rein  , 
subjektive  Auffassung",    so    meine  ich,    auch  hier  sei  alle  psycho- 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.     175 

logische  Wahrscheinlichkeit  dafür,  daß  PI.  sich  nicht  getäuscht  habe. 
Ja,  wie  Grote  will,  man  denke  sich  heute  einen  Sokr.  Unzählige 
ehrenwerte  Spießbürger  würden  sich  täglich  schwer  über  ihn  ärgern 
und  beklagen  als  über  einen  äußerst  lästigen,  anmaßenden  Gesellen^ 
dem  sie  einen  tüchtigen  Denkzettel  wünschten.  —  Es  folgen  unter  X 
die  „Ergebnisse",  und  M.  will  mit  ihrer  Zusammenfassung  eine 
„Widerlegung  der  Pöhlmannschen  Auffassung"  geben.  In  dessen 
Schrift  ist  ihm  uameutlich  der  Untertitel  anstößig,  die  „Beziehung" 
des  Prozesses  „zum  Rechte  der  Meinungs-  und  Lehrfreiheit".  Ich 
meine  aber ,  er  kämpfe  hier  gegen  Windmühlen.  Denn  von  einem 
verbrieften  Recht  solcher  in  Athen  hat  auch  P.  nicht  geträumt. 
Und  einen  wertvollen  „Beitrag  zur  Geschichte  der  Lehrfreiheit"  hat 
er  mit  seiner  Untersuchung  jedenfalls  geliefert.  Die  psj^chologischen 
Bemerkungen,  die  M.  gegen  P.s  Auffassung  richtet,  um  zu  zeigen^ 
daß  es  sich  in  dem  Prozesse  des  Sokr.  eben  nicht  um  einen 
„massenpsychologischen  Vorgang  von  typischer  Bedeutung"  ge- 
handelt habe,  scheinen  mir  fehlzugehen  und  sich  in  ziemlich  seichter 
Oberflächlichkeit  zu  bewegen  ^). 

^)  Zur  Kennzeichnung  von  Joel  sei  auch  hier  wieder  etwas  nach- 
getragen. Unermüdlich  nach  Antisthenes  stöbernd,  erhält  er  glücklich 
auch  in  der  Ap  von  ihm  Witterung.  Als  Vermittlung  dient  der  Clitophon. 
Dieser  darf  dem  PI.  nicht  genommen  werden.  (Joel  hat  auch  [11  S.  407] 
„noch  von  niemand  erfahren"  können,  „warum  die  Alten  so  kurzsichtig 
waren,  diese  antisokratische  Schrift  stets  PI.  zuzuweisen".)  Und  er  muß 
sich  wohl  oder  übel,  obwohl  der  sprachliche  Befund  (s.  meine  Unters, 
S.  93  f.)  dies  einfach  verbietet ,  der  ersten  platonischen  Schriftengruppe 
einreihen  lassen.  Dann  hat  man  den  Schlüssel  zum  Verständnis  der 
„Beziehungen  zwischen  PI.  und  Antisthenes".  Es  ist  ja  (U  S.  423)  „klar, 
daß  es  eine  Zeit  gab,  in  der  die  beiden  Sokratiker  noch  einig  waren, 
d.  h.  wohl  der  jüngere  noch  unter  dem  Einfluß  des  älteren  stand,  und 
weiterhin  eine  Zeit,  in  der  sie  polemisch  zueinander  standen,  wofür 
nachgerade  Zeugnisse  genug  erkannt  sind.  Dazwischen  kann  der  not- 
wendige Bruch  nicht  anders  gekommen  sein,  als  es  der  Clit.  ausdrückt : 
PI.  emanzipiert  sich  mit  einem  'zwar  —  aber';  er  erkennt  die  antisthenische 
Sokratik  an  als  rhetorisch  eindrucksvoll ,  deshalb  elementar  zur  Er- 
weckung wirksam,  als  notwendiges  Vorstadiura,  aber  für  die  weitere  Ent- 
wicklung ungenügend,  für  das  Wissen  versagend.  Er  hat  naturgemäß 
seine  Kritik  zuerst  mündlich  verlauten  lassen;  Antisth.  ist,  wie  immer 
in  solchen  Fällen,  von  allem  nur  das  Nein  zu  Ohren  gekommen  —  so- 
llest man's  auch  in  der  aktuellen  Einleitung  des  Clit.  — ,  und  PI.  muß 
nun    seinen    neuen    Standpunkt,    seine   Emanzipation    rechtfertigen,  — 

.müßte  man  nicht  einen  Clit.  hier  erfinden,  wenn  er  nicht  da  wäre? 
Nun  meint  aber  Wegehaupt,  der  Clit.  habe  den  Sokr.,  den  er  kritisiere, 
aus  der  Ap  .  .    Die  Verwandtschaft  .  .  erklärt  sich  umgekehrt.     Die  Ap 

■fällt  in  jene  Epoche  Pl.s,  in  der  er,  wie  es  Dümmler  und  Hirzel  vom  & 


176  Constantin  Bitter. 

Mein  Bericht  stand  schon  im  Satze  fertig,  als  ich  erst  Taylors 
Varia  Socratica  zu  lesen  begann.  Das  1.  und  4.  Kapitel  dieser 
vortrefflichen,  ebenso  durch  Scharfsinn  wie  durch  Gedankenreichtum 
ausgezeichneten  Schrift  nötigt  mich  zu  einer  größeren  Einschaltung. 
T.  meint :  Wir  haben  keinen  Grund  zu  zweifeln ,  daß  die  Männer 
in  ehrlicher  Überzeugung  handelten,  welche  die  Anklage  gegen  Sokr. 
erhoben  haben.  Dann  glaubten  sie  also,  dieser  sei  eine  Gefahr  für 
die  wiederhergestellte  verfassungsmäßige  Demokratie,  und  meinten 
Tatsachen  aus  seinem  Leben  zu  kennen ,  die  diesen  Glauben  zu 
rechtfertigen  schienen.  Die  herrschende  Ansicht  darüber,  worin  die 
Asebie  des  Sokr.  gefunden  wurde,  ist  nicht  haltbar.  Der  Wortlaut 
der  EUage  wird  aus  Xenophon  zu  entnehmen  sein,  der,  eben  weil 
er  der  Verhandlung  nicht  anwohnen  konnte,  an  diesen  sich  halten 
mußte,  während  dem  Angeklagten  selber  die  Freiheit  blieb,  davon 
abzuweichen.  Das  elaq'tQcov,  das  Sokr.  gar  nicht  in  den  Mund 
nimmt,  ist  scharf  zu  betonen.  Es  handelt  sich  eigentlich  weder 
um  Atheismus,  noch  um  Un Sittlichkeit,  sondern  um  Verletzung  des 
göttlichen  Anspruchs:  'Du  sollst  meine  Ehre  keinem  anderen  geben', 
um  Zugehörigkeit  zu  einem  fremden ,  vom.  Staat  nicht  gebilligten 
'KonventikeP.  Meletos  freilich,  in  seiner  Ungeschicklichkeit,  läßt 
sich  bei  der  mündlichen  Verhandlung  durch  die  Fragen  des  Soki*. 
in  die  Falle  locken  und  gibt  den  guten  Sinn  der  Klageschrift  preis, 
indem  er  den  Vorwurf  des  Atheismus  erhebt,  dessen  Grundlosigkeit 
leicht  zu  erweisen  ist.  Damit  gewinnt  der  Angeklagte  den  Vorteil, 
daß  er  auf  das  ihn  wirklich  Belastende  gar  nicht  einzugehen  braucht. 
Auch  PL,  der  den  wirklichen  Gang  der  Verhandlung  schildert,  war 
dessen  überhoben.  Xenophon  aber  führt  uns  irre,  wenn  er  es  so 
darstellt,  als  hätte  das  'Daimonion'  des  Sokr.  eine  Grundlage  für 
die  Beschuldigung  der  Einführung  neuer  Gottheiten  gebildet  ^).  Nein, 
was  Sokr.  davon  zu  erzählen  pflegte ,  war  ganz  unverfänglich  und 
wurde  ganz  harmlos  hingenommen  so  gut  wie  irgendwelche  gewöhn- 
liche Mantik.  Man  beachte  nur ,  welche  Rolle  das  Daimonion  in 
der  Ap  spielt.  Hier  beruft  sich  Sokr.  auf  seine  Abmahnung,  um 
die  anstößige  Tatsache  zu  entschuldigen,  daß  er  seine  Gaben  nicht 

erkannt,  dem  Kyniker  zuneigt.  Von  ihm,  obgleich  schon  einmal  ein 
leises  Lächeln  sich  regt  (20 ab),  hat  sie  den  Paränetiker  Sokr.,  der  nicht, 
wie  V.  Arnim  hieraus  noch  entnehmen  zu  müssen  glaubt,  historisch  ist  . . . 
"Wer  begriffen  hat,  daß  die  Ap  nicht  die  historische  Selbstverteidigung 
sein  kann,  wird  dem  älteren  Sokratiker  wenigstens  die  starke  Möglich- 
keit des  Vortritts  einräumen  ..." 

^)  Zur  Unterstützung  Xenophons   dient  übrigens   die  von   Taylor 
übersehene  platonische  Stelle  Eu  3  b. 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  Ph  erschienenen  Arbeiten.    1 77 

in  herkömmliclier  Weise  zu  politischer  Tätigkeit  angewandt  habe, 
woraus  man  sonst  schließen  möchte,  er  sei  ein  Feind  der  bestehen- 
den Verfassung  und,  ähnlich  etM^a  wie  Antiphon,  das  Haupt  einer 
antidemokratischen  Verschwörung  gewesen :  nur  habe  er,  während 
seine  Freunde,  ein  Elritias  und  Charmides,  mit  ihrem  Leben  büßten, 
sein  Spiel  verdeckt  gehalten,  um  es  im  gegebenen  Augenblick  neu 
zu  beginnen.  Wäre  das  rätselhafte  „Zeichen"  iro-endwie  von  Meletos 
in  seiner  Anklage  verwendet  worden,  so  wäre  es  eine  Lächerlichkeit 
von  dem  Angeklagten,  eben  auf  dieses  sich  so  zu  berufen,  wie  er 
es  bei  PL  tut  ^).  Erwägen  wir  alles  zusammen,  so  ergibt  sich  als 
„sicher:  nicht  Unglaube  oder  Aberglaube  war  es,  was  Soki\  zur 
Last  gelegt  wurde,  sondern  ordnungswidriges  Verhalten  in  religiösen 
Übungen,  eine  Weise  des  'Verkehrs  mit  dem  Himmel  in  Geben 
und  Nehmen',  welche  nicht  den  Stempel  offizieller  Genehmigung 
trug  und  darum  ganz  begreiflicherweise  den  Verdacht  erregte,  die 
Gottheit  gegen  die  athenische  Demokratie  ungünstig  zu  stimmen. 
'Gottlosigkeit'  dieser  Art  war  natürlich  zugleich  Hochverrat.'^  Nun 
lernen  wir  aus  dem  Phn  und  dem  G ,  daß  Sokr.  ein  überzeugter 
Anhänger  des  orphisch-p3^thagorischen  Glaubens  war,  „nach  dem 
das  gegenwärtige  Leben  im  Leibe  das  bloße  Vorspiel  eines  wahreren 
und  endlosen  zukünftigen  Lebens  bildet,  das  mit  der  Trennung  von 
Seele  und  Leib  beginnt,  und  die  erste  Pflicht  des  Menschen  darin 
besteht ,  auf  diese  Erlösung  der  Seele  hinzuarbeiten  mittels  der 
'Philosophie'.  Im  G  insbesondere  wird  diese  Lehre  von  der  Pflicht 
des  Menschen  zur  Grundlage  eines  strengen  Gerichts  über  all  die 
berühmten  Männer  des  5.  Jahrh.  gemacht,  die  die  athenische  Groß- 
macht geschaffen  haben ,  und  Philosophie  und  Demos  werden  ein- 
ander gegenübergestellt  wie  Gott  und  der  Mammon  als  zwei  Herren, 
denen  man  nicht  zugleich  dienen  kann."  Im  Phn  aber  sehen  wir 
Sokr.  umgeben  von  einer  Gruppe  gleichgesinnter  Genossen,  die  eben 
durch  jenen  Glauben  geeinigt  sind.  Dies  liefert  uns  den  Schlüssel 
für  das  Verständnis  der  gegen  Sokr.  vorgebrachten  Beschuldigungen. 
Es  ist  dabei  nur  noch  folgendes  zu  bedenken:  Die  lebendige  Er- 
iimerung  an  die  politische  BoUe,  welche  der  pythagoreische  Bund 
in  Unteritalien  gespielt  hatte,  war  nicht  geeignet,  die  Wiederher- 
steller der  athenischen  Demokratie  von  dem  Mißtrauen  zu  befreien, 
das  sie  ohnehin  gegen  den  Philosophen  hegen  mußten ,  von  dem 
bekannt  war,  daß  er  diese  Staatsform  nicht  bewunderte.    Auch  die 


^)  Xenophon  seinerseits  scheint  getäuscht  worden  zu  sein  durch  eine 
Stelle  der  Ap,  31  d,  deren  ironischen  Klang  er  überhörte. 

Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft.    Bd.  191  (1922.  I).  12 


178  Constantin  Ritter. 

pythagoreische    Seelenlehre ,    an    die    sich    ein  Geheimkult   knüpfte, 
von    dem    man    in  Athen    nur    sehr    unsichere  Vorstellungen  hatte, 
konnte    von    einem    antiken  Staat   nicht   leicht   genommen    werden. 
Die  Meinung,  daß  Sokr.  ihr  anhänge,  war  ziemlich  gleichbedeutend 
mit   der  Überzeugung ,    daß    er  die  Götter  des  Staats  gering  achte 
und  vernachlässige  zugunsten  gewisser  aus  der  Fremde  eingeführter 
daif-iovia.     Wir    können    heute    noch    beweisen,    daß    die  orphisch- 
pythagoreischen  Lehren  in  Athen  zur  Zeit  des  Sokr.  nicht  bloß  als 
fremde    mit  Mißtrauen    betrachtet ,    sondern  von  dem  gewöhnlichen 
Bürger  geradezu  als  gottlos  verabscheut  wurden.    Bei  aufmerksamem 
Lesen    gewinnen    wir  Zeugnisse    dafür    aus  Euripides ,    aus  Aristo- 
phanes    und    auch    aus  PI.     Und   man  wird  das  auch  von  unserem 
Standpunkt  aus  verstehen.    Der  Staatsbegriff  der  athenischen  Demo- 
kratie   und    die    daraus   sich  ergebenden  Ansprüche  an  den  Bürger 
entsprechen  der  Auffassung  des  Pi'otestantismus,  der  dem  Diesseits 
und    den    weltlichen    Ordnungen    sein    eigenes    unabhängiges   Recht 
lassen    will;    die  Orphik    ist  dem  Katholizismus  verwandt  in  ihrem 
Bestreben,    das  Diesseits   dem  Jenseits  unterzuordnen.     In  diesem 
Licht  betrachtet  erscheint  dann  die  Sünde  der  Verbindung  mit  ver- 
botenen   pythagori sehen    Konventikeln    zugleich    als    wichtiger   Be- 
standteil   des    umfassenderen  Vorwurfs  der  Jugendverführung ,    die 
in    der   Einflößung    eines    der   Staatsverfassung   feindlichen  Geistes 
besteht.     Schon  die  Internationalität  des  pythagoi'ischen  Bundes  war 
verdächtig.     Man    konnte   sich  vorstellen,    daß  die  Gebete,    die  bei 
den  Zusammenkünften  von  megarischen,   thebanischen,  phliasischen 
Genossen   gesprochen  wurden,    nicht  eben  das  Gedeihen  des  athe- 
nischen Demos  zum  Gegenstand  hatten.     Man  denke  sich  an  Sokr.' 
Stelle  einen  Engländer  des  Jahres  1690,  von  dem  die  Leute  wüßten, 
er  käme  täglich  mit  ausländischen  Katholiken  zusammen :  natürlich 
wäre    er    dem  stärksten  Verdachte  ausgesetzt  gewesen ,    selbst  ein 
'Päpstler'  zu  sein.    Man  darf  hiegegen  nicht  mit  den  eleusinischen 
Mysterien    argumentieren.     Sie    standen    unter  Kontrolle    des  athe-i 
nischen  Staats.    Außerdem  fehlte  ihnen  jedes  Dogma,  und  so  ergab 
sich  für  die  Mysten  kein  Zwiespalt  zwischen  ewigen  und  zeitlichen 
Pflichten.      „Um   noch  eine  andere  moderne  Parallele  anzuwenden: 
der  Argwohn ,    den  der  Demos  gegen  internationale  geheime  Riten 
hegte,    war  etwa  ebenso  natürlich  wie  heutzutage  bei  den  Leitern; 
der  römischen  Kirche  ihr  Haß  gegen  die  Freimaurerei."     Auch  ausi 
Pl.s  Darstellung    des  Sokr.,    die    sich    dem   einsichtsvollen  Kritiker 
überhaupt    in    allen  Punkten    als   zuverlässig  erweist,    ersieht  man., 
daß    Sokr.    entweder    geradezu    Pythagoreer    war    oder    wenigstens 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.     179 

ihrem  Kreise  ganz  nahestand.  Xenophon  schweigt  darüber  bewußt, 
weü  er  eben  die  Ungefährlichkeit  seines  Helden  beweisen  will. 
Aristophanes  aber  befindet  sich,  wenn  mau  die  Abzüge  und  Zurecht- 
rückungen vornimmt,  die  bei  dem  übertreibenden  und  karikierenden 
Komiker  selbstverständlich  vorzunehmen  sind,  in  wunderbarer  Über- 
einstimmung mit  PI.  „Ja,  die  Wolken  lassen  in  der  Tat  die  zwei 
Teile  der  Anklage  hervortreten,  die  sich  ein  Vierteljahrhundert 
später  dem  Sokr.  verhängnisvoll  erweisen  sollte.  Ihi-  Held  ist  zu- 
gleich ein  Verächter  der  Schutzgottheiten  der  Stadt  Athen  und  ein 
Anhänger  von  xaiva  öai^oria,  die  ganz  natürlich  hier  mit  seinen 
kosmologischen  Studien  in  Verbindung  gebracht  werden.  Das  Kon- 
ventikel  der  q)QOVTioxai  hat  eine  religiöse  Organisation,  und  die 
ersten  Anstalten,  die  getroffen  werden  bei  der  Ankunft  eines  neuen 
Schülers ,  sind  darauf  berechnet,  ihn  gleich  einem  Taufkandidaten 
in  die  religiöse  Gemeinschaft  aufzunehmen.  Der  erste  Lehrartikel, 
den  Sokr.  dem  Strepsiades  anvertraut,  ist,  daß  '^die  Götter  keinen 
Kurs  haben'  im  (pQOViiarr/Qiov  ...  Ob  Sokr.  wirkliches  Mitglied 
eines  religiösen  d^iaoog  war  oder  nicht,  ausgemacht  ist  für  mich, 
daß  ihn  Aristophanes  dafür  hielt  und  annahm ,  daß  sein  Publikum 
ebenso  von  ihm  dachte.  Der  ganze  Ton  bei  ihm  ist  genau  der, 
den  ein  royalistischer  Satiriker  des  17.  Jahrhunderts  angeschlagen 
haben  möchte,  wenn  er  den  Glauben  und  Charakter  des  puritanischen 
'Frommen'  angriff." 

Im  Anschluß  soll  hier  gleich  noch  die  eben  erst  erschienene 
Schrift  Hörne  ff  er  s  gewürdigt  werden.  Auch  sie  finde  ich  vor- 
züglich. Ich  war  geradezu  erstaunt  zu  sehen,  wie  seine  Ansichten 
mit  den  meinigen  sich  vielfach  völlig  decken,  namentlich  in  der 
Beurteilung  von  Schanz  und  anderen,  insbesondere  philologischen, 
Auslegern  der  Ap.  Die  Auszüge ,  die  ich  folgen  lasse ,  kann  ich 
eben  deshalb  etwas  kürzer  halten,  weil  ich  ja  meine  Überzeugung 
schon  hinlänglich  zum  Ausdruck  gebracht  habe.  (S.  5  :)  „Ein  Philo- 
soph der  Vergangenheit  wird  immer  nur  philosophisch  zu  verstehen 
sein.  Wer  nicht  von  ganz  ähnlichen  philosophischen  Problemen, 
wie  der  zu  erklärende  Philosoph  selbst,  bewegt,  ja  geradezu  heim- 
gesucht und  gequält  wird,  wird  schwerlich  in  die  tieferen  Ursprünge 
und  das  Entstehen  der  betreffenden  Philosophie  eindringen  können." 
H.  Maier  hat  zu  Ap  31  a  b  bemerkt:  „Wäre  Sokr."  (nicht  sein 
Jünger,  PI.)  „der  Redende,  so  könnten  wir  uns  etwas  Peinlicheres 
und  Abstoßenderes  nicht  denken  als  eine  solche  Ruhmredigkeit 
und  Selbstüberhebung."  Hiegegen  wendet  sich  H.  mit  folgendem 
(22):   „Nur  mit  dem  größtem  Befremden  kann  ich  diese  Worte  lesen. 

12* 


180  Constantin  Ritter. 

Maiers  Einwand  scheint  mir  aus  einem  ganz  modernen,  für  die 
Antike  sclilechterdings  nicht  maßgebenden,  der  Antike  völlig  fremden 
Takt-  und  Anstandsgefühl  entsprungen  zu  sein ,  das  er  irrtümlich 
und  unpsychologi8<;h  Sokr.  unterlegt  .  .  .  Wo  es  sich  um  bittersten 
Ernst  handelt ,  um  .  .  die  Berechtigung  seines  ganzen  hehren  Be- 
rufs —  da  soll  er  nicht  mit  kühnstem  SelbstbewußtseiA  sprechen 
dürfen?  Und  Sokr.  soll  ja  nach  Maiers  eigener  Interpretation  in 
der  Auseinandersetzung  mit  dem  .  .  trägen,  schwunglosen  Alltags- 
menschen seine  Hauptaufgabe  gefunden  haben !  Und  dieser  Alltags- 
mensch fordert  ihn  nun  vor  Gericht.  In  einer  solchen  Lage  soll 
Sokr.  die  Sprache  der  Bescheidenheit  führen  müssen?  Mir  ist  diese 
Psychologie  unzugänglich.  Ich  lese  .  .  die  von  M.  beanstandeten 
Worte  .  .  mit  Begeisterung  .  .  .  Ich  kann  mir  den  geschichtlichen 
Sokr.  gar  nicht  andei's  redend  denken  als  mit  so  schlichter  Wahr- 
haftigkeit, die  nichts  verschleiert,  sondern  alles  und  jedes  mit  dem 
rechten  Namen  nennt ..."  Nachher  führt  er  (25)  das  in  Schanzischem 
Geiste  gesprochene  Urteil  Maiers  an,  Sokr.  brauchte  sich  gegen  den 
Hauptvorwurf  der  Anklage,  daß  er  nicht  an  die  Staatsgötter  glaube, 
„nur  auf  die  Korrektheit  (!)  zu  berufen,  mit  der  er  die  kultischen 
Pflichten  des  athenischen  Staatsbürgers  stets  erfüllt  habe.  So  läßt 
die  xenophont.  Ap.  ihn  sprechen.  Und  er  hat  auch  sicherlich  so 
gesprochen."  Und  hiegegen  sagt  er:  „Wieder  stehe  ich  vor  einer 
Unbegreiflichkeit  .  .  .  Aus  der  ganzen  Situation  ist  zu  schließen, 
daß  Sokr.  sicherlich  nicht  so  gesprochen  hat."  Ein  paar  Seiten 
später  sieht  sich  H.  veranlaßt,  die  Sätze,  die  Maier  über  Sokr.' 
Erwähnung  des  Orakelspruchs  in  der  Ap  niedergeschrieben  hat, 
di-eimal  durch  !  zu  unterbrechen.  Seine  Meinung  aber  ist :  „Die 
gesamte  bisherige  Kritik ,  die  die  Orakelerzähiung  entweder  ganz 
ableugnet  oder  abgeschwächt  hat ,  ist  in  die  Irre  gegangen.  Die 
Orakelerzählung  ist  absolut  ernst  zu  nehmen.  Sokr.  hat  tatsächlich 
an  das  Orakel  geglaubt,  hat  wirklich  auf  das  Orakel  seine  ganze 
Tätigkeit  zurückgeführt  und  gegründet  .  .  .  Ein  großer  Philosoph 
und  ein  Orakel,  das  letztere  als  dessen  treibende  und  bewegende 
Kraft  —  das  mag  modernen  Ohren  höchst  seltsam  und  unglaub- 
würdig klingen ,  ist  aber  als  geschichtliche  Tatsache  einfach  hin- 
zunehmen. Denn  auch  im  weiteren  Verlauf  der  Ap  hält  Sokr.  diese 
religiöse  Weihung  und  Weisung  zu  seinem  Beruf  auf  das  be- 
stimmteste aufrecht  .  .  .  (41)  Die  ganze  Stellung  des  Sokr.  der  er- 
erbten Religion  gegenüber  wird  von  den  ernsteren  Forschern  des 
letzten  Jahrhunderts  als  ein  .  .  vornehmes,  überlegenes  Geltenlassen 
nterpretiert,  wie  es  dieses  Gelehrtengeschlecht  .  .  selbst  der  Rehgion 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PL  erschienenen  Arbeiten.    181 

gegenüber    empfunden    hat.     Sie   beurteilen  Sokr.  nach  sich  selbst. 
So    spricht  Wilamowitz   —   (-10)   der  einzige  Philologe ,    der  die  .  . 
Orakelerzählung  echt  unl  ernsthaft  nimmt  —  davon,  daß  Sokr.  sich 
das  Orakel  ''zurechtgelegt'  haben  werde.     Nein,  das  Religiöse,  das 
Irrationale  ist  nach  dem  Zeugnis  der  Ap  für  Sokr.  .  .  die  treibende, 
bewegende  Kraft  gewesen,  der  Ursprung,  Sanktion  und  Quelle  seiner 
gesamten  Lebensarbeit  .  .     Mit  Recht    weist  AVüam.   selbst  darauf 
hin,  daß  sich  Sokr.  noch  im  Phn  einen  'Diener  Apollons'  nennt  .  .  . 
Bei  Sokr.  ist  der  delphische  Gott  noch  eine  mächtige  Realität,  der 
wirklich   geglaubte    reale  Urheber    seiner  Philosophie ,    d.  h.  seiner 
Menschenprüfung.      Nur    eine    religiöse    Begeisterung,    nur    echter 
religiöser  Glaube  können  eine  so  gewaltige  sittliche  Kraft  erzeugen, 
wie    sie    Sokr.    nachweislich    betätigt   hat    —    das    liegt    für  jeden 
Psychologen    auf   der   Hand  .  .  ;    Wenn   Maier",    mit  Berufung   auf 
37  e,   „meint,  es  handle  sich  nm  eine  'ironische  Fiktion',  —  so  ist 
hier    die    richtige  Interpretation    geradezu    auf   den  Kopf  gestellt." 
Auch    mit  Bruns,    den    er  mir  zum  Teil  etwas  mißverstanden   zu 
haben  scheint,  ist  H.  wenig  zufrieden.    Mit  Recht  allerdings  fragt  er 
(47):    „Warum    soll    denn    das,    was    nach  B.s    eigener  Auffassung 
durch  PI.  künstlerisch  so  vortrefflich  verbunden  ist,  daß  man  .  .  die 
starken  Übergänge  kaum  bemerkt,  nicht  auch  persönlich,  menschlich 
in  dem  wirklichen  Sokr.  einheitlich  verbunden  gewesen  sein?"    Und 
völlig  einverstanden  bin  ich  mit  seinem  Satze :   „Das  gerade  ist  das 
Wunderbare  an  der  Ap  und  am  historischen  Sokr.,  .  .  daß  hier  das 
Erhabenste,  Stolzeste,  Kühnste,  das  höchstgesteigerte  Prophetentum 
mit    größtem  Selbstbewußtsein    sich  dennoch  zugleich  auf  geradezu 
geheimnisvolle    Weise    in    die    schlichteste    Einfachheit    kleidet ,    in 
geradezu    erquickender   und    herzbewegender  Naivität  und  Mensch- 
lichkeit   auftritt.      Höchstes    Prophetentum    und    reine    offene    freie 
Menschlichkeit    sind  hier  in  unlösbarer  Einheit  verbunden."     Auch 
Pohl  mann  kommt  bei  H.  etwas  zu  ungünstig  weg.    Freilich  dessen 
oben    von    mir    übergangener  Aufsatz    über  das  'Sokrates-Problem' 
in  den  S.-B.  d.  bayr.  Ak.  von  1906  fordert  in  allen  den  Einzelheiten, 
die  H.  daraus  anführt,  zum  Widerspruch  heraus.     Und  mit  H.  zu- 
sammen   verwerfe    ich    die  Behauptung,    daß    uns   in  der  Ap   „eine 
gewaltige    symbolische  Dichtung"    vorliege,    „eine  Art   sokratischer 
Christologie",  in  der   „die  apolHnische  Verklärungskraft  Pl.s  .  .  die 
Gestalt  d.es  schwärmerisch  geliebten  Lehrers  .  .  in  eine  Sphäre  er- 
hoben   habe ,    in    der    uns    das    Bild    der    menschlich    individuellen 
Persönlichkeit  des  Sokr.  überhaupt  zu  verschwinden  droht" ;  mit  H. 
erkläre  ich  mich    ..für  so  gutgläubig,    daß  icli ,    was  die  Charaktpr- 


182  Constantin  üitter. 

Schilderung  des  Sokr.  anbetrifft ,  bei  PI.  nicht  die  leiseste  Über- 
treibung annehme,  daß  ich  diese  sittliche  Eo-aft  und  Größe  des  Sokr. 
für  buchstäbliche  Wahrheit  halte".  Ja,  (59)  „das  muß  Leben  sein! 
Mit  einer  Originalität ,  mit  einer  schlechthin  einzigartigen ,  unver- 
tauschbaren  Ursprünglichkeit  steht  dieser  Sokr.  vor  uns,  daß  auch 
der  größte  Dichter  niemals  etwas  Derartiges  erfinden  könnte." 
Auch  Pöhlm.  muß  zugeben,  daß  die  Ap  „gespickt  ist  mit  lauter 
historischen  Daten,  mit  .  .  Tatsächlichkeiten,  die  niemand  .  .  in  ihrer 
Realitätskraft  bestreiten  kann".  Dazwischen  hinein  aber  soll  PL 
aufs  freieste  fabuliert  haben.      „Das  glaube  ein  anderer!" 

Jedoch  die  Chronologie  soll  im  Wege  stehen?  Das  will  Schanz 
mit  seiner  „kurzatmigen  Kritik"  erwiesen  haben.  Nun  ja.  Er  weiß 
ganz  genau ,  nicht  nur  wie  Sokr.  als  Angeklagter  reden  mußte, 
sondern  auch  was  er  zuvor  im  Leben  treiben  durfte.  In  der  Ap 
tritt  er  uns  als  Bußprediger,  „als  Paränetiker"  entgegen.  Allein 
„gegen  die  Auffassung  des  Sokr.  als  eines  moralischen  Paränetikers 
müssen  wir  uns  .  .  von  vornherein  (!)  .  .  ablehnend  verhalten.  Die 
Geschichte  der  Philosophie  kennt  Sokr.  nur  als  Elenktiker."  Da 
haben  wir's.  „Das  abfällige  Urteil  von  Wilamowitz  über  Schanz  .  . 
sollte  noch  viel  schroffer  sein.  Freilich  auch  „der  viel  bewunderte 
Gomperz  .  .  vertritt  seltsamerweise  die  gleiche  irrige  Auffassung  .  .  . 
Nach  G.  ist  Sokr.  nur  'Moralzergliederer''  gewesen ,  nicht  'Moral- 
prediger'. PI.  habe  die  moralische  Wirkung  des  Sokr.  'mittelst 
einer  überraschenden  Metamorphose'  zur  protreptischen  Absicht 
des  Sokr.  umgewandelt  ...  Es  hält  schwer,  derart  verzwickten 
Absurditäten  gegenüber  nicht  die  Geduld  zu  verlieren."  Ihnen 
gegenüber  kann  sich  H.  auf  Partien  in  Cr,  G,  Plm  und  Rp  berufen 
und  namentlich  auf  die  Rede  des  Alkibiades  im  Sy. 

Er  untersucht  dann  das  Verhältnis  der  aristophanischen  Komödie 
zur  Ap.  Hier  steht  er  hinter  Taylor  sehr  weit  zurück.  Mit  Grund 
allerdings  widerspricht  er  der  Aufstellung  Maiers:  „Soki-.  war  schon 
zu  der  Zeit,  als  die  Wolken  aufgeführt  wurden,  der,  den  PL  kannte." 
„Der  war  er  eben  damals  noch  nicht.  Mit  keinem  Worte  wird  er 
als  der  öffentliche  Rechenschaftsforderer,  Mahner  und  Bußprediger, 
als  der  Stachel  am  athenischen  Volke  .  .  dargestellt."  Falsch  aber 
ist  jedenfalls  und  aus  Taylor  zu  berichtigen  die  folgende  Aus- 
führung: „Nein,  er  gleicht  in  der  Komödie  ganz  und  gar  dem  da- 
mals allgemein  bekannten  und  üblichen  Typus  des  gelehrten  Mannes, 
dem  oocpög  und  aoq>iOTijg'^  usw.  Von  den  Soj)histenschulen  macht 
sich  H.  ein  unbrauchbares  Bild.  Und  erstaunlich  ist  angesichts 
des  Schmutzes  und  der  Armseligkeit  im  (pQovTiGT^Qiov  der  Wolken 


' 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    183 

der  Satz  (96):  „Nicht  der  populäre,  nein,  nur  der  aristokratisch 
abgeschlossene  Sokr.  in  seinem  Denkerheim  wird  uns  vor  Augen 
geführt  und  heruntergerissen."  Gelten  mag  vielleicht,  als  „merk- 
würdige Tatsache"  :  „Sokr.  hatte  2-i  Jahre  vor  seinem  Tode  diese 
öffentliche  Protreptik  noch  gar  nicht  aufgenommen"  —  richtiger 
wäre  wohl :  er  hatte  durch  sie  sich  noch  nicht  besonders  bemerklich 
gemacht.  Sicher  fehlerhaft  ist  die  (101)  als  „zweifellos  richtig"  in 
Rechnung  gesetzte  Auslegung  des  Verses ,  nach  dem  die  Wolken 
„dem  Sokr.  ihre  Reverenz  machten  mit  der  Anrede,  weil  du 
'gravitätisch  einherstolzierst'  und  'die  Augen  hochmütig  seitwärts 
wirfst,  die  Menschen  über  die  Achsel  ansiehst'",  worin  ausgedrückt 
liegen  soll,  „daß  er  über  die  Menschen  hinwegsieht",  so  daß  er  als 
hochmütiger  'verschrobener  Professor'  gekennzeichnet  wäre.  Die 
Verwendung  des  betreffenden  Verses  durch  Alkibiades  im  Sy  läßt 
keinen  Zweifel  darüber,  daß  mit  Tiocpd^aluio  Tta^aßdlleig  nicht  der 
hochmütige ,  sondern  der  herausfordernde  Blick  des  zum  Kampf 
Bereiten,  Streitlustigen  gemeint  ist.  Allerdings,  „den  Volkserzieher 
Sokr."  kennt  der  Dichter  der  Wolken  wohl  noch  nicht,  aber  doch 
wohl  die  lästige  Bremse,  vor  deren  Angriffslust  niemand  sicher  ist. 
Ein  vornehm  zurückgezogenes  Wesen  fülirt  der  nicht ,  der  ßqei- 
d^vexai  SV  talg  bdolg. 

Mit  Beleuchtung  des  „religiösen  Charakters  des  Sokr."  glaubt 
H.  „den  stärksten  Stein  des  Anstoßes  für  die  Beurteilung  der  Ap" 
aus  dem  Wege  geräumt  zu  haben.  Damit  „fallen  auch  alle  anderen 
Einwände,  die  gegen  die  Geschichtlichkeit  der  Ajd  erhoben  worden 
sind,  in  sich  zusammen  .  .  Man  ist  immer  mit  den  Voraussetzungen 
des  .  .  Durchschnittsmenschen  an  die  Beurteilung  der  Ap  und  des 
dort  gezeichneten  Sokratesbildes  herangecrano-en.  Zu  o-anz  unglaub- 
liehen  Verirrungen  ist  man  von  dieser  falschen  Voraussetzung  aus 
gelangt".  Davon  gibt  H.  Stichproben,  zuerst  aus  Pohlenz  und  aus 
Schanz,  die  er  beide  schroff  und,  ich  meine,  gebührend  abfertigt. 
„Wo  steht  denn  geschrieben,  daß  alle  Menschen  in  jedem  Augen- 
blicke nur  .  .  nach  dem  Gebot  der  Klugheit  handeln  müssen. 
Religiöse  Propheten  jedenfalls  handeln  immer  sehr  'unklug';  sie 
fragen  gar  nicht  nach  ihrem  Interesse  .  .  Ein  Mann  wie  Sokr. 
denkt  gar  nicht  an  seine  Ereisprechung  .  .  Der  ist  nur  getrieben 
.  .  von  dem  göttlichen  Geist,  der  in  ihm  wohnt.  Aber  allerdings, 
wenn  man  diesen  'göttlichen  Geist'  zuvor  dem  Sokr.  ausgetrieben 
hat,  dann  kann  man  nachträglich  auch  sein  Handeln  nicht  mehr 
begreifen.  Es  scheint ,  diese  ungläubige ,  engherzige  Zeit  vermag 
sich  große  Charaktere  überhaupt  nicht  mehr  vorzustellen.    Und  sogar 


184  Constantin  Ritter. 

zum  Schein  der  Widerlegung  zu  greifen  wird  Sokr.  zugemutet!  .  .  . 
Stets  sind  es  die  banalsten ,  gerade  für  eine  Persönliclikeit  wie 
Soki*.  unmöglichsten,  lächerlichsten  Zumutungen,  die  Schanz  heran- 
trägt .  .  .  Im  Grunde  kann  einem  eine  derartige  historische  Kritik, 
die  des  kleinsten  Funkens  von  Psychologie  bar  ist,  nur  Heiterkeit 
abnötigen.  Wenn  nur  nicht  der  Gegenstand  so  unbeschreiblich 
groß  und  ernst  wäre!" 

Auch  Wilamowitz  befriedigt  nicht.  Zwar  „steht  ihm  eine 
feinere  Ps3'chologie  zu  Gebote".  Und  „er  läßt  der  von  den  meisten 
Forschern  beanstandeten  Wirklichkeit  fast  durchweg  Gerechtigkeit 
widerfahren  .  .  Aber  dann  soll  auf  der  anderen  Seite  die  Ap  doch 
wieder  eine  fiktive  Schöpfung  sein".  Und  zwar  glaubt  W.,  mit 
„kaum  verständlicher  Überschätzung  der  Macht,  die  der  philologisch- 
kritischen Analyse  zuzuerkennen  ist",  ganz  genau  die  Grenzen 
zwischen  dem  Fiktiven  und  GeschichtHchen  ziehen  zu  können.  Das 
führt  zur  „schrankenlosesten  Subjektivität,  die  sich  als  Objektivität 
hinstellt  .  .  .  Wo  jedenfalls  W.,  ohne  Gründe  und  rein  apodiktisch, 
aus  einer  Art  visionärer  Kritik  heraus  Abweichungen  von  der  ge- 
schichtlichen Unterlage  glaubt  bestimmen  zu  können ,  vermag  ich 
nur  reinste  Subjektivität  zu  erblicken." 

Am  Schluß  (131)  stellt  H.  die  Frage:  „W^as  konnte  den  jugend- 
lichen PL  bestimmen,  die  Ap  zu  schreiben?"  Er  urteilt:  „Ergriffen- 
heit spricht  aus  jeder  Zeile  .  .  .  Das  Erlebte  widergeben,  das 
Erlebte  aussprechen,  von  sich  ablösen  —  das  ist  der  einzige  Zweck 
und  Sinn  der  Ap."  Und  sollte  noch  ein  Nebenzweck  anerkannt 
werden,  so  könnte  es  nur  der  sein:  von  dem  athenischen  Gerichts- 
hof aus  einen  Appell  zu  richten  an  das  gesamte  Athen.  „Und  die 
geschichtlichen  Tatsachen  beweisen ,  daß  dieser  Appell  nicht  ver- 
geblich gewesen  ist."  Freilich  Mai  er,  den  H.  befremdlicherweise 
stets  mit  größter  Hochachtung  nennt,  ehe  er  sich  daran  macht,  seine 
verkehrten  Behauptungen  zu  zerpflücken,  hat  die  „seltsame  Inter- 
pretation" der  Ap  „als  eines  Zukunftsprogramms  der  sokratischen 
Jüngergemeinde,    speziell  des  PI.  gegen  Antisthenes",    ausgegeben. 

Im  Unterschied  von  der  Ap  wiU  H.  die  anderen  platonischen 
Schriften  als  „rein  fiktive  Schöpfungen"  auffassen  (S.  21).  Er  be- 
hauptet sogar,  es  spreche  in  der  Ap  „ein  Sokr.,  der  mit  dem  Sokr. 
der  Dialoge,  der  eigentlich  persönlichen  Schöpfungen  PI.s,  herzlich 
wenig  Verwandtschaft  hat"  (115).  Das  halte  ich  für  falsch,  und 
jeden  Beweis  dafür  bleibt  H.  schuldig.  Allein  wenn  man,  um  die 
Sonderart  der  Ap  zu  bestreiten,  sich  darauf  berufen  wollte,  daß  sie 
sprachlich    eben    einfach    der   Gruppe    platonischer  Jugendschriften 


i 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    1  §  o 

zuzuzählen  sei ,  so  müßte  an  die  S.  148  f.  A.  gegebene  Mahnung 
und  an  das  Verhältnis  des  Stils  der  Epinomis  zu  dem  der  N  er- 
innert werden.  Übrigens  will  ich  doch  nicht  verschweigen,  daß  mir 
beim  Lesen  der  Ap  immer  einige  Eigenheiten  aufstoßen.  Auffällig 
häufig  kommt  arexvcjg  vor,  ebenso  cog  tnog  eItzüv^  di^nov  und 
oXiyox:  (dfZ)');  namentlich  aber  zeigt  sich  eine  gewisse  Vorliebe  für 
zweigliedrige  Wendungen  einer  besonderen  Art,  die  ich  nur  aus  den 
ersten  10  Kapiteln  zusammenstellen  will:  /^  xi  ?y  oidiv  (ah^d^eg)  17b, 
YoLog  (.itv  y^EiQiov,  Yocog  öd  ßeJ.iiwv  18  a,  ovte  f.ieya  ovte  Of.iL-x.Q6v  19  c, 
V^  Of.ii'/.Q0v  ]]  filya  19  d,  ovte  /.leya  ovte  Of-ir/.Quv  21b,  oXiyov  xivog 
y.al  ovöeiog  23a,  oX'iya  i]  ovdiv  23c,  ovve  f.ieya  ovte  Of-irAQOP  24a. 
Sollten  nicht  das  sokratische  Eigenheiten  sein,  deren  Klang  PI.  im 
Ohr  lag ,  als  er  die  Ap  niederschrieb  ?  Vielleicht  findet  ein  auf- 
merksam vergleichender  Leser  noch  weitere. 

Ein  von  R.  Herzog  verfaßter  Anhang  zu  H.s  Schrift  „Das 
delphische  Orakel  als  ethischer  Preisrichter"  ist  geeignet,  durch 
seine  wertvollen  Nachweisungen  die  letzten  Bedenken  gegen  die 
Echtheit  des  dem  Chairephon  erteilten  Orakelspruchs  über  Sokr.  als 
den  Weisesten  der  Menschen  zu  zerstreuen.  „Der  Bescheid  war 
nicht  eine  leicht  genommene  Gefälligkeit  für  den  schwärmerischen 
Frager,  sondern  ein  Bekenntnis  zur  delphischen  Ethik.  Auch  Sokr. 
war  für  Delphi  gewiß  kein  unbedeutender  Unbekannter,  sondern 
schon  durch  seine  Schüler  und  durch  die  Beschäftigung  der  Komödie 
mit  ihm  als  öffentlicher  Charakter  in  weiteren  Kreisen  bekannt, 
und  so  im  Streit  der  Meinungen  herumgezogen,  daß  das  Bekenntnis 
zu  ihm  eine  Aufsehen  erregende  Tat  war." 

Nach  diesen  allgemeinen  Betrachtungen  soll  ein  paar  Text- 
stellen noch  besondere  Aufmerksamkeit  geschenkt  sein. 

Zu  17  d  fiij  d^OQvßelv  verweist  Uhle  passend  auf  Rp  492b, 
Schanz  auf  Stellen  aus  den  Rednern.  Zur  Sache  gehört  auch 
N  IX  76b:  iog  e.v  tcoIel ,  sv  i]  di/.aoTt'^Qia  qavXa  y.al  acfcova 
vJkiTtTOvia  tag  avicov  öo^ag  y.Qvßdriv  Tag  ygioEig  öiadiÄCcCEi,  y.al  a 
TovTov  deivoiEQor,  oxav  /.irjös  aiywvTa  älla  d^oqvßov  (.ieotu  -/.ad^dnEQ 
xHaTQa  hcaivoZvTOL  te  ßorj  -/.al  ifieyovTa  xajv  qijTüqcov  lyavEQOv  iv 
LitQEi   '/.gh'i],    '/^alEjTOP  TOTE  TtdO^og  oXi]  Tf]  nöXEL  yiyvEod^ai  cpiXEl. 

Zn  21  d  OLir/.Qi^  tivl  aocptoiEQog  wäre  es  nützlich,  die  Stellen 
anzuführen,  wie  sie  oben  S.  143  zu  Eu  12  e  zusammengestellt  sind. 

23  e  streicht  Schanz  mit  Cobet  und  nach  ihm  Uhle  /.al  ttov 
ioXiTiy.tüi'.  Er  sagt  uns;  dieser  Zusatz  „rührt  von  einem  alten 
Glossator   her    (denn    schon   Diog.  Laert.  2,  39    las    die  Worte   in 


186  Constantin  Ritter. 

seinem  Exemplar),  der  den  Zusammenhang  nicht  erkannte.  Die  oben 
aufgeführten  Klassen  der  Politiker,  Dichter  und  Handwerker  erhalten 
jetzt  ihre  Repräsentanten ;  Lykon  erscheint  als  Repräsentant  der 
Politiker,  denn  dies  ist  tvjv  QrjxSocov  hier,  Meletos  ist  Repräsentant 
der  Dichter,  Anytos  Repräsentant  der  Handwerker.  Der  Zusatz 
yt,ai  Tcov  noXiTiy.iov  würde  Anytos  als  Repräsentanten  zweier  Klassen 
erscheinen  lassen,  und  Lykon  würde  Repräsentant  einer  Klasse  sein, 
welche  oben  nicht  genannt  ist".  —  Wäre  denn  das  so  schrecklich?  — 
„Daß  in  dieser  Repräsentation  eine  große  Ironie  liegt,  ist  klar. 
Besonders  Anytos,  der  hervorragende  Staatsmann,  wird  empfindlich 
getroffen,  daß  er  nicht  die  Staatsmänner,  sondern  die  Handwerker 
zu  vertreten  hat."  —  Wirklich?  Und  sollte  er  sich  getroffen  fühlen, 
wenn  dem  ganz  unbedeutenden  Lykon  die  Ehre  widerfährt,  anstatt 
seiner  als  Staatsmann  geachtet  zu  werden?  So  plump  ist  die 
sokratische  Ironie  nicht.  —  „Gerade  diesen  herben  Spott  zerstört 
jener  alte  Zusatz."  —  G.  Schneider  und  Apelt  urteilen  wie  ich, 
indem  sie  die  verdächtigten  Worte  ruhig  stehenlassen.  Auch  Bruns 
hat  sich,  obgleich  er  anerkennt  (S.  184  A.),  daß  die  von  Schanz 
in  seiner  Ausgabe  der  Ap  von  189'^  geführten  Untersuchungen  „die 
hier  behandelten  Fragen  sehr  gefördert  haben",  nicht  draus  bringen 
lassen,  sondern  schreibt  einfach  (S.  189):  „Meletos  vertritt  die 
Dichter ,  Anytos  die  Staatsmänner  und  Handwerker ,  Lykon  die 
Redner."  Wilamowitz  stärkt  hier  einmaL-Schanzens  Position, 
indem  er  II,  48  A.  2  erklärt:  „Die  Politiker  sind  aus  dem  Me 
eingeschwärzt,  wie  Cobet  und  Schanz  gesehen  haben."  Ich  meine, 
die  örji-tiovQy.oi ,  sofern  sie  nicht  zugleich  noXiTr/.oi  sein  wollten, 
wie  Anytos ,  hatten  nicht  den  mindesten  Anlaß  ,  Sokr.  zu  zürnen, 
da  er  ja  ihre  Handwerkskenntuis  durchaus  anerkennt  (22  d).  Zu 
meiner  Befriedigung  sehe  ich ,  daß  ich  mich  hier  auch  wieder  auf 
Pöhlmann  berufen  darf.  Er  erklärt  (S.  97):  „Der  gefährlichste 
der  drei  Kläger,  Anytos,  ist  einer  von  den  Märtyrern  und  Führern 
der  Demokratie.  PI.  sagt  von  ihm  ausdrücklich:  Er  klagte,  weil  er 
gekränkt  war  wegen  der  Politiker.  [Ich  sehe  keinen  Grund ,  mit 
Schanz  tcoIiti-mov  als  Glosse  zu  streichen.]  Er  war  ferner  Gewerbs- 
mann (Gerber),  gehörte  also  zu  d  e  r  Klasse,  die  vor  allen  Trägerin 
der  demokratischen  Idee  war.*  Und  gerade  diese  Klasse  war  es  ja, 
deren  Selbstgefühl  Sokr.  durch  seine  Kritik  mit  am  meisten  verletzt 
hatte.  Die  'guten  Werkmeister',  wie  ihn  PI.  mit  einem  gewissen 
Sarkasmus  sagen  läßt,  die  sich,  weil  sie  ihr  Handwerk  verstanden,  ■ 
ohne  weiteres  auch  für  befähigt  hielten  ,  über  die  allerwichtigsteni 
Fragen  abzuurteilen,  sie  hatten  es  sich  gefallen  lassen  müssen,  daß' 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PL  erschienenen  Arbeiten.    187 

der  lästige  Kritiker  ihnen  immer  und  immer  wieder  in  drastischer 
Weise  den  Gegensatz  zwischen  ihrem  technisch-praktischen  Können 
und  ihrer  sonstigen  Unwissenheit  vor  Augen  führte.  Kein  Wunder, 
daß  einer  aus  ihren  Reihen  als  der  Hauptankläger  auf  den  Plan 
tritt.  Und  PI.  stellt  ja  dies  Klasseninteresse  bei  Anytos  dem  des 
'Politikers'  geradezu  voran." 

Zu  24  b  Tcv  ayad^ov  re  %al  cpilonoXiv  möchte  ich  an  Rp  558  b 
erinnern :  Das  Volk  in  der  Demokratie  kümmert  sich  nicht  darum, 
£^  bnouov  av  zig  eTTiTi^dEvitccTCOv  STti  tcc  ttoIati'/.u  iojv  ngaTTr^y 
aX'kä  zif-ta,  iäv  (ff]  f.i6vov  evvovg  eivai  riTj  nXrjd^ei. 

Auf  25  a  ceXX  aqa,  cj  Mil)]TE,  f.irj  ol  sv  zf]  s/./.Xi]oia,  oi  i/.- 
"/.Xr^GLaoiai,  öiacpO^eiQOVGi  rovg  vecoisQOvg-^  r^  y.a/.eh'Oi  ßelzlovg 
TTOioiGiv  a7TavTEg\  fällt  Licht  aus  der  Stelle  ßp  492b,  die  Uhle 
nur  zu  17  d  beizieht. 

Zu  25c  CJ  Ttqog  z/iög  Ma?.r^ve  weiß  Schanz  uns  eine  genau 
entsprechende  Parallele  anzugeben:  Me  71  d  (u  nqbg  d^Ecov  Mavojv. 
Immerhin  ähnlich  ist  N  662  c  cd  Ttqbg  Ji6g  XE  v.ai  ^ATCoX'kiovog,  Co 
agiavoi  nov  avÖQiöv.  Gewöhnlich  wird  einfaches  Ttgog  Jiog^  nqbg 
d^EÖJv  u.  dgl.  dem  Vokativ,  bei  dem  to  zu  stehen  pflegt,  voraus- 
geschickt. Ich  kann  aus  meinen  Listen  dazu  ergänzen,  daß  w  nqbg 
zliög  noch  vorkommt  Ap  26  d,  Ep  332  c,  459  a,  N  683  e  (immer 
ohne  vokativische  Anrede),  w  rcgbg  d^Etov  Rp  425  c,  N  691b,  858  c 
(ebenso);  über  den  Vokativ  ohne  w  s.  meine  Unters,  von  1888 
S.  82  A.  4,  wo  Eus  95  d  vergessen  ist. 

26  d  ^va^aycQOv  oI'ei  Y.azrjyoQEh',  co  (flls  MehiTE.  Sowohl 
von  Uhle  als  von  Schneider  wird  Schanzens  Vorschlag  zur 
Streichung  von  udva^ayoQOV  abgelehnt.  Uhle  erklärt  seine  Überein- 
stimmung mit  meiner  Auffassung  (PI.  I,  375):  „Du  tust,  als  hättest 
du  den  Anax.  vor  dir." 

26  e  a  I^eotiv  sviote,  el  nävv  ttoXIov,  ÖQayjirjg  iy.  xrjg  oQxtjotQag 
ngiaf-teroig  ^wngccTOig  y.azayEXav,  eav  TtQOO/roit'^zai  iavzov  Eivai. 
Apelts  Erklärung,  die  neueste,  lautet:  „Diese  vielumstrittene 
Stelle  bezieht  man  am  natürlichsten  auf  einen  Platz  auf  dem  Markte, 
Orchestraplatz  genannt,  der  einen  Verkaufsstand  für  Bücher  gehabt 
zu  haben  scheint.  Der  Preis  der  Bücher  schwankte,  wie  es  scheint, 
je  nach  den  besonderen  Verhältnissen.  Früher  ward  die  Stelle 
meist  auf  das  Theater  bezogen,  also  auf  irgendein  Stück,  in  dem 
auf  des  Anax.  Naturphilosophie  angespielt  ward."  Diese  frühere 
Auffassung  vertritt  z.  B.  Birt;  auch  Uhle,  der  dafür  anfühi-t: 
„In  TTgiafiivoig  .  .  -/MzayEXccv  liegt  der  Hauptnachdruck  auf  nqia- 
f^ivoig:    "^zu    erkaufen    und    dann    den    S.    auszulachen,     wenn    er 


188  Constantin  ßitter. 

»solchen  Unsinn«  als  seine  Weisheit  ausgibt'.  Der  enge  Zusammen- 
hang der  hier  genannten  Umstände  —  erkaufen,  S.  auslachen,  als 
eigenes  ausgeben  —  nötigt  entschieden  an  Theateraufführungen, 
wie  die  'Wolken'  des  Aristophanes,  zu  denken  ..."  (Dazu  im 
Anhang  S.  131:)  „Ritter  S.  27  denkt  an  'Vorlesungen  oder  auf- 
klärende Vorträge'  über  den  Inhalt  des  Buches  des  Anax.,  und 
E.  Müller,  Sokr.  11  S.  233  f.  an  Verkauf  von  Schriften  im  Theater 
während  der  Pausen.  —  AVie  und  wo  übrigens  Sokr.  solche  natur- 
wissenschaftliche Lehre  als  'sein  Eigentum  ausgeben'  soll,  wenn 
das  nicht  auf  Theateraufführungen  bezogen  wird,  hat  noch  niemand 
erklärt."  —  Es  wird  das  aber  wirklich  keiner  Erklärung  bedürfen 
für  jemand,  der  daran  denkt,  daß  Sokr.  im  Gerede  der  Leute  steht 
als  'Cr]vwv  ta  re  hiib  y^g  '/.al  za  bTTOVQavia,  und  daß  sie,  auf- 
gefordert zu  sagen ,  was  denn  seine  verderblichen  Lehren  seien, 
za.  xuTo.  /idi'Tii)}'  Tiov  (pü.ooocfocvicüv  TTQüXEiQa  zaZca  Xeyovoi);  ort 
Ta  lAETttoQa  Kai  zu  irco  yf^g  y.il.  —  Außer  dem  zu  Birts  Nach- 
weisuugen  kontrastierenden  Preise,  dessen  Niedrigkeit  Schanz  daraus 
erklären  will,  daß  damals  „vielleicht  .  .  Anax.'  Schriften  schon  nicht 
mehr  zogen",  spricht  eiioze  entschieden  gegen  den  Buchkauf.  Auch 
der  Annahme  eines  Ausleihpreises  ist  iviOTE  nicht  günstig.  Man 
beachte  auch  Phn  97  b,  Cra  84  b,  Diog.  L.  VII  2  f.,  Pa  27  c. 
Übrigens  kann  mau  auch  an  den  Preis  für  Entlehnung  des  Buchs 
denken,  vgl.  Phu  98  b. 

Zu  27  meint  Joel  (II  S.  507),  es  sei  damit  vielleicht  „die 
derbe  Bevveismethode  der  Kyniker  persifliert,  die  wir  Diog.  L.  VI  42 
von  Diogenes  gegen  einen  Zweifler  an  seiner  Gläubigkeit  angewendet 
sehen:  'wie  sollte  ich  nicht  an  Götter  glauben,  da  ich  dich  für  einen 
i^Eolg  Exd-Qog  halte?'"  „Oder,"  fügt  er  bei,  „soll  die  Sophistik 
—  wer  an  öaL^iövia  glaubt,  glaubt  an  öaii-iovag  (=  ■O^eoug  oder 
7ccuöag  d^evjv),  folglich  an  Götter  —  dort  ernsthaft  sein?"  —  0  ja, 
sie  soll  es,  so  gewiß  wie  die  Beweisführung  Rickerts,  daß  es  eine 
„Seele"  geben  müsse,  wenn  das  Wort  „seelisch"  einen  Sinn  haben 
soll.  Und  eben  darum  ist  es  verkehrt,  hier  von  „Sophistik"  zu 
reden.  In  der  Tat ,  wer  von  dämonischen  Mächten  redet ,  kann 
kein  „Atheist"  sein,  so  roh  und  ärmlich  seine  Gottesvorstellung 
immer  sein  mag  ^).  I 


^)  Ich  bin  auch  hier  voll  einverstanden  mitHorneffer,  der  (S.  27) 
schreibt:  „Wilamowitz  freilich  hält  die  Beweisführung  des  Sokr.  an 
dieser  Stelle  für  ein  bewußtes  Sophisma.  'Das  ist  ein  Sophisma,  das 
nur  scherzhaft  genommen  werden  kann  .  .  So  deckt  ein  Witz,  den  die 
Richter  belachen,   einen  schwachen  Punkt.'    Ich  kann  mich  dieser  Auf- 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI .  erschienenen  Arbeiten.    189 

Bei  29a  gibt  Schanz  [zu  artEL&ojv  rrj  (.tavzeicc]  eine  verkehrte 
Erklärung:  „Der  Ungehorsam  gegen  das  Orakel  tritt  ein,  weil  er 
den  Tod  fürchtet;  er  fürchtet  aber  den  Tod,  weil  er  in  einer  Sache 
ein  Wissen  zu  haben  glaubt,  in  der  er  es  tatsächlich  nicht  besitzt. 
Es  sollte  also  nach  strenger  Logik  die  Verbindungspartikel  xa/  vor 
den  Participia  fehlen.  Allein  PI.  sieht  hier  auf  den  rhetorischen 
Effekt.  Selbst  die  Schlußfolgerung,  daß  ein  aTteiO^elv  rrj  /xavTeia 
den  Vorwurf  des  Atheismus  begründe  ,  ist  eine  rhetorische  Über- 
treibung." Auch  Schneider  irrt  hier,  indem  er  ymI  deöicog  itavarov 
yiat  ol6f.ievog  y.tX.  dem  a/tsid^cov  untergeordnet  erklärt.  Dagegen 
übersetzt  Apelt  mit  richtiger  Auffassung:  „Dann  könnte  man  mich 
allerdings  mit  vollstem  Recht  vor  Gericht  fordern  wegen  mangelnden 
Götterglaubens ,  sofern  ich  dem  Orakel  nicht  folge  und  den  Tod 
fürchte  und  vermeine  weise  zu  sein,  ohne  es  doch  zu  sein."  Man 
vergleiche  auch  35  d  aaq)Cüg  yaq  av,  el  TTei&oii.ii  cf^ag  /.al  ti^) 
delod^ai  ßtaLoif.ü]v  6f.icü/.ioy.6rag,  (ysovg  av  diddo'/.oii.u  /ny  ijysiGdai 
vfxag  ehuL,  y.al  aTiyj'Ojg  aTCoXoyovf-iEvog  yMvr]yoQoii]v  av  i(Aai%ov 
ütg  &€Ovg  ov  vofii^o)  und  Cr  53 ab  xalva  naqaßag  .  .  .  ßeßanooEig 
laig  dr/.aOTalg  xyjv  do^ar,  wate  do'/.elv  og^cog  xr^v  öi/.t]p  di/iaoai. 
Wer  wirklich  an  die  Götter  glaubt,  der  glaubt  damit  an  die 
sittliche  Weltordnung  —  denn ,  wie  uns  der  Ti  belehi't ,  Gott 
ist  gut  und  allmächtig;  er  glaubt,  daß  alles  Böse,  selbst  die 
geringste  Abweichung  von  Pflicht  und  Recht ,  seine  Strafe  findet ; 
er  glaubt,  daß  sinnliche  Dinge  von  untergeordneter  Bedeutung  sind, 
daß  alle  schmerzhaften  Schädigungen  des  Körpers  und  auch  dessen 
volle  Auflösung  im  Tod  keine  wirklichen  Übel  sind.  Wenn  dieser 
Glaube  richtig  ist ,  besitzt  der  Fromme  an  ihm  die  S7tioxrji.tri  xwv 
dsivaJv  y.al  &aQQaXeioVj  die  das  Wesen  der  Tapferkeit  ausmacht, 
aber  auch  das  Wesen  der  ococpQoavvr]  und  jeder  Tugend,  weil  unter 
allen  Umständen  das  richtige  Verhalten  aus  ihr  folgt.  Um  „rhe- 
torischen Effekt"  ist  es  hier  dem  Sokr.  nicht  zu  tun,  sondern  um 
den  Ausdruck  seiner  Weltanschauung.  Und  wer  den  PI.  „nach 
strenger  Logik"  kritisieren  will,  muß  ihn  zuerst  verstehen.  Ich 
lasse  hier  auch  noch  H.  Mai  er  zum  Wort  kommen.  Er  schreibt 
(Sokrates  S.  429):  „Das  sokratische  Evangelium  hat  auch  für  das 
Problem  der  Theodicee  die  Lösung  bereit.    In  ergreifender  Schlicht- 


fassung durchaus  nicht  anschließen.  Man  legt  heute  gar  vieles  bei  PI., 
zumal  in  den  Jugendschrit'ten ,  als  'Sophismen'  aus  .  .  Bei  genauerer 
Prüfung  aber  .  .  .  stellen  sich  alle  diese  als  sophistisch  gedeuteten  Scherze 
als  völlig  ernst  gemeinte  philosophische  Beweisführungen  dar,  die  man 
nur  verstehen  muß." 


190  Constantin  Ritter. 

heit  ist  dieselbe  am  Schluß  der  Ap  ausgesprochen;  'So  viel  steht 
fest,  daß  es  für  den  guten  Mann  weder  im  Leben  noch  im  Tod 
ein  Übel  gibt,  und  daß  seine  Sache  in  der  Götter  Hand  ist.'  Der 
sittliche  Affekt  gibt  dem  Menschen  die  Gewißheit,  daß  das  Leben 
im  Ideal  dem  Menschen  das  volle  Glück  schaffe  und  ihn  über  alle 
Übel  hinaushebe,  und  daran  knüpft  sich  der  ethische  Glaube,  daß 
das  menschliche  Ideal  ein  ewiger  Wei't,  ein  absoluter  Zweck  sei; 
das  religiöse  Empfinden  aber  gibt  dem  die  Deutung,  daß  die  sitt- 
liche Sache  Gottes  Sache  sei."  (432:)  „In  jener  schönen  Stelle  der 
Ap,  in  der  der  sittliche  Optimismus  des  Sokr.  auf  einen  religiösen 
Hintergrund  gestellt  ist,  wird  zur  Bestätigung  dafür,  daß  die  Götter 
sich  um  die  Angelegenheiten  des  guten  Menschen  sorgen,  auf  Sokr.' 
eigenes  Schicksal  verwiesen :  'Auch  was  mir  nun  begegnet,  ist  nicht 
von  ungefähr  so  gekommen;  vielmehr  ist  mir  soviel  klar,  daß  für 
mich  jetzt  tot  und  erlöst  sein  das  Beste  ist.'  Das  ist  ein  Be- 
kenntnis, das  über  die  Gewißheit,  daß  denen,  die  im  sittlichen 
Ideale  leben,  Tod  und  Schicksal  nichts  mehr  anhaben  können,  zu 
dem  Glauben  an  eine  Vorsehung  fortschreitet,  die  das  Geschick  des 
sittlich  guten  Menschen  in  allen  Dingen  zu  dessen  Besten  leitet." 
29c  lesen  wir:  u4vvt(i)  amorrjoavTeg,  og  tcpi]  //  t^v  agxrjv  ov 
delv  i/ue  devgo  Eioek&elv  rj,  eTteidi]  eiatjlO^ov,  ovx  oiov  t'  elvai,  rb 
fxr}  aTtonzElval  i-ie,  leytov  Ttgog  tjuäg  wg,  el  öiaq)ev^OLfurjv,  ijöt]  uv 
vixiüv  Ol  velg  ertixrjdevovzeg  a  ^wxQdTt]g  diddoyiet  ndvTeg  navTänaoi 
diaqjü^agrjaovzai.  Was  bedeutet  hier  ov  delv  e/^ia  ösvqo  EiaeXd^Elv? 
"Wilamowitz  gibt  (S.  159)  den  Sinn  wider  mit  den  Worten: 
„Man  hätte  Sokr.  in  Euhe  lassen  können,  wenn  er  aber  einmal 
angeklagt  wäre,  müßte  er  auch  zum  Tode  verui'teilt  werden,  sonst 
würde  die  Jugend  ganz  verdorben.  Natürhch ,  weü  die  Frei- 
sprechung seinen  Einfluß  mächtig  steigern  mußte."  So  nehme  ich 
jenes  Sätzchen  auch.  Ähnlich  Beyschlag  (S.  52).  Aber  Gomperz 
(S.  80)  erklärt:  Anytos  „stellte  jedes  Gefühl  der  Gehässigkeit  gegen 
den  Angeklagten  in  Abrede ;  er  wäre  es  —  so  erklärte  er  —  wohl 
zufrieden  gewesen ,  wenn  dieser  der  Vorladung  nicht  gefolgt  und 
außer  Landes  gegangen  wäre;  nunmehr  aber,  da  er  sich  gestellt 
habe ,  dürfe  nicht  ein  Freispruch  erfolgen ,  der  die  Jüngeren  sein 
Beispiel  nachzuahmen  ermuntern  würde".  Uhle  hat  sich  (S.  13) 
an  Gomperz  angeschlossen.  Schanz  (S.  103)  findet  in  den 
Worten:  „daß  ein  solcher  Handel  wie  der  des  Sokr.  überhaupt 
nicht  hätte  vor  Gericht  kommen  soUen ;  nachdem  aber  das  ge- 
schehen sei,  müsse  unausbleiblich  das  Verbrechen  durch  den  Tod 
gesühnt  werden;  denn  sonst  würde  die  ganze  Jugend  durch  Sokr. 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    \  91 

verdorben  werden".  Nachher,  im  Kommentar  S.  167,  gibt  Seh. 
die  erklärende  Umschreibung:  „am  besten  wäre  es  gewesen,  wenn 
Sokr.  sein  Verbrechen  nicht  begangen  hätte ;  nachdem  er  es  aber 
einmal  begangen,  muß  ihn  die  Strafe  treffen".  Warum,  frage  ich, 
dann  gerade  die  Todesstrafe  und  nicht  etwa  Verbannung?  — 
Eine  ganz  sichere  Entscheidung  ist  vielleicht  nicht  möglich.  Doch, 
wäre  es  sonderbar  ungeschickt  von  PL  (oder  von  Anytos),  einen 
ganz  selbstverständlichen  und  für  die  Verhandlung  jedes  Prozesses 
gültigen  Satz,  nämlich  daß  der  Angeklagte  seine  Sache  hätte  preis- 
geben und  außer  Landes  fliehen  können  —  und  gar :  daß  die 
strafbare  Handlung  am  besten  unterblieben  wäre  — ,  in  einer  Form. 
zum  Ausdruck  zu  bringen,  die  eine  Eigenheit  des  besonderen  Falles 
anzuzeigen  scheint.  Auch  das  „von  vornherein  (im  ap//;v)  nicht" 
ließe  sich  kaum  verstehen.  Man  legt  sich  die  Sache  vielfach  so 
zurecht:  eigentlich  sei  die  Anklage  von  Anytos  ausgegangen;  Meletos 
sei  nur  als  Strohmann  vorgeschoben  gewesen.  Aus  den  platonischen 
Schriften,  die  in  Frage  kommen,  wird  sich  diese  Auffassung  schwer- 
lich begründen  lassen.  Eher  finde  ich  angedeutet,  daß  Anytos  nur 
mit  Mühe  von  dem  Kläger,  dem  es  allmählich  zweifelhaft  wurde, 
ob  sein  streberhaftes  Bemühen  um  Volkstümlichkeit  ^)  ihm  nicht 
teuer  zu  stehen  komme  (auf  1000  Drachmen  Buße),  dazu  gewonnen, 
worden  sei,  ihm  vor  Gericht  Beistand  zu  leisten.  Warum  man  ihn 
gewinnen  konnte,  gegen  Sokr.  aufzutreten,  darüber  will  der  Me 
Fingerzeige  geben.  Leider  sind  diese  aber  für  uns  nicht  ganz^ 
klar  und  eindeutig.  Weitere  bietet  uns  die  „xenophontische"  Ap. 
Gomperz,  Schanz  und  andere^),  die  dieser  vertrauen,  erzählen. 


^)  Vgl.  Schanz  S.  103:  „Meletos  hatte  von  sich  als  dyctd^ög  ts  xal 
ifiXönoXig  gesprochen  (24b);  wahrscheinlich  hatte  er  das  Einbringen  der 
Klage  als  ein  Werk  des  Patriotismus  hingestellt." 

^)  Schwankend  scheint  mir  die  Haltung  H.  Maiers  bei  dieser  Frage. 
Zuerst  stellt  er  (S.  473)  die  Sache  so  dar,  als  hätte  Anytos  in  der  Über- 
zeugung von  der  Gemeinschädlichkeit  des  Sokr.  als  des  eigentlichen 
Führers  der  Aufklärungsbewegung  in  Athen  den  Plan  der  Anklage  ge- 
faßt: Ahnlich  wie  er  dachten  wohl  über  Sokr.  viele,  er  aber  „entschloß 
sich  zur  rettenden  Tat",  und  seiner  Beharrlichkeit  war  es  zu  danken, 
beim  Archon  „die  Annahme  der  Anklage  und  die  Einleitung  des  Pro- 
zesses zu  erreichen".  Demnach  wäre  also  doch  wohl  Meletos  nur  von  ihm 
vorgeschoben.  Jedoch  nachher  (479)  läßt  M.  durch  Anytos  den  Richtern 
vortragen:  „Wollte  man  nicht  zum  Äußersten  gehen,  so  hätte  man  die 
Sache  gar  nicht  anfangen  dürfen.  Nachdem  aber  einmal  der  Prozeß 
eingeleitet  sei  .  .  .,  bleibe  keine  Wahl  mehr."  Auch  sonst  leidet  Maiers 
Darstellung  der  Vorgänge  an  Unklarheiten  und  inneren  Widersprüchen. 
Man    vergleiche    die    folgenden    Sätze:    (476)    „Die    Anklage    stand    auf 


192  Constantin  Ritter. 

ihr  Dinge  nach,  von  denen  ich  zweifle,  ob  sie  etwas  anderes  sind 
als  müßige  Klatscherfindung.  Ich  werde  darauf  bei  Besprechung 
des  Me  zurückkommen.  —  Daß  Anytos ,  der  die  Sophisten  als 
Neuerer  im  Unterrichts-  und  Erziehungswesen  verabscheute  und  mit 
dem  fanatischen  Haß  der  Borniertheit  verfolgte ,  auch  dem  Sokr. 
gram  war,  können  wir  aus  dem  Me  sicher  entnehmen ;  sicher  haben 
wir  ihn  auch  zu  denen  zu  rechnen,  von  denen  Ap  23  die  Rede  ist 
als  Leuten,  die  jenem  feind  geworden  sind  wegen  seiner  lästigen 
Gewohnheit,  angesehene  und  geschäftstüchtige  Männer  vor  der 
müssigen  Jugend  lächerlich  hinzustellen  dadurch,  daß  er  sie  öffent- 
lich ausfragt  nach  den  Dingen,  auf  deren  Verständnis  sie  sich  etwas 
einbilden,  und,  wenn  sie  Auskunft  geben,  durch  seine  dialektischen 
Künste  sie  in  Verwirrung  bringt;  ja,  es  legt  sich  die  Frage  nahe, 
ob  nicht  eben  Anj^tos  selber  21  c  gemeint  ist  mit  dem  Ungenannten, 
auf  dessen  Namen  nichts  ankommt,  dem  angesehenen  Politiker,  der 
„vielen  anderen  und  vor  allem  sich  selber  weise  zu  sein  deuchte, 
ohne  es  wirklich  zu  sein",  dessen  aus  der  i^eraoig  entspringende 
Feindschaft  als  erstes  typisches  Beispiel  von  Sokr.  angeführt  wird. 
Mögen  wir  den  Mann  sonst  beurteilen,  wie  wir  wollen,  mögen  wir 


schwachen  Füßen.  Und  wenn  die  Verteidigung  einigermaßen  geschickt 
ausfiel,  so  war  ein  Freispruch  so  gut  wie  sicher."  —  Einverstanden.  — 
„Daß  aber  Sokr.  mit  einem  solchen  Ausgang  rechnete,  haben  wir  keinen 
Grund  anzuzweifeln."  Ich  meine  eher,  wir  haben  keinen  Grund,  es  zu 
glauben  und  den  Worten  von  Ap  36  a  ovx  avikncoxöv  f.ioi  ytyovs  t6  yfyorog 
TovTo  (uTt  fjov  y.c(Tt\pri(f,(aua&f)  y.rX.  zu  mißtrauen.  Und  Maier  selbst  fährt 
fort,  Sokr.  sei  sich  bewußt  gewesen,  daß  er  jetzt  „die  große  Probe  auf 
sein  Leben  und  Wirken"  abzulegen  habe,  daß  es  sich  um  einen  „ernsten 
Entscheidungskampf"  handle,  wobei  er  „entschlossen  wai-,  von  der  Linie, 
die  er  sich  vorgesetzt  hatte,  nicht  einen  Finger  breit  abzuweichen". 
Trotzdem  soll  „zu  wirklicher  Besorgnis  auch  von  hier  aus  kein  Anlaß" 
gewesen  sein;  während  doch  (494)  „die  Richter  .  .  so  gnit  wie  die  An- 
kläger instinktiv  die  Gefahr"  sollen  „richtig  erkannt  haben,  die  ihrer 
Religion  und  ihrer  religiös  fundierten  Gesellschaftsordnung"  von  seiner 
Seite  drohte.  Und,  obgleich  also  „bei  geschickter  Verteidigung"  „zu 
wirklicher  Besorgnis  kein  Anlaß  war",  wir  aber  „leider  nur  vermuten 
können,  was  Sokr.  in  seiner  Verteidigungsrede  gesagt  hat",  soll  dann 
die  Beantragung  einer  hohen,  für  Sokr.  selbst  unerschwinglichen  Geld- 
buße durch  den  von  geringer  Mehrheit  schuldig  Gesprochenen  als  „grau- 
samer Hohn"  empfunden  worden  sein.  „Eine  Geldstrafe  als  Sühne  für 
ein  solches  Delikt!"  —  dessen  schwachfüßige  Einklagung  Freispruch  hätte 
erwarten  lassen?  —  „Jetzt  gab  es  für  die  Geschworenen  keine  Milde 
mehr!"  Merkwürdig!  —  Auch  Maier  ist  es  ergangen  wie  den  Philo- 
sophen so  oft,  wenn  sie  mit  der  antiken  Philosophie  sich  beschäftigen: 
er  liat  sich  zu  sehr  von  den  philologischen  Bearbeitern  imponieren  lassen. 
Schanz  wagt  er  nicht  kecklich  zu  widersprechen,  so  wenig  wie  Joel.        , 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    193 

so  leicht  wie  seine  modernen  Freunde  mit  anderen  ungünstigen 
Nachrichten  über  ihn  auch  die  von  Aristoteles  gegebene  beiseite- 
setzen ,  daß  er  in  einem  für  ihn  bedrohlichen  Prozeß  das  erste 
schlimme  Beispiel  der  Richterbestechung  gegeben  habe,  oder  mögen 
wir  daran  glauben,  immerhin  werden  wir  ihm  die  Anerkennung  nicht 
versagen  können,  daß  er  nach  Beendigung  des  Bürgerkriegs  redlich 
bemüht  war,  das  beschlossene  Amnestiegesetz  wirklich  zur  Geltung 
zu  bringen.  Eben  deshalb  kann  ich  mir  nicht  denken,  daß  es  ihm 
bei  dem  gegen  Sokr.  angestrengten  Prozeß  ganz  wohl  sollte  ge- 
wesen sein,  daß  er  sich  nicht  sollte  gestanden  haben,  die  politischen 
Gründe,  die  nicht  genannt  werden  durften,  spielten  eben  doch  mit 
herein.  Und  so  vermute  ich,  es  sei  ihm,  sei's  in  seiner  Rede  vor 
Gei'icht,  sei  es  in  einer  Vorbesprechung  mit  einem  Freunde  des 
Sokr.,  der  sich  mit  ihm  verständigen  wollte,  die  Äußerung  ent- 
schlüpft: eigentlich  hätte  es  ja  gar  nicht  zu  einem  Prozeß  gegen 
Sokr.  kommen  dürfen  (obwohl  er  nach  seiner  Überzeugung  den  Tod 
verdient  habe),  und  PI.  benütze  diese  Äußerung  in  dem  Satze,  um 
dessen  Sinn  ich  hier  streite.  Auch  Me  95  a  (s.  unten)  ist  zu  be- 
achten. Der  Satz  idv  tvote  yviTj  olov  ioTi  xo  xaxwg  Xiyuv,  ttolv- 
asTai  "/^alETcaivcov.  viv  de  ayvoel  klingt  doch  so,  als  wäre  Anytos 
selber  später  zu  der  Einsicht  gekommen,  sein  Vorgehen  gegen  Sokr., 
seine  Unterstützung  des  Meletos  sei  ein  bedauerlicher  Fehler  ge- 
wesen. Auch  Ep.  VII  25  b  muß  zur  Beurteilung  herangezogen 
werden ,  wo  der  ganze  Prozeß  und  sein  Ausgang  als  Folge  der 
Verkettung  ungünstiger  Umstände  hingestellt  ist,  zara  Tipa  ti'/j^v 
sich  abspielend. 

30  e  ov  Qaöicog  aXXov  tolovvov  EVQr^oEiB  axEyjvcog,  eI  /.al  yEXoio- 
ZEQOv  eItceXv,  TiQooy.EifiEvov  tf,  TioXsi  v7to  xov  &EOV,  üonEQ  'innio 
f^sydXip  /.liv  -/.ai  yEvvaiqj,  vnb  fJEye^ovg  de  vwd^EOXEQ^)  y.al  ÖEOf-Uvii) 
syEiQEOd^ai  vno  fuviOTtog  xivog:  wer  auch  nur  diese  Worte  allein 
bedenkt,  darunter  das  eI  ycal  yEXotoxEQOv  eItieIv,  und  die  ganze 
Schilderung  von  dem  als  lästige  Zudringlichkeit  empfundenen  Eifer, 
den  Sokr.  als  Erwecker  aus  träger  di.ia&ia  betätigt,  kann  nicht  im 
Zweifel  bleiben,  daß  ixvwip  in  seiner  ursprünglichen  Bedeutung  steht, 
als  „Bremse".  Ast  im  Lexikon  übersetzt  mit  „calcar".  Und 
Schanz  will  diese  Übersetzung  rechtfertigen,  recht  ungeschickt,  mit 
folgendem :  „Das  dxExvwg  entschuldigt  gewissermaßen  das  rtgoaxEi- 
(XEvoVj  das  wir  uns  durch  'auf  dem  Nacken  sitzen'  verdeutlichen 
können.  Sokr.  ist  also  den  Athenern  als  ständiger  Mahner,  Lenker 
beigegeben  oder  gewissermaßen  angeheftet,  wie  dem  edlen,  aber 
etwas  trägen  Pferd  der  Reiter."  —  Ich  meine:  der  Reiter  ist  von 

Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft.    Bd.  191  (1922.  I).  13 


194  Constantiu  Ritter. 

seinem  Sporn  zu  unterscheiden ;  angeheftet  ist  der  Sporn  jedenfalls  ' 
dem  Pferd  nicht ,  und  er  sitzt  ihm  auch  nicht  im  Nacken.  Und 
Sokr.  ist  kein  Lenker  des  Volks,  sondern  ein  Erwecker.  —  „Sokr. 
regt  an  durch  seine  prüfenden  Reden,  der  Reiter  durch  den  Sporn. 
Der  Schwerpunkt  des  Vergleichs  ruht  also  in  dem  Begriff  'Lenker, 
Leiter',  dessen  das  Roß"  —  das  edle,  aber  träge,  etwa  notwendiger 
als  das  geringe  und  das  aufgeregte,  hitzkollerige?  —  „wie  das  athenische 
Volk  bedarf.  Daß  für  diesen  Gedanken  (.ivioxli  nur  in  der  Bedeutung 
'Sporn',  nicht  in  der  Bedeutung  'Bremse'  paßt,  ist  klar ;  auch  das 
ÖEOf.itvci>  ayeiQea&ai  spricht  für  diese  Bedeutung."  Sogar  Bruns 
schreibt  (S.  217/8):  „Ich  bin  von  Gott  der  Stadt  gesetzt,  wie  einem 
edlen  Roß,  das  wegen  seiner  Größe  zur  Trägheit  neigt,  der  Sporn  ^) 
des  Bereiters."  Dagegen  G.  Schneider:  cTto  fivtorrog  rivog]  „von 
einer  Bremse  oder  einem  derartigen  Tiere.  Das  tig  erweitert  auch 
hier  die  Sphäre  des  Begriffs".  Uhle:  sl  xal  yEXoioiEQOV  slnelv: 
„Das  Lächerliche  liegt  in  dem  Vergleich  mit  der  kleinen  Bremse, 
die  dem  mächtigen  Rosse  Athen  'zusetzt'  (TiQüOKeiTai).  Dieses 
TTQooKEladai  ist  außerdem  auch  =  nQOGTEd^EXaO^ai^  also  ttqoo^el- 
fiEvog  vnd  tov  O^eov  passiv  dasselbe,  was  unten  aktiv  heißt  dox£t 
6  ^Eog  if-ii  nQOOTEd^riKevai ,  und  nQOOiidkvai  'ansetzen'  ist  dem 
Sinne  nach  =  E7ti7itf.inELV  31a  'auf  den  Hals  schicken'.  —  vjtb 
[xvcoTiog  TLVog:  etwa  'von  etwas  Stechendem',  'von  einer  Art 
Stecher',  wobei  zunächst  noch  unentschieden  bleibt,  ob  fxuioip  in 
der  eigentlichen  Bedeutung  'Bremse'  oder  der  davon  abgeleiteten 
'Sporn'  gemeint  ist.  Das  Bild  tritt  im  folgenden  immer  klarer 
hervor  durch  tyv  r^-i.  oX.  ovdtv  naiOf.iai  7tQOO/.ad-ito)v,  das  die 
Unermüdlichkeit  der  Stechfliege  andeutet ,  und  wird  weiterhin  in 
den  Worten  iÖotceq  o\  wovat.  eyEiQ.  durch  ein  ähnliches  Gleichnis 
von  Menschen  vervollständigt."  —  Wilamowitz  (S.  161):  „er  wird 
sein  Volk  als  Bremse  aufstacheln".  Ähnlich  Pöhlmann  S.  73.  — 
Kurz  und  gut  G.  Schneider  in  seinem  Leseb.  aus  PI.  u.  Aristot. : 
„Es  wird  allgemein  gesagt ,  daß  dieses  Roß  der  Anregung  durch  ^ 
irgendwelchen  Stachel  bedarf.  Daß  aber  nicht  an  einen  Reiter 
mit  seinem  Sporn  gedacht  ist,  sondern  an  eine  Bremse  mit  ihrem 
Stachel,  das  beweisen  die  Ausdrücke  TTgoOKEif-iEvor,  nQ0OtEi)^r]XEvaij 
7tQoaAa3 iltov  und  vor  allem  die  größere  Angemessenheit  des  Ver- 
gleichs", und  nachher  zu  TiQOOjiad iliov] :  „Der  Ausdruck  ist  ge- { 
wählt,  weil  der  Vergleich  mit  der  am  Pferde  sitzenden  Bremse 
vorschwebt." 


')  Auch  Horneffer  (s.  S.  184  oben)  spricht  vom  'Stachel'." 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    195 

Zu  33  c  TtgooTetaxTai  vnb  ToZi^eov  Ttgarreiv  y.al  sa. /.lavTsitov 
xat  s^  ivvnviiov  y.Tl.  Hier  vermisse  ich  entschieden  überall 
die  Verweisung  auf  Phn  60  e,  wo  Sokr.  erzählt,  daß  er  äsopische 
Fabeln  während  seiner  Kerkerhaft  in  metrische  Form  gebracht  habe 
irvTivuüv  TLViüV  ano7ieiQcof.ievog  zl  Xeyei  xal  acpooiovtievog  el  aqa 
noXKa^Aiq,  Taitrjv  Ttjv  /novaiKr^r  (äol  STtiTceTTSL  noielv  ktX. 

33  e :  Über  Kritobulos  dürfte  in  einem  Kommentar  von  der 
Ausführlichkeit  des  Schanzischen  wohl  noch  Weiteres  angegeben 
werden;  mindestens,  was  Athen.  V  220a  mitgeteilt  wird:  ^laxlvTjg 
.  .  SV  zw  TrjXavyei  KQizoßovlor  tov  Kglziovog  stt^  a^ai^la  xat 
QVTiaQOzrjZL  ßiov  y.cof.i(ijd€l. 

ov  7jv  Gedyrjg  äÖElg)6g :  das  Imperfektum  ist  doch  wohl  so  zu 
deuten,  daß  Theages,  dessen  Kränklichkeit  Rp  496  b  erw^ähnt  wird, 
schon  gestorben  war.  Und  sollte  nicht  dasselbe  für  Piatons  Bruder 
Glaukon  anzunehmen  sein,  da  er  mit  Stillschweigen  übergangen  wird  ? 

36  a  el  zQi(x/.ovza  (uovai  (.lertTTeGov  züv  ij^'r^cpiov,  anEnecpevyi]  av. 
„Dies  ist  die  Lesart  des  Clarkianus"  sagt  Schanz.  In  seiner 
kritischen  Textausgabe  lesen  wir:  ^zQiä/iOvza  BFd:  TQSig  Ef." 
Das  bedeutet  zgiäxorza  steht  außer  im  Clark,  auch  im  Vat.  1029 
und  auf  den  dem  Venet.  185  eingehefteten  späten  Textblättern; 
ZQEig  steht  im  Venet.  184  (=  Bekkers  H,  dem  Codex  des 
Bessarion:  vgl.  J.-B.  157  [1912]  S.  9  f.,  126  f.,  143)  und  von 
zweiter  Hand  im  Vat.  1029.  Burnet  hält  es  für  überflüssig,  die 
Lesart  rgelg  überhaupt  anzugeben.  Mir  kommen  starke  Zweifel, 
ob  sie  nicht  die  richtige  sei.  Je  länger  ich  auf  Kleinigkeiten 
des  Textes  zu  achten  mich  gezwungen  habe ,  desto  mehr  habe 
ich  vor  dem  Venet.  184  Achtung  bekommen.  Außerdem  scheint 
mir  die  Rechnung  nicht  zu  stimmen,  die  uns  auf  Grund  der  Les- 
art TQid/.ovza  vorgefühi-t  wird.  Bei  Schanz  lesen  wir  folgendes: 
„Nehmen  wir  eine  ungleiche  Richterzahl  an,  also  beispielsweise  501, 
so  waren  für  die  Freisprechung  251  (gegen  250  verurteilende 
Stimmen)  notwendig;  wenn  aber  dem  Sokr.  30  Stimmen  fehlten, 
um  die  Lossprechung  zu  erlangen,  so  mußten  sich  280  gegen  ihn, 
221  für  ihn  erklärt  haben.  Nun  aber  berichtet  Diogenes  Laertius 
II  41  /,aTediY.äod^i]  diay-ooiaig  oyöo'^y.ovza  f-iiä  TiXeioaL  \pr^q)oig  zcZv 
aTcoXvovacüv.  Daß  281  die  Zahl  der  verurteilenden  Gesamtmenge 
ist,  nicht  etwa  das  Plus,  um  das  die  verurteilenden  Stimmen  die 
freisprechenden  überwiegen,  dürfte  klar  sein;  fraglich  ist  nur,  ob 
das  Plus  noch  vor  nkeioai  einzuschieben  oder  ein  ungenauer  Aus- 
druck anzunehmen  ist."  —  Ich  meine,  das  sei  nicht  fraglich :  das 
ttXeIooi    wäre    ganz    ungriechisch    ohne  Angabe  des  TJmwieviel.  — 

18* 


196  Constantin  Ritter. 

„Die  Zahl  281  macht  nun  große  Schwierigkeiten.  Sie  läßt  sich 
nicht  mit  der  platonischen  Angabe  des  Mehr  um  30  Stimmen  ver- 
einigen" —  von  einem  „Mehr  um  30  Stimmen"  ist  gar  nicht  die 
Rede ,  sondern ,  falls  30  hätten  anders  fallen  müssen ,  von  einem 
Mehr  um  60!  —  „Ich  bin  geneigt,  einen  ganz  gewöhnlichen  Flüchtig- 
keitsfehler bei  Diogenes  anzusetzen.  Diogenes  (oder  sein  Gewähi's- 
mann)  ging  von  der  ßichterzahl  501  aus ;  von  den  2  Hälften  250 
und  251  nahm  er  251  und  addierte  die  Zahl  30  statt  29  hinzu.  Ist 
diese  Kombination  richtig"  —  sie  ist  äußerst  unwahrscheinlich  — , 
„so  ergibt  sich  die  wichtige  Folgerung,  daß  Diogenes  kein  neues 
Material  hatte ,  sondern  daß  auch  er  die  Stimmen  berechnete  wie 
wir.  Dieser  Annahme  scheint  zu  widerspi'echen ,  daß  er  für  die 
2.  Abstimmung  einen  Zuwachs  von  80  Stimmen  zu  der  Majorität 
berichtet"  —  i^ävatov  avrov  y.aTeyvcoaav  TiQoad^evTEg  al}.ag  rpiqcpovQ 
oydoriy.orxa  — ,  „für  den  bei  PI.  kein  Anhalt  gegeben  ist.  Allein 
wenn  man  sieht,  welches  Sagenmeer  sich  um  den  Prozeß  des  Sokr. 
ansammelte,  wird  man  auf  diese  Angabe  so  wenig  etwas  geben  wie 
auf  die  erste.  Ist  unsere  Vermutung  richtig ,  so  lag  auch  dem 
Diogenes  die  Lesart  30  vor,  nicht  3,  bekanntlich  die  Lesart  der 
zweiten  Familie,  die  in  bedenklicher  Weise  an  die  Zahl  der  3  An- 
kläger erinnert."  Wilamowitz  II,  49  macht  die  Bemerkung: 
„Das  Stimmenverhältnis  bei  der  Verurteilung,  280  zu  220,  genau  221, 
ist  aus  PI.  36a  richtig  erschlossen;  bei  Diogenes  2,  41  steht  /arßdf- 
•/.da&}]  diay(.ooiaig  6yöo)JKovra  /iuäi,  /cleiooi  iln]cfoig  nov  aTroXvovowv. 
Da  ist  f.uccL  in  TQidxovTa  zu  ändern,  a  in  Z ;  Komma  natürlich  hinter 
oydoTfAOVTa.^'  Gomperz  (S.  80)  erzählt:  „Als  die  Geschworenen 
an  die  Tribüne  herantraten,  um  die  .  .  Stimmplättchen  in  die  zwei 
bereitstehenden  Urnen  zu  werfen,  da  zeigte  es  sich,  daß  die  durch- 
löcherten hinter  den  mit  einer  massiven  Achse  versehenen,  die  frei- 
sprechenden hinter  den  verurteilenden  Metallplättchen  nur  um  dreißig 
zurückstanden.  Es  folgte  das  Strafausmaß  .  .  .  Mit  nicht  weniger 
als  360  Stimmen  ist  das  Todesurteil  gefällt  worden." 

Ein  Fehler  steckt  jedenfalls  in  unserer  Überlieferung.  Die  von 
Wilamowitz  vorgeschlagene  Abänderung  empfiehlt  sich  beim  ersten 
Blick  durch  ihre  große  Einfachheit:  Verwechslung  von  ^  und  .y/. 
Aber  ob  wir  damit  wirklich  durchkommen?  280  +  (280  —  30)  =  530. 
Das  ist,  auch  wenn  man  die  Zahl  durch  Hinzufügung  von  1  un- 
gerade macht,  kaum  brauchbar,  Wil.  selber  rechnet  uns  vor:  280  + 
221,  das  ist  280  -f  (280  —  59).  Aber  erstens  müßte  dann  ^  mit  H 
verwechselt  sein,  zweitens  wäre  29  auf  30  abgerundet:  beides  ist 
schwer    zu  glauben.  —  Wie  Gomperz  sich  die  Abstimmung  denkt, 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    I97 

ist  trotz  seiner  Beschreibung  mir  nicht  verständlich.  Ich  lege  mir 
für  die  Zeit,  wo  jeder  Richter  2  Stimmplättchen  hatte  —  wir  wissen 
übrigens  nicht ,  ob  schon  damals  — ,  ein  volles  iind  ein  durch- 
löchertes, das  Verfahren  so  zurocht,  daß  er  beide  einwerfen  mußte : 
das  volle,  gültige,  in  den  /.adia/iog^  dessen  Bestimmung,  sei  es  als 
aTioXvcov,  sei  es  als  aTiolltg,  seiner  eigenen  Gesinnung  gegen  den 
Angeklagten  entsprach,  das  durchlöcherte,  ungültige,  in  den  anderen 
'/.aöiOAog,  dessen  Bestimmung  er  eben  damit  widersprach.  Dieses 
Verfahren  sorgte,  da  man  den  in  der  Hand  gehaltenen  i/'/Tf/^ot  nicht 
ansehen  konnte,  ob  sie  voll  oder  durchlöchert  waren,  für  volle  Ge- 
heimhaltung der  Abstimmung  und  bot  vielleicht  auch  den  Vorteil 
einer  gewissen  Kontrolle,  aber  es  konnten  dabei  die  durchlöcherten 
hinter  den  massiven  Plättchen  an  Zahl  überhaupt  nicht  zurück- 
bleiben. Außerdem  bleibt  das  Hauptbedenken:  nicht  30,  sondern 
60  wäre  der  Stimmenunterschied,  falls  ein  /.isTaTTiTiTeiv  von  30  die 
Freisprechung  bewirkte. 

Ich  habe  mich  immer  daran  gestoßen ,  daß  Sokr.  seine  Ver- 
wunderung darüber  bezeuge,  daß  die  Zahl  der  veriarteilenden  Stimmen 
nicht  höher  sei  —  wenn ,  so  wie  man  es  auslegt ,  220  ihn  frei, 
281  aber  schuldig  sprachen.  Es  paßt  das  nicht  recht  zu  der  Er- 
klärung, Meletos  hätte  ohne  des  An3-tos  Beistand  wohl  nicht  einmal 
den  5.  Teil  der  Stimmen  erhalten.  Selbstverständlich  müßte  ich 
mich  mit  einer  sicheren  Tatsache  abfinden  ^).  Aber  da  sich  nun 
gegen  die  bloß  erschlossene  Zahl  220  manche  Bedenken  erhoben 
haben,  möchte  ich  wieder  zur  Erwägung  stellen,  was  man  neuer- 
dings gar  nicht  mehr  der  Erwägung  wert  gefunden  hat,  ob  nicht 
vielleicht  die  andere  Handschriftenklasse  Recht  habe  mit  ihrem 
TQEig  f.i6vai  Tiüv  if.itj(fcov.  Dabei  ergäbe  sich  folgende  Rechnung: 
Verurteilung  durch  281,  Freispruch  durch  276,  Summe  der  ab- 
gegebenen Stimmen  557.  Fielen  3  Stimmen  anders,  so  hätten  wir 
278  verurteilende  gegen  279  freisprechende.  Was  man  allein  da- 
gegen vorbringen  kann,  ist,  daß  uns  kein  Beispiel  der  Besetzung 
eines  Gerichtshofs  mit  einer  anderen  Richterzahl  als  201,  401,  501, 
601,  1001,  1501  sicher  bezeugt  ist.  Jedoch  mit  diesem  argumentum 
e  silentio  läßt  sich  hier  nichts  beweisen.  Wir  wissen  doch  recht 
wenig  von  den  Äußerlichkeiten  des  attischen  Prozeßrechts.  Unsere 
Nachrichten  stammen  zum  großen  Teil  aus  Grammatikern,  bei  denen 
ich   bezweifle ,    ob    sie    die    wirkliche  Praxis  kannten.     Die  Zahlen 


^)  Und  so  glaubte  ich  es  tun  zu  müssen  in  meinem  Piaton  I  S.  370 
A.  1  u.  S.  880. 


198  Constantin  Ritter. 

201,  401,  501  usw.  scheinen  Normalzahlen  zu  sein,  die  schwerlich 
immer  eingehalten  werden  konnten.  Im  einzelnen  Fall  wurden  die 
Dikasten,  die  sich  zeitig  auf  dem  Markt  einfanden,  den  Gerichts- 
stätten zugelost,  wo  an  dem  betreffenden  Tag  eine  Sache  zu  ver- 
handeln war.  Trotz  der  Ersatzmänner  ist  es  unsicher ,  ob  die 
Normalzahlen  immer  voll  gemacht  werden  konnten.  Und  praktisch 
war  es  ja  auch  ganz  unbedenklich,  wenn  etwa  sagen  wir  statt 
601  Richter  nur  557  zur  Stelle  waren.  Darauf,  daß  die  Gesamt- 
zahl immer  ungerade  war,  wurde  allem  nach  immer  gesehen  (obgleich 
auch  das  überflüssig  scheint,  wenn  ja  der  Grundsatz  gilt,  Stimmen- 
gleichheit gut  als  Freispruch).  Aber  ob  die  vollen  Hunderter  er- 
reicht wurden,  darum  wird  man  sich  nicht  viel  gekümmert  haben. 
Übrigens  ist  noch  ein  Gedanke  zu  erwägen  ,  den  einst  G  e  o  r  g  i  i 
zu  seiner  Übersetzung  ausgesprochen  hat.  Sind  keine  Stimm- 
enthaltungen möglich  gewesen  ?  Man  kann  Aristoteles  Politica  II,  v 
dagegen  anführen.  Aber  welches  Mittel  gab  es  in  dem  freien  Athen, 
einen  Mann,  der  sich  der  Stimmabgabe  enthalten  wollte,  dazu  zu 
zwingen  ?i)  Bei  601  Gesamtrichtern  und  281  oder  280  verurteilen- 
den Stimmen,  die  um  6  die  lossprechenden  übertreffen,  hätten  wir 
45 — 47  Enthaltungen  anzunehmen  —  eine  beim  Falle  des  Sokr. 
gewiß  nicht  unwahrscheinlich  hohe  Zahl^j. 


^)  Ich  weise  namentlich  noch  hin  auf  Aischyl.  Agam.  814  ff.  Wilamo- 
witz  übersetzt  die  Verse  mit  folgenden  Worten:  „Stein  um  Stein  in  die 
Bluturne  rollte,  welche  Troias  Sturz  bezeichnete;  zur  andern  trat  zvim 
Scheine  nur  mit  leerer  Hand  der  Richter." 

-)  Nachträglich  sehe  ich ,  daß  ich  mir  meine  Bemerkungen  hätte 
sparen  und  einfach  Zell  er  hätte  abdrucken  können.  Er  gibt  (Ph.  d. 
Gr.  II,  1*  S.  198  A.)  die  Erklärung:  „Nach  PL  Ap  36a  wäre  er  frei- 
gesprochen worden,  wenn  nur  drei  oder  nach  anderer  Lesart  dreißig 
von  den  Richtern  anders  gestimmt  hätten.  Damit  ist  nun  freilich  die 
Angabe  bei  Diog.  II  41  unvereinbar.  Indessen  läßt  sich  kaum  bezweifeln, 
daß  hier  entweder  der  Text  verdorben  oder  eine  richtigere  Aussage  von 
Diogenes  gi-öblich  entstellt  ist  .  .  Gewöhnlich  glaubt  man,  281  sei  die 
Gesamtzahl  der  verurteilenden  Stimmen;  den  Worten  des  Diogenes  könnte 
man  diesen  Sinn  geben,  wenn  man  annähme,  sie  haben  ursprünglich  ge- 
lautet: xnrtöixttad-j]  Staxodiatg  oyöorixovTK  uia  xlJi^(foig  g'  nlftoai  jotv  dno- 
kvovGwv.  Allein  da  die  Heliäa  immer  aus  vollen  Hunderten  . .  zusammen- 
gesetzt war,  erhielte  man  unter  dieser  Voraussetzung  kein  Stimmen- 
verhältnis, das  mit  Pl.s  Angabe,  nach  der  einen  oder  der  anderen  Lesart, 
genau  stimmte.  Man  müßte  also  mit  Böckh  annehmen ,  ein  Teil  der 
Richter  habe  sich  der  Abstimmung  enthalten,  was  allerdings  möglieh 
gewesen  zu  sein  scheint.  Dann  konnten,  in  der  Ap  die  Lesart  rgtlg 
vorausgesetzt,  bei  600  Heliasten  281  gegen,  275  oder  276  für  ihn  ge- 
stimmt  haben.     Möglich   aber  auch  .  .,    daß   bei  Dio£:enes  .  .   statt  281 


Ber.  ttber  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    199 

Zu  36b  gibt  Schauz  folgende  erstaunliche  Erklärung:  „ro 
ni.f.i7CT0v  (.teQOg :  Sokr.  sagt,  daß,  wenn  dem  Meletos  nicht  Anytos 
und  Lykon  beigestanden  wären,  Meletos  nicht  den  5.  Teil  der 
Stimmen  erhalten  hätte.  Wir  haben  oben  angenommen ,  daß  280 
verurteilende  Stimmen  vorhanden  waren.  Rechnet  man  auf  jeden 
der  Kläger  den  3.  Teil,  so  fallen  auf  jeden  circa  93  Stimmen.  Der 
5.  Teil  ist  aber  lOö.  Also  kommt  ein  Drittel  der  gegen  Sokr.  ab- 
gegebenen Stimmen  nicht  einem  Fünftel  sämtlicher  Stimmen  gleich. 
Die  Berechnung  ist  scherzhaft,  denn  in  Wahrheit  können  ja  die 
Stimmen  nicht  verteilt  werden."  Wohl  mit  Bezug  darauf  schreibt 
Apelt  (S.  70  A.  61):  „Sehr  richtig  bemerkt  Schleiermacher:  'Niemand 
lasse  sich  von  Fischers  Berechnung  dieser  Sache  verführen,  welche 
gewiß  falsch  ist.  Denn  ihm  zufolge  müßten  die  3  Ankläger,  um 
nicht  1000  Drachmen  zu  erlegen ,  3  Fünfteile  und  also  mehr  der 
Stimmen  gehabt  haben,  als  um  den  Sokr.  zu  verdammen.  Vielmehr 
muß  man  denken,  daß  alle  Stimmen  dem  Meletos  als  Hauptankläger 
zugute  gerechnet  wurden,  daß  aber  Sokr.  will  zu  verstehen  geben, 
wenn  ihm  nicht  Anytos  und  Lykon  mit  ihi-er  Partei  Beistand  ge- 
leistet hätten ,  er  nur  den  3.  Teil  der  ihm  wirklich  zugefallenen 
Stimmen  würde  gehabt  haben ,  und  dann  offenbar  weniger  als 
1  Fünftel.'" 

über  den  Betrag  der  Geldbuße,  die  Sokr.  38  b  gegen  sich  be- 
antragt, finde  ich  in  den  Kommentaren  nur  bei  Uhle  eine  Bemerkung, 
und  zwar  eine  ganz  unzulängliche,  nämlich:  „uväv  aQyiQiov:  etwa 
75  M.  Eine  Goldmine  betrug  ungefähr  das  Zehnfache.  Die  Summe 
ist  allerdings   sehr  klein  im  Vergleich  mit  anderen  berühmten  Bei- 


ursprünglich 251  stand.  In  diesem  Fall  hätten  wir  251  gegen,  245  oder 
246  für  den  Angeklagten,  also  fast  500  Stimmen,  einige  wenige  konnten 
aber  immer,  wenn  das  Kollegium  auch  ursprünglich  vollzählich  war, 
während  der  Verhandlung  selbst  sich  verlieren;  oder  könnte  man  auch 
hier  Enthaltung  annehmen.  Sollte  endlich  bei  PI.  die  Lesart  TQUixovia 
richtig  sein,  welche  zwar  mehrere  der  besten  Hss.  für  sich,  aber"  (NB) 
„den  Zusammenhang  gegen  sich  hat,  so  könnte  man  .  .  vermuten:  xkt- 
(iiixüa&ri  ff.  o.  tjjrjffois,  |'  nktCoat,  tmv  ((noXvovawr.  Dann  hätten  wir  280 
gegen  220,  zusammen  500  Stimmen,  und  wenn  sich  30  mehr  für  den  An- 
geklagten erklärten,  war  er  durch  Stimmengleichheit  freigesprochen."  — 
Sonderbarerweise  bemerkt  H.  Mai  er  (482  A.)  hiezu:  „Mir  ist  es  ganz 
unverständlich,  warum  Zeller  hier  eine  ganz  bestimmte  Zahlenangabe 
erwartet  .  .  .  Die  runde  Zahl  entspricht  viel  mehr  dem  ganzen  Tenor 
der  Rede  als  eine  pedantisch  genaue  Zahlenangabe.  Sokr.  sagt  den 
Richtern:  30  Stimmen  mehr  für  mich  und  ich  wäre  freigesprochen!"  — ? 
Er  sagt  ihnen  also,  was  sie  nachzählend  als  unrichtig  finden  mußten.? 
30  hätten  dazu  eben  noch  nicht  gereicht! 


200  Constantin  Ritter. 

spielen  von  Geldstrafen  (Miltiades ,  Perikles ,  Timotheos)."  Ich 
empfehle  in  eine  neue  Auflage  jedenfalls  auch  aufzunehmen,  was 
Pöhlmann,  Sokr.  u.  s.Volk,  S.  108  sagt:  Sokr.  „erbot  sich,  auf  den 
dringenden  Wunsch  der  Freunde,  eine  Geldbuße  von  3000  Drachmen 
zu  leisten,  eine  Summe,  die  man  durchaus  nicht  mit  Gomperz  eine 
bescheidene  nennen  darf.  Sie  hätte  für  Soki\,  der  nach  seiner 
eigenen  Erklärung  höchstens  100  Drachmen  aufzubringen  vermochte, 
bleibende  schwere  Verschuldung  bedeutet,  wenn  er  das  Geld  nicht 
als  Geschenk  der  befreundeten  Bürgen  annehmen  wollte.  Auch  muß 
man  zur  Beurteilung  der  Summe  bedenken,  daß  das  Wohnhaus  eines 
so  reichen  Mannes,  wie  des  Vaters  des  Demosthenes,  das  neben 
der  Wohnung  noch  ausgedehnte  Fabrikräume  umfaßte,  genau  den- 
selben Wert  hatte,  daß  ferner  der  ganze  jährliche  Reinertrag  seiner 
mit  33  Arbeitern  besetzten  Fabrik  auch  nicht  mehr  als  3000  Drachmen 
betrug.  (Eine  Verhöhnung  konnten  also  die  Richter  in  dem  ccvxl- 
Tif.ii]f.ia  des  Angeklagten  unmöglich  sehen.)" 

Zu  39  e  iv  f/>  oi  ctQxovieg  ao^oXiav  ayovot  '/.al  ovna)  egxoixat 
ol  iXü^ovza  f.i€  dsl  TE^^idvai  bemerkt  Schanz :  „Nach  dem  Spruch 
der  Geschworenen  wurde  das  Urteil  ■schriftlich  abgefaßt,  um  im 
Archiv  aufbewahrt  zu  werden.  Dann  mußten  auch  Veranstaltungen 
getroffen  werden ,  Sokr.  den  Elfmännern  zu  übergeben.  Auch  die 
Redner  benutzen  in  ihren  Reden  die  Pausen ,  welche  (angebHch) 
durch  das  Herbeischaffen  der  vorzulesenden  Dokumente  entstehen. 
So  Demosthenes  18,  180."  —  Also  ist  die  dritte  Rede  in  ihrer 
ganzen  Ausdehnung  sachlich  möglich. 

41a  rj  av  ^ÖQcpet  ^vyysveai^aL  xal  Blovaalq)  Y.al  '^Hoiödii)  'aal 
'OfitJQOJ  STIL  710010  av  zig  öd^aiTO  vi-itov.  Was  dazu  von  Schanz 
bemerkt  wird,  ist  dem  Leser  entschieden  dienlich,  bis  auf  das  am 
Schluß  angehängte:  „Rp  10,  612b  ojaneQ^IioLodov  te  Aal  'Ofir]QOv.^ 
Damit  wird  niemand  viel  anzufangen  wissen ,  und  wer  die  Stelle 
nachschlägt,  wird  vollends  ratlos  sein.  Dagegen  wäre  wohl  ein 
Hinweis  darauf  am  Platz  gewesen ,  daß  in  der  Rp  Orpheus  und 
Musaios,  (Hesiod)  und  Homer  verschiedentHch  aufs  schärfste  ge- 
tadelt werden,  und  daß  vor  ihren  Büchern  gewarnt  wird. 

Erwähnt  sei  noch,  daß  v.  Bamberg  das  32.  Kapitel  der  Ap 
für  unecht  erklärt  hat  und  Beyschlag  zur  Widerlegung  dieser 
Erklärung  einen  besonderen  Aufsatz  geschrieben  hat  im  Philol.  1903 
(72)  S.  196—226. 

Zum  Schluß  bemerke  ich ,  daß  die  erklärende  Ausgabe  von 
Schanz,  an  der  ich  so  viel  auszusetzen  habe,  doch  in  philo- 
logischer Hinsicht    auch    von    mir   als   sehr  verdienstvoll  anerkannt 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PL  erschienenen  Arbeiten.    201 

wird.  Die  Satzkonstruktion  und  sprachliche  Eigenheiten  sind  in  ihr 
treff hch  erläutert ,  auch  die  Realien  im  allgemeinen  sehr  gut  be- 
handelt. Die  Ausgabe  U  hl  es  aber  entspricht  durch  ihre  Einleitung 
und  ihre  dem  Text  angeschlossenen  Noten  trefflich  dem  Zweck 
einer  erklärenden  Schulausgabe.  Als  Schultexte  sind  auch  die  von 
A.  Th.  Christ,  1908,  und  von  Jos.  Kral  herausgegebenen  wohl 
brauchbar.  Kral  gibt  die  wichtigsten  handschriftlichen  Varianten, 
allerdings  ohne  die  wünschenswerte  Bestimmtheit,  wie  das  Beispiel 
aus  36a  zeigen  mag:  „zQu'ey.ovTa  mel.,  B  in  mg.,  t^€?^  det.",  Christ 
schickt  eine  lesbare  Einleitung  von  25  Seiten  voraus  und  läßt  ein 
Namensverzeichnis  und  im  Anhang  eine  Beschreibung  ^^des  Ver- 
fahrens in  öffentlichen  Rechtsfällen  zu  Athen"  folgen.  Beide  geben 
sie  auch  das  Schlußkapitel  des  Phn  im  griechischen  Wortlaut,  Christ 
obendrein  aus  dem  Sy  die  Lobrede  des  Alkibiades  auf  Sokr. 


Kritoii  (=  Cr)  behandelt  Th.  Gomperz  II,  S.  358  f.,  Räder 
S.  99  —  101,  Ritter  S.  384  —  90,  Windelband  -  Bonhöffer  S.  149, 
Wilamowitz  I,  S.  167 — 70.  II,  55  f.;  in  Einzelausgaben,  je  zusammen 
mit  Ap:  Schanz  1893,  J.  Kral  1890,  A.  Th.  Christ  1908,  Uhle  1912. 

Ich  beginne  mit  inhaltlichen  Bemerkungen  aus  Wilamowitz 
I,  167:  Auf  die  Verurteilung  zum  Tode  „war  die  Wartezeit  gefolgt 
und  in  ihr  die  Versuchung  an  Sokr.  herangetreten,  durch  die  Flucht 
aus  dem  Gefängnis  ins  Ausland  sein  Leben  zu  retten.  Dem  hatte 
er  widerstanden,  obgleich  der  Versucher  aus  hingebender  Liebe  zu 
ihm  handelte.  Das  konnten  viele  nicht  verstehen ;  PI.  rechtfertigt 
es  in  dem  Dialoge  Cr  so,  daß  in  Sokr.  der  bis  in  den  Tod  getreue 
Staatsbürger  hervortritt,  und  hier  hat  er  nichts  getan,  als  die  wirk- 
liche Gesinnung  des  Sokr.  herausgearbeitet,  die  er  zwar  im  Tiefsten 
teilte ,  aber  doch  nicht  so  schlicht  und  so  unbedingt  hingebend : 
das  Staatsgefühl  des  Atheners  aus  der  großen  Zeit  des  Reiches 
konnte  nicht  dasselbe  bleiben,  wenn  ein  Anytos  immer  noch  einer 
der  Achtungswertesten  unter  den  Demagogen  war".  Über  die  Ab- 
fassung schreibt  W.  (II,  55):  für  sie  scheine  „53  c  einen  Anhalt 
zu  bieten,  wo  Theben  und  Megara  als  Eüvof.iovi.iEvai  noleig  be- 
handelt werden  .  .  .  Seit  395  .  .  konnte  PI.  der  thebanischen  £vvof.iia 
kein  Kompliment  mehr  machen,  niemals  wieder.  Vor  395  fällt  also 
der  Cr.  Das  ist  freilich  selbstverständlich,  er  mußte  ja  möglichst 
rasch  nach  dem  Tode  des  Sokr.  erscheinen"  .  .  .  „Es  ist  beschämend, 
daß  Moderne  sich  dem  Evidenten  verschlossen  haben  und  den  Cr 
in  spätere  Zeit  gerückt,  gar  solchen  Unsinn  geredet,  die  Beurteilung 
des  Lebens  nach  dem  Tode  wäre  hier  anders  als  in  der  Ap." 


202  Constantin  Ritter. 

Zu  deu  getadelten  Modernen  gehören  Gomperz,  Vater  und 
Solin.  Th.  Gomperz  sagt  II  S.  358  im  Anschluß  an  seine  Darstellung 
des  Mx ,  dessen  Leser  in  PL  einen  Genossen  der  oligarchischen 
Kevolutionäre  sehen  möchte:  ^Diesen  Eindruck  berichtigt  der  Cr. 
Er  zeigt  die  andere  Seite  des  Bildes  und  stellt  so  einen  scharfen 
Gegensatz  dar  ebenso  zum  Mx  wie  zur  Ap  und  zum  G.  Wir  kennen 
nicht  den  Anlaß,  dem  das  kleine  Gespräch  entsprossen  ist;  aber 
man  kann  sich  kaum  des  Eindrucks  erwehren,  daß  es  PL  hier  ganz 
eigentlich  darum  zu  tun  ist,  den  Verdacht  revolutionärer  Gesinnung 
von  sich  und  den  Seinigen  abzuwehren"  .  .  .  (539)  „Das  Merk- 
würdigste am  Cr  ist  die  darin  bekundete  moralische  Verfeinerung, 
die  über  diejenige  des  G  weit  hinausgeht  und  nur  in  den  ersten 
Büchern  der  Rp  eine  Parallele  findet.  Es  wii-d  nämlich  jedes 
Schädigen  auch  des  Feindes,  jegliches  Vergelten  auch  des  Unrechts, 
streng  verpönt ,  was  nicht  nur  der  Doktrin  des  xenophontischen 
Sokr.  schroif  widersi^richt ,  sondern  nicht  minder  jenem  im  G  ge- 
äußerten Wunsche,  der  ungerechte  Feind  möge  durch  Straflosigkeit 
vor  Heilung  bewahrt  bleiben  und ,  wenn  irgend  möglich ,  ein  un- 
sterblicher Bösewicht  werden.  Der  herkömmlichen  Ansicht ,  daß 
der  Cr  der  Ap  zeitlich  nahe  stehe,  widerstreitet  auch  die  hier  und 
die  dort  vorwaltende  Vorstellung  von  der  Unterwelt.  Der  Glaube 
an  Belohnungen  und  Bestrafungen  im  Jenseits  ist  dem  Cr  nicht 
mehr  so  völlig  fremd  wie  der  Ap.  Endlich  spricht  für  die  verhältnis- 
mäßig späte  Abfassung  dieses  Dialogs,  wie  jüngst  nachgewiesen 
ward"  —  nämlich,  sagt  uns  eine  Anm.  auf  S.  579:  „von  Dr.  Heinrich 
Gomperz  Über  die  Abfassungszeit  des  platonischen  Cr,  Ztschr.  f. 
PhiL  u.  phil.  Kr.  B.  109  S.  176 — 79"  —  „die  sein  Vorhandensein 
nicht  voraussetzende  Einleitung  des  Phn.  Denken  wir  uns  den  Cr 
in  der  Zeit  entstanden ,  da  einige  Bücher  der  Rp  bereits  verfaßt,  , 
vielleicht  auch  schon  veröffentlicht  waren ,  so  glauben  wir  seine  1 
Abzweckung  am  besten  verstehen  zu  können." 

Die  Ansicht,  die  G.  vertreten  hat,  wird  sich  sicher  nicht  be- 
haupten, ßäder  (S.  100  f.)  verwirft  sie  mit  folgenden  guten 
Gründen:  „Der  Vergleich  mit  dem  G  beweist  nichts,  weü  die  dort 
aufgestellte  Behauptung  als  bewußte  Paradoxie  auftritt.  Auch  im 
G  ist  PL  klar  darüber ,  daß  Unrecht  tun  unter  allen  Umständen 
verwerflich  ist  .  .  Ebensowenig  beweist  die  Zusammenstellung  mit., 
dem  Phn.  Man  ist  auf  die  dramatische  Ökonomie  der  Dialoge  nicht 
aufmerksam  gewesen.  Wie  wäre  es  denn  möglich  gewesen,  ins! 
Gespräch  zwischen  Sokr.  und  Kriton  im  Gefängnis  eine  längere 
Auseinandersel-zung    vom    heiligen   SchiiT,    das   jedem  Kind  Athens 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    203 

bekannt  war,  einzuflechten !  Im  Phn  aber  wird  die  Erklärung  dem 
Phüasier  Echekrates  gegeben ,  der  natürlich  von  den  athenischen 
Verhältnissen  und  von  den  Schicksalen  des  Sokr.  wenig  unterrichtet 
war.  Denken  wir  uns  den  Phn  zu  einer  Zeit  geschrieben,  da  die 
Schriften  Pl.s  in  der  ganzen  griechischen  Welt  gelesen  wurden, 
verstehen  wir  leicht ,  daß  es  für  PI.  nötig  war ,  seine  Leser  über 
Verhältnisse  aufzuklären,  die  den  Athenern,  die  wir  uns  als  Leser 
des  Cr  denken  ,  wohl  bekannt  waren.  Cf.  Burnet.  Wenn  im  Phn 
Echekrates  nur  so  viel  weiß ,  daß  Sokr.  verurteilt  und  durch  Gift 
getötet  worden  ist,  so  schließen  wir  einfach  daraus,  daß  PI.  zur 
Abfassungszeit  des  Dialoges  ebensoviel  Kenntnis  von  der  Sache  bei 
seinen  Lesern  voraussetzen  durfte.  Es  scheint  vielmehr  [vgl.  Socher] 
aus  Phn  98  e  —  99  a,  wo  von  der  Ursache  der  Gefangenschaft  des 
Sokr.  geredet  wird,  hervorzugehen,  daß  der  Cr  schon  vorlag."  — 
Bonhöffer  wendet  sich  S.  149  A.  1  auch  gegen  die  Annahme, 
daß  der  Cr  auf  den  literarischen  Angriff  des  Polykrates  gegen  das 
Andenken  des  Sokr.  antworten  wolle.  „Daß  seine  ganze  Lehrtätig- 
keit zur  Lockerung  der  religiösen  und  staatlichen  Autorität  bei- 
getragen habe  —  was  ihm  Polykrates  vorgeworfen  hatte  — ,  darauf 
geht  der  Cr  gar  nicht  ein."  Auch  macht  B.  darauf  aufmerksam, 
daß  Cr  45  b  auf  die  Ap  (nämlich  37  d)  hinzuweisen  scheine. 

A"on  etwas  fraglichem  Wert  scheinen  mir  die  Ausführungen 
Lutoslawskis  zu  sein;  doch  will  ich  sie  nicht  unterdrücken: 
„Wir  bemerken  hier  eine  sorgfältige  Unterscheidung  zwischen  acht- 
baren und  unmoralischen  Meinungen  (xQrjOTag  —  Tiot'r]Qag  do^ag  47  a), 
entsprechend  der  später  oft  wiederholten  Gegenüberstellung  von 
richtiger  Vorstellung  und  Erkenntnis.  Diese  Weise  der  Abschätzung 
eines  Urteils  nach  seinem  moralischen  Wert  ohne  Rücksicht  auf 
ein  logisches  Richtmaß  der  W^ahrheit  ist  der  sokratischen  Stufe 
platonischer  Logik  eigentümlich  und  zeigt  uns ,  wie  PI.  von  der 
moralischen  Betrachtungsweise  (the  moral  teaching)  seines  Meisters 
zu  seinen  eigenen  logischen  Untei'suchungen  geführt  worden  ist. 
Als  er  den  Cr  schrieb,  war  er  anscheinend  noch  nicht  bei  seinem 
späteren  Ideal  objektiven  Erkennens  angelangt:  er  begnügt  sich  mit 
der  'achtbaren'  Meinung  eines  Sachverständigen  {enduov  47  d),  der 
er  mehr  Vertrauen  schenkt  als  der  Meinung  der  Menge  {öu^a  xiZv 
fioXXcJv  47  c).  In  Übereinstimmung  mit  diesem  praktischen  Stand- 
punkt werden  fundamentale  Meinungsverschiedenheiten  unter  den 
Menschen  als  unvermeidlich  angesehen,  und  hier  wie  im  Eu  wird 
von  ihnen  angenommen,  daß  sie  Haß  und  Verachtung  erzeugen, 
wenn    sie    Ethisches    zum    Gegenstand   haben  (Cr  49  cd,    Eu  7d). 


204  Constantin  Ritter. 

Diese  Anschauung  ist  wirklich  charakteristisch,  weil  im  G  und  aller 
späteren  Dialogen  Sokr.  sich  im  Besitze  objektiver  Wahrheit  zeig' 
sowohl  über  ethische  als  über  andere  Fragen,  einer  Wahrheit,  dit 
bewiesen  und  sogar  solchen  Feinden  der  Philosophie,  wie  Kallikles 
vermittelt  werden  kann.  Hier  finden  wir  bloß  hinlänglich  gesicherte 
(competent)  Meinung  oder  die  Autorität  des  'besten'  Vernunft- 
grundes (46  b  fir^devl  a?,X(ü  neiO^Ea^ai  rj  nu  Ao/oj  dg  av  }.ioi  Xoyito- 
(-itv(i)  ßiXxioiog  (falvrjzai).  Dieser  'beste'  Vernunftgrund  aber  isi 
noch  nicht  'die  Vernunft',  die  den  Lesern  der  späteren  Dialoge 
vertraut  ist.  Von  diesen  logischen  Besonderheiten  aus  können  wü 
nur  schließen,  daß  der  Cr,  der  mit  den  2  vorausgehenden  Dialoger 
eine  natürliche  Gruppe  bildet,  früher  ist  als  der  Me  und  G.  Unc 
es  ist  sehr  wahrscheinlich,  daß  er  später  ist  als  die  Ap,  weil  PI 
4ü  b  eine  deutliche  Anspielung  auf  seine  Ap.  macht." 

Schanz  sei  durch  folgende  Sätze  gekennzeichnet  (S.  15  seiner 
Einleitung:)  ,,Daß  der  Dialog  geraume  Zeit  nach  dem  Tode  des 
Sokr,  verfaßt  ist,  erhellt  aus  der  resignierten  Stimmung,  welche  der 
Dialog  durchzieht.  Wieder  unmittelbar  nach  dem  Tode  des  Sokr 
geschriebene  G"  (?)  „zeigt,  erfüllte  das  tragische  Ereignis,  der  Toc 
seines  Lehrers,  PI.  mit  der  größten  Erbitterung  gegen  die  athenischer 
Staatsmänner.  Es  ist  unmöglich,  daß  PI.  zu  derselben  Zeit  einer 
Dialog  verfaßte ,  welcher  die  Unterwerfung  unter  die  Gesetze  ah 
ein  Gebot  der  Pflicht  dartut.  Wir  werden  daher  den  Cr  in  dieselbe 
Zeit  zu  versetzen  haben,  in  der  auch  der  Eu  verfaßt  ist."  Im 
übrigen  hat  Sch.s  Kommentar  dieselben  Schwächen  und  dieselben 
Vorzüge  wie  der  zur  Ap  (und  dem  Eu).  Und  dasselbe  gilt  auch 
von  den  Bearbeitungen,  die  Uhle,  Christ  usw.  dem  Cr  haben 
zuteil  werden  lassen.  Rühmend  hervorheben  möchte  ich  wieder 
die  Einleitung  Apelts   zu  seiner  Übersetzung. 

Noch  eine  Einzelheit:  46  e  f.  sagt  Sokr.  zu  Kriton:  av  yag, 
oaa  ye  xavS^giorcELa ,  twchg  ei  xov  {.liXkEiv  a7ioO^VTja-/.eiv  augtov. 
Schanz  bemerkt  dazu :  „a^giov.  Dieses  Wort  ist  auffäUig,  weil  es 
im  Widerspruch  mit  dem  Traum  des  Sokr.  steht.  Vielleicht  is1 
dasselbe  interpoliert  und  genügt  /.lalkeiv  allein,  im  Sinne  von  'irri 
Begriffe  stehen' ;  diese  Bedeutung  wird  noch  durch  das  folgende 
?;  7iaQ0iGa  ov{.i(fOQa.  gestützt."  Die  andern  Erklärer  gehen  übe] 
die  Schwierigkeit  mit  Stillschweigen  weg  und  enthalten  sich  aucl 
einer  Bemerkung  zu  der  merkwürdigen  Tatsache ,  daß  Sokr.  aus 
den  Worten,  die  ihm  die  Traumgestalt  zugerufen  rji.iatl  x£v  TQirdzq 
0&irjv  SQißwXov  r/,010  die  Gewißheit  schöpft,  daß  seine  Hinrichtung 
noch    nicht,    wie  Exiton    ihm  ankündet,    morgen  (acgiov),    sonden 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PL  erschienenen  Arbeiten.    205 

erst  tags  darauf  werde  vollzogen  werden.  Es  darf  gefragt  werden : 
Hat  Sokr.  sich  hierin  getäuscht?  Wäre  das  der  Fall,  so  meine  ich, 
wäre  es  von  PI.  leicht  augedeutet  worden.  Andernfalls  haben  wir 
hier  die  bemerkenswerte  Beglaubigung  eines  Ahnungstraumes ,  der 
um  so  merkwürdiger  ist ,  weil  es  sich  um  etwas  Unbedeutendes 
handelt  (einen  einzigen  Tag  Fristverlängerung)  und  weil  man  sich 
lediglich  keinen  vernünftigen  Grund  denken  kann ,  aus  dem  die 
Ahnung  entsprang.  Auch  Schanz  scheint  anzunehmen ,  daß  Sokr. 
gegen  Kriton  Recht  behielt.  Daß  aber  Sokr.  trotz  seiner  Über- 
zeugung, erst  „am  dritten  Tag"  komme  für  ihn  die  Todesstunde, 
dem  Kriton  entgegnet :  'Du  wirst  nach  menschlicher  Voraussicht 
morgen  noch  nicht  sterben',  findet  m.  E.  seine  genügende  Erklärung 
darin,  daß  eben  Kriton  mit  seinem :  'morgen  mußt  du  sterben,  wenn 
du  jetzt  die  Gelegenheit  zur  Flucht  nicht  benützest'  den  Sokr. 
schrecken  und  von  seinem  in  ruhiger  Überlegung  gefaßten  Entschluß 
abdräDgen  wollte. 

Gorgias  (=  G)  behandelt  von  Lutoslawski  S.  212 — 18,  Gomperz 
S.  264—289,  Räder  S.  111—25,  Ritter  S.  391—430  u.  444—449, 
Windelband-Bonhöffer  S.  151  f.,  Pohlenz  S.  129—67,  v.  Arnim  S.  76  ff., 
186  ff.,  Wüamowitz  I  S.  208—35,  Frachter  223  f.,  255—62,  Kühne- 
mann, Grundlehren  der  Philosophie,  1899,  S.  296 — 325,  M.  Hoff- 
mann, Ztschr.  f.  G.Ws.  1904  S.  478 — 91;  erklärende  Einzelausgaben 
gibt  es  nach  Frachter  außer  der  von  Sauppe-Gercke  1897  und  von 
(Cron)  Deuschle -Nestle,  5.  A.  1909,  auch  von  Thompson  1894, 
J.  Stender  1900. 

Von  dem  gewaltigen  Eindruck,  den  der  G  heute  noch  auf  den 
Leser  machen  kann,  zeugen  auch  die  neuesten  Erklärer.  Woi-auf 
beruht  dieser  Eindruck?  Vor  allem  auf  der  heißen  und  doch  künst- 
lerisch beherrschten  Leidenschaft,  die  ihn  durchglüht.  Man  fühlt : 
PI.  kämpft  hier  für  das  Recht  seiner  Weltauffassung  und  des 
Lebensberufs,  den  er  sich  erwählt  hat.  Er  kämpft  nicht  bloß  gegen 
die  Leute,  die  seinen  Meister  als  Verbrecher  behandelt,  angeklagt 
und  verurteilt  haben,  und  die  er  als  seine  natürlichen  Feinde  be- 
trachten muß,  sondern  auch  gegen  Menschen,  die  ihm  bisher  nahe 
gestanden  sind  und  wohlmeinend  nach  ihrem  Verständnis  ihm  zum 
Besten  raten  wollen.  Kallikles  darf  zu  Sokr.  sagen :  ngog  ai  eni- 
€(xwg  e'xw  q^iXiKidg.  Und  ihm  gilt  die  schroffste  Absage.  Für  diese 
Auffassung  lassen  sich  verschiedene  Zeugnisse  anführen.  Schon 
Schleierinacher,  in  einer  von  Kühnemann  angezogenen  Stelle  (11,  1 
S.  19)  hat  geschrieben:   „Es  scheint  .  .  fast,  als  habe  die  Apologie 


206  Constantin  Ritter. 

des  Sokr.,  indem  sie  .  .  in  eine  Apologie  der  sokratischen  Gesinnung 
und  Lebensweise  überhaupt  verwandelt  worden,  die  persönliche  Be 
Ziehung  nicht  sowohl  verloren,  als  vielmehr  nur  verändert  und  se 
eine  Apologie  des  PL  geworden."  Kühnemann  selber  schreib 
(297  f.) :  „Warum  wirkst  du  nicht  im  Leben  des  Staates  ?  .  .  Gib 
es  einen  Nachweis  des  höheren  und  wahren  Rechts  der  Philosophi( 
auch  vor  dem  politischen  Anspruch,  der  für  den  Griechen  der  sitt 
liehe  selber  ist?  Es  springt  aus  dem  Innersten  der  gewohnte] 
Lebensumstände  die  sittliche  Grundfrage  heraus.  Diese  Arbeit  is 
nicht  als  Übung  des  Verstands ,  nicht  als  Spiel  des  Witzes  ge 
schrieben ;  sie  kommt  aus  dem  Gewissen  .  .  Es  bildet  nirgendi 
wie  hier  die  Grundidee  der  ganzen  platonischen  Existenz  den  all 
beheiTschenden  Gedanken,  jene  Idee:  Philosophie  ist  philosophisches 
Leben  .  .  (299)  Gegen  den  einzigen  Anspruch,  den  PI.  selbst  viel 
leicht  gerechtfertigt  finden  konnte,  kämpft  er  um  sein  Leben.' 
Wilamowitz  gibt  dem  Kapitel,  worin  er  das  1.  Buch  der  R] 
und  den  G  bespricht,  die  Überschrift  „Absage  an  die  Welt";  zu: 
Kennzeichnung  des  G  aber  sagt  er  (S.  210):  „in  dem  Ganzen  weh 
eine  Leidenschaft,  wie  er  sie  nirgend  sonst  verrät  .  .  Der  dramatisch( 
Schmuck  ist  auf  das  äußerste  beschränkt  .  ,  Sokr.  ist  ein  gan; 
anderer  geworden  als  in  den  früheren  Schriften;  er  sucht  keini 
Wahrheit,  zu  der  ihn  nur  ein  richtiges  Gefühl  im  Busen  zöge 
sondern  besitzt  seineu  festen  Glauben,  weiß  ihn  zu  behaupten  un( 
zieht  für  ihn  zu  Felde  .  .  (229)  Die  Verteidigung  des  Sokr.  is 
nicht  mehr  der  eigentliche  Inhalt,  der  ist  vielmehr,  Ziel  und  Wej 
des  rechten  Lebens  zu  weisen.  Das  Ganze  wii'd  ein  Protreptikos 
eine  Predigt.  Prediger,  Prophet  des  wahren  Lebens  ist  Sokr.  den 
PI.  geworden.  Aus  seinem  Tode  hatte  er  sich  das  neue  Evangeliun 
entnommen  .  .  .  Jetzt  stand  er  einsam  agf  sich,  aber  froh  un* 
hoffnungsvoll  in  der  Sicherheit  seines  Glaubens  .  .  .  Aber  er  brauch 
nicht  einsam  zu  bleiben,  er  soll  und  will  es  nicht,  er  ruft  ja  'folg 
mir  nach',  und  wenn  sie  ihm  folgen,  auch  für  ihre  Seele  sorger 
dann  werden  sie  Gottes  Freunde  werden,  wie  er  es  ist :  und  so  is 
es  doch  ein  Gottesreich,  dem  der  Prediger  den  Weg  bereitet  .  . 
(231)  Der  hier  redet  gibt  der  gewöhnlichen  Laufbahn  des  Politiker 
und  auch  des  Literaten  eine  Absage  .  .  .  Die  Verurteilung  der  b( 
rühmten  Demagogen  war  .  .  nicht  notwendig;  um  so  aufschlußreiche:- 
daß  PI.  sie  gibt,  ausführlich,  mehrfach  vorbereitet,  und  so  heftij 
so  einseitig.  Das  ist  nicht  Sokr. ;  den  haben  wir  im  Cr  gehörl 
das  ist  PL,  der  sich,  nicht  leichten  Herzens  (daher  die  Erregung 
von   dem  Staate   seiner  Heimat  losreißt  .  .  .    (233)  Wer  so  leidei 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    207 

schaftlich  redet,  .  .  der  fordert  die  Frage  heraus,  woher  diese  Leiden- 
schaft? Der  Tod  des  Sokr.  genügt  nicht  mehr;  Sokr.  ist  hier  so 
sehr  der  überlegene  Sieger,  daß  die  Trauer  um  seinen  Tod  dem 
freudigen  Glauben  an  seine  Unsterblichkeit  gewichen  ist  .  .  Das 
innere  Erlebnis  ist,  daß  PI.  nel  mezzo  del  cammin  di  nostra  vita 
sich  eben  die  Frage  gestellt  hat,  um  die  sich  Gorgias"  (soll  wohl 
heißen:  Sokrates)  „und  Kallikles  streiten:  wie  soll  ich  leben,  und 
daß  er  die  Antwort  gefunden  hat.  Leben  heißt  für  seiner  Seelen 
Seligkeit  sorgen,  und  das  fordert  die  Hingabe  des  Lebens  an  die 
Philosophie :  aber  dieselbe  Forderung  ist  allen  Menschen  gestellt, 
und  wenn  die  Gesellschaftsordnung,  wie  sie  ist,  die  Menschen  vom 
rechten  Wege  abdrängt,  so  muß  sie  geändert  werden,  von  Grund 
aus  geändert  .  .  .  'So  geht  es  nicht  weiter,  sagte  er  sich,  .  .  Des- 
halb hinaus  aus  dieser  bösen  Umgebung,  die  mich  nicht  verlocken 
darf,  auch  nicht  zur  Fortsetzung  des  mir  so  lieben  Wortkampfs, 
denn  ich  muß  lernen ,  wenn  ich  wirklich  Philosoph  werden  will. 
Deshalb  hinaus  zu  frischer  Fahrt  auf  das  neue  weite  Meer.  Wenn 
ich  heimkomme,  werden  wir  weiter  sehen  ;  vielleicht  werde  ich  dann 
nicht  nur  schreiben,  werde  ich  auch  handeln  können.'  .  .  Zu  dieser 
alles  umstürzenden  Überzeugung  konnte  PI.  nicht  allein  durch  Sokr. 
gelangen  .  .  .  Der  G  ist  der  Niederschlag  der  Kämpfe,  mit  denen 
er  sich  von  der  Jugend''  (und  der  Laufbahn)  „losriß,  die  dem  Sohn 
des  Ariston  als  solchem  bestimmt  schien ;  er  hat  keine  Familie  mehr, 
und  dem  Staate  sagt  er  ab  .  ." 

Im  wesentlichen  wird  wohl  auch  Frachter  mit  der  von  mir 
vorgetragenen  Auffassung  einverstanden  sein.  Er  führt  den  G  auf 
an  der  Spitze  einer  Anzahl  von  „Schriften  der  Übergangszeit"  von 
der  Jugendschriftstellerei,  die  „nur  der  abstrakten  Erörterung  be- 
griflfsethischer  Probleme  ohne  Stellungnahme  zu  den  großen  prak- 
tischen Fragen  der  Gegenwart  galt",  zu  den  „Schriften  der  reifen 
Mannesjahre".  In  dieser  Übergangszeit,  sagt  er,  verbinden  sich  mit 
dem  Sokratischen  andere  Elemente.  Dadurch  wird  auch  der  Stil 
beeinflußt.  (255:)  „Der  auffallend  trockene  Rationalismus  der  Jugend- 
dialoge erhält  unter  der  Einwirkung  orphisch-pythagoreischer  Denk- 
weise eine  mystische  Beimischung,  die  zur  Betätigung  dichterischer 
Phantasie  lockt,  und  der  Weltanschauungskampf  zeitigt  das  poetische 
Pathos  des  Propheten.  Wo  der  Dichter  dem  Philosophen  vorauseilt, 
kleidet  er  seine  Schau  in  die  Form  des  Mythus,  jenem  überlassend, 
sich  daraus  Grundgedanken  und  Stimmung  dienstbar  zu  machen." 
Vom  G  besonders ,  in  Vergleichung  mit  Rp  I ,  gelten  die  Worte 
(261) :   „An  die  Stelle  des  kühl  forschenden  Begriffsethikers  ist  der 


208  Constantin  Ritter. 

feurige  Bekenner  eines  Lebensideales,  an  die  Stelle  der  abstrakten 
TJntersucliung  der  Kampf  gegen  und  für  konkrete  Mächte  im  geistigen 
Leben  der  Zeit  getreten  .  .  .  Alles  ist  aus  dem  Schatten  der  Schule 
in  das  scharfe  Licht  des  öffentlichen  Lebens  gerückt  .  .  .  Aui 
diesem  Geiste  eines  sittlichen  Bekenntnisses  dem  Leben  und  der 
Wirklichkeit  gegenüber  beruht  der  gewaltige  Eindruck,  den  der  G 
■wie  im  Altertum  so  auch  heute  auf  jeden  Leser  hervorbringt  .  . 
Aber  auch  dogmatisch  bedeutet  das  Werk  einen  großen  Fortschritt  .  . 
über  alle  seine  Vorgänger  hinaus,  einen  Fortschritt  insbesondere  in 
der  Richtung  auf  die  Ideenlehre.  Mit  dem  orphisch-pythagoreischen 
Gedankenkreise  setzt  eine  neue  mächtige  Triebkraft  ein,  die  dieser 
Lehre  entgegenführt.  Die  Anschauung  von  einer  jenseitigen  Welt 
und  einem  körperlosen  Zustande  der  Seele ,  die  Auffassung  vom 
aiü(.ia  als  oyjfxa  —  diese  letztere  freilich  nur  als  fremde  Lehre 
wiedergegeben  .  .  —  vereinigen  sich  mit  der  scharfen  Entgegen- 
setzung von  Sein  und  Schein ,  von  Streben  nach  dem  Guten  und 
Jagd  nach  Sinnenlust ,  zur  Förderung  jenes  Dualismus ,  der  ein 
Grundzug  der  Ideenlehre  ist.  Auf  dem  Felde  der  Politik  bilden 
sich  unter  dem  Einfluß  dieses  Dualismus  jetzt  schon  die  Keime, 
die  sich  später  in  den  Büchern  II — X  der  Rp  im  Lichte  der  aus- 
gebildeten Ideenlehre  machtvoll  entwickeln  ..." 

Man  sieht  indes :  wer  den  Gedankengehalt  des  Dialogs  vor  uns 
ausbreiten  will,  muß  auch  von  seiner  Absicht  reden,  und  die  läßt 
sich  nicht  feststellen  ohne  Rücksicht  auf  die  Abfassungszeit. 
So  muß  diese  wieder  ins  Auge  gefaßt  werden.  Sichere  Anhalts- 
punkte dafür  fehlen  auch  beim  G.  Und  die  Meinungen  gehen  noch 
ziemlich  weit  auseinander.  Wilamowitz  hat  die  seinige  geändert. 
S.  233  sagt  er:  „Ich  habe  also  in  meiner  Jugend  nicht  die  richtige 
Antwort  gefunden,  als  ich  den  G  unmittelbar  nach  399  entstanden 
glaubte."  Es  stehen  aber  manche  noch  auf  dem  Standpunkt,  den 
Wilamowitz  vei'lassen  hat.  So  z.  B.  Ed.  Schwartz,  bei  dem  wir 
lesen:  „Die  künstlerische  Objektivität  der  Verteidigungsrede,  in  der 
PL  nichts  anderes  wollte  als  den  echten  Sokr.  schildern,  läßt  den 
Sturm  kaum  ahnen,  den  der  Tod  des  Meisters  in  dem  Jünger 
entfesselte.  Mit  zermalmender  Gewalt  macht  er  sich  geltend  in 
der  Anklageschrift  gegen  die  Athener,  die  PI.  unmittelbar  nach 
der  Katastrophe  komponierte ,  dem  Dialog  G ,  jenem  wunderbaren! 
Produkt  heiligsten  Prophetenzorns  und  vornehmster  G^staltungs-l 
kraft,  in  welcher  er  dem  attischen  Volke  zuruft :  'Ihr  glaubt,  Sokr. 
mit  eurem  Urteil  vernichtet  zu  haben ;  ich  aber  sage ,  Unrecht 
leiden  ist  besser   als  Unrecht  tun.     Euer  ganzer  Staat  ist  so  faul,: 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    209 

daß  der  Gerechte,  der  gerecht  bleiben  will,  in  ihm  untergehen  muß. 
So  hat  Sokr.  Recht  gehabt  und  nicht  ihr.  Das  Gericht,  das  jeder 
Seele  nach  dem  Tode  ihr  Recht  werden  läßt,  wird  es  zeigen.'" 
(Charakterköpfe  S.  58.) 

Räder  bemerkt  über  die  chronologische  Frage  (S.  122):   „Mit 
Recht   ist   gesagt  worden,    daß  wir  im  G  nicht  Spuren  der  Ideen- 
iehre,  sondern  Keime  dazu  vorfinden  [Lutoslawski  S.  217].    Obgleich 
also  die  chronologische  Stellung  des  Dialogs  durch  Betrachtung  des 
Inhalts  recht  genau  bestimmt  werden  kann,"  — ?  „weichen  dennoch 
die  wesentlich  auf  äußere  Kriterien  gestützten  Ansichten  von  seiner 
Abfassungszeit  bedeutend  voneinander  ab.    Die  unwahrscheinlichste 
Ansicht  ist  die  von  Bergk,  der  den  Dialog  um  das  Jahr  405/4  an- 
setzt 5  denn  der  bittere  Ton  .  .  zeigt  deutlich  genug,  daß  der  Dialog 
nach  Sokr.'  Tod   geschrieben   ist.     Wenn    aber    einige   aus   diesem 
Ton   und    aus    der    trüben    Stimmung  .  .    gefolgert   haben ,    daß    er 
kurz    nach  Sokr.'  Tod   geschrieben   sein  müsse  [Hermann  S.  476, 
V.  Wilamowitz-Möllendorff  in  den  Philol.  Unt.  I  S.  218,    Dümmler 
Akademika  S.  69  ff.],    ist    diese  Folgerung  als  viel  zu  unsicher  ab- 
zuweisen.    Es    gibt   im  G  Anzeichen ,    die    auf  eine    größere  Reife 
des  Verfassers  deuten,   als  wir  in  den  früheren  Dialogen  gefunden 
haben.     Hierauf  deutet  schon  die  Schärfe  und  Konsequenz,   womit 
der  Standpunkt  des  Gegners  durchgeführt  wird.'-'   —  Gewiß  ist  das 
bedeutsam.    Ich  füge  den  Satz  von  Wilamowitz  ein :   „PI.  war  Poet 
genug,  dem  konsequenten  Vertreter  der  "Weltanschauung,  zu  der  er 
sich    in  vollkommenem  Gegensatze  fühlt,    eine  Größe  zu  verleihen, 
die  in  ihrer  Art  imponieren  muß  und  ihn  weit  über  die  Halben  er- 
hebt" (217).  —   „Außerdem  findet  man  im  G  Beweise  dafür,  daß  PI., 
wahrscheinlich  auf  seinen  Reisen,  mit  geistigen  Strömungen  bekannt 
geworden   ist,    die    er   vorher   nicht   gekannt  hatte.     Er  zeigt  eine 
Vertrautheit  mit  der  mathematischen  Sprache,  indem  er  65  b — c  das 
Verhältnis    zwischen    den   verschiedenen  Künsten   und  Fertigkeiten 
als  mathematische  Proportionen  darstellt,  und  68  a  läßt  er  den  Sokr. 
die  'geometrische  Gleichmäßigkeit'  rühmen.     Ferner   wird  93  a  der 
Aussage    der  'Weisen'  Erwähnung  getan,    daß  der  Körper  (ow/.ia) 
das  Grab  (orjfMa)    der  Menschen    sei  ...     Endlich  verrät  auch  der 
Schlußmythus    vom  Totengericht    orphischen    oder   jDythagoreischen 
Einfluß  .  .  .    Einen  zuverlässigeren  Anhaltspunkt  erhalten  wir  durch 
die  Betrachtung  vom  Verhältnis  des  G  zu  Polykrates'  Deklamation 
gegen  Sokr.,    worin    die  Staatsmänner    der  Vorzeit  auf  Kosten  des 
Kritias  und  Alkibiades,  die  Sokr.  verdorben  haben  sollte,  gepriesen 
worden    waren.     Antwort   hierauf  ist  Pl.s  Verdammungsurteil  über 

Jahresbericht  für  AltartumswissenschaCt     Bd,  191  (1922.  I).  14 


210  Constautiu  Ritter. 

die  Staatsmänner.  [Dies  ist  überzeugend  dargetan  von  Gerck? 
S.  XLIII  ff.,  vgl.  Gomperz  II  S.  278  f.]  Nun  fällt  Polykrates'  Schrifi 
sicher  später  als  das  Jahr  394,  da  die  Wiederherstellung  der  langet 
Maliern  Athens  durch  Komon  darin  erwähnt  war.  Also  muß  aucl 
der  G  nach  394  abgefaßt  sein.  Endlich  hat  man  auch  aus  Pl.s 
Verhältnis  zu  Isnkrates  mehrere  Folgerungen  von  ungleichem  Wer 
gezogen  ..."  „Wir  werden",  urteilt  er  abschließend,  „kaum  fehl 
gehen,  wenn  wir  die  Abfassungszeit  des  G  um  390  oder  vielleichi 
einige  Jahre  früher  ansetzen."  —  Das  kann  ich  mir  gefallen  lassen 
Auf  die  Schlüsse  aus  dem  Verhältnis  zu  Isokrates  gebe  ich  freilicl 
noch  weit  weniger  als  E,.,  der,  auf  Spengel  gestützt,  zu  Unrechi 
behauptet,  wir  könnten  „zwischen  PI.  und  Isokrates  ein  andauerndes 
feindseliges  Verhältnis  beobachten",  bei  dem  bloß  fraglich  bleibe 
ob  die  Feindschaft  durch  den  G  erzeugt  worden  sei  oder  schoi 
vorher  bestanden  habe.  Und  solange  wir  nicht  einmal  sicher  sind 
ob  Polykrates  mit  seiner  Deklamation  eine  Antwort  auf  den  G  geber 
wollte ,  oder  ob  PI.  im  G  auf  jene  Deklamation  Bezug  genommei 
hat,  hilft  uns  der  für  sie  ermittelte  terminus  post  quem  von  394 
nicht  viel.  Mit  gutem  Grund  sagt  z.  B.  Pohlenz  (S.  165):  „Daf 
der  G"  —  so  wie"  Gercke  bewiesen  zu  haben  glaubt  —  „die  Ant- 
wort auf  Polykrates'  Broschüre  darstelle,  kann  ich  mindestens  nich' 
als  erwiesen  betrachten."  Im  Gegenteil,  es  „spricht  manches  dafür 
daß  grade  Pl.s  scharfe  Absage  an  die  athenische  Demokratie  di( 
leitenden  Staatsmänner  dazu  bestimmt  hat,  einen  Literaten  zu  eine: 
Antikritik  gegenüber  den   Sokratikern  zu  veranlassen." 

Wilamowitz  will  sicher  ausgemacht  haben,   „daß  Polykratef 
den  G  vor  Augen  hatte  vind  gegen  den  Sokr.  des  PI.  polemisierte" 
Nämlich  der  Text  des  Pindarzitats  in  G  84  b  ist  mit  einem  Fehle, 
behaftet:    ßiaitZv    (so    muß    man    akzentuieren)   rb    Si'/.aioTazor    si 
diy.aiwv    xb   ßiaiozarov.      Man    darf   nicht    mit    den    Herausgeber ^ 
korrigieren;  schon  deshalb  nicht,  weil  PI.  N  890a  offenbar  derselbi 
Wortlaut    als    pindarisch    im    Gedächtnis    liegt.     Es    ist    das   gewit 
„befremdend",  und  „vielen  Philologen  werden  sich  die  Haare  sträubeii 
denen  eine  Anführung  aus   dem  Gedächtnis  für  weit  unverzeihlichjj 
gilt    als    ein  aus  einem  ungelesenen  Buche  entlehntes  Zitat,    wei 
es  nur  durch  Nachschlagen  verifiziert  ist.    Pl.s  Verschulden  ist  abi| 
noch  größer."     Er  ist  auf  den  Fehler  aufmerksam  gemacht  werde 
eben    von  Polykrates,    und  hat  sich  nicht  das  Mindeste  darum  b 
kümmert.     Daß    ihm  Polykrates    diesen  Fehler   vorrückte ,    ist   a 
Libanios'  Verteidigung  des  Sokr.  zu  erschließen.    Der  sagt  87,  c 
Worte   Pindars   lauten    bei  Polykrates    anders,    als   „Sokrates"    fj 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    211 

angeführt  hatte ,  und  aus  seiner  Umschreibung  sieht  man ,  daß  er 
selber  Pindar  nicht  nachschlug  und  die  Fassung  ßiaiiov  rö  di/Mio- 
zatov  als  die  richtige  ansah.  Zwar  muß  W,  selber  die  Möglichkeit 
zugeben ,  daß  „nur  Libanios  auf  die  Abweichung  aufmerksam  ge- 
worden, die  zwischen  dem  Texte  des  Polykrates  und  dem  des  PI. 
bestand",  nicht  Polykrates  schon  einen  Fehler  seiner  Vorlage 
heraushob  —  und  diese  Möglichkeit,  wenn  sie  auch  „recht  wenig 
wahrscheinlich  ist",  stellt  alles  wieder  in  Frage.  Auch  fehlt  es 
günstigstenfalls  für  die  Anklageschrift  des  Polykrates  noch  an  einem 
praktisch  verwertbaren  terminus  ante  quem.  Es  haben  auf  sie  be- 
kanntermaßen Lysias  und  Xenophon  Antwort  gegeben.  Auch  daraus 
kommt  uns  aber  keine  Hilfe.  Lysias'  Leben  läßt  sich  bis  aufs 
Jahr  380  herunter  verfolgen  und  mag  vieUeicht  noch  einige  Jahre 
länger  gedauert  haben.  Die  ersten  Kapitel  der  Memorabilien  werden 
auch  den  früheren  80  er  Jahren  angehören.  Doch  bedeutsam,  meint 
W.,  ist  R.  Hirzels  Entdeckung,  „daß  PI.  im  Me  sich  auf  Polykrates 
bezieht".  Und  als  gesichert  läßt  sich  schließlich  hinstellen  (S.  105): 
„Pl.s  G ,  danach  Poh'krates'  Sokrates ,  für  den  an  sich  wohl  das 
Jahrzehnt  393 — 83  möglich  ist ,  die  untere  Grenze  aber  sicherhch 
höher  liegt,  danach  Pl.s  Me.  Pl.s  Reise  fixiert  diese  Daten  un- 
abhängig so :  G  erscheint  nach  39-1,  vor  390,  Polykrates'  Sokrates 
ist  388  da,  der  Me  fällt  bald  nach  386.  Lysias'  Sokrates  wird  auch 
vor  388  fallen."  —  Es  mag  sein,  daß  W.  damit  das  Richtige  ge- 
ti'offen  hat.  Aber  weder  für  das  „vor  390"  des  G,  noch  für  den 
Satz  „Polykrates'  Sokrates  ist  388  da"  finde  ich  einen  Beweis, 
der  mich  überzeugte.  Was  nämlich  W.  II,  82  f.  über  die  Zeit  von 
Pl.s  Reisen  sagt,  finde  ich  schlecht  begründet. 

Pohlenz  (S.  164  f.  A.)  glaubt  annehmen  zu  dürfen,  daß  für 
die  Schrift  des  Polykrates ,  der  sich  offenbar  dem  Konon  und 
Thrasybul  empfehlen  wolle,  was  nach  der  Gefangennahme  Konons 
keinen  Sinn  mehr  gehabt  hätte ,  nur  die  Jahre  393  und  392  zur 
Wahl  stehen.  Darum  dürften  wir  (167)  „auch  wenn  PI.  auf  Poly- 
krates antwortete,  kaum  über  391  herabgehen". 

Hören  wir  auch  noch  Gomperz  (II,  272):  „Spuren  mathe- 
matischer Bildung  waren  in  den  bisher  durchmusterten  Gesprächen 
nicht  anzutreffen.  Im  G  erscheinen  sie  mehrfach,  zum  Teil  in 
enger  Verbindung  mit  der  Ethik."  Dazu  kommt  Pythagoreisches 
und  Orphisches.  Epicharm  wird  angeführt,  desgleichen  ein  anderer 
'sizilischer  oder  italischer  Mann'.  „Kein  einzelnes  dieser  Anzeichen 
ist  an  sich  von  zwingender  Art;  ihre  Vereinigung  aber  im  Zu- 
sammenhange   mit    dem  Fehlen    alles  Derartigen    in    der  schon  be- 

U* 


-212  Constantin  Eitter, 

handelten    Schriftengruppe    besitzt     erhebliche    Beweiskraft.     Wir 
dürfen  vermuten,    daß  der  Verfasser  des  G  bereits  in  Unteritalien 
geweilt  und  dort  in  die  orphische  und  pythagoreische  Sinnesart  ein- 
geweiht  worden    ist ;    mag    er    nun  ebendort  oder  erst  nach  seiner 
Rückkehr,  die  sehr  wohl  vor  der  ersten  siziUschen  Reise  erfolgt  sein 
kann ,    an    dem  Werke    geschaffen   haben.     Je    mehr    wir   uns  dem 
Schlüsse  des  Gesprächs  nähern,  um  so  mehi-  häufen  sich  die  Merk- 
zeichen jenes  Einflusses."     (278:)   „Woher,  so  fragen  wir,  stammt 
diese    alle    Schranken    der    Billigkeit    durchbrechende    Erbitterung 
Pl.s  ?     Man    denkt    zuvörderst  an  die  Hinrichtung  seines  Meisters. 
Und  sicherlich  hat  der  grauenhafte  Vorgang  den  schärfsten  Stachel 
in  seinem  Gemüte  zurückgelassen.    Allein  es  waren  seither,  da  der 
unteritalische  Aufenthalt  dazwischen  fällt,    doch  jedenfalls  mehrere 
Jahre    dahingegangen    —    Jahre,    in    denen    fast    sicherlich"    — ?? 
„die  von  Heiterkeit  durchwehten  Gespräche  entstanden  sind,  deren 
Mittelpunkt  der  Pr  bildet.     Die  Flamme  der  Entrüstung  muß  daher 
neue  Nahrung  gefunden  haben.    Da  ex-innern  wir  uns  der  politischen 
Lage ,    die    durch    den  Seesieg   bei  Knidos  (Hochsommer  394)   ge- 
schaffen war.     Eben  die  Partei,    zu    deren  Führern  Anytos  gehört 
hatte,  triumphierte  damals.    Die  Lakonischen,  zu  denen  Pl.s  Freunde: 
und  Verwandte    zählten ,    waren    der  unterliegende  Teil  und  haben 
sicherlich    manche    schwere  Unbill    erfahren.     Man    feierte    Konon 
der  Sparta    besiegt    und  das  Werk  des  Themistokles ,    Kimon  unqi 
Perikles    durch    die    Wiederaufrichtung   der    langen  Mauern    aufgejj 
nommen  und  gekrönt  hatte,  als  den  Neubegründer  des  Staates  unc 
der    Volksherrschaft.     Eben    davon    hat    auch  Polykrates    in  seine 
gegen  das  Andenken  des  Sokr.  gerichteten  Schmähschrift  gehandeltf ; 
Dem    an    sich    wahrscheinlich  unbedeutenden  Machwerk  mußte  di 
politische  Situation  ein  an  sich  unverdientes  Relief  verleihen,  un' 
darum  hat  es  im  G  seinen  Widerhall  gefunden."  .  .    (287  f.:)  „De 
tiefe  Unwille    über  das  Los,    das  seinem  geliebten  Lehrer  bereite 
ward,    neugeweckt    und    verstärkt    durch  die  Lage  des  Staates  . 
durch  das  giftige  .  .  Pamphlet  des  Polykrates,  hat  einen  Ausbruci 
des   heftigen  Ingrimms  hervorgerufen.     Dieser  kehrt  sich  in  erste 
Linie  gegen  die  athenischen  Staatslenker,  dann  gegen  die  Kunst,  d 
zugleich  ihr  Bildungs-  und  ihr  Herrschaftsmittel  ist,    die  Rhetori' 
Er  spitzt   sich    schließlich    zu    einem  Zweikampf  zu  zwischen  de 
einen  durch  den  Mund  des  Sokr.    sprechenden  PI  und  der  ganze 
Gesellschaft   mit    allen  Bildnern    und  Stimmführern  der  sie  behei 
sehenden  Gesinnung,   —   den  Poeten,    den  Musikern,    den  Jugen 
lohrern.     Auch    die    ehrenwertesten    Elemente    bleiben    nicht    v€ 


>. 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    21 5 

schont."...  (285:)  „Sichere  und  deutlichere  Spuren  der  Ideen- 
lehre wird  man  im  G  vergebens  suchen.  Man  darf  jedoch  getrost 
behaupten,  daß  der  Geist  der  neuen  Lehre  bereits  über  diesem 
Werke  schwebt  .  .  .  Auch  sonst  trägt  das  Gespräch  mehrfach  das 
Merkzeichen  einer  Übergangsperiode  und  entbehrt  auch  nicht  der 
für  eine  solche  charakteristischen  Widersprüche.  .  .  .  (288  f. :)  In- 
mitten des  grandiosen  Schlußgemäldes  vom  Totengericht  reichen 
sich  .  .  die  beiden  Führer  die  Hand,  die  PI."  (weiter)  „durch  das 
Leben  geleiten  werden,  der  Sokratismus  und  der  orphische  Pj^tha- 
goreismus.  Aus  der  Verschmelzung  dieser  Elemente  wird  das 
Denksystem  erwachsen ,  das  die  mittlere  und  Hauptphase  in  der 
Entwicklung  unseres  Philosophen  einnimmt." 

Alle  die  von  den  verschiedenen  genannten  Gelehrten  vorge- 
tragenen Wahrscheinlichkeitsbeweise  überschauend,  kann  ich  fest- 
halten au  den  Ausführungen,  die  ich  (Piaton  I,  S.  94 — 96)  gegeben 
habe :  Die  meiste  Zeit  zwischen  Frühjahr  399  und  Sommer  388 
wird  PL,  glaube  ich,  in  Athen  verbracht  haben,  eines  Augenblicks 
harrend,  der  ihm  Gelegenheit  geben  möchte,  ohne  Selbsterniedrigung 
und  mit  Aussicht  auf  ein  ersprießliches  Wirken  nach  den  sittlichen 
Grundsätzen  des  Sokr.  um  die  öffentlichen  Angelegenheiten  sich 
anzunehmen.  Inzwischen  wird  die  bittere  Erkenntnis  in  ihm  gereift 
sein,  daß  Athen  durch  menschliche  Bemühungen  nicht  mehr  zu 
helfen  sei,  und  daraus  mußte  der  Entschluß  entspringen,  sich  grund- 
sätzlich dem  öffentlichen  Treiben  fernzuhalten ,  das  nur  zwecklos 
seine  Kräfte  aufreiben  müßte,  und  allein  dafür  zu  sorgen,  daß  diese 
und  der  geistige  Besitz ,  den  er  mit  ihnen  sich  erai'beitet ,  nicht 
vergeudet  oder  brach  liegen  gelassen  würden.  Der  Gedanke,  einen 
Kreis  von  jüngeren  Männern  um  sich  zu  sammeln ,  denen  er  sein 
Bestes  mitteilen  könnte ,  damit  sie  einst  vielleicht  in  der  Lage 
wären,  dem  Staate  das  zu  leisten,  worauf  er  verzichten  mußte,  ging 
folgerichtig  aus  solchen  Erwägungen  hervor.  Er  ist  aber  vielleicht 
erst  durch  die  Bekanntschaft  Pl.s  mit  Archytas  und  den  um  ihn 
gescharten  Pythagoreern  Unteritaliens  gezeitigt  worden.  Mit  dem 
Entschlüsse  jedoch ,  um  das  öffentliche  Leben  Athens  sich  nicht 
weiter  zu  kümmern,  war  PI.  wohl  schon  fertig,  als  er  sich  zur  Reise 
nach  Italien  anschickte.  Und  ich  meine ,  der  G  sei  die  feierliche 
Absage,  die  er  an  die  ihm  von  früher  her  nahestehenden  Männer, 
seine  Verwandten  und  Jugendfreunde  richtet,  die  ihn  von  den 
wissenschaftlichen  Studien  abriefen,  in  die  er  sich  immer  mehr  ver- 
tiefte, und  sich  Mühe  gaben,  ihn  zum  Eintritt  in  ihren  politischen 
Klub    zu  bewegen.     Wer  in  Athen  zu  Einfluß  und  Macht  kommen 


214  Constantin  Ritter. 

will,  erklärt  er  ümen  (13a),  der  muß  dem  Volk  von  Athen,  der 
Menge,  sich  möglichst  ähnlich  machen  und  nach  seinen  Wünschen 
und  Launen  sich  richten :  das  will  ich  nicht ;  denn  es  bedeutete 
für  mich  Erniedrigung  und  Entwürdigung.  Er  weiß,  was  die  Auf- 
gabe des  wahren  Politikers  wäre :  'Ich  bin  wohl  einer  der  wenigen 
Athener,  die  die  wählte  Staatskunst  pflegen,  wenn  nicht  der  einzige, 
und  ich  glaube  allein  in  unserer  Zeit  für  das  Wohl  des  Staates 
tätig  zu  sein'  läßt  er  (21  d)  seinen  Sokrates  sagen.  Aber  er  darf 
nicht  als  Arzt  den  Kranken  sich  aufdrängen  (vgl.  ßp  VI  89  b) ;  sie 
würden  ja  die  bitteren  Arzneien,  die  allein  er  ihnen  als  heilsam 
bieten  könnte,  niemals  annehmen  (21  e).  —  Manchmal  bin  ich  ver- 
sucht zu  glauben,  was  z.  B.  auch  Schleiermacher  annahm,  die  Sätze 
des  G  über  den  alleinigen  Wert  der  Eechtschaffenheit  seien  der 
Nachhall  des  mit  Dionysios  I  in  Syrakus  geführten  Gesprächs. 
Allein  wahrscheinlicher  ist  mir  doch,  daß  der  Dialog  schon  vor 
Pl.s  Abreise  von  ihm  verfaßt  sei.  Es  mag  aber  sein ,  daß  er  ihn 
nicht  ganz  abgeschlossen  hatte  und  ihm  nun  noch  einige  An- 
spielungen einverleibte ,  die  eben  aus  den  Erfahrungen  der  Eeise 
stammen." 

„Es  lassen  sich  für  den  Ansatz  des  G  nach  Pl.s  Rückkehr  aus 
Sizilien  noch  verschiedene  Indizien  anführen.    Paul  Schuster  macht 
in    einer  Untersuchung    des  Jahres  1874   (ßhein.  Mus.  29  S.  618) 
aufmerksam    auf   die   'gerade   im  G  so  häufig  auftretenden  B'erück- 
sichtigungen    italischer    und  sizilischer  Berühmtheiten'  5    er  rechnet 
dazu  das  Zitat  aus  Epicharmos,   die  Anspielung  auf  den  Agrigentinei ( 
Empedokles    und    die    Pythagoreer,    den    ebenfalls    pythagoreischer 
Einfluß    verratenden    Schlußmythus ,     die    Erwähnung    des    KocheSj 
Mithaikos,    der    über    die    sizilische  Küche    ein  Werk    verfaßt   hai 
und  überhaupt  die  auffallend  häufigen  Exkurse  über  die  oi/^o/roa' 
den  Stolz  Süditaliens.     (Auch  dai-auf  ist  hingewiesen  worden,    dal 
die  Stelle  09  a  Tavva  r^f^Jp  ovro)  cpavivia  /MTtyEiai  y.al  dsdszai,  s 
y.ai  —  so  wird  wohl   zu  schreiben  sein  —  ayQOL/.oieQov  zl  elneX 
eOTi,    oidt^nolg   y.al   aSaj-tarznoig   loyoig    merkwürdig    anklinge    a: 
den    berühmten  Ausspruch    des    älteren  Dionysios ,    sein  Reich    S€ 
wie  mit  stählernen  Ketten  verankert :  aöäf-iavTL  oder  adaf-iaviivoi 
deGf.w7g  dedeith'ijV  bei  Diod.  XVI,  5,  4  und  70,  2  bzw.  Plut.  Dio  7). 
Immisch  (N.  Jb.  1899   S.  448)    erinnert,    daß    sich    50b   (vgl.   ds 
Scholion)  ein  sizilischer  Idiotismus  finde,   den  Hirzel  Dialog  I  241 
beobachtet  habe;   „vgl.  auch  Sauppe  zur  Stelle". 

Gegen    den   Ansatz    des   Dialogs    unmittelbar    nach  Sokr.'  Tc 
spricht  auch  die  geflissentliche  Ausführlichkeit,  mit  der  PI.  den  Sok 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    215 

im  Streite    mit  Polos  Mahnungen   über    die  Methode    der  richtigen 
dialektischen  Verständigung  geben  läßt. 

Wichtig  für  die  philosophische  Beurteilung  des  G  ist  das  Ver- 
hältnis   seiner    ethischen   Sätze    zu    den   in    anderen  Dialogen    ent- 
haltenen ,    namentlich    zu    der  Lustlehre   des  Pr.     Der  Unterschied 
der  Darstellung  ist  augenfällig.     Aber  ob  es  nicht  bloß  ein  Unter- 
schied der  Darstellung  ist?    Ich  glaube  das.     Schon  beim  Pr  oben 
(S.  82  f.)  habe  ich  die  Sache  berührt.    Um  mich  weiter  verständlich 
zu    machen ,    schreibe    ich    (mit   wenigen   geringen  Änderungen  des 
Ausdrucks    behufs  Vereinfachung)    einige    Seiten    aus    dem   Kapitel 
meines  Piaton  heraus,  in  dem  ich  „die  Ethik  der  früheren  Dialoge, 
vornehmlich    des  Gorgias"    behandelt    habe.      „Man    kann  die  Ethik 
hauptsächlich  unter  zwei  Gesichtspunkten  abhandeln,    entweder  als 
Pflichten-    und    Tugendlehre    oder    als    Güterlehre.      Bei    einfachen 
Kulturverhältnissen  wird   die  abwechselnde  Anwendung  beider  Ge- 
sichtspunkte   ohne    irgendwelchen    schreienden    Widerspruch    statt- 
finden können  .  .  .    Ganz  selbstverständlich  wird  der  gelobt,  genießt 
Achtung  und  Ehre  und  wird  als  gut  anerkannt ,    der  die  Sitte  hält 
in    menschlichen    und   göttlichen  Dingen,    wird  dagegen  der  gering 
geachtet,    gemaßregelt  und  als  schlecht  bezeichnet,   der  sich  gegen 
sie    setzt   und   sie  bricht.     Für  den  einzelnen  Menschen  aber,    der 
sich    über    seine  Lage    besinnt ,    ist    es  ohne  weiteres  fühlbar,    daß 
Gesetzlichkeit  ihm  Nutzen,  Übertretung  von  Sitte  und  Gesetz  ihm 
Schaden    bringt.     Bei    dieser    naturgemäß    engen    und,    solange  das 
Individuum  noch  gar  nicht  aus  der  Masse  hervortritt,  unauflöslich 
scheinenden  Verbindung    des    von    der  Sitte  Vorgeschriebenen  und 
durch   religiösen   Glauben    Geheiligten    mit    dem  Nützlichen    könnte 
man  die  beiden  Begriffe  des  Sittengemäßen  (rof-iifior)  und  des  Nütz- 
lichen   als   Wechsel  begriffe    behandeln:   jedenfalls    umschreiben    sie 
denselben  Ki-eis.     Ahnliches    galt    für  Athen    bis    auf  die  Zeit   der 
Perserkriege  ,■    worauf    dann    die    häufiger ,    enger    und    vielseitiger 
werdende  Berührung  mit  anderen  Städten  und  Völkern  und  die  Um- 
gestaltung   der  alten  Erwerbs-  und  Besitzverhältnisse  jene  geistige 
Gärung  hervorbrachte,  die  oben  geschildert  worden  ist.    Jetzt  treten 
in  der  Skepsis  und  den  individualistischen  Theorien  der  Sophisten 

[  das  namens  der  Gesamtheit  von  der  Sitte  Geforderte  und  das  von 
dem  einzelnen  für  sich  Begehrte  auseinander.    Auf  dieser  Stufe  der 

'  Entwicklung  scheint  die  Pflichtenlehre  dem  Menschen  vielfach  ganz 
anderes  vorzuschreiben,  als  was  ihm  die  Güterlehre  Verlockendes 
zeigt.  Sokr.  und  PI.  aber  geben  sich  alle  Mühe,  den  Riß,  der  so 
zwischen  beiden  entstanden  ist,  wieder  zu  schließen. 


216  Constantin  Jlitter. 

Die  bisher  aus  den  Dialogen  Pl.s  herausgestellten  ethischen 
Sätze  geben  Anlaß  zu  einer  Darstellung  der  Ethik  unter  beiden 
Gesichtspunkten.  Wenn  im  La  Ch  Eu  eine  Definition  der  Tugenden 
Tapferkeit,  Besonnenheit,  Frömmigkeit  gesucht  wird ,  so  bedeutet 
die  Untersuchung  nicht  bloß  so  viel:  was  meint  man  mit  diesen 
Wörtern  ?,  sondern  es  wird  damit  gefragt ,  wie  sie  verstanden 
werden  müssen,  damit  man  sie  als  Richtschnur  des  Handelns  an- 
sehen, ihren  Inhalt  als  Pflicht  vorschreiben  könne.  Und  wenn  als 
Kern  von  jenen  allen  und  von  den  übrigen  Tugenden  die  Erkenntnis 
des  Guten  oder  für  den  Menschen  Nützlichen  nachgewiesen  wird 
und  dabei  einleuchtet ,  daß  ich  nur  dann  beurteilen  kann  was  mir 
nützlich  ist ,  wenn  ich  mein  eigenes  Wesen  ordentlich  kenne ,  so 
bedeutet  das :  die  Selbstprüfung  ist  Pflicht  für  den  Menschen. 
Anderseits  werden  alle  Tugenden,  wird  die  Erkenntnis  ihres  Wesens 
und  die  Selbsterkenntnis  unter  den  Gesichtspunkt  der  Eudämonie 
gestellt  und  als  notwendige  Bedingung  zu  ihrer  Erlangung  oder  gar 
als  das  Wesentliche  an  diesem  Zustand  vollster  Befriedigung  hin- 
gestellt. In  der  Überzeugung  vom  Zusammenfallen  der  sittlichen 
Trefflichkeit  mit  der  Eudämonie  knüpft  sich  aufs  neue  die  enge 
Verbindung  der  drei  Begriffe  Tugend,  Pflicht  und  Glück,  die  der 
ursprünglichen  Volksmeinung  eigen,  aber  allmählich  durch  die  Heraus- 
lösung des  Individuums  aus  dem  Stammes.-  oder  Volksbewußtsein 
gelockert  und  durch  skeptisch  -  philosophische  Betrachtungen  in 
Frage  gestellt  war.  Man  kann  wieder  sagen  —  nicht  bloß  wie 
Polos  zugestand:  wer  gerecht  handelt,  d.  h.  tugendhaft  sich  be- 
währt, verdient  dafür  Lob,  das  Gegenteil  ist  schändlich  (alaxQOv : 
tadelnswert),  sondern :  die  Tugend  hat  ihren  Segen.  Der  zerspaltene 
Begriff  des  Guten  schließt  sich  wieder  zu  einer  festen  Einheit  zu-' 
sammen,  denn  das  mir  Zuträgliche,  Nützliche  (das  eudämonistisch 
Gute)  ist  eben  das  Sittliche  (oder  sittlich  Gute),  meine  ccqbt^J  macht  ^ 
mein  Glück  aus.  Wir  werden  im  Symposion  auf  den  Satz  stoßen 
„durch  den  Besitz  von  Gütern  sind  die  Glücklichen  glückhch",  im 
G  fanden  wir  den  Satz,  gut  sei  ein  Mensch  dadurch,  daß  er  Gutes 
(wörtlicher  übersetzt :  Güter)  an  sich  habe  (ayad-cüv  nagovola). 
Diese  scheinbar  verschiedenen  Sätze  vereinigen  sich  in  demselben 
Grundgedanken:  daß  eben  sittliche  Güte  und  höchstes  Glück  des 
Lebens  notwendig  zusammenfallen,  einem  Gedanken,  der  in  der  Rj 
und  den  N  als  Summe  aller  menschlichen  Weisheit  bezeichnet  wirc 
und  nach  diesen  Schriften  zum  Eckstein  aller  politischen  Ordnungei 
gemacht  werden  soll. 

Darum  ist  es  wieder  nichts  als  ein  Mißverständnis,  wenn  mai 


i 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    217 

jenen  Satz  des  G  logisch  angefochten  hat  und  meint,  PL  sei  hier 
durch  den  Doppelsinn  des  Wortes  gut  zu  einer  groben  Begriffs- 
verwechslung verführt  worden.  Nein,  so  ist  es  nicht ;  sondern  PI. 
hat  festgestellt,  daß  alles,  was  wirklich  gut  ist  und  streng  genommen 
diese  Bezeichnung  verdient,  etwas  Innerliches,  im  Menschen  selbst 
und  nicht  in  äußerlichen  Dingen  und  Verhältnissen  Liegendes  ist. 
Es  gibt  für  ihn  keine  anderen  Güter  als  geistig  sittliche,  oder  das 
Gute  ist  ihm  zugleich  —  nicht  ein  Gut,  sondern  das  alleinige  wahre 
Gut.  Aber  es  ist  völlig  verkehrt,  wenn  man  sich  einbildet,  der 
Grund  der  Gleichsetzung  des  eudämonistisch  und  sittlich  Guten  sei 
für  ihn  mit  dem  herkömmlichen  Wortgebrauch  gegeben  :  umgekehrt, 
das  Recht  des  Wortgebrauchs ,  in  dem  die  beiden  nicht  unter- 
schieden sind,  wird  für  ihn  durch  die  Erkenntnis  ihres  inhaltlichen 
Zusammenfallens  begründet;  wäre  die  verbreitete  Anschauung  richtig, 
nach  der  Reichtum,  Gesundheit,  Schönheit,  Kraft,  geistige  Gewandt- 
heit usw.  Güter  sind:  Dinge,  die  doch  der  sittlichen  Tüchtigkeit 
dessen,  der  über  sie  verfügt,  abträglich  sein  können,  dann  dürfte 
man  nicht  sagen,  daß  durch  solche  'Güter'  der  Mensch  gut  sei." 
Hiemit  sind  namentlich  die  meisten  Erklärungen  von  G  o  m  p  e  r  z 
rundweg  abgelehnt.  Dieser  kann  übrigens  als  Wortführer  der 
herkömmlichen  Auffassung  dieser  Dinge  betrachtet  werden ,  und 
"wenigstens  unter  den  Philologen  werden  nur  wenige  seinem  Satz 
widersprechen  (S.  279):  „In  der  Tat  gehört  der  G  in  argumentativer 
Rücksicht  zu  dem  Schwächsten,  was  aus  Pl.s  Feder  geflossen  ist." 
Bei  seiner  „Durchmusterung  der  hauptsächlichen  Fehlschlüsse" 
bringt  er  gleich  anfangs  folgendes  vor:  „Unschön  ist  nur  dasjenige, 
was  entweder  momentane  Unlust  oder  dauernden  Schaden  hervor- 
bringt. Da  nun  das  Unrechttun  gewiß  nicht  das  Unlustbringendere 
ist,  so  muß  es  das  Schädlichere  sein.  Wer  sieht  nicht,  daß  das 
Urteil:  'Diese  oder  jene  Handlungsweise  ist  unschön'  einzig  und 
allein  das  Mißfallen  des  oder  der  Urteilenden  zum  Ausdruck 
bringt  und  über  die  Gründe  dieses  Mißfallens  ganz  und  gar  nichts 
aussagt.  Oder  doch  höchstens  so  viel,  daß  das  Mißfallen  ein 
irgendwie  begründetes  ist.  Gewagt  wäre  schon  das  weitere  Zu- 
geständnis ,  daß  die  fragliche  Handlungsweise  nicht  mit  Grund  als 
mißfällig  gelten  könnte,  wenn  sie  nicht  dem  Wohlergehen  empfindender 
Wesen  irgendwelchen  Eintrag  täte.  (Denn  damit  wäre  das  Prädikat 
'unschön'  bereits  aus  dem  ästhetischen  Gebiet  ausgeschlossen  und 
auf  das  ethische  und  innerhalb  dieses  Bereiches  wieder  auf  die 
Ethik  der  Nützlichkeit  beschränkt.)  Allein  auch  dies  zugegeben; 
welche  die  Wesen  sind,  denen  das  verübte  Unrecht  Schaden  zufügt, 


218  Constantin  Ritter. 

ob  die  Unrechtübenden  und  niclit  vielmehr  die  Unrechtleidenden, 
die  Entscheidung  darüber  vermag  keine  Schwarzkunst  aus  jenem 
Urteil  hervorzuzaubern.  PI.  glaubt  in  der  gangbaren  Ansicht  die 
sokratische,  den  Glauben  an  die  unselig  machende  Kraft  des  Un- 
rechts, vorzufinden,  aber  nur  darum,  weil  er  sie  früher  selbst  hinein- 
gelegt hat."  So  steht  es  nicht.  Vielmehr  über  die  Gründe  des 
Mißfallens  hat  sich  Sokr.  mit  Polos  zum  voraus  verständigt.  Dieser 
hat  seiner  Erklärung  zugestimmt:  unser  Mißfallen  errege  irgend 
etwas  entweder  durch  seine  Unannehmlichkeit,  durch  die  im  Augen- 
blick daran  geknüpften  Unlustgefühle,  oder  durch  seine  später  zu- 
tage tretende  Schädlichkeit.  Und  die  Frage,  die  auf  Grund  dieses 
Zugeständnisses  dem  Polos  vorgelegt  wird,  ist:  ob  sich  das  Urteil, 
das  er  selber  fällt ,  'Unrecht  tun  ist  schimpflicher  als  Unrecht 
leiden',  widerspruchslos  vereinigen  läßt  mit  dem  geheimen  Ver- 
langen ,  die  Macht  zu  besitzen ,  um  ungestraft  Unrecht  üben  zu 
können.  Über  das  Subjekt  der  Lust-  und  Unlustgefühle ,  durch 
deren  vergleichende  Abwägung  die  Entscheidung  getroffen  werden 
müßte,  kann  gar  kein  Zweifel  obwalten.  Es  ist  nicht  richtig,  daß 
PL,  der  doch  wahrhaftig  mit  seiner  Zeichnung  eines  Polos  und 
Kallikles  den  feinsten  psj'chologischen  Scharfblick  beweist,  „in  der 
gangbaren  Ansicht  die  sokratische  vorzufinden  glaubt".  Keineswegs. 
Sondern  er  geht  darauf  aus,  zu  zeigen,  daß  die  gangbare  Ansicht 
in  sich  widerspruchsvoll  und  haltlos  ist  und  darum  durch  eine 
andere ,  die  sokratische ,  ersetzt  werden  muß.  —  Wenn  der  Ge- 
sichtspunkt des  Nutzens  entscheiden  soll,  z.  B.  bei  der  Bestrafung 
eines  Übeltäters,  so  fragt  G.  (S.  281)  noch  einmal:  für  wen  die  ! 
gerechte  Strafe  nützlich  sein  solle.  „Warum  gerade  für  den  Ge- 
straften und  nicht  vielmehr  für  die  Gesellschaft ,  deren  Sicherung 
doch  einer  der  unbestrittensten  Strafzwecke  ist?"  Im  übrigen 
meint  er,  von  „unheilbaren"  Verbrechern,  deren  Bestrafung  nach 
der  mythischen  Darstellung  am  Schluß  des  Dialogs  lediglich  zum 
abschreckenden  Beispiel  für  andere  dienen  solle,  durfte  PI.  gar  nicht 
reden.  Damit  widerspreche  er  seiner  vorher  aufgestellten  These. 
Dann  fügt  er  bei:  „Wird  doch  dem  Gewohnheitsverbrecher  durch! 
die  Strafe  mindestens  ebensoviel  'Gerechtes'  zuteil  wie  dem  Neuling 
in  der  verbrecherischen  Laufbahn,  und  soll  doch  das  'Gerechte' 
seiner  Natur  nach  für  den  Gestraften  (gleichviel  wie  dieser  be- 
schaffen ist)  Nützliches  und  Heilsames  sein."  Wer  so  fragen  kann, 
muß  erinnert  werden,  daß  menschliche  Richter  in  der  Meinung  über 
die  Besserungsfähigkeit  eines  Schuldigen  sich  täuschen  können. 
Der    als    „unverbesserlich"    Erkannte   jedoch    wird    in    einem    nach 


i 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    219 

platonischen  Grundsätzen  geordneten  Staat  hingerichtet.  Damit 
nützt  man  aber  nicht  bloß  „der  Gesellschaft",  sondern  ihm  selbst. 
Wenn  man  seine  Seele  auch  nicht  mehr  bessern  kann,  so  bewahrt 
man  sie  wenigstens  vor  schlimmerer  Entartung.  Wenn  aber  die 
Hinrichtung  für  ihn  die  größte  Wohltat  ist,  eben  weil  er  in  diesem 
irdischen  Leben  durch  Strafmaßregeln  nicht  mehr  gebessert  werden 
kann,  so  steht  es  anders  bei  solchen,  die  der  Besserung  noch  fähig 
sind.  Deshalb  ist  der  oben  von  G.  in  Klammern  gesetzte  Satz  über 
den  Bestraften  ,,gleichviel  wie  dieser  beschaffen  ist"  zum  mindesten 
mißverständlich,  —  Einspruch  erheben  muß  ich  noch  gegeia  einen 
Satz,  der  S.  284  als  Grundlage  zur  Bemängelung  einer  platonischen 
Beweisführung  dient:  „Körperkraft  und  Gesundheit  gelten  auch  PL 
als  Gutes  oder  Güter."  Wenn  man  „nicht"  hineinsetzte,  wäre  ich 
auch  nicht  ohne  weiteres  einverstanden ,  aber  immerhin  eher  als 
mit  dieser  einfachen  positiven  Behauptung. 

Wie  schon  angedeutet,  stimmen  die  meisten  Erklärer  eher  mit 
G.  als  mit  mir  übereiu.  Indem  ich  auch  von  anderen  noch  einige 
Sätze  hier  gebe ,  will  ich  mich  mit  Gegenbemerkungen  möglichst 
beschränken.  Zunächst  aus  Pohlenz.  (143:)  Im  Pr  „nahm  PL, 
um  die  Einheitlichkeit  des  ethischen  Prinzips  zu  wahren,  die  Gleich- 
setzung von  ayad^ov  und  7]dc  vor".  Die  „wahren  7^öea  sind  von 
den  ayadä  nicht  zu  trennen.  Aber  bald  sah  er  das  Gekünstelte 
dieser  Theorie  ein.  Konnte  man  wirklich  dem  Schlemmer,  der  durch 
seine  Unmäßigkeit  sich  eine  Krankheit  zuzieht,  für  den  Augenblick 
des  Essens  das  Lustgefühl  absprechen ,  nur  weil  seine  Handlung 
für  die  Folgezeit  einen  Überschuß  an  Unlust  ergab  ?  Hier  war  also 
doch  (trotz  Pr  53  c)  ein  Gegensatz  von  ayad^ov  und  r^dv  anzunehmen. 
Und  andrerseits ,  auch  wenn  die  Operation  mit  Bücksicht  darauf, 
daß  sie  für  die  Dauer  Gesundheit  und  Lust  bringt ,  ein  r^dovr^v 
noiovv  genannt  werden  konnte ,  so  war  es  doch  eine  Verkennung 
ihres  Wesens,  wenn  man  sie  darauf  hin  als  r^dv  statt  als  XvTCiqQOv 
bezeichnete.  Also  hatten  die  noX'koi  doch  recht,  wenn  sie  meinten, 
OTL  ravta  ayad^ct  f.i6v  iaiLV  dviagd  de  (Pr  54 a)  .  .  So  verwendet 
denn  mit  Absicht  PL  grade  das  Beispiel  der  Operation ,  um  sich 
zu  korrigieren  und  zuzugeben,  daß  hier  wirklich  ein  Widerstreit 
zwischen  r^öv  und  io(pa'/uf.iov  vorliegt  (78b,  79a,  80c,  25  c).  Im  Pr 
hatte  er  die  entgegengesetzte  Anschauung  mit  dem  Hinweis  be- 
gründet, als  Ziel  (cü.og)  schwebe  die  Lust  vor,  und  erklärt,  das 
Werturteil  ayad^op  bezeichne  nur,  daß  die  Handlung  diesem  Ziele 
diene.  Daß  dies  eine  Degradation  des  Guten  bedeute,  wurde  ihm 
bald   klar,    und    so  ist  ihm  im  G  das  Gute  zum  positiven  Ziel  ge- 


220  CoBstantin  E-itter. 

worden  (99  e),  und  die  ärztliche  Kur  wird  jetzt  nicht  mehr  als  gut 
gewertet ,  weil  sie  Lust  verschafft ,  sondern  weil  sie  fVexa  tov 
nyadov  geschieht  (67  c — 68  b)."  (14G :)  „Die  Einheitlichkeit  des 
Lebenszieles  hatte  PI.  im  Pr  erweisen  wollen.  Das  war  berechtigt. 
Aber  teuer  hatte  er  diese  durch  die  Gleichsetzung  von  rjdv  und. 
cyai>6v  erkauft.  Tatsächlich  waren  beide  von  Grund  aus  ver- 
schieden .  .  Und  mit  einem  Schlage  wurde  es  ihm  klar:  Wer  ein 
festes  Fundament  für  die  Sittlichkeit  errichten  wollte ,  der  durfte 
nicht  die  wahre  Lust  zum  Ausgangspunkt  nehmen,  die  das  sittliche 
Handeln  begleitet  und  zum  glückseligen  Leben  gehört;  er  mußte 
davon  ausgehen,  daß  die  Lust,  die  von  den  Menschen  zumeist  er- 
strebt wird ,  mit  dem  sittlichen  Ziele  nichts  zu  tun  hat ,  ja  von 
diesem  ablenkt  und  das  größte  Hindernis  für  dieses  bildet."  —  ?? 
Ganz  einverstanden  bin  ich  natürlich  mit  dem,  was  P.  S.  152  über 
den  Pfad  der  Sittlichkeit  schreibt:  „Wer  ihn  geht,  hat  vielleicht 
Schmerzen  und  Unrecht  zu  tragen  und  erfährt  Spott  und  Hohn 
dazu,  aber  sein  Leitstern  ist  das  Gute,  und  der  führt  ihn  sicher, 
wahrt  ihm  im  Leben  die  Gesundheit  der  Seele  und  bringt  ihm  wohl 
auch  im  Jenseits  den  Lohn."  Auch  mit  dem  Satz  S.  157:  „Daß 
der  Intellekt  allein  das  Handeln  bestimmt  und  der  Mensch,  der  das 
Gerechte  weiß,  ohne  weiteres  gerecht  ist,  steht  für  PI.  hier  so  fest 
wie  im  Pr  (p.  460)."  Nur  meine  ich,  aus  diesem  Intellektualismus 
ergebe  sich  die  Gleichsetzung  des  ayaO^öv  mit  dem  ridv  (=  noLOvv 
evöaif-ioviav). 

Prächter  schließt  sich  mit  seiner  Kritik  (S.  257 — 59)  ziem- 
lich eng  an  Gomperz  an.  Doch  meint  er:  „Daß  PL  diese  hand- 
greiflichen Argumentationsfehler  unbewußt  begangen  haben  sollte, 
ist  ausgeschlossen."  Er  meint,  es  handle  sich,  ähnlich  wie  bei  den 
Beweisen  Zenons  gegen  die  Möglichkeit  der  Bewegung ,  um  eine 
„dialektische  Bravourleistung",  wobei  die  Frage,  „ob  der  Urheber 
solcher  Argumente  sich  innerlich  zu  ihnen  bekennt,  keine  RoUeJ 
spiele"  ;  „um  Argumente,  die  in  der  Debatte  als  deren  integrierende, 
den  triftigen  Beweisen  völlig  gleichgestellte  Bestandteile  figurieren,! 
und  mit  denen  der  Gegner  sich  abfinden  mag,  so  gut  er  kann". 
Diese  Auslegung  scheint  mir  denn  doch  mit  dem  furchtbaren  Ernst] 
der  Stimmung  des  G  unvereinbar. 

Gegen    die  Sätze  P.s    auf  S.  259   seien  noch  einige  besondere! 
Erklärungen  gerichtet.    Zu  00  e — 99  b  bemerkt  er:   „Hier  ließe  sich] 
zunächst  die  Behauptung  in  Zweifel  ziehen,  daß  Gute  und  Schlechtej 
in   der  Quantität  von  Lust  und  Unlust  einander  im  ganzen  gleich- 
stehen."    Darauf  kommt    es    gar  nicht    an.     Dann  aber:    Es   „läßlj 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PL  erschienenen  Arbeiten.    221 

sich  sagen,  daß  die  Guten  gut  sind  durch  Gegenwart  des  Guten  — 
als  Qualität  (vgl.  06  d) ,  aber  selbstverständlich  nicht  durch  die 
Gegenwart  von  Gütern,  die  man  besitzt  und  genießt,  und  zu  denen 
auch  Körperkraft,  Gesundheit,  Reichtum  usw.  gehören.  Die-  Lust 
wird  jedermann  nur  zu  den  Gütern  der  letzteren  Art  zählen  und 
sie  nicht  mit  dem  Guten,  das  gut  macht,  identifizieren.  Auf  der 
Voraussetzung  einer  solchen  Identifikation  beruht  aber  der  ganze 
Beweis.  Unter  Benutzung  einer  Eigentümlichkeit  der  griechischen 
Sprache  .  .  wird  im  1.  Satz  ayaO^uv  durch  aya^iov  ersetzt  und  der 
Gegner  alsdann  durch  die  Parallele  -/.aloi  und  y.dl?,og  sicher  ge- 
macht. Wenn  je  bei  einem  platonischen  Paralogismus,  so  liegt  in 
diesem  FaUe  die  Absichtlichkeit  klar  zutage.  Tatsächlich  nimmt 
KaUikles  an  der  Deduktion  keinen  logischen  Anstoß."  —  Kallikles 
kann  das  nicht.  Denn  er  will  die  Lust  eben  nicht,  wie  angeblich 
„jedermann",  zu  den  Gütei'n  rechnen,  deren  Besitz  gleichgültig  wäre 
für  die  Entscheidung,  ob  ein  Mensch  als  dyad^og  anerkannt  werden 
kann.  Einen  armen  Schlucker,  einen  Schwachen,  der  sich  gegen 
drohende  Übermacht  nicht  zu  helfen  weiß  oder  auf  Kampfmittel 
verzichtet,  die  zu  brauchen  seine  „unmännliche  Philosophie"  ihm 
verbietet,  verachtet  er  gründlich  und  hält  er  für  schlecht.  Die 
Mächtigen,  die  ihi'e  Macht  dazu  brauchen,  alle  ihre  Lüste  und 
Begierden  zu  befriedigen ,  sind  ihm  die  Guten ,  und  gut  sind  sie 
eben  deshalb,  weil  sie,  wie  man  sagt,  „ihr  Leben  genießen".  So  ist 
es  wü-klich  der  sinnliche  Genuß,  dessen  nagovaia  sie  gut  macht. 
Es  ist  kein  Paralogismus ,  sondern  ein  trefflich  angelegter  und 
wenigstens  für  mich  ganz  überzeugend  geführter  Beweis,  wodurch 
Sokr.  den  Kallikles  widerlegt. 

Im  Streit  um  die  Richtigkeit  der  Beweisführungen  des  G  greift 
man  wohl  auch  zu  Lutoslawskis  Origin  aud  growth  of  Plato's 
Logic.  Aber  da  ist  wieder  nicht  viel  zu  holen.  Man  sieht  schon 
aus  dem  Register,  daß  L.  dem  G  keine  sorgfältige  Beachtung  ge- 
schenkt hat.  Es  gibt  nur  an:  „style  155,  167;  form:  393,  486; 
date:  189;  relation  to  Ap:  214;  Cr:  202,  214;  Ch  :  203,  Pr:  195, 
207,  213—5;  Me :  213—5;  Eus :  213;  Cra:  215,  221,  227—9, 
23-1-2;  Sy:  239,  243;  Phn:  262,  274,  275;  Rp :  267,  270,  272—3, 
275,  281,  288,  321;  Phs:  356;  convenient  Standard  of  stylistic 
comparison :  191."  Ich  ziehe  einiges  von  dem  heraus,  was  auf 
S.  213—217  zu  finden  ist.  (213:)  „Die  schriftstellerische  Gewandt- 
heit, die  im  G  entfaltet  wird,  erreicht  einen  höheren  Grad  als  in 
den  kleinen  Dialogen  und  selbst  als  in  Pr,  Me  oder  Eus"  —  vgl. 
damit  Wilamowitz  I  S.  210:   „Seinen  Stoff  zu  gliedern  versteht  PI. 


222  Constantin  Ritter. 

noch  unvollkommen  .  .  Schon  im  Me  ist  der  Fortschritt  sehr  groß 
und  dann  ist  die  Meisterschaft  erreicht"  —  „PL  ist  jetzt  auf  eine.] 
Stufe  formaler  Meisterschaft  angelangt,  die  an  die  höchste  Schönhei 
heranreicht,  die  durch  die  menschliche  Sprache  erzielt  werden  kann 
und  die  vielleicht  nur  durch  PI.  selbst  überschritten  worden  ist  in 
Phn,  Plis  und  Abschnitten  des  Sy,  der  Rp  und  des  Th.  —  Di( 
Lehre  der  Dialektiker,  die  im  Eus  als  Schatzmeister  des  Wisseni 
bezeichnet  waren,  ist  jetzt  personifiziert  und  der  'Philosophie"  zu 
geschrieben.  Diese  Philosophie  wird  geliebt  mehr  als  alle  mensch 
liehen  Wesen  und  ist  mit  ewigen  Wahrheiten  begabt ,  die  sie] 
niemals  ändern  (82  a).  Die  Macht  dieser  Wahrheiten  ist  auf  lanse 
eigenes  Bewußtsein  gegründet,  und  kein  Mensch  kann  ihnen  wider 
sprechen,  ohne  daß  er  sich  selbst  widerspräche  (82b).  Und  dei 
treuen  Gefolgsleuten  dieser  ihrer  Königin  verspricht  PI.  nach  den 
Tod  ein  seliges  Leben,  gesondert  von  anderen  menschlichen  Wesei 
(26  c).  Darin  verrät  sich  noch  ein  jugendlicher  Egoismus,  den  e 
später  aufgab,  als  er  die  Philosophen  einlud,  gleich  Göttern  herab 
zusteigen  unter  die  Sterblichen ,  um  sie  ein  besseres  Leben  zi 
lehren.  —  Der  Unterschied  zwischen  wahrer  Meinung  und  wissen 
schaftlicher  Erkenntnis,  der  im  Me  gefunden  wurde,  wird  hier  au 
die  Kunst  der  Überredung  angewandt  und  führt  zur  Unterscheidung 
von  zwei  Arten  der  Rhetorik,  deren  eine  auf  Erkenntnis,  die  ander( 
auf  Glauben  beruht  (54  e):  Erkenntnis  allein  ist  untrüglich  (54  d) 
während  der  Glaube  wahr  oder  falsch  sein  kann.  In  voller  Überein 
Stimmung  mit  dieser  entschiedeneren  Trennung  von  Wissen  un( 
Meinen,  unterscheidet  PI.  klarer  als  im  Ch  zwischen  (214)  theo 
retischen  und  angewandten  oder  praktischen  Wissenschaften  (50  c  bii 
51  d),  und  betont  er  die  Wichtigkeit  der  Begrififseinteilung  (00  d).  — 
Das  Schlußverfahren  geht  von  zugestandenen  Prämissen  aus,  ent 
sprechend  der  im  Me  gegebenen  Vorschrift,  und  die  logische  Ver 
knüpfang  wird  sorgfältig  nachgewiesen  mittels  logischer  Termin 
(98  e).  Unvermeidliche  Wiederholungen  werden  mit  dem  logische: 
Zwecke  entschuldigt  (99  a  vgl.  08  d).  Das  ergibt  die  Vorstellung 
eines  Verfassers,  der  an  eigene  Lehrtätigkeit  gewöhnt  ist  und  di 
Wahrheiten  schon  gefunden  hat,  die  er  seinen  Hörern  zu  vermittel; 
wünscht ,  während  er  vorgibt  sie  neu  zu  suchen  im  Verein  m  | 
seinen  Schülern.  Was  in  Ap  (30 d)  und  Cr  (49  ac)  als  persöii 
liehe  Überzeugung  ausgesprochen  wird,  daß  man  unter  keine i 
Umständen  Böses  tun  dürfe,  wird  hier  als  wohlbegründete  wisse] ji 
schaftliche  Erkenntnis  hingestellt  (09  a)  und  so  weit  ausgedehrfc 
daß    es    sogar   die  Notwendigkeit   der  Bestrafung  für  den  Fall  d« 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  tlber  PL  erschienenen  Arbeiten.    223 

Unrechttuns  in  sich  schließt  (82  b,  27  b).  Der  Zweck  des  mensch- 
lichen Lebens  ist  nicht  Lust,  wie  es  im  Pr  zu  sein  schien,  sondern 
das  Gute  (13  d).  Pflicht  des  Staatsmanns  ist  es,  das  Volk,  das  er 
leitet,  besser  zu  machen.  Im  Pr  und  Me  hielt  PL  noch  an  der 
gemeinen  Überzeugung  fest,  Perikles  und  Themistokles  seien  große 
und  weise  Männer  gewesen  .  .  Aber  jetzt,  auf  der  Höhe  der  neu 
begründeten  Philosophie,  erkühnt  sich  PL,  zu  behaupten,  diese  Götzen 
der  Athener  seien  schlechte  Staatsmänner  und  Volksverderber  ge- 
wesen (15  e).  Diese  kecke  Mißachtung  der  Männer,  die  gemeinhin 
als  die  größten  (215)  Bürger  Athens  gepriesen  wurden,  zeigt,  wie 
schnell  die  Kluft  zwischen  dem  gewöhnlichen  Menschenverstand 
und  den  Lehren  der  Philosophie  für  PL  sich  erweiterte.  Ausgehend 
von  der  sokratischen  Unwissenheit  und  L'onie,  hat  er  sich  zu  der 
völligen  Unabhängigkeit  von  Überlieferung  und  öffentlicher  Meinung 
erhoben,  die  zu  allen  Zeiten  den  großen  Philosophen  kennzeichnet.  — 
Ein  anderes  Zeichen  der  späteren  Abfassung  des  G  ist  der  Haß 
gegen  die  TjTannei  (25  d),  der  hier  zutage  tritt  und  seitdem  von 
PL  sein  ganzes  Leben  hindurch  festgehalten  worden  ist."  .  .  . 
„Der  G  schließt  die  sokratische  Periode  des  platonischen  (216) 
Philosophierens  und  leitet  von  den  ethischen  Problemen ,  die  ihn 
in  den  ersten  Jahren  nach  Sokr.'  Tod  beschäftigten ,  über  zu  den 
logischen  und  metaphysischen  Untersuchungen,  die  den  größten  Teil 
seines  Mannesalters  ausfüllten."  (217)  „Die  neue  Kraft,  die  die  Philo- 
sophie durch  logische ,  an  Gegenständen  der  Ethik  vorgenommene 
Übungen  erlangt  hatte,  wirkte  zuerst  auf  die  moralischen  Probleme 
zurück,  von  denen  PL  ausgegangen  war.  Er  wandte  seine  logische 
Methode  zuerst  auf  die  großen  Fragen  an ,  die  ohne  Ergebnis  in 
seinen  früheren  Schriften  erörtert  waren ,  und  schuf  eine  haltbare 
Theorie  der  Tugend  und  der  Lebenszwecke  im  G.  Aber  der  er- 
rungene logische  Fortschritt  wird  sich  in  seiner  Wirkung  nicht  auf 
den  Gegenstand  einschränken,  um  deswillen  er  ersonnen  worden  ist. 
'' j  Wir  sehen  schon  im  Me,  im  Eus  und  im  G,  daß  PL  ein  Interesse 
""f  an  logischer  Methode  zu  nehmen  beginnt,  das  unabhängig  ist  von 
j  deren  Anwendungen ,  und  einmal  geweckt ,  wird  dieses  logische 
n  Interesse  ihn  zu  besonderen  logischen  Untersuchungen  führen  und 
""l  zu  weiterer  Entwicklung  von  Methoden  behufs  Erwerb  und  Mit- 
^^"1    teilung  untrüglichen  Wissens." 

""  Die  Hauptgedanken    des  Dialogs    finde    ich   recht   gut  heraus- 

-^      gestellt   und    beleuchtet  bei  Nato rp.     Er  sagt  uns  (S.  41:)   „Der 

'^'^'    Standpunkt  einer  bloß  negativen  Kritik  ist  endgültig  und  vollständig 

verlassen.    PL  setzt  sozusagen  sein  Alles  daran,  zu  einer  zentralen, 


224  Constantin  ßitter, 

für    immer    festen    Stellung   in    der    entscheidendsten    aller  Fragen 
der  des  Sittlichen,    durchzudringen  und  damit  zugleich  die  sicher* 
Grundlage    zu   gewinnen   für    ein  positives  Wirken  auf  seine  Zeit 
nicht  auf  dem  Wege  der  Öffentlichkeit,  sondern  auf  dem  weiteren 
aber  sicheren  der  philosophischen  Erziehung  der  zur  einstigen  Leitung 
des  Gemeinwesens  Berufenen.     Die    sittlichen  Überzeugungen,    di( 
er  verficht,    sind  keine  andern  als  die  sokratischen,   wie  schon  di( 
Ap  und  der  Cr    sie   bezeugen ;    aber  sie  treten  hier  zum  erstenma 
nicht    nur    als    entschlossene  Bejahungen,    sondern    als   radikal  be 
gründete,  zwingend  bewiesene  Erkenntnisse,  als  Sätze  einer  Wissen 
Schaft  vom  Guten  auf,  wie  sie  Sokr.  nach  den  eigenen  Zeugnissei 
Pl.s    sicher   nicht    zu  behaupten  gewagt  hat  .  .  .     Die  Begriffe  des 
Sittlichen  .  .  wurden    bis    dahin    stets  für  noch  nicht  gefunden  er 
klärt.    Auch  der  Me  schloß  damit,  daß  die  Antwort  auf  die  Frage 
Was    ist  Tugend?   noch    ausstehe  .  .  .     Auch  über  die  besonderer 
Tugendbegriffe  werden  Festsetzungen  getroffen,    welche  wesentlicl 
mit  denen  übereinstimmen,  die  PI,  auch  sj^äter,  besonders  in  der  E,p 
festgehalten   hat.     Im   Pr  La   Ch   werden  Sonderbegriffe    einzelne. 
Tugenden  nahezu  geleugnet ,    während  der  Me  die  Frage  noch  un 
entschieden  ließ  .  .  .    Man  muß  .  .  sagen,  daß  PL  .  .  den  sokratische; 
Standpunkt  seiner  eignen  ersten  Schriften  weit  hinter  sich  gelassei 
hat."  .  .     (43)   „Diese  Seibstgewißheit    der    endlich  zu  festen  Pos^ 
tionen  durchgedrungenen  wissenschaftlichen  Forschung  bestätigt  auci 
die   ganz    neue   Bedeutung,    die    dem  Worte  Philosophie    beigeleg 
wird  .  .    (82  a :)  Nicht  ich,  die  Philosophie  spricht  so,  sie  widerleg 
wenn    du    kannst.     Das    ist    ganz ,    wie    wenn   man  heutzutage  vo 
einem  Satze    'der  Wissenschaft'   redet  .  .  .     (44)  Ihr  darf  und  so 
man    sein  Leben    weihen ,    denn    in   ihrer  Kraft    darf  und  soll  ma 
hoffen ,    das  Leben   zu  reformieren.     Und  weil  der  Ausdruck  nie! 
bloß  Wissenschaft,  sondern  zugleich  den  Anspruch  bedeutet,  durc 
Wissenschaft  das  Leben  auf  neue  Grundlagen  zu  stellen ,    so  lief 
darin    für  PL  zugleich  die  direkteste  Beziehung  zu  seinem  persöifc 
liehen  Wirken,  zu  dem  auf  dies  erhabene  Ziel  gerichteten  wisseilj 
schaftlich    sittlichen  Verein,    der    um    ihn    sich    zu    bilden  beginn 
Es  ist  im  G  allüberall  deutlich  zu   erkennen :  PL  nimmt  schon  jet: 
eine    scharf   bestimmte ,    hart    angefochtene ,    aber    eben    durch    d 
Wucht   der  Selbstbehauptung  sich  zusehends  befestigende  Stellun 
im  Leben  Athens  ein.    Er  ist  bereits  gewissermaßen  ein  öffentlich« 
Charakter,  trotz  der  erklärt  privaten  Art  seines  Wirkens  und  gerac 
in  dieser  anspruchsvollen  Abseitsstellung.    Er  hat  einen  zwar  noc 
kleinen  (85  d),    aber   von   nun  ab  rasch  wachsenden  Anhang  hint 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    225 

sich."  (44)  „Jedenfalls  die  formalen  Erfordernisse  der  "Wissenschaft 
stehen    dem    Verfasser    in    bestimmtester    Gestalt    vor    Augen   .  . 

(45)  Und  so  kommt  zur  schärfsten  Ausprägung  der  Gegensatz 
rational  begründeter  'Kunde'  {tt^vi],  hier  fast  ganz  im  Sinne  von 
'Wissenschaft')  gegen  die  der  rationalen  Grundlage  entbehrende 
bloße    Erfahrung    (ii-iTteigia)    oder    Routine    (tgißtj,    (.leXixr^  .  .  . 

(46)  Mit  dem  so  verschärften  Begi'iff  der  wissenschaftlichen  'Kunde' 
hängt  aber  aufs  engste  zusammen  die  endgültige  Bestimmung  des 
Begriffs  des  Guten.  Nachdem ,  auf  Grund  der  Scheidung  des 
Wollens  vom  Belieben  {'6&  if.),  des  Guten  von  der  Lust  (94 — 99), 
zunächst  der  formale  Begriff  des  Guten  als  des  einen,  selbigen  und 
letzten  Zieles  {xtkog  oder  oyionög  67  c,  68  b,  99  e,  07  d)  fest- 
gestellt worden,  der  schon  durch  die  logische  Abhängigkeit  des  bloß 
folgeweise ,  um  eines  anderen  willen ,  vom  primär  Gewollten  auf 
den  rationalen  Weg  der  Begründung ,  auf  einen  letzten  logischen 
Einheitspunkt  in  praktischer  'Vernunft',  auf  die  Vemunftforderung 
der  Einheit  des  praktischen  Bewußtseins  hindeutet,  wird  dieser 
Zusammenhang  des  Guten  mit  der  Einheit  der  Erkenntnis,  mit  dem, 
was  später  die  'Idee'  heißt,  ausführlich  und  bestimmt  entwickelt 
(Ol — 08).  Nicht  bloß  ist  das  Gute  allgemein  Gegenstand  der  rational 
begründeten  'Kunde',  wie  das  Angenehme  Gegenstand  der  'Empirie' 
(OOff. ,    wie    anfangs    schon    festgestellt   war,    64  f.),    sondern    die 

I  technisch    richtige ,    d.   i.    gesetzmäßige    Verfassung    macht    über- 
haupt  den  Begriff  des  Guten    aus.     Ein  jeder  Werkmeister  blickt 
bei  seiner  Arbeit  auf  sein  eigentümliches  Muster  hin,   bringt  jedes 
einzelne    in    eine    bestimmte    Anordnung    (Tcc^ig)    und    bewirkt    so, 
daß    eins    zum  andern  passen  und  sich  fügen  muß,    bis  das  Ganze 
sich  zusammenstellt  zu  einem  geordneten  organisierten  Ding.    Eben 
if  dies  Merkmal    aber   der   inneren  Organisation   ist   es ,    welches  ein 
I  Ding  'gut'  macht  .  .    Wie  dies  nun  gilt  von  ii-gendeinem  Ding  .  ., 
j>  so  .  .  von  der  menschlichen  Seele :    Gesetzlichkeit  {y6pii[xov,  v6(xog 
1  04 d)   und    damit    Gerechtigkeit,    Besonnenheit,    allgemein    Tugend 
ji  (im   engeren,    seelischen  Sinn    04 e),    die    demnach   besteht   in  der 
t  gesetzmäßig    geordneten ,    so    in  Einstimmigkeit  mit  sich  selbst  ge- 
jj  brachten    und   dadurch    sich  selbst  erhaltenden ,    heilen  Verfassung 
j|  der  Seele.    (47)  Das  Bemerkenswerteste  in  diesen  und  den  weiter 
^  folgenden   Ausführi*ngen    ist,    daß    unter    dem    Begriif  des   Gesetz- 
.j  liehen   das  Gute    ganz    in    eine  Reihe  kommt  mit  jeglicher  wissen- 
H  schaftlichen  und  technischen  Richtigkeit,  zuletzt  mit  der  Gesetzes- 
j  Ordnung  des  Universums,  des  äußeren  und  des  inneren,  des  körper- 

Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft.    Bd.  191  (1922.  I).  15 


226  Constantin  Bitter. 

liehen  und  des  unkörperlichen  'Kosmos'.  Die  Betrachtung  erhebt 
sich  bis  zu  einer  ganz  universellen  Zusammenfassung  aller  Probleme, 
theoretischer  wie  praktischer,  unter  dem  einzigen  höchsten  Gesichts- 
punkt des  Gesetzlichen  überhaupt ,  als  dessen ,  was  aUgemein  die 
richtige  'technische',  d.  i.  erkenntnisgemäße  und  damit  gute  Ver- 
fassung eines  jeden  einzelnen  Dings  oder  Werkes  nicht  nur,  sonderr 
des  ganzen  äußeren  Universums ,  das  daher  die  Benennung  eines 
Kosmos  trägt,  und  so  auch  des  inneren  Universums,  der  Sittenwelt 
ausmacht  .  .  . 

Das  Gesetz  als  der  wahre  Inhalt  der  Wissenschaft,  der  Grund 
aller  Richtigkeit  und  damit  Güte,  als  das,  was  jedem,  dem  Einzeluer 
und  dem  Ganzen,  seine  'Gestalt',  sein  Eidos  gibt,  dies  und  nichts 
anderes  ist  das  Zentrum,  in  dem  diese  ganze  bei  aller  Knappheii 
der  Andeutung  so  tiefgründige  wie  weit  ausgreifende  Betrachtung 
zusammenhängt.  Wir  stehen  hier  schon  unmittelbar  an  der  SchweU( 
der  'Idee'  .  .  .  (49)  Das  Gesetz,  d.  i.  die  Denkeinheit,  das  Eidos 
die  Idee,  ist  es  allgemein,  was  den  Gegenstand  (das  ov)  konstituiert 
Diese  Einsicht  ist  hier  bereits  unmittelbar  vorbereitet.  Damit  abe] 
eröffnet  sich  der  Ausblick  auf  eine  umfassende  Systematik  dei 
Wissenschaften  .  .  .  Die  ersten  Grundlagen  dieser  Systematik  sine 
schon  im  G  zu  erkennen." 

Ho  ff  mann  meint,  den  „schon  oft  behandelten  Inhalt"  des  G 
„nochmals  zu  betrachten ,  dürfte  nicht  überflüssig  sein  angesichts 
der  ziemlich  mageren  Inhaltsangabe  in  der  sonst  verdienstlichei 
neuen  Ausgabe  von  A.  Gercke".  Etwas  eigentlich  Neues  habe  icl 
bei  ihm  nicht  gefunden.  Immerhin  ist  seine  Darstellung  brauchbar 
Ich  führe  aus  ihr  einige  Sätze  an.  (S.  481 :)  „Sophistik  unc 
Rhetorik  schaden  der  Seele ,  indem  sie  die  Gesetzgebung  unc 
Rechtspflege  entstellen,  die  beiden  TeUe  der  Staatskunst,  welch« 
für  das  Wohl  der  Seele  zu  sorgen  hat.  Damit  ist  das  Verhältni; 
der  Rhetorik  zur  Sophistik  bestimmt ;  sie  bezieht  sich ,  im  Sinni 
der  Schüler  des  Gorgias  aufgefaßt,  auf  das  Praktische,  auf  die  An 
Wendung  der  Gesetze  und  ist  abhängig  von  der  falschen  Theorie 
welche  die  Grundlage  des  Staates ,  die  Gesetzgebung ,  verdirbt, 
(S.  487):  .,Der  von  Kallikles  gepriesenen  Selbstsucht  .  .  wird 
die  Einfügung  in  die  göttliche  Weltordnuug  gegenübergestellt,  wa 
PI.  später  im  Ti  weiter  ausgeführt  hat  und  schon  im  Eu  al 
wesentliches  Merkmal  der  Frömmigkeit  bezeichnet,  das  Dienen  ai 
göttlichen  Werke  .  .  Die  christliche  Lehre  vom  Reiche  Gottes 
hier  vorgebildet,  wie  auch  an  anderen  Stellen  unseres  Gespräcl; 
christliche  Gedanken  anklingen." 


Ber.  über  d.  in  d,  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    227 

Für  die  Besprechung  von  Einzelheiten  der  Schrift  lege  ich 
Nestles  erklärende  Ausgabe  zugrunde. 

Nestles  Einleitung  über  die  Sophistik,    über  Gorgias  und  über 
Pl.s  Dialog  Gorgias  umfaßt  25,  die  Literaturangabe  weitere  2  Seiten. 
Ihrem  Zweck    scheint    sie    mir   gerecht   zu   werden.     Von  Gorgias 
wird  gezeigt,  daß  er  „bei  seiner  grundsätzlichen  Skepsis  gar  keine 
Möglichkeit   hatte ,    zu    bestimmen ,    was    rechte    und  unrechte  An- 
wendung   der  Rhetorik    sei ,    da    es   für  ihn  keine  objektiv  gültigen 
Begriffe    von   Recht   und  Unrecht    gab".     Die    Folgen    sind    „theo- 
retische Unklarheit    und    praktische  Gleichgültigkeit  gegenüber  den 
sittlichen  Fragen  in  der  gorgianischen  Schule"   und  darauf  „hat  PI. 
den  Finger  gelegt".    Dankbar  wird  der  Leser  auch  für  die  Auszüge 
aus  Gorgias'  Schriften,  dem  ^ETcirdq^iog,   OXvi.i7iiy.6g,  der  Ttyvii  und 
'Elivr^g  i'/ACofAiov   usw.    sein,    die  mehr  als  2  Seiten  füllen.     Sätze 
wie  yiö'/og  övvä.oxr^g  \xiyag  lox'iv    oder   To  yaq  xi^g  neid^ovg  eiöog 
t'X€i  [.UV  ovoi-ia   svavTiov  aväy/.rj,    t?)j'  di  dvvu(.iiv  t/jv  aviijv  I'xel 
dienen    ohne    weiteres    zur   Beleuchtung    gewisser    Stellen    des    G. 
Ein  Fehler  ist  S.  17    zu    berichtigen.     „Die  geistige  Leitung  liegt, 
wie    immer   bei  PI.,    in    der  Hand    des  Sokr.".     Dabei   hat  N.    die 
Altersschriften    vergessen.     Über   die  Schwierigkeiten ,    welche  die 
historischen  Anspielungen    dem  Leser* bereiten   können,    macht  N. 
die    gute  Bemerkung:    „Statt    zwischen    den    beiden    unvereinbaren 
Gruppen  zeitlicher  Anspielungen  einen  künstlichen  Kompromiß  her- 
zustellen,   wird    es    besser    sein    und  Pl.s  Sinn   mehr  entsprechen, 
wenn  wir  in  diesen  Widersprüchen  ein  Zeichen  davon  sehen,    daß 
für   PI.    hier    alle    diese    geschichtlichen    Verhältnisse    nur   neben- 
sächliches Beiwerk   sind,    und  daß  er  seine  und  des  Lesers  ganze 
Kraft  und  Aufmerksamkeit  auf  die  Hauptsache,  den  Gedankengehalt 
des  Dialogs,  konzentrieren  will."     Recht  gut  und  klar  sind  im  all- 
uisj  gemeinen  die  Anhaltspunkte  beleuchtet,  von  denen  aus  die  Datierung 
311*  des   G   versucht   werden    kann.     N.    meint ,    es   ergebe   sich ,    alles 
ii-*  zusammengenommen,    „für    den  G    die  Stellung   hinter    den  im  be- 
iriej  sonderen  Sinne  Sokratischen  Schriften  (Ap,  Cr,  Eu,  Pr,  La,  Ch)"  — 
soweit  bin  ich  einverstanden,  aber  für  verfehlt  halte  ich,  was  folgt : 
„wegen  der  schärferen  Fassung  des  Begriffs  des  Guten  [vgl.  Me  87 e  f. 
mit   G  67  e]    und    der  Verurteilung    der   Staatsmänner    auch    hinter 
dem  Me,  in  dem  sie  mit  viel  mehr  Achtung  behandelt  werden,  und 
all  wegen  der  völligen  Verwerfung  der  Rhetorik  auch  hinter  dem  Phs, 
in   dem  PI.   noch   den  Versuch  gemacht  hatte,    sie  auf  eine  philo- 
sophische Grundlage  zu  stellen  ...    So  ergibt  sich  als  Abfassunga- 
Jjeit  des  G  etwa  385". 

1.5* 


228  Oonstantin  Ritter. 

Im  Verzeiclmis  der  Erklärungsschriften  vermisse  ich :  Paul 
Schuster,  eine  Erklärung  von  G  92  e — 94  b,  im  Rh.  Mus.  29  (1874) 
590  ff.  und  Cron,  Jb.  f.  kl.  Ph.  153  (1886)  S.  563—82. 

Für  eine  neue  Auflage  schlage  ich  einige  Beisätze  vor,  nament- 
lich über  die  Bedeutung  des  Mj^  thus  am  Schluß ;  ferner 

Zu  49  b  sollte  auch  auf  Dissoi  logoi  8,  1  verwiesen  werden : 
(jtü  acTLü)  avÖQog  y.ai  zag  avräg  xl%vag  vof.iiCoj  Kara  ßQctxv  zb 
dvvaod^ai   öiaXeyeod^ai   .  .  y.al  Sajuayogslv  oiov  t'  r^fiev. 

Zu  der  51b  gemachten  Unterscheidung  von  Arithmetik  und 
Logistik  auf  Rp   525  c  ff.  und  Phi  56  e. 

42  e  wird  y.aizoi  nicht,  wie  N.  angibt,  mit  „und  doch"  zu  über- 
setzen sein,  sondern  mit  „und  wahrlich"  oder  „nun  aber".  Apelt 
einfach:   „Und". 

Eine  „Ausgabe  für  den  Schulgebrauch"  sollte  nicht  unterlassen, 
zu  56  b  ovöai-iov  av  qiarr^vai  auch  beizuziehen  Soph.  Ant.  184 
zovTOv  ovöa/xov  Xiyio. 

61  a  0(.ioXoyÜTai  tbv  Qr^T0Qiv.6v  ccdvvazov  elvai  adiy.cog  xQtja&ai 
zfj  Qr]TOQiy,ij  y.al  edeXeiv  aör/,siv.  Damit  stellt  PI.  dem  Gorgias  das 
Zeugnis  aus,  er  sei  im  Grunde  mit  Sokr.  darüber  einig  gewesen, 
daß  die  Rhetorik  dem  Staats  wohl  dienen  muß  und  eine  sittliche 
Pflicht  hat,  daß  die  bloß  formale  Gewandtheit  eines  auch  zur 
Täuschung  und  Berückung  bereiten  Redners  verwerflich  sei.  Die 
Kenntnis  des  Guten  nun,  das  möchte  ihm  Sokr.  zeigen,  wird  Sache 
der  Philosoj^hie  oder  Staatskuust  sein.  (Die  beiden  fallen  zusammen: 
wenn  man  den  7to?UTiy,6g  definiert  und  vom  ao<f>iaTi^g  und  6i](.irjycQog 
unterscheidet ,  ist  eben  damit  auch  die  Definition  des  q>iX6oorpog 
gefunden.)  Ihr  als  der  allein  der  Herrschaft  würdigen,  der  „könig- 
lichen" Kunst  muß  also  die  Rhetorik  sich  unterordnen.  Dann  ist 
sie  nicht,  wie  Gorgias  meint,  die  vornehmste  der  Künste.  ; 

Auch  einige  kritische  Bedenken  seien  geäußert: 

Zu  60  b  schreibt  N.:   „6  xa  dUata  i.iefxa9^r]-/,wg  öUaiog:  diesei 
Schluß  ist  nur  berechtigt  unter  der  Sokratisch-Platonischen  "Voraus 
Setzung,   daß  Tugend  Wissen  sei  und  daher  das  Wissen  mit  den 
Tun   des  Guten  zusammenfalle."     Vorher  hieß  es:   6  xa  xsy.xovixi 
(xmai>rf/Mg  xey.xovr/.6g  —  6  xa  f.iovar/M  /novoiy-og  —  6  xa  laxqt'M 
iaxQiwg.    Sollen  diese  Schlüsse  auch  auf  einer  besonderen  Voraus 
Setzung    ruhen  ?     Dann    wäre    es    die ,    daß    das   /.lEfia&rjyJvai  kei: 
bloß  theoretisches  Lernen  sei,  sondern  mit  den  nötigen  praktische 
Übungen    verbunden.     Und   vielleicht   gilt   dieselbe    Voraussetzun 
für   das  i.ief.ia&rjy.evai  der  dUaia.     Allerdings  ist  der  Schluß  auej 
voll    berechtigt,    wenn    die  dixaioavry]    sich  als  das  avurpoQcoxaxcl 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    229 

CLvd-qcömo  ausgewiesen  hat,  nach  dem  jeder  selbstverständlich  strebt 
(nach  Xenoph.  Mera.  III,  9,  4). 

Gleich  nachher  darf  nichts  ausgeworfen  werden  von  den  Worten 
oiy.ovv  avdyyiT]  tov  grjzoQiy.dv  6r/.aiov  eivaij  tbv  di  6r/.aiov  ßov- 
kead^ai  di/.aia  ngaTreiv.  Als  Neues  tritt  jetzt  avdyyit]  hinzu,  um 
den  Satz ,  der  zuerst  zögernd  aufgestellt  war ,  zu  sichern.  Die 
folgenden  Sätze,  die  Apelt  einklammert  und  mit  Sauppe  tilgen  will, 
bilden  den  Übergang  zu  der  negativen  Wendung,  die  erforderlich  ist. 

(65  c  ist  bei  Nestle  eine  Zeile  ausgefallen.) 

66  e  otx,  log  yk  q'rjoi  UwXog  erhält  seine  Erklärung  durch  das 
unten  aus  Apelts  Plat.  Aufs,  zu  82  b  Angeführte. 

67  b  (.iri  /.aTijyoQet,  lo  ?uüOTe  IliuXe,  'iva  nqoGÜmo  oe  xara  fff. 
Dazu  sagt  N. :  „•/.atä  ae :  in  deiner  (rhetorischen)  Manier.  In 
l(pGTe  IliüXe  liegt  eine  Paronomasie."  Ahnlich  Apelt.  Das  wäre 
einleuchtend ,  wenn  Polos  in  seiner  Anrede  an  Sokr.  sich  einer 
Paronomasie  befleißigt  hätte.  Das  ist  nicht  der  Fall.  Wie  er  das 
Wort  ergreift,  das  Gespräch  zwischen  Gorgias  und  Sokr.  ohne  Ent- 
schuldigung unterbrechend,  sagt  er  einfach  w  ^w'/igazeg,  während 
Sokr.  mit  w  '/,äl?uOTS  IHöXe  erwidert.  Nachher  haben  wir  in  der 
Wechselrede*  2  mal  i6  ^omgaiEg,  9  mal  w  IJiule  und  dazu  noch  ein 
w  (file  Ilcdle.  Sokr.  wahrt  die  Formen  des  höflichen  Umgangs, 
Polos  fährt  gleich  anfangs  polternd  drein,  und  jenes  w  y.ä/JuOTe, 
das  mir  etwa  den  Klang  von  „feingebildet"  zu  haben  scheint,  hat 
nicht  genügt,  ihn  zum  guten  Ton  zu  stimmen.  Zuletzt  hat  er  den 
Gegner  mit  Mißachtung  sti-afen  wollen :  er  hat  ihm  gar  nicht  mehr 
geantwortet,  sondern  an  die  Zuhörer  sich  gewandt  mit :  ovzog  aviqQ 
—  „Dieser  Mensch  da  — !"  Und  darauf  erhält  er  nun  die  Zurecht- 
weisung: f.iij  yiaxi]y6QEL  usw.  Das  xar«  Gs  ist  also  ironisch:  „nach 
deiner  Manier"  übersetzt  Apelt  ganz  richtig.  Gemeint  ist:  nach 
deiner  höflichen  Manier.  Man  beachte  noch,  daß  er  im  folgenden 
mit  seinem  lo  ^vrAQaiEg  nicht  mehr  so  sehr  geizt,  und  daß  Sokr. 
ihm  noch  mehrmals  ein  ehrendes  Eigenschaftswort  lo  ^aofiÜGis, 
w  fiaYMQiE  zukommen  läßt.  Die  Übersetzung  freilich ,  die  Apelt 
gibt,  „mein  Wunderlicher"  und  „mein  Preisenswerter"  ist  kaum 
annehmbar.  Eher  noch:  Erstaunlicher,  Hochzupreisender,  obgleich 
wir  dazu  fast  eines  Substantivs  bedürfen  (du  wunderlicher  Herr, 
du  gottbegnadeter  Denker);  besser  vielleicht  im  2.  Fall:  „in  aller 
Ehrerbietung  sei  es  gesagt!" 

„Zu  80 ab  könnte  erinnert  werden  einerseits  an  Eu  4b,  ander- 
seits an  N  717  d  und  Pr  46  a. 

80  e.    Der  Satz  el  aga  del  tiva  /lay.iüg  rtoielv,  sI't'  ax^Qov  eize 


230  Constantin  Ritter. 

ovTivovv,  eav  {xovov  fu^  avTog  ddi'/.^ai  mtb  xov  6/^ßoi;  —  tovto 
[Xfv  yccQ  svXaßtjzeov  —  eav  de  äkXov  cidiY.f]  6  ixd^Qcg,  TtavTi  TQo/tqj 
7TaQao'/.€vaOTeov  .  . ,  OTiiog  f.iij  ötj»  dly.r^v  bedarf  wohl  einer  ein- 
gehenderen Erklärung,  als  sie  bei  N.  und  bei  Apelt  zu  finden  ist. 
Man  wird  am  besten  davon  ausgehen,  daß  Sokr.  sich  auf  den  Boden 
des  engherzigsten  nackten  Egoismus  gestellt  hat ,  den  Polos  ver- 
treten will.  Auch  für  diesen  Standpunkt  hat  Polos  ihm,  freilich 
gegen  seine  innerste  Überzeugung  (über  die  er  sich  selber  nicht  klar 
sein  wird,  oder  die  zu  enthüllen  er  sich  scheut),  zugestanden,  das 
Unrechttun  sei  schimpflich  (sogar  schimpflicher  als  das  Unrecht- 
leiden). Und  er  hat  für  diesen  Satz  die  Begründung  des  Sokr. 
gelten  lassen ,  daß  es  schädlich  sei ,  nämlich  für  den  Missetäter 
selbst,  weil  seine  Seele  dadurch  schlecht  wird.  Eben  von  dieser 
Begründung  aus ,  sofern  sie  wirklich  Geltung  hat ,  läßt  sich  der 
ganze  Standpunkt  des  Polos  untergraben.  Und  das  tut  Sokr.  mit 
seinem  Beweis.  Er  zeigt  seinem  Gegner:  wenn  du,  mit  dem  großen 
Haufen  übereinstimmend,  deinen  Stolz  darin  suchst  (die  ardqbg  dgei/j 
darin  erblickst),  daß  du  Menschen,  die  dir  verhaßt  sind,  deinen 
„Feinden",  möglichst  schweres  Übel  zufügest,  so  mußt  du  darauf 
ausgehen,  sie  möglichst  schlecht  zu  machen  und  möglichst  lange  im 
Zustand  größter  Schlechtigkeit  zu  erhalten.  Das  erreichst  du,  wenn 
du  die  Versuchungen ,  die  sie  zu  Unrecht  und  Gewalttat  locken, 
begünstigst  und  nicht  dagegen  einschreitest.  Die  damit  gewonneneu 
Folgerungen  sind  erstaunlich,  für  den  „gesunden  Menschenverstand'" 
unerträglich.  Gerade  der  Triumph  würde  ja  den  verhaßten  Feinden 
gelassen,  nach  dem  ein  Polos  und  Seinesgleichen  am  meisten  be- 
gehren ,  daß  sie  Macht  hätten  zu  vergewaltigen ,  wen  sie  immer 
wollten.  Die  Voraussetzungen ,  aus  denen  sich  das  Erstaunliche 
ergab,  waren:  1.  das  Unrechttun  ist  dem  Täter  selber  schädlich 
und  darum  schimpflich,  2.  wirkliches  Unrecht  wird  nur  begangen  i 
durch  Schädigung  der  Seele.  Es  leuchtet  ein,  daß  diese  Voraus- 
setzungen neu  geprüft  werden  müssen.  Und  das  geschieht,  indem 
den  Polos  ein  anderer  Vertreter  der  öifentlichen  Meinung  ablösty 
Kallikles,  der  nun  wirklich  das  Herz  hat,  zu  leugnen,  daß  das^ 
Unrechttun  schimpflich  sei.  —  Mit  sl  aqa  ötl  riva  Y.UY.idg  rcoteiv 
wird  angedeutet,  daß  überhaupt  die  Absicht,  anderen  Menschen 
Schaden  zu  tun ,  unsinnig  sei  —  auch  für  den  rein  egoistisch 
Bechnenden.  Verständlicherweise :  denn  immer  leidet  unter  der 
Schlechtigkeit  der  einzelnen,  die  dadurch  erzeugt  wird,  daß  man 
ihnen  Schaden  getan  hat  (wenn  Unrecht  und  Schaden  tun  nichts 
anderes  ist  als  schlecht  machen),  die  Gesamtheit  —  und  also  auch 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    231 

der  kurzsichtige  Egoist,  der  sich  das  Unrechttun  erlaubt  hat.  —  Die 
Zwischenbemerkung  eav  fiovov  /li.  a.  a.  v.  t.  e.  t.  f.i.  y.  evXaßrjriov 
hat  nur  den  Sinn :  wir  wollen  flu-  unsere  Überlegung  möglichst  ein- 
facbe  Bedingungen  annehmen,  also  den  durch  Nebenumstände  ver- 
wickelten Fall  beiseite  lassen ,  wo  der  Beurteiler  zugleich  Partei 
wäre.  —  Die  Anmerkung  Apelts  zu  der  Stelle  lautet :  „Hier  gefällt 
sich  Sokr.  in  scherzhaft  übermütigen  Folgerungen  seines  siegreich 
durchgeführten  Standpunkts,  deren  Ironie  namentlich  in  dem  durch 
die  Parenthese  bezeichneten  Vorbehalt  höchst  ergötzlich  hervortritt." 
Ob  man  hier  von  „scherzhaftem  Übermut"  reden  darf,  und  ob  auch 
nur  das  Wort  „Ironie",  das  auch  Nestle  hier  und  in  manchen  ähn- 
lichen Stellen  braucht,  ganz  am  Platze  ist? 

82  b  ov  Goi  6f.wXoy^O€i  KaXXiy//.rjg,  w  KaXXi/,XEig,  aXXa  öia- 
(piüv/joei  iv  artavTL  T(p  ßli^)  wird  trefflich  erklärt  durch  die  Bemer- 
kungen, die  Apelt,  Plat.  Aufs.  S.  98  ff.  gibt  unter  der  Überschrift 
„Die  Taktik  des  platonischen  Sokr.,  Spaltung  und  Verdopplung". 
Ich  gebe  davon  einen  Auszug:  „In  die  Seele  eines  edlen  Jünglings 
weiß  dieser  Solu*,  den  Stachel  zu  senken,  der  das  Nachdenken  und 
damit  die  Vei'wunderung  über  die  eigene  bisherige  Unklarheit  weckt. 
Er  macht  aus  dem  Einen  gewissermaßen  Zwei,  läßt  den  neuen 
Menschen  seinen  (des  Sokr.)  Bundesgenossen  werden  und  über- 
windet zusammen  mit  ihm  den  alten.  'So  mache  ich  denn',  sagt 
Hippothales  im  Ly  (06  b)  zu  Sokr.,  'mit  dir  nun  gemeinschaftliche 
Sache,  und  wenn  du  etwas  anderes  weißt,  so  gehe  mit  mir  zu  Rate  . .' 
.  .  .  Und  ist  das  Ergebnis  der  Untersuchung  nach  des  Sokr.  Urteil 
auch  noch  so  unbefriedigend,  so  ist  es  für  ihn  doch  schon  reich- 
licher Gewinn ,  sich  mit  dem  Partner  identifizieren  zu  können. 
'Fast  will  mir  scheinen,'  sagt  er  Me  96  e,  'mein  Menon,  daß  wir, 
du  und  ich ,  nicht  viel  miteinander  taugen  und  daß  dich  Gorgias, 
wie  mich  Prodikos,  noch  nicht  gehörig  geschult  hat.'  Der  Partner 
muß  für  alles  Bisherige  auch  selbst  mit  einstehen.  Das  ist  eine 
der  unverbrüchlichsten  Maximen  seines  Vei'fahrens,  vgl.  z.  B.  G  66  e, 
68  c,  Me  85  b  [.  .  G  72  c,  74  b,  95  e,  17  c,  Rp  608d,  .  .  auch  in 
Dialogen,  wo  .  .  Sokr.  .  .  nicht  Gesprachsleiter  ist,  z.  B.  Po  78  e, 
86c,  So  33  e]^)  ...  In  erhöhter  Lebhaftigkeit,  gewürzt  mit  ent- 
sprechend verstärkter  Ironie,  tritt  uns  diese  Taktik  entgegen,  wenn 
es  sich  um  Auseinandersetzung  oder  Kampf  mit  Rabulisten  .  . 
handelt.  Den  Gegner  mit  sich  in  Widerspruch  zu  bringen  ist  das 
erste,  was  er  mit  bekanntem  Geschick  unternimmt.    Und  ist  er  so 


')  Auch  Phs  28  a  c,  was  A.  übersehen  liat,  gehört  noch  hierher. 


232  Constantin  Ritter. 

weit,  so  hat  er,  ein  guter  Zauberer,  ein  sehr  einfaches  Mittel,  um 
den  Einen  als  zwei  leibhaftige  Wesen  erscheinen  zu  lassen.  Es 
ist  die  bloße  Kunst  des  Ausdrucks,  durch  die  er  das  zu  erreichen 
weiß,"  Es  folgt  zum  Beleg  unsere  Stelle.  Daran  anschließend 
fährt  A.  fort:  „Indem  er  (Sokr.)  sich  dieser  Wendung  bedient  und 
nicht  der  herkömmlichen  'Du  wü'st  mit  dir  in  Widerspruch  bleiben', 
nötigt  er  uns  geradezu  mit  Gewalt  die  Vorstellung  zweier  getrennter 
Wesen  auf.  Und  daß  der  so  gekennzeichnete  Gegner  selbst  einiger- 
maßen vor  sich  erschrecken  muß  wie  vor  dem  'anderen  Gesichte', 
versteht  sich  von  selbst." 

83  e  geben  unsere  Ausgaben  meist  /coui)  dcAauij  ')^QU)nevog 
BtQ^rjg  enl  zijv  '^EXläöa  saTQCxTevasv  tj  6  naTY]Q  avxov  htl  ^y.vS-ag 
TJ  —  aXXa  fLiVQia  av  zig  tyot  xoiavia  Xeysiv,  und  Nestle  erklärt: 
„K.  wollte  eigentlich  noch  weitere  Beispiele  anführen  mit  y  — , 
unterbricht  sich  dann  aber  mit  der  allgemeinen  Behauptung  ciDm  — 
läyeiv."  Das  ist  wohl  nicht  ganz  richtig  aufgefaßt.  Ich  stimme 
Campbell  bei,  der  im  2.  Band  seiner  Ausgabe  der  Rp  S,  231  den 
Gedankenstrich  spart  und  den  Satz  unter  den  Beispielen  seines 
§  50  „Deferred  Apodosis,  Digression  and  Resumption"  aufführt. 
Entsprechend  gibt  ihn  Burnets  Ausgabe. 

84  b  gibt  N.  gleich  den  andern  Herausgebern  gegen  die  Über- 
lieferung der  PL  Hss.  das  Zitat  in  der  durch  die  sonstige  Über- 
lieferung für  Pindar  gesicherten  Form  vo/uog  .  .  diVMitZv  ib  ßiaio- 
zaiov:  wahrscheinlich  mit  Unrecht.  Denn  Wilamowitz  II  94  ff. 
hat  wohl  erwiesen,  daß  PI.  N  890  a,  wo  er  von  Lehren  arÖQWV  aocfiov 
spricht,  Idionaiv  -/ml  Ttoit^xaiv  (paoy.övicov  eivai  to  di/Miozarov  ort 
iig  av  rixa  ßiato/uEvog,  sich  auf  denselben  Spruch  Pindars  bezieht | 
und  daß  er  diesen  „als  Greis  in  der  Fassung  und  sogar  in  der! 
Ausdeutung,  die  er  ihm  in  seinem  G  gegeben  hatte,  im  Gedächtnis 
hat  und  ihn  so  von  neuem  verwendet  ohne  nachzuschlagen",  — 
obgleich  sich  vielen  Philologen,  „denen  eine  Anführung  aus  demi 
Gedächtnis  für  weit  unverzeihlicher  gilt  als  ein  aus  einem  un- 
gelesenen  Buche  entlehntes  Zitat",  die  Haare  darüber  sträuben; 
werden.  Dann  müßten  wir  also  im  G  ßiaiiov  zo  öfnaiozazov  lesen.! 
Übrigens  will  Wil.  feststellen,  daß  Polykrates  dem  PI.  seinen  Irr- 
tum aufgestochen  habe,  findet  es  aber  bezeichnend,  wie  wenig  das 
auf  diesen  Eindruck  machte.  „Als  er  die  N.  schrieb,  hatte  er  den 
ganzen  Polykrates  längst  vergessen."  Weiter  ergibt  sich  ihm  „die 
unabweisbare  Folgerung,  daß  Polykrates  den  G  vor  Augen  hatte" 
Und  wenn  für  dessen  „Soki-ates"  das  Jahi'zehnt  393 — 83  als  mög- 
lich anzunehmen  ist ,    aber  durch  den  darauf  antwortenden  Me  die 


I 

j 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    233 

untere  Grenze  hinaufgerückt  wird ,  so  sind  diese  chronologischen 
Beziehungen  wichtig,  die  an  der  Lesart  unserer  Stelle  einen  ge- 
wissen Halt  haben. 

88  d  roig  v6f.iovg  TiO-EwaL  ircl  t^  h'l  heißt  nicht :  „im  Blick 
auf  den  Einen  (Starken)",  sondern:  mit  Unterdrückung  (Apelt: 
..zur  Niederhaltung")  des  Einen. 

90  b  Tioiojv  tf^iariiov  ist  als  Ausruf  (mit  !),  nicht  als  Frage  (,•) 
zu  schreiben.  Nützlich  wäre  es ,  auf  die  verwandten  Stellen  zu 
verweisen  -. 

91  d  ist ,  wie  mir  scheint ,  N.  Textgestaltung  und  Erklärung 
mißlungen.  Man  kann  sich  bei  der  handschriftlichen  Überlieferung 
und  ihrer  durch  Apelt  gegebenen  Auslegung  völlig  beruhigen.  Vgl. 
auch  Gomperz  S.  271. 

93  b  ir  Zdfiöov  —  tc  aeidig  drj  Xiycor:  hier  hätte  N.  Burnet 
folgen  sollen,  der  aus    F  die  Lesart  aiöeg  aufgenommen  hat. 

Zu  94  b  iöoTteg  Xi&ov  Krjv  .  .  /nr^ze  xaiQovza  ivi  iJ.)iTe  Xvnov(.iEvov 
mag  an  den  Rp  583  c  e  und  Phi  32  e  geschilderten  f-ieaog  ßlog  er- 
innert werden.  Im  Gegensatz  zum  xagaögiog,  der  af.ia  tc)  iad-ieiv 
EA/.QIVSI,  und  überhaupt  dem  Vogel  mit  seinem  kurzen  Gedärm  ist 
es  nach  Ti  73  a  der  Vorzug  des  Menschen ,  daß  seine  avTsga  in 
viele  Windungen  gelegt  sind,  oVrwg  ///}  -ra/t;  öie/.TteQCüGa  7j  TQoq)rj 
Taxi'  ndXiv  rgoq^ijg  eiegag  öeioi^ai  xb  aio^a  avay/MLot  xrA. 

95  d :  aus  KaX?u/J.r^g  l4yaQV£ig  folgert  W i  1  a m o  w i t z  :  „ein 
vornehmer  Mann  war  er  nicht ,  denn  er  wird  nur  mit  seiner  Ge- 
meinde Acharnai  bezeichnet,  nicht  mit  dem  Vatersnamen".  Ist  der 
Schluß  zwingend  ?  Jedenfalls  redet  ihn  Sokr.  94  e  an  mit  w  yevvale, 
und  daß  er  nicht  etwa,  wie  Kleon  oder  Anytos,  ein  Handwerk  oder 
Gewerbe  betreibt,  ist  aus  der  Verachtung,  die  er  nach  12c  dem 
^rjavonoiög  entgegenbringt,  klar  zu  ersehen.  Daß  wir  es  mit  einer 
historischen  Person  zu  tun  haben ,  w^ird  wohl  heute  von  niemand 
mehr  bezweifelt.  Recht  Verkehrtes  hat  da  noch  Räder  (S.  117 f.) 
vorgebracht:  An  81  d  anknüpfend,  wo  Sokr.  ihm  vorhält,  er  sei 
^aoii^g  Tov  l4i^rjVaicov  ötjf.iov,  fragt  er:  „Wie  ist  das  möglich,  da 
doch  Kall.  Anschauungen  vertritt,  die  nichts  weniger  als  volks- 
tümlich sind?"  Und  fährt  fort:  „Es  kommt  daher,  daß  nach  der 
Anschauung  Pl.s  —  die  er  in  der  Rp  ausführlicher  begründet  — 
die  Tyrannis  nicht  der  Gegensatz  zur  Demokratie,  sondern  die 
natürliche  Fortsetzung  derselben  ist."  Und  dazu  gibt  er  die  An- 
merkung: „Infolgedessen  müssen  die  Vermutungen,  die  in  der 
Person  des  Kallikles  eine  Maske  entweder  für  Kritias  (Crou)  oder 
für  Charikles  (Bergk)  erblicken,  verworfen  werden.    Diese  Männer 


234  Constantin  Ritter. 

gehörten  nämlich  beide  zu  'den  Dreißig',  aber  diese  waren  keine 
'Tyrannen',  sondern  Oligarchen,  und  diese  beiden  Begriffe  hält  PI., 
wie  aus  der  Rp  ersichtlich  ist,  scharf  auseinander.  Ob  Kall,  eine 
wirkliche  Person  oder  nur  als  Seitenstück  zu  dem  im  Pr  als  Wirt 
und  Gönner  der  Sophisten  auftretenden  Kallias  aufgestellt  ist,  läßt 
sich  nicht  entscheiden."  Wilamowitz  wundert  sich,  daß  ein  sc 
„wahnschaffener  Einfall",  „Kall,  wäre  gar  nicht  Kall."  usw.  nicht 
zur  Ruhe  kommen  wolle,  und  fragt:  „Weshalb  fürchtete  sich  PL, 
den  toten  Charüdes  einzuführen?"  In  meinen  Untersuch,  von  1888 
(S.  136)  habe  ich  geschi'ieben :  „Ein  unbedeutender  Mensch  wahr- 
lich kann  es  nach  der  ganzen  Art,  wie  er  die  Unterredung  führt 
nicht  gewesen  sein.  PI.  läßt  uns  von  ihm  wissen,  er  sei  als  Rednei 
mehrfach  vor  dem  Volk  aufgetreten,  er  nennt  uns  die  Namen  dreiei 
seiner  Freunde  .  .  und  wenn  ich  recht  sehe,  deutet  er  an,  daß  dei 
Mann  von  seiner  politischen  Tätigkeit  Unglück  und  Verfolgung 
erntete  (19  b)  ...  Es  ist  übrigens  merkwürdig,  wie  sehr  das  Bilc 
des  Kall,  dem  des  angeblichen  Isokrates  im  Eus  ähnlich  sieht  unc 
wie  nahe  die  Ansichten  beider  sich  berühren  (worauf  auch  schor 
andere  aufmerksam  gemacht  haben)."  Vgl.  Hirzel  Dialog  I  176  A. 
Huit  Piaton  I  314.  Bruns  Liter.  Portr.  S.  296:  „Dieser  unzweifel 
haft  historische  Mann  ist  uns  sonst  unbekannt",  S.  313:  „Über 
haupt  erinnert  Kall,  an  den  Ungenannten"  (im  Eus.).  Pohlens 
S.  142  A.  1.  —  Die  verschrobene  Textauslegung  von  81  d  durcl 
Räder  wird  wohl  niemand  irre  führen,  der  sich  die  Stelle  im  Zu 
sammenhang  selber  ansieht. 

02  c  ti  TLg  7ieQLkXoiio  T/~g  Ttoirjaetog  Ttdar^g  z6  le  {.leXog  /.al  tm 
Qi&iuov  v.ai  x6  lAtTQOv,  alko  tl  /y'  loyoi  yiyvovTai  zb  Xein6f.i6vov 
N.  verweist  auf  Gorg.  Hei.  9,  PI.  Rp  398  d,  601b,  Isoer.  9,  11  unc 
spricht  die  Meinung  aus,  Gorgias  sei  wohl  „gemeinsame  Quelle  füi 
PI.  und  Isokrates".  Aber  müssen  wir  wirkHch  nach  einer  gemein 
Samen  Quelle  suchen,  wenn  ein  so  einfacher  Gedanke  von  mehrerei 
Schriftstellern  ausgesprochen  wird? 

05  e  sollte  in  die  Anmerkungen  über  Epicharm  aufgenommer 
werden,  daß  er  zu  den  Lieblingsdichtern  Pl.s  gehörte  und  Th  52  { 
von  Sokr.  für  den  ersten  aller  Komiker  erklärt  wird  (itZv  uotTjcd) 
Ol  (XAQOL  TT^g  Tioitjaeujg  e/Mregag,  •A.iof.utjöiag  y.h'  ^ETclxoLQi.iog,  xqo. 
yojdiag  ös  "OintjQog). 

08  a  y£w/.tSTQiag  yag  ccf-ielelg.  N.s  Anmerkung  dazu  beginn 
mit  den  Worten:  „So  schätzte  z.  B.  Protagoras  aus  erkenntnis 
theoretischen  Gründen  (fr.  7  Diels)  ^ie  Geometrie  gering  (Pr  18  e). 
Wer  darauf  hinweist,    daß     der  Kreis  die  Tangente  nicht  bloß  aj 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    235 

äinem  einzigen  Punkte  berührt",  will  damit  wohl  auf  einen  Mangel 
mserer  Darstellungsmittel  aufmerksam  machen;  und  der  Pr  18  e 
i^on  Protagoras  gegen  andere  Sophisten  ausgesprochene  Tadel,  daß 
5ie  XcüßwvTai  TOig  veovg,  XoyiOf.iotg  re  /mI  doTQOvof.iiav  v.ai  yeio- 
uetQiav  -/.al  fuovoi/.rjv  ÖLÖdo'KOtTeg,  ist  damit  schwerlich  so  zu  ver- 
jnüpfen,  wie  N.  es  tut. 

08  b  T«  Tiqöoiyev  exelra  (nämlich  80  c  daß  die  Rhetorik  nicht 
ingewendet  werden  dürfe  iul  xb  dnoXoyeiod^aL  ctcsq  rr^g  ddiy.iag 
':rjg  ahtov  ]j  yovicov  )j  tzaigiüv  ij  naidiov  )]  jiaxQiöog  dör/.ovorjg, 
sondern  umgekehrt  eher  zur  Anklage  gegen  die  Liebsten  und  Nächst- 
jtehenden,  damit  der  Schuldige  durch  Bestrafung  gebessert  werde) 
iVfAßaivei  .cävia,  .  .  oii  xaTt^yoQi]TiOv  ei'i]  /.al  avTov  '/.ai  vtog  Aal 
HaiQov,  idp  zi  döiiij,  '/al  ttj  QrTOQi'/Sj  inl  zovio  %Qy,oitov  scheint 
m  Widerspruch  zu  stehen  mit  Eu  4  b  e,  wo  Sokr.  den  Seher  fragt, 
)b  er  sich  kein  Gewissen  daraus  mache,  den  eigenen  Vater  q^ötov 
mzuklagen.  Der  Widerspruch  wird  sich  aber  ausgleichen  lassen, 
jewiß,  wenn  kein  anderes  Mittel  fruchtet,  ist  auch  die  gerichtliche 
.\jiklage  erlaubt,  nach  Umständen  geboten.  Der  höchste  Gesichts- 
Dunkt  ist  immer  das  Wohl  der  Nebenmenschen.  Wenn  sie  schlecht 
und,  ergibt  sich  als  Zweck  ihre  Besserung.  Und  für  diesen  Zweck 
sind  die  wirksamsten  Mittel  zu  wählen.  Tatsächlich  hat  Sokr.  seine 
iunst  der  Rede ,  die  er  freilich  nicht  als  QrjTOQr/.ij  bezeichnen 
vürde,  sondern  als  diaXe/iTiKi  dieser  entgegenstellt,  zum  ■/,aTt]yoQElv 
)enutzt,  allerdings  nicht  vor  dem  Gericht  erlöster  fremder  Richter, 
ondern  vor  dem  eigenen  Gewissen,  vor  dem  er  jedermann  zwang, 
ich  Rechenschaft  zu  geben.  Vgl.  Ap  30de,  41  e  und  oben  die 
^Bemerkungen  Apelts  zu  82  b. 

Zu  09  a  /.aiix^iai  /.al  deÖETai  atör^golg  •/al  ocdaf-iavtivoig 
.oyoLg  sollte  immerhin  die  oben  S.  214  aus  Diodor  und  Plutarch 
fcngeführte  Stelle  angezogen  werden. 

12a  loytLetai  oii  ov'/  usw.  scheint  mir  falsch  erklärt  zu  sein. 

.ch  übersetze:   „Er  sagt  sich  nun,  es  wäre  eine  verkehrte  Meinung 

aettiwörtHch    daß    nicht   folgendes    gilt):    zwar  der  mit  schweren,    un- 

;,;;jaeilbaren  Krankheiten   des  Leibes  Behaftete ,    der   etwa  vom  Tode 

les  Ertrinkens  gerettet  wurde,   sei  zu  bedauern,   weü  er  nicht  hat 

terben   dürfen ,    und  verdanke  ihm  keine  Wohltat ;    dagegen  wenn 

liner  an  der  Seele,    die  viel  kostbarer  als  der  Leib  ist,    viele  un- 

leilbare  Krankheiten    hat,    so  habe  für  den  das  Leben  doch  einen 

3Jf  ^ert   und    ihm  erweise  er  eine  Wohltat,    falls  er  ihm  heraushelfe 

lus  dem  Meer  oder  aus  einem  peinlichen  Prozeß  oder  aus  was  es 

Qiiner  wäre." 


2;36  Constantin  Ritter. 

20  b  ist  ot'X  eyy^ioQeiv  gewiß  ebenso  als  impersonale  zu  fassen 
wie  in  c  svextogei. 

Bei  21  d  oIiau  (.iei^  ollycov  ^ü^rjvaiwv,  'iva  ,«/}  um)  inovog 
STtixsigeh'  tfi  ibg  ah]d^cdg  7toXiTL/.fi  %iyvr]  aal  TigccTzeiv  zä  tco?uzixc 
fiovog  TiZv  vlv  fragt  Pohlenz  (S.  159):  „Kann  er  das  wirklich  sagen 
wo  er  nie  unmittelbaren  Einfluß  auf  die  Gesamtheit  gesucht  hat' 
Kann  er  sich  wirklich  in  Parallele  mit  Perikles  stellen,  wie  wir  ej 
doch  nach  dem  Dialoge  tun  müssen,  wie  es  besonders  die  Schei 
duüg  der  Künste  verlangt?  Ich  glaube,  daß  hier  tatsächlich  ein« 
Unebenheit  vorliegt.  Aber  deutlich  ist  auch ,  daß  sie  PI.  nichi 
vermeiden  konnte.  Das  System  der  Künste  verlangt,  daß  ein( 
Staatskunst,  die  unmittelbar  ins  Leben  des  Volks  eingreift,  ar 
der  Spitze  steht.  Aber  die  hatte  in  Wirklichkeit  Sokr.,  dem  PI 
sie  in  den  Mund  legt,  nicht  geübt."  Das  verstehe  ich  nicht 
Sokr.  ist  der  Erzieher,  und  zwar  der  einzige  Erzieher  seines  Volks 
gewesen.  Und  die  wichtigste  Aufgabe  jedes  Staatsmanns  ist  di« 
Erziehung  des  Volks  zu  sittlicher  Lebensführung.  Recht  fruchtbai 
könnte  die  Kunst  der  Erziehung  freilich  nur  im  wohl  geordneter 
Staat  geübt  werden,  wo  Philosophen,  wie  Sokr.  oder  Piaton,  dii 
Zügel  der  Regierung  in  der  Hand  hätten.  Die  Parallele  zwischei 
Sokr.  und  Perikles  kommt  auch  Sy  15  e  vor.  j 

2-4  a.  Bei  der  Zweiteilung  der  oiyiOVf.ievij  in  Asien  und  Europl 
dürfte  man  den  Schüler  erinnern  an  Sali.  Jug.  17,  3  „in  division 
orbis  terrae  plerique  in  parte  tertia  Africam  posuere,  pauci  tantui 
modo  Asiam  et  Europam  esse,  sed  Africam  in  Europa". 

Zum  Schluß  möchte  ich  noch  einige  Parallelen  nachweiser 
die  vielleicht  N.  bei  einer  Neuauflage  gern  verwendet.  Zu  94  e  finde 
sich  eine  solche  in  Hp  I  93  a,  zu  der  feierlichen  Erklärung  vo 
95  d  am  Schluß  des  Phi,  zu  00  a  habe  ich  mir  an  den  Rand  notiei 
Pr  57  ab  (19b,  La  84 e),  zu  00b  Rp  350  e,  zu  02  b  Rp  568  fl 
zu  04 d  N  862b  (Phs  71de,  Po  Old),  zu  06c  Ti  54b,  zu  07 
Ap  39  a,  zu  08a  N  757  b  und  d,  zu  10a  Rp  365  d  (Ap  36b 
zu  12  a  Cr  47e,  zu  13  c  Mx  35  d,  zu  14  b  La  85  b.  Den  i 
09  a  und  24  a  nachgewiesenen  Berührungen  mit  anderen  Schrif 
stellern  sei  die  Erinnerung  beigefügt ,  daß  einige  Sätze  des  Sok 
im  G.  merkwürdig  nahe  mit  Sprüchen  Jesu  verwandt  sind.  M 
wenigstens  fällt  bei  04  e  immer  ein:  „Was  hülfe  es  den  Mensch© 
so  er  die  ganze  Welt  gewänne  und  nähme  doch  Schaden  an  sein 
Seele?"  Und  bei  27c d:  „Wer  dich  schlägt  auf  den  rechten  Backei 
dem  biete  den  linken  auch  dar."  Anderseits  wie  ich  im  Wühel 
Meister  das  Wort  las :   „Was  hilft  es  mir,  gutes  Eisen  zu  fabriziere 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    237 

ivenn  mein  eigenes  Inneres  voller  Schlacken?  und  was,  ein  Land- 
gut in  Ordnung  zu  bringen,  wenn  ich  mit  mir  selber  uneins  bin?" 
dang  in  mir  nach  -/.aicoi  eycoye  oif-iai  -/.ai  xijv  Xigav  uoc  xqeittov 
urai  diacffovHv  ktX.  rj  .  .  ifus  ijuavzqj  aavi.i(fcovov  eivai  aus  G  82  b. 

Menon  (=  Me):  behandelt  von  Lutoslawski  S.  207 — 10,  Gomperz 
3.  296—305,  Natorp  S.  28—41,  Räder  S.  130—37,  Ritter  S.  476 
3is  484,  Windelband-Bonhöffer  S.  154  f.,  Pohlenz  S.  167—193,  408, 
/.  Arnim    S.  126  f.,   Wilamowitz   S.  272  —  282,    II  104,    144—53, 
Prächter  S.  262—65,  M.  Ho£fmann  Ztschr.  f.  G.Ws.  1904  S.  609—14. 
Die  Bedeutung  des  Me  für  Pl.s  Logik  konnte  Lutoslawski 
licht  verborgen  bleiben.     „Theorien  von  der  größten  Wichtigkeit," 
'■'jchreibt  er,    „als  logische  Entdeckungen  anzuschlagen,   werden  zu- 
'■jjrst   im  Me    ausgesprochen  .  .  .     Logische  Übung,    in  den  dialek- 
tischen Schriften    so  oft   empfohlen,    ist  hier  zuerst  eingeführt  als 
*i3in  methodisches  Mittel  des  Fortschritts  auf  dem  Weg  der  Wahr- 
"^iieit  (75  a).     Als  Zweck   logischer  Definition  wird  die  Bestimmung 
ies  Wesens  (72  a  ovaia)   der  Dinge    angegeben ,    das    was  Einheit 
Dringt   in    die    Mannigfaltigkeit    der    äußeren  Erscheinungen    (72  c). 
'"'Diese  Einheit   heißt    eiöog:    noch    nicht  in  dem  Sinn  der  späteren 
Diatonischen  Idee,  doch  schon  als  ein  bestimmter  logischer  Terminus, 
'ä'm  Sinn  der  Gattung  (72  c).    Die  Einheit  der  Gattung  ist  das  wahre 
'^Wesen  der  darin  befaßten  Dinge  (100  b).   —  Nachdem  PI.  so  das 

äSiel  der  Untersuchung  festgestellt  hat ,  gibt  er  weiterhin  einige 
clegeln  über  die  Methode.  Hier  erscheinen  zum  erstenmal  die  Vor- 
•-chriften  der  'Dialektik'."  ...  PI.  verlangt  in  ihrem  Namen,  man 
nüsse  die  Erörterung  auf  die  Grundlage  zugestandener  Prämissen 
%tellen  (75  d).  —  Als  Methode  zur  Sicherstellung  zweifelhafter  An- 
1™ lahmen  empfiehlt  PI.  die  Prüfung  der  Folgerungen,  die  aus  jeder 
»•]  jrrundannahme  sich  ergeben.  Dieses  Verfahren  beschreibt  er  als 
i^^iypothetische  Beweisführung  (86  e)  und  überträgt  es  von  der  geo- 
iifnetrischen  auf  die  philosophische  Untersuchung.  Er  wendet  es  mit 
2" Erfolg  an  auf  das  Problem,  das  er  im  Pr  noch  nicht  zu  lösen  ver- 
i-nochte,  und  findet,  daß  Tugend,  solange  sie  nicht  gelehrt,  sondern 
5^'Dloß  in  Übereinstimmung  mit  der  allgemeinen  Tradition  geübt  wird, 
»'"las  offenbar  nicht  ist,  als  was  sie  in  Ch,  La  und  Pr  galt,  nämlich 
'^  ime  Art  Wissen.  —  Ein  anderes  Zeichen  rege  gewordenen  logischen 
»'/[nteresses  ist  die  sorgfältige  Unterscheidung  zwischen  dem  parti- 
i^-^iular  und  dem  allgemein  bejahenden  Urteil  (73  e,  89  a)"  .  .  .    Ferner 

-  ,Die  Lehre    von    angeborenen  Vorstellungen    wii*d    nicht  allein  mit 

-  iberraschender  Kühnheit    eingeführt,    sondern    durch    ihre  Zurück- 


238  Constantin  Ritter. 

führung  auf  das  metaphysische  Axiom  der  Einheit  der  Natur  (81  d) 
auf  die  breiteste  Grundlage  gestellt.  —  Die  metaphysische  Über- 
zeugung von  apriorischer  Erkenntnis,  die  PI.  im  Me  verkündet,  ist 
ein  neues  Prinzip,  in  dessen  Licht  die  alte  Ironie  und  das  Nicht- 
wissen des  Sokr.  verschwindet.  Noch  bequemt  sich  der  Verfasser 
dazu,  einen  experimentellen  Induktionsbeweis  für  seine  Annahme 
zu  geben  mit  der  Einleitung,  daß  ein  solcher  nicht  leicht  sei  (82  a). 
Die  Wahl  des  Experiments  und  die  Art  seiner  Ausführung  verrät 
einen  viel  höheren  Grad  pädagogischer  Kunst  als  in  den  kleinen 
Dialogen.  —  Alle  Zweifel  an  der  Möglichkeit  und  Wirklichkeit  un- 
trüglichen Wissens  sind  beseitigt-,  der  platonische  Sokr.  behauptet 
vollkommen  sicher  zu  sein  über  die  Tatsächlichkeit  eines  Wissens, 
das  hoch  über  richtige  Mutmaßung  sich  erhebt  (98  b)  und  das  in 
jedermann  erweckt  werden  kann  durch  geschicktes  Fragen  (86  a). 
Der  Unterschied  zwischen  richtiger  Meinung  imd  wissenschaftlicher 
Erkenntnis  besteht  in  der  Verknüpfung  und  Kausalbeziehung,  die 
der  wahren  Erkenntnis  eigentümlich  ist  (98  a).  Wissen  ist  darum 
von  höherem  Wert  als  bloßes  Meinen,  selbst  wenn  dieses  richtig 
ist.  Mit  diesem  neuen  Rüstzeug  versehen  schreitet  PI.  zu  seiner 
Anwendung  auf  dem  Feld  der  Ethik.  Dabei  fühi't  er  die  Un- 
sterblichkeit der  Seele  ein  zuerst  als  wahre  und  schöne  Erzählung 
von  Priestern  und  Dichtern,  dann  bestätigt  er  ihre  Geltung  durch 
Reflexion  über  die  Natur  des  menschlichen  Denkens  (86  b)." 

Wirklich,  der  Fortschritt  in  den  wichtigsten  Punkten  ist  hier 
sehr  gut  und  klar  bezeichnet.  Ahnlich,  nur  kürzer,  bei  Bonhöffer. 
Er  schätzt  auch  die  Form  der  Schrift  hoch  ein,  die  er  als  „einen 
der  reizvollsten  und  am  leichtesten  verständlichen  Dialoge  Pl.s" 
bezeichnet^),  während  Gomperz  urteilt,  die  Kunstform  sei  durch 
den  Stoffreichtum  geschädigt  worden. 

Über  Inhalt  und  Zweck  der  Schrift  sagt  Gomperz  u.  a.  ff. : 
„Der  Me  gilt  uns  als  ein  biographisches  Denkmal  von  hohem  Range. 
Wir  sitzen  hier  zum  ersten  Male  gleichsam  zu  Pl.s  Füßen.  Denn 
der  Lehrberuf  hat  dem  Dialog  seinen  unverkennbaren  Stempel  auf- 


')  Auch  Natorp  S.  32  spricht  von  der  „außerordentlich  feinen  und 
durchdachten  Anlage  des  Dialogs",  hingegen  urteilt  wieder  P  oh  lenz 
(S.  190),  daß  der  Me,  mit  den  früheren  Dialogen  verglichen,  „den  Eindruck 
geringerer  Geschlossenheit  und  Einheitlichkeit  macht".  Auch  darüber, 
was  den  „Kern-  und  Quellpunkt  des  Me  ausmache" ,  ist  Meinungs- 
verschiedenheit. Nach  Gomperz  (S.  303):  „die  Ehrenrettung  der  athe- 
nischen Staatsmänner",  nach  Pohlenz  (S.  190)  eher  die  Lehre  von  der 
Wiedererinnerung.  Auch  Räder  (S.  134  A.  3)  wendet  sich  hier  gegen 
Gomperz. 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    239 

gedrückt.  Fragen  nach  der  Methode  beschäftigen  den  Verfasser  .  .  . 
Die  Lehrtätigkeit  hat  seinen  Blick  erweitert  .  .  Er  hat  bereits  den 
propädeutischen  Wert  des  mathematischen  Unterrichts  erprobt.  Er 
hat  mit  Staunen  wahrgenommen,  wie  das  deduktive  Verfahren  den 
Jünger  zu  Ergebnissen  führt,  die  er  anscheinend  aus  sich  selbst 
herausspinnt  .  .  Auch  sonst  hat  ihn  die  didaktische  Praxis  vor 
neue  Probleme  gestellt.  Sie  hat  ihn  nach  der  Möglichkeit  des 
Lernens  und  Lehrens  überhaupt  fragen  lassen.  So  ward  er  zur 
Erkenntnistheorie  geführt"  .  .  .  (302):  „Unser  Gespräch  bildet  einen 
Knotenpunkt  platonischer  Schriftstellerei.  In  ihm  verschlingen  sich 
Fäden,  die  aus  zwei  verschiedenen  Gesprächen  stammen",  nämlich 
einerseits  aus  dem  Pr,  der  die  Lehrbarkeit  der  Tugend  gelten  zu 
lassen  Anstand  nimmt  im  Hinblick  auf  die  untüchtigen  Söhne 
tüchtiger  Väter,  anderseits  aus  dem  G  mit  seinem  Verdammungs- 
urteil über  die  4  berühmten  athenischen  Staatsmänner.  Daß  die 
Anstände  des  Pr  durch  den  Me  zum  Teil  wenigstens  erledigt,  das 
allzu  schroffe  Urteil  des  G  durch  jenen  geflissentlich  berichtigt 
werde,  darüber  kann  kein  Zweifel  sein.  „Auch  scheint  es  nicht 
unmöglich,  die  Verschiedenheit  der  Stimmung  und  des  Verhältnisses 
zur  praktischen  Politik  zu  erklären,  die  den  Me  vom  G  scheidet  .  .  . 
Im  G  spricht  der  durch  einen  Angx'iff  auf  seinen  Meister"  —  ge- 
meint ist  die  Schmähschrift  des  Polykrates  —  „tief  gereizte  Jünger 
und  zugleich  der  noch  völlig  freie  Schriftsteller,  der  eine  Schul- 
gründung erst  ins  Auge  gefaßt  oder  doch  auszuführen  soeben  erst 
begonnen  hat  ...  —  verspottet  ob  seines  unerhörten ,  des  Spröß- 
lings edler  Ahnen  so  wenig  würdig  scheinenden  Beginnens  .  .  •,  und 
gegen  all  den  Hohn  und  all  die  Anklagen ,  der  Freunde  und  Ver- 
wandten wohl  noch  mehr  als  der  Gegner,  sich  mit  unbeugsamem 
Trotze  wappnend.  Ein  paar  Jahre  sind  dahingegangen.  Die  junge 
Schule  gedeiht,  wenngleich  unter  Kämpfen.  Zu  des  Meisters  Füßen 
drängen  sich  hochstrebende  Jünglinge,  welche  hier  die  Waffen  für 
den  politischen  Parteistreit  zu  erwerben  trachten.  Die  Interessen 
der  neuen  Lehranstalt,  die  Anforderungen,  denen  sie  genügen  soll, 
die  Fehden ,  die  sie  zu  bestehen  hat .  knüpfen  üiren  Leiter  mit 
engeren  Banden  an  das  Leben  .  .  Sein  Selbstgefühl  ist  zugleich 
sicherer  und  maßvoller  geworden  und  gewinnt  daher  minder  heftigen 
Ausdruck  .  ." 

In  ähnlichem  Sinne  äußert  sich  Wilamowitz:  (28-1)  „Die 
Schule  mag  schon  in  ihren  hoffnungsvollen  Anfängen  gestanden 
haben,  als  der  Me  erschien."  (272)  „Man  darf  ihn  als  das  Pro- 
gramm   der  Akademie    bezeichnen."     (279)   „Er   lehrt  uns  zugleich 


240  Constantin  Ritter. 

das  Programm  kennen,  das  PI.  seinem  Leben  nun^estellt  hatte"  .  .  . 
„Sein  Jugendtraum  ist  nicht  aufgegeben;  in  die  Heimat  zurück- 
kehrend, ist  er  auch  zu  ihm  zurückgekehrt.  Freihch  wird  er 
mindestens  zunächst  Politiker  in  andei'em  Sinne  sein,  als  er  einst 
dachte  .  .  Er  bildet  Staatsmänner,  und  —  er  wird  den  Staat 
schreiben,  wird  sagen  wie  der  Staat  sein  soll"  .  .  ,  (274)  „PI.  will 
Lehrer  sein.  Wie  könnte  er  das ,  wenn  es  nicht  ein  lehrbares 
wirkliches  Wissen  gibt?  .  .  Er  besitzt  nicht  nur  dieses  Wissen, 
sondern,  was  wichtiger  ist,  er  weLß  den  Weg  zu  ihm.  Daraus  er- 
wächst ihm  die  Aufgabe,  .  .  diesen  Weg  zu  weisen.  Dem  dienen 
zahlreiche  methodische  Winke  und  Proben  .  .  An  einem  Sklaven 
des  Menon  .  .  erbringt  Sokr.  den  Beweis,  daß  der  menschliche  Ver- 
stand ganz  aus  sich  heraus  eine  begriffliche  Wahrheit  zu  finden 
imstande  ist  .  .  .  Geometrie  war  es,  an  der  PI.  die  neue  Kunst  der 
Dialektik  gelernt  hatte,  auch  die  hypothetische,  deduktive  Methode ; 
Mathematik  sollte  ein  Hauptgegenstand  seiner  Lehre  werden.  Hier 
gibt  er  eine  Probe  und  stellt  den  Nutzen  der  Übung  in  helles 
Licht.  Lehrbarkeit  des  Wissens  ist  durch  die  Tat  bewiesen:  der 
es  bewies ,  muß  auch  der  gesuchte  Lehrer  sein.  (Das  darf  nur 
nicht  ausgesprochen  werden,  darum  wird  nicht  weiter  gesucht.)" 
(278)  „Wenn  wirkliche  Wissenschaft  möglich  ist,  die  Fähigkeit,  mit 
den  eingeborenen  Verstandeskräften  zur  Wahrheit  durchzudringen, 
dem  Menschen  innewohnt,  so  muß  es  auch  ein  politisches  Wissen 
geben ,  muß  also  auch  eine  Erziehung  zum  politischen  Handeln 
möglich  sein.  Wer  die  schlummernde  Kraft  der  Seele,  die  sie  aus 
dem  Reiche  des  Ewigen  mitgebracht  hat,  zu  wecken  versteht,  der 
wird  auch  der  rechte  Politiker  sein  können,  der  Politiker  bildet"  .  .  . 
(281)  „Er  fühlt  seine  Kraft  und  ist  froher  Zuversicht  .  .  In  den 
Wanderjahren  hat  er  die  Gewißheit  erlangt,  daß  es  Wissenschaft 
gibt.  Sie  ist;  sie  ist  lehrbar;  er  will  sie  lehren  .  .  Das  ist  der 
Sinn  des  Ganzen."  PI.  hat  auch  die  Schmähschrift  des  Polykrates 
im  Auge.  „Ihm  konnte  ja  nicht  entgehen,  daß  Polykr.  seinen 
eigenen  G  angegriffen  hatte,  und  es  ist  gerade  die  Kritik  der  großen 
Staatsmänner  Athens,  auf  die  er  zurückkommt.  Ihre  Maßlosigkeit  .  . 
mußte  gemildert  werden,  wenn  die  Athener  zu  PI.  als  Erzieher  .  . 
zur  politischen  Tugend  Vertrauen  fassen  sollten.  Und  er  konnte 
dem  verletzenden  Urteil  den  Stachel  nehmen,  weil  er  selbst  ge- 
rechter urteilen  gelernt  hatte."  .  .  .  „Damit  ist  gesagt,  wie  groß 
der  Wert  des  Me  für  Pl.s  Biographen  ist,  aber  auch,  daß  sein  Ver- 
ständnis daran  hängt,  daß  man  ihm  seine  richtige  Stelle  in  Pl.s 
Leben  anweist.    Auch  seine  Schätzung  als  Kunstwerk  steigt  dann  .  . 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    241 

Der  Me  glänzt  nicht  durch  seinen  künstlerischen  Schmuck ,  das 
starke  Pathos  des  G  fehlt  ihm,  so  daß  er  weder  auf  unsere  Phantasie 
noch  auf  unser  Herz  wirkt,  wenigstens  nur  über  den  Verstand  .  . 
(284)  So  ist  die  Kunst  hier  schlichter,  aber  nicht  geringer  als  in 
den  folgenden  stärker  gewürzten  Schriften ,  dem  Humor  des  Cra, 
dem  tollen  Spiele  des  Eus,  vollends  den  vielstimmigen  Phn,  Sy,  Rp." 

Auch  Pohlenz  glaubt  deutlich  zu  sehen,  daß  der  Me 
nicht  bloß  den  Pr  voraussetzt  und  an  seine  Probleme  anknüpft 
sondern  auch  den  G,  und  daß  er  diesen  berichtigen  will  (S.  168, 
175  A.).  Das  ist  überhaupt  die  durchaus  herrschende  wohl- 
begründete Meinung,  der  z.  B.  auch  Räder  ^)  huldigt.  Dagegen 
Natorp  stellt  den  Me  zwischen  Ch  und  G.  Seine  Erörterung,  sagt 
er^S.  29,  „lenkt  genau  in  das  Dilemma  zurück,  bei  dem  der  Pr 
uns  stehen  ließ  .  .  Auf  die  Verhandlungen  des  letzteren  Dialogs 
wird  dabei  so  bestimmt  zurückverwiesen,  daß  es  schier  zu  ver- 
wundern ist,  wie  man  hier  eine  Beziehung  auf  den  G,  nämlich  eine 
halbe  Zurücknahme  des  dort  gegen  die  athenischen  Staatslenker 
Gesagten,  nur  je  hat  suchen  können". 

Die  Auffassung,  die  N.  des  weiteren  entwickelt,  ist,  wie  beim 
G,  in  vielen  Punkten  eigenartig  und  hat  außerhalb  der  eigentlichen 
Marburger  Schule  wohl  nirgends  Billigung  gefunden.    Es  erforderte 


*)  Räder  erklärt  es  (S.  135)  für  „sehr  wahrscheinlich,  daß  der  Me 
nach  dem  G  geschrieben  ist"  und  macht  dazu  die  Anmerkung:  „Die 
Priorität  des  Me  ist  u.  a.  von  Natorp,  Gercke  (in  Sauppes  Ausg.  des  G, 
S.  39  ff.)  und  Lutoslawski  (S.  207  ff.)  behauptet  worden,  aber  ihre  Beweis- 
gründe können  die  oben  angestellten  Betrachtungen  nicht  entkräften  .  ." 
(130)  „Schon  der  Umstand,  daß  Menon  als  Schüler  des  Gorgias  eingeführt 
wird,  während  der  Meister  nicht  mehr  da  ist,  weshalb  Sokr.  bemerkt, 
daß  kein  Grund  vorhanden  ist,  sich  mit  ihm  zu  beschäftigen  (71  d),  deutet 
an,  daß  Gorgias  schon  einmal  abgetan  ist  (vgl.  Wilamowitz,  Philol.. 
Unters.  I  S.  219)."  Immerhin  macht  Räder  (S.  131  A.  1)  auch  dq,rauf  auf- 
merksam, man  könnte  in  dem  zwischen  G  74  d — e  und  Me  77  b  bestehenden 
Verhältnis  „einen  Beweis  für  die  Priorität  des  Me  vor  dem  G  finden."  — 
Schließlich  kann  man  A  p  e  1 1  (Einl.  S.  10  f.)  zugeben ,  daß  ein  ganz 
zwingender  Beweis  für  die  Priorität  des  G  nicht  erbracht  ist.  Ich 
persönlich  halte  freilich  das  Gewicht  der  dafür  zeugenden  Umstände  für 
groß  genug,  um  keinen  ernstlichen  Zweifel  mehr  aufkommen  zu  lassen. 
Mit  Billigung  schreibe  ich  die  Worte  Räders  nach  (S.  135  f.  A.):  Man 
„darf  nicht  mit  Gomperz  (S.  571)  aus  dem  Grunde  den  Me  später  ansetzen 
als  den  Eu ,  weil  74  a  und  88  a  die  Frömmigkeit  unter  den  Tugenden 
nicht  erscheint;  an  diesen  Stellen  ist  nämlich  nicht  von  den  Kardinal- 
tugenden die  Rede  .  .,  vielmehr  könnte  78 d,  wo  die  Frömmigkeit  neben 
der  Gerechtigkeit  erscheint,  auf  die  Priorität  des  Me  schließen  lassen. 
Die  Frage  hat  aber  keine  wesentliche  Bedeutvmg". 

Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft.    Bd.  191  (1922.  I).  16 


242  Constantin  Ritter. 

zu  viel  Raum,  wollte  ich  sie  hier  ganz  deutlich  machen.  Ich  werde 
es  in  anderem  Zusammenhang  später  versuchen.  Einstweilen  seien 
aber  doch  wieder  einige  der  bedeutsamsten  Sätze  herausgehoben; 
Eine  (Kap.  14  —  21)  in  die  scheinbare  Hauptuntersuchung  ein- 
geschobene Episode  gibt  Antwort  auf  die  „tatsächlich  für  den  Gang 
der  Untersuchung  von  Anfang  bis  zuletzt  bestimmende  Frage"  nach 
der  Lehrbarkeit  der  Tugend.  „Diese  Antwort  aber  bedeutet  nichts 
Geringeres  als  die  für  PI.  endgültige,  nie  wieder  von  ihm  verlassene 
Entscheidung  dieser  den  ganzen  bisherigen  Problemkreis  zusammen- 
haltenden Frage."  In  der  „zentralen  Lehre  des  Me:  vom  Wissen 
als  Wiedererinnern,  d.  h.  vom  Ursprung  der  Erkenntnis  aus  dem 
Quell  des  Selbstbewußtseins,  und  zwar  ausdrücklich  einem  über- 
zeitlichen Grunde  des  Bewußtseins  .  .  kann  man  .  .  nur  das  vorläufig 
abschließende  Ergebnis"  der  vom  Pr  bis  zum  Me  „fortschreitenden 
Vertiefung  des  Erkenntnisbegriflfs  sehen"  .  .  .  „Selbsterkenntnis  ist 
nun  nicht  mehr  getrennt  von  der  Erkenntnis  des  Objekts,  denn  es 
gibt  kein  wahres  Objekt  mehr,  das  nicht  konstruiert  würde  im 
Begriff  der  Erkenntnis,  gemäß  dem  eigenen  Gesetz  des  Erkennens. 
Erkenntnis,  reine  Erkenntnis,  ist  der  selbstei'zeugte  Begriff,  in 
welchem  allein  der  Gegenstand  uns  gewiß  wird.  Das  eigene  Gesetz 
des  Bewußtseins  erzeugt  erst  das  Objekt,  nämlich  als  Objekt  des 
Bewußtseins."  (33)  „Unfraglich  ist  es  .  .  die  Ideenlehre  .  .,  die  in 
dem  berühmten  Satze  sich  birgt:  daß  das  'Lernen',  der  Gewinn 
der  Erkenntnis,  nur  ein  Schöpfen  'aus',  ja  'in'  uns  selbst  sei.  Es 
ist  die  große  Entdeckung,  daß  Einsicht,  Begriff,  Wissenschaft  nur 
im  Denken,  aus  den  eigenen  Mitteln  des  Denkens  sich  zu  gestalten 
vermag,  nicht  lernbar  ist  im  gewöhnlich  gemeinten  Sinne  einer 
Übertragung  von  außen  her  in  die  Seele."  Übrigens  liegt  nach  N.s 
Meinung  in  der  psychologischen  Wendung,  die  Pl.s  Untersuchungen 
über  die  Erkenntnis  im  Me  nehmen,  „eine  nicht  unbedenkliche  Ab- 
biegung  von  der  geraden  Bahn  der  Entwicklung  des  Kerngedankens 
der  'Idee'".  Und  sie  erklärt  sich  daraus,  daß  „hierbei  schon  nicht 
mehr  das  reine  Interesse  theoretischer  Wissenschaft  leitend  war. 
Wir  sehen  PI.  hier  zuerst  in  einer  ganz  neuen  Rolle  auftreten, 
der  des  orphischen  Predigers  und  Propheten;  so  wieder  im  G  und 
weiterhin ,  am  stärksten  im  Phn.  Ein  tiefes  religiöses  Pathos  hat 
von  ihm  Besitz  genommen ,  in  dem  zugleich  sein  Dichtergemüt 
sich  mehr  befriedigt  finden  mochte ,  als  in  ausschließlich  strenger 
Begriffsentwicklung. " 

Ob   wirklich  die  Rolle  des  Predigers  und  Propheten  hier  zum 
erstenmal    von    PI.    übernommen    wird?      Wenn    der    G    dem    Me 


Ber.  über  d.  ib  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    243 

vorausging,  dann  jedenfalls  nicht.  Mir  ist  auch  zweifelhaft,  ob  die 
Propheteni'olle  im  Me  so  ernst  zu  nehmen  ist,  wie  sie  nicht  bloß 
N.,  sondern  auch  andere  (z.  B.  Pohlenz  S.  191  und  Wilamowitz  I 
S.  276)  genommen  haben.  Ich  meine,  es  sei  ein  rhetorisches 
Mittel,  das  PI.  den  Sokr.  anwenden  läßt,  um  den  sprödgewordenen 
Mitunterredner  zur  Fortsetzung  der  Untersiichung  wüllig  zu  machen. 
Menon  hat  zuerst  mit  seiner  eigenen  Weisheit  gar  nicht  gekargt, 
bis  er  sich  zu  seinem  Ärger  in  offenbare  Widersprüche  verwickelt 
sah.  Da  beschwert  er  sich  nun  über  die  bekannte  sokratische  Art 
der  Gesprächsführung ,  vor  der  er  schon  von  anderen  gewarnt 
worden  sei.  Und  wie  Sokr.  nicht  abläßt ,  zieht  er  sich  als  ge- 
lehriger Sophistenschüler  auf  den  eristischen  Satz  zurück:  es  hat 
überhaupt  keinen  Sinn,  nach  einer  objektiven  Wahrheit  zu  suchen. 
Sokr.  kann  und  will  nicht  behaupten,  daß  er  ein  Kriterium  der- 
selben und  sichere  Bedingungen  für  ihr  Zustandekommen  anzugeben 
wisse.  Doch  wenn  man  Autoritäten  gelten  lassen  will  —  wie  ja 
auch  Menon  offenbar  fremder  Autorität  folgt  — ,  so  dürfte  der  Satz 
des  Pindar  und  anderer  Weisen  Beachtung  verdienen,  daß  unsere 
Seele  unsterblich  sei.  Lassen  wir  das,  bloß  als  Hypothesis,  gelten, 
dann  jedenfalls  wäre  gegen  die  Möglichkeit  eines  in  der  Seele 
schlummernden  und  wieder  zu  erweckenden  Wissens  nichts  ein- 
zuwenden. Auch  Natorp  schreibt  (S.  35),  man  möchte  „faßt  schließen, 
daß  die  ganze  mythisch-mystische  Einkleidung  der  Wiederinnerungs- 
lehre  .  .  preisgegeben  werde,  d.  h.  nur  als  dichterische  Zutat  wolle 
angesehen  sein";  und  Pohlenz  betont  (S.  174),  daß  die  Anamnesis- 
lehre  86  b  nur  als  Hypothese  betrachtet  werde  —  freilich,  fügt  er 
nachher  (S.  192)  bei,  als  eine  Hypothese,  für  die  er  „wissenschaft- 
lichen Charakter  in  Anspruch  nehme".  Ich  halte  zur  Beleuchtung 
der  ganzen  Theorie  namentlich  den  Satz  für  wichtig,  über  den  die 
meisten  flüchtig  wegzugehen  pflegen,  81c/d  cire  rijg  ffvaecog  aftdarjg 
Gvyyevovg  ovarjg  .  .  ovöiv  '/.coXvei  tv  [uovov  araf-ivriod^lvTa  .  .  xak'ka 
Tcävxa  avTOv  avevQelv  und  frage :  (mit  den  Worten  meines  Piaton  I, 
572  f.)  „Warum  soU  man  an  eins  zuerst  erinnert  werden  ?  Es  wird 
doch  mindestens  ebenso  gut  sein ,  ein  mindestens  ebenso  fester 
Ausgangspunkt  der  Betrachtung,  wenn  man  jenes  Eine  der  Er- 
fahrung, der  Selbstbeobachtung  entnimmt?  Die  'Verwandtschaft 
der  ganzen  Natur',  das  ist  doch  wohl  nichts  anderes  als  die  stetige 
strenge  Bedingtheit  aller  Einzelheiten  durcheinander,  die  durch- 
gehende kausale  Verknüpfung,  die  den  Suchenden  von  einem  Punkte 
mit  Sicherheit"  —  an  Hand  des  aniag  XoyiOfxog  —  „zum  anderen 
fortleitet.  —  Auch  daran  will  ich  .  .  erinnern,  daß  .  .,  nachdem  die 

16* 


244  Oonstantin  Ritter. 

Erklärung  des  geometrischen  Erkennens  als  Wiedererinnerung  an 
vorzeitliches  Wissen  dem  Menon  plausibel  gemacht  ist,  Sokr.  die 
Bemerkung  anhängt  (86  b):  'in  den  übrigen  Punkten  möchte  ich  für 
diesen  Beweis  nicht  gerade  einstehen:  nur  dafür  werde  ich  immer 
mit  allem  Nachdruck  eintreten,  so  gut  ich  vermag,  in  Wort  und 
Tat,  daß  der  Glaube,  man  dürfe  suchen  was  man  nicht  weiß,  uns 
besser  macht  und  mannhafter  und  tüchtiger'." 

Auch  Pf  leider  er   mag   hier  das  Wort  erhalten.     Mit  einem 
•^hebe  dich  weg  von  mir,  Satan',   sagt  er  (S.  268),  schließt  der  G. 
Aber   unser  PL    hat  einen  harten  Kopf,    und  wo  er  seiner  Sache 
sicher   ist,    büdet    der    philosophisch    stolze  Trotz   einen  Hauptzug 
seines  Wesens.    Darum  noch  ein  allerletztes  Woi-t  an  die  Gegner, 
die  es  nicht  ihrerseits  haben  sollen.    Denn  ganz  unverkennbar  setzt 
hier  der  Me  ein  und  greift  noch  einmal  zurück  auf  .  .  den  Pr,  um 
zu  erklären :  Und  ich  hatte  und  habe  eben  doch  Recht ;  tatsächlich 
gibt  es  keinen  Lehrer  der  Tugend  .  .    Denn  die  Sophisten  (und  ihre 
fast  noch  schlimmeren  Nachfolger,  die  Rhetoren)  taugen  nichts,  das 
wissen   wir  schon  lange.     Aber,    und  das  ist  das  interessante  ver- 
hältnismäßig Neue  .  .,  ebensosehr  im  Unrecht  oder  fast  noch  mehr 
sind   ihre  gedankenlosen  Gegner,    z.  B.  Anytus,    der  Ankläger  des 
angeblichen  Sophisten  Sokr.,  ähnlich  Kallikles  im  G,  der  sich  über 
die    Sophistik    gleichfalls    nicht    geringschätzig   genug    aussprechen 
kann  .  .  .     Die  Menge  .  .  vom  Schlag   des  Anytus  will  .  .  von  gar 
keiner  ausdrücklichen  Unterweisung  oder  Erziehung  etwas  wissen  .  .  , 
Der   alte  Schlendrian    der    zufälligen  Überlieferung  von  Geschlecht 
zu  Geschlecht  .  .  soll  .  .  wiederhergestellt  werden,  und  die  Staats- 
männer  mögen,  auch  in  Zukunft  wild  wachsen  .  ."      So  haben  wir 
hier,    meint   P.,    nach    der   Enttäuschung,    die    PI.    durchzukosten 
hatte,  weil  ein  von  ihm  mit  zuversichtlichen  Erwartungen  kühn  ent- 
worfener,   als  'Phase  ^'  aus  der  Rp  durch  scharfsinnige  Analyse 
auszuscheidender  Plan  zur  Neugestaltung  des  ganzen  Staatswesens 
nach  den  Winken  des  Sokr.  nur  kühle  Ablehnung  und  Spott  erfuhr, 
(S.  270)    „des    Staatsreformators    abschließendes    Ceterum    censeo : 
Noch  einmal  habe  ich  euch  aufs  genaueste  gezeigt,  daß  es  mit  dem 
bisherigen  Wesen    nichts    ist,    am  allex'wenigsten  mit  dem  Laufen- 
lassen   von    allem,    wie    es  Gott    oder  vielmehr  dem  Zufall  gefällt, 
wenig    allerdings    auch    mit    den    höchst    unvollkommenen    Anläufen 
der  Sophisten  zu  etwas  Besserem.    Mich  aber,  der  euch  das  Beste, 
der   euch    eine  durchgreifende  Reform  anbietet  und  der  als  treuer, 
aber    auch    strenger  Arzt    die  Schwerkranken  retten  will ,    habt  ihr 
nun  ebenfalls  abgewiesen.    Was  bleibt  mir  da,  als  den  Erdenstaub 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    245 

von  den  Füßen  zu  schütteln  und  mich  in  eine  reinere  Sphäre 
emporzuschwingen ,  die  mir  wie  die  Erinnerung  aus  einer  andern 
höheren  Welt  aufgeht?"  —  Zurückschauend  meint  P. :  „Ap,  Cr, 
Eu,  G  und  Me  haben  sich  uns  .  .  als  die  fünf  schönen,  klar  und 
greifbar  zusammenhängenden  Schriften  erwiesen,  welche  den  Über- 
gang PI. 8  von  seiner  ersten  Periode  in  die  zweite  vermitteln.  Die 
drei  vorderen  gehören  ganz  noch  jener  an ,  die  beiden  letzteren 
überschreiten  mit  ihrem  Aufblitzen  von  eschatologischem  und  ideo- 
logischem Gehalt  bereits  die  Schwelle  der  zweiten.  Alle  mit- 
einander aber  zeigen  den  schmerzlichsauren  Abschied  des  größten 
Soki'atikers  von  seiner  ersten  heißen  Liebe ,  nämlich  der  Staats- 
reform der  Rep.  A." 

Ferner  soll  Kühnemann  gehört  werden.  Er  schreibt  (Grund- 
lehren S.  226):  „Die  Klarheit  des  Bewußtseins  ist  das  Ziel  des 
Sokr.  .  .  Hier  kommt  zum  Ausdruck,  daß  die  entwickelte  Wissen- 
schaft zugleich  aufzufassen  wäre  als  entwickeltes  menschliches  Be- 
wußtsein."   Das  wird  freilich  ganz  in  Natorps  Sinn  zu  verstehen  sein. 

Hoffmann  schließt  mit  den  Sätzen:  „Der  Me  ist  nach  Form 
und  Inhalt  zum  Lesen  in  der  Schule  sehr  geeignet.  Im  Anfang 
bietet  er  logische  Übung  im  Definieren,  in  der  Mitte  das  heuristische 
Verfahren  an  einer  leichten  mathematischen  Aufgabe ,  wobei  die 
Mathematik  als  Vorschule  philosophischen  Denkens  erscheint,  dann 
in  der  Verhandlung  mit  Anytos  historische  Betrachtung  der  athe- 
nischen Staatsmänner  und  der  Stellung  des  Sokr.  zu  seinen  Mit- 
bürgern ,  endlich  philosophische  Anregung ,  sich  über  den  Unter- 
schied von  Meinen  und  Wissen  klar  zu  werden." 

Wenig  befriedigt  bin  ich  von  A.  v.  Kleemanus  Aufsatz  über 
den  Me  im  A.  f.  G.  d.  Ph.  1907  S.  50—75.  Gut  ist  darin  die  kurz 
gedrängte  Inhaltsangabe  S.  55 — 7.  Richtig  finde  ich  auch  das  gegen 
Natorp  S,  51  ff.  Vorgebrachte :  Die  beiden  von  N.  für  unvereinbar 
gehaltenen  Thesen  des  Pr:  —  1.  Tugend  ist  Erkenntnis,  2.  Tugend 
ist  nicht  lehrbar  —  stehen  bloß  in  scheinbarem  Gegensatz ,  denn 
Protag.  und  Sokr.  verstehen  unter  Tugend  nicht  dasselbe.  „Sokr. 
glaubt  nicht,  wie  Protag.,  daß  die  Tugend  in  der  Erwerbung  des 
Wissensstoffes  .  .  bestehe,  sondern  auf  der  Fähigkeit,  begrifflich 
zu  denken  und  zu  erkennen,  gegründet  sei"  .  .  .  „Schon  im  Pr  be- 
ruht die  wahre  Tugend  auf  der  sokratischen  Erkenntnis  und  alles 
andere  ist  nur  Scheintugend  .  .  Dies  ist  .  .  allerdings  nur  zwischen 
den  Zeilen  zu  lesen ,  noch  nicht  mit  rückhaltloser  Offenheit  aus- 
gesprochen. Das  besorgt  zur  Genüge  der  G.  In  diesem  Dialog 
verwirft  PL    alles,    was    nicht    auf  die  .  .   cpQOvr^aig   gegründet  ist. 


246  Constantin  Eitter. 

Es  ist  eine  antike  'Götzendämmerung'  .  .  .  Der  Me  aber  revidiert 
diese  Ansicht."  „Es  konnte  PI.  sicher  selbst  auf  die  Dauer  nicht 
befriedigen ,  prinzipiell  die  letzten  und  wüstesten  Demagogen  mit 
den  großen  Vaterlandsbefreiern  Miltiades  und  Themistokles  auf  die- 
selbe Stufe  zu  stellen."  Er  findet  einen  Ausweg  „in  der  prinzipiellen 
Anerkennung  der  dö^a  oq&i]".  Aber  was  dann  über  die  im  Me 
angeblich  zugrunde  liegende  'Ideenlehre'  gesagt  wird,  ist  mir  zum 
guten  Teil  unverständlich.  Es  kommt  mir  oft  vor,  als  gerieten 
die  meisten  Leute  in  eine  Ai't  hypnotischen  Zustand ,  sobald  sie 
irgendwo  in  einer  platonischen  Schrift  die  'Ideen'  wittern.  Und 
mir  wird  es  schwindlig,  wenn  ich  lesen  muß,  was  sie  in  solchem 
Zustand  zu  schreiben  pflegen.  Nach  K.  soll  es  klar  sein,  daß  im 
Me  ein  Angriff  auf  die  Ideenlehre  vorausgesetzt  sei.  Denn  diese 
in  der  Ausgestaltung,  die  sie  im  Sy  erfahren  habe,  sei  vorausgesetzt 
und  werde  verteidigt  im  Nachweis  der  Möglichkeit  des  Erkennens. 
Wenn  man  sich  frage ,  von  wem  der  Angriif  ausgegangen  sei ,  so 
werde  man  an  einen  Sokratiker  denken  müssen ,  —  und  nun, 
natürlich!  (S.  71)  „wohl  am  ehesten  an  Antisthenes  ^).  .  .  Seine 
Gegnerschaft  gegen  die  Ideenlehre  ist  ja  bekannt." 

Der  Angriff  auf  die  Ideenlehre  sei  ja  übrigens  berechtigt,  sei 
(64)  „überaus  triftig"  gewesen.  PI.  aber  habe  ihn  natürlich  nicht 
geduldig  hinnehmen  können.  Er  habe  dann  den  ursprünglichen 
Einwand,  nämlich  (67)  daß  die  Idee,  auch  wenn  sie  existierte,  un- 
erkennbar wäre,  erweitert  (65)  „zu  einem  solchen  gegen  die  Mög- 
lichkeit des  Forschens  überhaupt,  und  das  sei  „nicht  unschwer  (!) 
zu  verstehen".  Denn  „fürs  erste  knüpfte  er  damit  an  einen  schon 
bekannten  Gedanken  an;  zugleich  erreichte  er  auch,  daß  der  sehr 
triftige  Einwand  durch  die  Übertreibung  karikiert  und  diskreditiert 
wurde.  Diese  Methode  der  Polemik  ist  ja  Piaton  eigen".  —  Um 
das  glaublich  zu  machen  und  PI,  so  ohne  weiteres  zum  Sophisten 
nach  Art  des  Polos  und  Thrasymachos  zu  stempeln,  beruft  sich  K. 
einfach  auf  Gomperz  II  251  ^). 

Der  stärkste  Halt  seiner  befremdlichen  Auslegungen  aber  ist 
nichts  anderes  als  ein  einfaches  Mißverständnis  des  aus  87  d  ab- 
gedruckten Satzes  äXXo  ri  tJ  dyad-bv  avrö  (fafusv  elvai.  rr^v  agevtjv, 


^)  Das  bekannte  Fahrwasser,  in  das  wir  damit  gelangt  sind,  wird 
denn  nun  auch,  namentlich  auf  den  letzten  Seiten  der  Abhandlung,  als 
bequemer  Tummelplatz  für  geistreiche  Hypothesen  ausgenutzt. 

^)  Dagegen  finde  ich  bei  Kuiper,  De  Lysidis  dialogi  origine  etc. 
den  richtigen  Satz  (p.  106):  „ut  solet  refellit  Plato,  non  extollendo  nee 
obtrectando,  sed  ratiocinando." 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    247 

y,al  airt]  y  vnod-eoig  i-iivei  yj/.üv,  aya&ov  avrö  elpai;  K.  spricht 
(S.  57)  von  der  hier  gemachten  „Annahme,  daß  die  Tugend  das 
Gute  selbst  sei"  und  erklärt  in  Anm.  20 :  „Zunächst  scheint  dies 
zu  bedeuten ,  daß  die  Tugend  das  Gute  an  sich ,  d.  h.  mehr  ein 
Gut  ist  als  jedes  andere  Ding;  also:  das  höchste  Gut"  und  tiftelt 
nachher  (S.  66)  darüber:  „warum  PI.  nicht  sagt,  die  Tugend  ist 
ein  Gut,  sondern  die  Fassung,  die  Tugend  ist  das  Gut  selbst, 
vorzieht."  Und  dazwischen  hinein  (S.  62)  sagt  er  unumwunden: 
„Dieses  avTo,  welches  dem  aya&ov  an  die  Seite  gesetzt  ist,  be- 
weist unwidersprechlich ,  daß  der  Me  die  Ideenlehre  voraussetzt, 
und  zwar  die  im  Sy  enthaltene  Form  derselben."  Jenes  avro  ge- 
hört aber  gar  nicht  zu  ayaü^ov,  sondern  es  ist  Subjekt,  und  erhält 
nachher  durch  die  Apposition  ri]v  ageTijv  seine  unzweideutige  Be- 
stimmtheit. "Wer  griechisch  kann  und  etwas  in  PI.  eingelesen  ist, 
wird  sich  darüber  nicht  täuschen ,  wie  sich  auch  weder  Georgii, 
noch  Apelt  noch  andere  Übersetzer  darüber  getäuscht  haben.  — 
Solcherlei  Betrachtungen  führen  dann  K.  glücklich  zu  dem  zu- 
versichtlich ausgesprochenen  Satze  (S.  70) :  „Die  Reihenfolge  Sy — 
Me — Phs  scheint  mir  außer  jedem  Zweifel." 

Prächter  schreibt  (S.  264):  „Die  Tüchtigkeit  der  Staats- 
männer beruht,  insofern  sie  nicht  durch  Unterweisung  fortgepflanzt 
werden  kann,  auf  der  richtigen  Vorstellung,  die  ihnen  weder  von 
Natur  noch  durch  Lehre,  sondern  durch  göttliche  Eingebung  (S^eia 
l-ioiQa  99  e)  zuteil  wird.  Hier  empfindet  der  Leser  eine  Schwierig- 
keit. Nach  der  früheren  Auffassung  wäre  zu  erwarten,  daß  die 
richtige  Vorstellung  jedermann  von  Natur  aus  innewohne  .  .  Die 
Schwierigkeit  ist  wohl  so  zu  lösen,  daß  die  von  Natur  aus  sozusagen 
schlafend  vorhandene  richtige  Vorstellung  zur  Wirksamkeit  erst 
geweckt  werden  muß.  Das  kann  entweder,  falls  sie  zum  Wissen 
erhoben  wird,  durch  avä(.ivr^Gig,  d.  h.  Lehre,  oder,  falls  sie  auf  der 
Stufe  der  richtigen  Vorstellung  verbleibt,  durch  göttliche  Inspiration 
geschehen.'"  Diese  Erklärung  scheint  mir  recht  verkünstelt.  Und 
ich  verstehe  nicht,  wie  die  Erwartung  zu  begründen  wäre,  „daß 
die  richtige  Vorstellung  jedermann  von  Natur  aus  innewohne".  Die 
Mehrzahl  der  Menschen  besitzt  jedenfalls  in  einem  Staat  von  der 
Verworrenheit  der  athenischen  Demokratie  ganz  unrichtige  Vor- 
stellungen von  dem ,  was  dem  Einzelmenschen  und  dem  Staats- 
wesen gut  ist.  Nur  wenige  besitzen  davon  richtige  Vorstellungen 
d^Eia  (.loiga,  vielleicht  Sokr.  allein  war  im  Begriff,  die  richtige  Vor- 
stellung, die  er  (ebenfalls  ^ela  iiioiQa)  hatte,  zur  Wissenschaft  zu 
erheben.     Was  ^ei(^  (^oiqct  geschieht,  ist  etwas  unserem  Verstand 


248  Constantin  Ritter. 

Unerklärliches ,  bildet  aber  keinen  Gegensatz  zu  dem ,  was  „von 
Natur"  ist  oder  geschieht.  Im  wohl  eingerichteten  Staat  wäre  durch 
die  für  die  Erziehung  getroffenen  Maßnahmen,  durch  die  überlegte 
Beeinflussung  des  jugendlichen  Gemüts ,  dem  auch  auf  dem  Weg 
der  sinnlichen  Wahrnehmung,  vor  aller  Belehrung,  nur  Klares,  Zu- 
sammenstimmendes, Schönes  sich  darböte,  dafür  gesorgt,  daß  die 
richtigen  Vorstellungen  über  das  ayad-ov  und  y.al6v  wirklich  in 
jedermann  sich  bilden.  Mit  der  allgemeinen  Trage  nach  der  Mög- 
lichkeit des  Erkennens ,  die  in  angeborenen  Vorstellungen ,  etwas 
rein  Apriorischem ,  gefunden  wird ,  darf  man  die  besondere  nach 
dem  Zustandekommen  richtiger  staatsmännischer  Erkenntnis  nicht 
zusammenwerfen. 

Noch  einige  Einzelheiten  des  Textes,  in  deren  Erklärung 
Meinungsverschiedenheit  besteht :  Am  wichtigsten  ist  die  Beurteilung 
der  ganzen  Anytosepisode,  und  innerhalb  derselben  sind  von 
fraglichster  Bedeutung  die  Worte,  die  Sokr.  95  a  über  den  grollend 
Abgetretenen  äußert:  ^^Avvtog  {.itv  fioi  doy.el  yiaXenaiveiV  y.al  ovöfv 
&aviJ.aCoj'  olevai  yceg  fue  ^tgiuTov  /niv  yMTrjyoQelv  tovrovg  zovg 
avdgag,  STteira  r^yeXxai  Y.al  avrbg  eivai  eig  tovtcov.  aXX  ovrog  edv 
note  yvi-Ji,  ol6v  Iozl  to  '/.ay.iog  Xeyeiv,  TravoexaL  xaXeitahcov,  vvv 
öi  ayvoel.  Voraus  gingen  die  Worte  des  Anytos :  co  ^luxQareg, 
Qqdiojg  /uot  öoxslg  xaxwg  )Jyeiv  avd-Q('j7T.ovg.  eyio  f.iiv  ovv  av  Goi 
üv(.ißovXEvoctL}.ti,  Ei  id-eXeig  £,«ot  yiel&eoO^aL,  €L'Xa߀iai}cci  ktI.  Am 
ausführlichsten  behandelt  die  Stelle  Schanz  in  seinem  Kommentar 
zur  Ap.  S.  89 — 91.  Daß  der  Satz  Fav  7cote  yi>w,  oiov  fOTi  ro  xay.(7.g 
XiyEiv,  TiavOExaL  ^aXEnaivwv  ein  vaticinium  ex  eventu  enthält,  wird 
schwerlich  jemand  bezweifeln.  Die  Unbestimmtheit  des  Ausdrucks 
macht  eine  sichere  Deutung  unmöglich.  Ich  meine  aber,  es  handle 
sich  doch  jiur  um  ein  Entweder  —  Oder.  Nämlich  entweder  ein 
xa/Cücj  XtyEiv,  das  über  Anytos  erging,  eine  Verlästerung  und  Ver- 
leumdung, unt«r  der  er  zu  leiden  hatte,  oder  um  ein  v.ay,<.og  XiyEiv^ 
das  er  sich  über  andere  erlaubte.  An  die  zweite  Möglichkeit  scheint 
kein  Ausleger  bisher  gedacht  zu  haben.  Und  doch  liegt  sie  sehr 
nahe.  Der  Sinn  wäre  der:  Anytos  nimmt  es  persönlich  übel,  meint, 
es  geschähe  ihm  selber  Unrecht,  wenn  man  von  Politikern  seines 
gleichen  sagt,  sie  haben  wohl  auf  gut  Glück  manches  richtig  ge- 
troffen, aber  im  Grund  verstehen  sie  nichts.  Er  seinerseits  spricht 
ohne  Bedenken  die  oft  gehörten  Anklagen  gegen  die  „Sophisten" 
nach,  obgleich  er  die  Leute  rein  gar  nicht  kennt.  So  wird  er  auch 
den  Sokr.,  dem  Gerede  anderer  folgend ,  als  Jugendverderber  mit 
anklagen  —  oder,  wenn  die  Anklage  von  einem  gewissenlosen,  nach 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    249 

Volksgunst  haschenden  Streber  erhoben  wii'd ,  seinem  bornierten 
Haß  gegen  alle  Neuerer  in  der  Jugenderziehung  so  weit  nachgeben, 
daß  er  mit  dem  Gewicht  seiner  Person  den  nichtigen  KJäger  unter- 
stützt. Die  ganze  Schilderung  des  Auytos  im  Me  ist  so  gehalten, 
daß  der  Leser  glauben  kann,  jener  habe  mit  seinem  Tun  einen 
guten  Zweck  verfolgen  wollen ;  aber  er  ist  ein  Mann  der  Schlag- 
worte ,  der  drauf  losfährt,  wenn  die  Parteitheorie  einen  Punkt  als 
gefährdet  bezeichnet:  das  und  nicht,  wie  Schanz  meint,  ,,Leiden- 
schaftlichkeit"  ist  der  Fehler  seines  Wesens,  den  PI.  vor  uns  bloß- 
legt. Später  wird  er  ihn  selber  erkennen  ^).  Und  dann,  „wenn  er 
erkennt,  was  es  mit  dem  Verlästern  für  eine  Bewandtnis  hat", 
nämlich  daß  sie  zur  Verurteilung  und  Vernichtung  eines  vollkommen 
Unschuldigen  führen  kann,  und  daß  er  selber,  indem  er  der  Ver- 
lästerung  Gehör  gab  und  sie  weiter  trug,  dem  Volk  von  Athen, 
dem  Vaterland,  dem  er  nützen  wollte,  Schaden  zugefügt  hat:  dann 
wird  er  aufhören,  dem  Sokr.  zu  zürnen,  d.  h.  dann  wird  er  ernste 
Reue  empfinden.  —  Ich  glaube,  wenn  wir  die  „xenophontische" 
Apologie  nicht  hätten,  die  für  mich  lediglich  keine  Glaubwürdigkeit 
besitzt,  so  würde  diese  Auslegung  des  Me  wohl  ohne  Anstand  als 
die  wahrscheinlichste  anei"kannt.  Man  würde  auch  den  Schlußsatz 
des  Dialogs  noch  heranziehen  und  in  ihm  den  Gedanken  finden: 
leider  hat  Anytos  sich  nicht  zur  Vernunft  bringen  lassen,  und  so 
hat  er  den  Athenern  eben  nicht  genützt,  sondern  geschadet  —  mit 
seinem  Auftreten  gegen  Sokr. 

Dies  also  wäre  die  eine  mögliche  Erklärung  der  in  Rede 
stehenden  Worte.  Sehen  wir  uns  nun  auch  die  andere  an.  W^ie 
stellt  sich  die  Sache  dar,  wenn  wir  unter  dem  xcr/wg  Xayeiv  eine 
üble  Nachrede  verstehen,  die  Anytos  über  sich  ergehen  lassen 
mußte  ?  —  Wenn  er  einmal  wirklich  verleumdet  und  verlästert  wird, 
dann  wird  er  dem  Sokr.  nicht  mehr  übelnehmen,  was  dieser  über 
ihn  und  andere  gefeierten  Politiker  als  bloße  Günstlinge  des  Glücks 
gesagt  hat,  wird  vielmehr  einsehen,  daß  diese  Bemerkungen  keine 
Verleumdung  enthielten ,  sondern  in  harmloser  Ehrlichkeit  aus- 
gesprochen wurden. 

Wir  wissen  nichts  Sicheres  über  das  Ende  des  Auytos.  Aber 
die  Vermutung,  daß  er  unglücklich  geendet,  drängt  sich  doch  an- 
gesichts der  bei  Zeller  (Phil.  d.  Gr.  II,  1  ■*  S.  200  f.  A.)  zusammen- 
gestellten Berichte    auf.     Und    man    kann    es   so  auffassen ,    als  ob 


^)  Ich  habe  bei  Besprechung  der  Ap  darauf  aufmerksam  gemacht, 
daß  nach  29  c  Anytos  schon  bei  der  Unterstützung  der  Klage  des  Meletos 
mit  sich  selbst  nicht  ganz  einig  gewesen  zu  sein  scheine. 


250  Constantin  Ritter. 

ihn  PI.  sogar  in  Schutz  nehmen  wollte  gegen  ungerechte  An- 
feindungen ,  denen  er  erlag  ^).  Denn  dem  nicht  wirklichen ,  nur 
von  Anytos  dafür  angesehenen  Verlästern  des  Sokr.  wird  ja  ein 
in  Wahrheit  als  Verlästerung  zu  bezeichnendes  Gerede  entgegen- 
gehalten ,  das  ihm  durch  spätere  Erfahrung  bekannt  werden  soll. 
Ich  weise  ausdrücklich  darauf  hin,  daß  PI.  in  seiner  vornehmen  Art 
(cf.  G  70d  ff.,  25  d  u.  Th  73 d  ff.)  keine  Notiz  nimmt  von  dem  Gerücht, 
das  im  Jahr  409  (s.  Schanz  S.  20,  Aly  —  s.  unten  —  S.  173)  den 
Anytos  der  Bestechung  der  Richter  zieh,  und  daß  er  im  7.  Brief  (25  b) 
die  eftier/,eia  der  aus  der  Verbannung  zurückgekehrten  Volksmänner 
rühmt ,  zu  denen  eben  auch  Anytos  gehört ,  und  die  Anklage  und 
Verurteilung  des  Sokr.  als  eine  zufällige  Verkettung  unglücklicher 
Umstände  darstellt.  Dem  Schlußsatz  des  Me  Tceld^e  yial  .  .  ^!Avvtov^ 
%va  TtgaoreQog  f] '  cug  iav  7c£iai]g  xovzov,  eariv  o  ti  xat  l40-)]vaiovg 
ovr^oeig  weiß  ich  bei  dieser  Auslegung  keine  bestimmte  Beziehung 
zu  geben.  Daß  aber  auf  ein  bestimmtes  Geschehnis  damit  hin- 
gedeutet werde,  das  in  jener  Zeit  jeder  Leser  verstand,  wo  eben 
die  mangelnde  ngaorr^g  des  Anytos  für  das  Volk,  das  sich  durch 
ihn  beeinflussen  ließ ,  bedauerliche  Folgen  nach  sich  zog ,  diesen 
Eindruck  kann  ich  nicht  los  werden. 

Die  beiden  von  mir  zur  Wahl  gestellten  Erklärungen,  die  ich 
ausschließlich  aus  Pl.s  Schriften ,  vor  allem  dem  Me  selbst ,  ent- 
wickelt habe,  weichen  völlig  ab  von  der,  die  Schanz  uns  als  fast 
gesichert  hinstellt.  Er  schreibt:  „Die  Hauptsache  ist,  daß  Anytos 
zur  Feststellung  des  Satzes,  daß  berühmte  Männer  nicht  auch  ihren 
Söhnen  zu  gleicher  Berühmtheit  verhelfen  können,  beitragen  muß. 
Darin  haben  wir  den  Schlüssel  der  Anytosepisode.  Auch  Anytos 
war  ein  sehr"  (?)  „berühmter  Mann  und  hatte  einen  Sohn :  wie  stand 
es  mit  diesem?  Die  Antwort  liegt  in  dem  scheinbar  unmotivierten 
Zorn  des  Anytos  über  das  Resultat  der  Unterredung  .  .  .  Dem  was 
Anytos  als  yia'/.wg  "kiytiv  von  selten  des  Sokr.  ansieht ,  wird  ein 
anderes  xaxtDg  Myeiv  gegenübergestellt,  das  dem  Anytos  erst  die 
Augen  öffnen  soll,  was  es  heißt  xaxwg  XtyEiv.  Selbstverständlich 
muß  sich  auch  das  zweite  xaxwg  kiyELV  auf  das  Erziehungsresultat 
des  Anytos  beziehen,  es  muß  ungleich  schärfer  sein."  —  Ein  merk- 


^)  Doch  sind  es  nur  Träumereien,  denen  sich  H.  Mai  er  hingibt, 
indem  er  schreibt  (Sokrates  S.  186):  „Erst  in  jüngster  Zeit  wiederhatten 
die  Sokratiker  auf  diesen  Mann  eine  Flut  giftigster  Schmähungen  ge- 
häuft .  .  PL  hatte  nicht  Lust,  in  das  Lied  seiner  sokratischen  (lenossen 
einzustimmen.  In  dem  Satz  ovTog  fAtv  fäv  noia  yv(t)  xrX.  liegt  eine  still- 
schweigende Mißbilligung  des  Vorgehens  der  Sokratiker  seitens  Piatos." 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    251 

würdiger  Satz  !  „selbstverständlich"  ?  —  „auch"  ?  Bezieht  sich  denn 
wirklich  das  erste  xaxwg  Xeyeiv  „auf  das  Erziehungsresultat  des 
Anytos"?  Wie  meint  das  Schanz?  Lassen  wir  ihn  fortfahren: 
„Wo  finden  wii'  ein  solches?  In  der  xenophontischen  Apologie. 
Dort  steht  ja  die  'infame'  Prophezeihung  des  Sokr.,  welche  sich 
glänzend  insofern  erfüllt  hat,  als  der  Sohn  des  Anytos  ein  abscheu- 
licher Trunkenbold  geworden  ist.  Wir  haben  aber  auch  der  Ver- 
mutung Raum  gegeben,  daß  Antisthenes  es  war,  der  einen  rohen 
Angriff  auf  Anytos  unternommen.  Plato  teilt  also  in  der  Anytos- 
episode  einen  Hieb  aus ;  er  verurteilt  den  'kjmischen'  Angriff"  —  ? ! 
Man  sollte  es  nicht  für  möglich  halten,  zu  welchen  Albernheiten 
die  bloß  philologische  Gelehrsamkeit  treiben  kann  ^).  Und  der  Mann, 
der  solches  schrieb ,  hatte  sich  jahrelang  mit  der  Herausgabe  des 
kritisch  geläuterten  PI. textes  befaßt!  —  „und  stellt  in  feiner  Weise 
seine  Opposition  gegenüber,  vielleicht  fertigt  er  damit  zugleich  die 
gegen  ihn  gerichtete  xenophontische  Ap  ab."  —  Eins  hat  Seh.  be- 
züglich dieser  zweifelhaften  Ap  klar  nachgewiesen,  nämlich  daß  sie 
ihren  Stoff  nicht  einfach  aus  den  Memorabilien  geschöpft  haben 
kann.  Aber  unbegreiflicherweise  hat  er  nicht  gesehen,  daß  sie  von 
Pl.s  Phn  mindestens  ebenso  abhängig  ist  wie  von  Pl.s  Ap.  Der 
Gedanke,  daß  PI.  im  Me  auf  sie  Bezug  nehme,  ist  geradezu  wider- 
sinnig, wenn  feststeht,  daß  der  Phn  zeitlich  dem  Me  nachfolgt.  Die 
Abhängigkeit  der  „xenophontischen"  Ap  vom  Phn  hat  Wilamowitz 
längst  dargetan  ^).  Keinem  Urteilsfähigen,  der  beide  Schriften  hinter- 
einander liest,  kann  sie  sich  verbergen.  Die  Frage,  ob  Xenophon  trotz- 
dem der  Verfasser  der  Schrift  sein  könne,  ist  damit  noch  nicht  ent- 


^)  Vgl.  auch  Räder  S.  137:  „Wahrscheinlich  hängt  die  versöhn- 
lichere Wendung  im  Gedankengange  Pl.s,  welche  im  Me  zutage  tritt, 
in  irgendeiner  Weise  mit  dem  Bruch  zusammen,  der  zwischen  PI.  und 
Antisthenes,  dem  intransigentesten  aller  Sokratiker,  eingetreten  ist." 

")  Im  Hermes  von  1897  (32)  S.  99  ff.  —  Ein  Nachtrag  aus  Wilamo- 
witz: PI.  I  S.  278  wird  von  ihm  (cfrutg  koyinfiog  in  98  a  widergegeben 
mit  „Dialektik".  Das  geht  nicht  an.  Gegen  die  beigefügte  Anmerkung 
ist  nichts  einzuwenden:  „schon  vorher  86a  ist  gesagt,  daß  die  richtige 
Meinung  durch  'Fragen'  in  Wissen  verwandelt  wird,  wie  Sokr.  aus  dem 
Knaben  das  Richtige  herausgefragt  hat.  Es  ist  eine  andere  Bezeichnung 
für  die  platonische  Methode,  die  Dialektik".  Ja,  nur  in  Frage  und 
Antwort,  wie  oft,  z.  B.  Cra  90 cd  gesagt  wird,  kann  das  öic(lsyea9ai 
sich  abspielen  und  die  Kunst  des  Dialektikers  zeigt  sich  vor  allem  im 
methodisch  richtigen,  zielbewußten  Fragen.  Ein  Rhetoriker,  wie  Polos, 
versteht  sich  nicht  darauf,  G  67c.  Aber  gleichbedeutend  mit  Dialektik 
ist  ahiKs  loyia/Liog  eben  doch  nicht.  Vgl.  dazu  das  Kapitel  der  Logik  in 
meinem  Piaton  (Teil  III,  1,  8). 


252  Constantin  Ritter. 

schieden,  geht  mich  aber  hier  nichts  an.  Jedenfalls  darf  der  Inhalt 
der  weiß  Gott  aus  welchen  weiteren  Quellen  gespeisten  nicht  mit  Ver- 
trauen hingenommen  werden.  Ob  Anytos  überhaupt  einen  Sohn  gehabt 
hat,  ist  mir  zweifelhaft.  Und  wenn  ein  solcher  vorhanden  war  und 
auf  ihn  als  einen  entarteten  hingewiesen  werden  konnte,  so  glaube 
ich  nicht  an  das,  was  die  „xenophontische"  Ap  und  der  14.  der 
„Sokratikerbriefe"  über  seine  Beziehungen  zu  Sokr.  plaudert.  Ich 
führe  dagegen  das  Zeugnis  der  platonischen  Ap  ein.  Man  lese 
doch  mit  Aufmerksamkeit  33  c  £f. :  ei  yaq  ötj  t-ytoye  twv  vhov  Tovg 
f.iev  diacpb^ELQO),  rovg  öi  öieq^O^agyia,  XQtjv  dtj/rov,  eiTS  Tiveg  avTcov 
7CQEaßvTeQ0i  yevoixEvoL  e'yvcoaav,  ort  veoig  ovolv  aizolg  iyco  -/.axov 
TCiOTiore  TL  ^vvsßovlevoa,  vvvl  avzolg  avaßaivovrag  ff-iov  ■/.artjyoQEiv 
v.al  TifxwQEla&at'  si  Ö€  /t/jy  avToi  y&sXoVj  twv  oI-keicov  rivag  ziöv 
iy.Eivtov,  TtatEQag  v.al  aÖEXifoig  /.ai  aX?.ovg  roig  rrgoo/fKOvrag,  eI'tceq 
vn^  Efiov  Ti  yMxdv  enEnövi^EOav  acröjv  ol  orAEioi,  vvv  j.iEf.ivijod'ai 
y.al  TifXiOQeio^aL  xtA.  So  sollte  Sokr.  gesprochen  haben,  oder  solche 
"Worte  sollte  PI.  ihm  in  den  Mund  legen,  wenn,  wie  Seh,  Ap  S.  19 
den  Verfassern  jener  zwei  apogryphen  Schriften  nacherzählt,  der 
Sohn  des  Anytos  unter  seinem  Einfluß  dem  väterlichen  Wunsche, 
ins  Geschäft  einzutreten,  sich  hartnäckig  widersetzt  hatte,  und  wenn 
er  selber  dem  Vater  dringend  zugesprochen  hatte ,  dem  „gut  be- 
anlagten  Jüngling"  den  banausischen  „Betrieb  der  Gerberei  zu  er- 
lassen", weil  er  „leicht  verkommen  könne,  wenn  er  nicht  die  nötige 
Leitung  erhalte"?     Mir  ist  das  undenkbar. 

Wegen  des  Zusammenhangs  im  Me  lag  es  nahe,  zur  Erklärung 
der  Anspielungen ,  die  der  letzte  Eedewechsel  zwischen  Anytos 
und  Solcr.  enthält,  einen  mißratenen  Sohn  des  Anytos  zu  erfinden. 
Und  wenn  Anytos  als  Anhänger  der  altüberkommenen  Erziehungs- 
prinzipien mit  Sokr.  zusammengestoßen  war,  so  kostete  es  auch 
nicht  viel  Scharfsinn,  auszudenken,  wie  die  Meinungsverschiedenheit 
bezüglich  der  Behandlung  des  Sohnes  durch  den  Vater  zum  Aus- 
druck gekommen  sein  möchte.  Befremdlich  finde  ich  freilich,  daß 
Sokr.,  der  bei  den  Politik  treibenden  Gewerbsleuten  dadurch  Anstoß 
zu  erregen  pflegte ,  daß  er  sie  vor  dem  7roXvfiQayf.tovslv  warnte 
und  den  Grundsatz  predigte,  der  Schuster  solle  bei  seinem  Leisten 
bleiben  (Ap  22  d),  und  der  den  Wert  eines  tüchtigen  Handwerks 
nicht  gering  anschlug ,  dem  Anytos  geraten  habe ,  er  solle  seinen 
Sohn  der  nützlichen  Tätigkeit  entziehen,  die  er  im  väterlichen  Ge- 
schäft hätte  treiben  können  —  und  so  scheint  mir  was  ich  für 
eine  bloße  Erfindung  der  Apokryphenschreiber  halte  nicht  einmal 
glücklich  ausgedacht.    Weniger  ungeschickt  dünkt  mich  die  Angabe 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PL  erschienenen  Arbeiten.    253 

des  Lasters ,  dem  der  mißratene  Sohn  verfallen  sein  soll.  Daß 
einer,  der  seinem  Vater  keine  Freude  machte,  zum  wüsten  Säufer 
geworden  sei,  war  weniger  leicht  aus  geschichtlicher  Kenntnis  durch 
einen  Leser  zu  widerlegen  als  sonstweiche  belastenden  Dinge. 

Ähnlich  wie  ich  faßt  auch  Wilamowitz  die  Sache  auf.  II  147 
schreibt  er:  „Sokr.  hat  nach  .  .  der  xenophont.  Ap  .  .  prophezeit, 
daß  aus  einem  begabten  Sohne  des  Anytos ,  mit  dem  er  etwas 
Verkehr  gehabt  hätte,  nichts  werden  würde,  weil  er  keinen  guten 
Erzieher  hätte ,  und  das  wäre  eingetroflfen.  Da  im  Me  Sokr.  mit 
Anytos  über  die  Erziehung  redet,  Anytos  jeden  Erzieher  für  über- 
flüssig erklärt ,  und  daneben  die  mißratenen  Söhne  von  Staats- 
männern erwähnt  werden,  ist  für  die  xenophontische  Ap  nichts  als 
der  Me  nötig ^j."  Weiter  bemerkt  er  (I  279)  zur  Sache:  Sokr. 
erwidert  auf  die  Drohung  des  Anytos  „nur,  daß  Anytos  über  das, 
was  Schimpfen  wäre ,  erst  dann  richtig  urteilen  würde ,  wenn  es 
ihm  selbst  begegnete.  PI.  selbst  hat  ihn  auch  jetzt  geschont.  Von 
seinem  Vater  wird  mit  Achtung  geredet,  während  die  Komödie  und 
nicht    sie    allein   ihn  verhöhnt  hatte  .  .     Er  lebte  vermutlich  noch, 


*)  Übrigens  hat  W.  schon  1897  im  Hermes  (32  S.  101  A.)  geschrieben : 
„Es  lag  nach  der  Episode  des  platonischen  Me  sehr  nahe,  ihn  die  Folgen 
falscher  Bildung  an  seinem  Sohn  erleben  zu  lassen,  und  die  Erfahrung 
übler  Nachrede  wird  ihm  dort  geradezu  in  Aussicht  gestellt.  Als 
Wucherung  auf  Grund  des  Me  ist  der  Bericht  dieser  Ap  sehr  leicht 
verständlich."  Ähnlich  auch  Fr.  Bey schlag,  Die  Anklage  des  Sokr., 
Pgr.  d.  Gymn.  Neustadt  a.  H.  1900,  S.  16  f.  Besonders  beachtenswert  sind 
daraus  folgende  Sätze:  „Dabei  liegt  .  .  ein  Mißverständnis  des  Me  vor  .  . 
Der  Apoleget  meint,  PI.  ziele  mit  seiner  historischen  Beweisführung  auf 
einen  Sohn  des  Anytos,  der  in  Wirklichkeit  weder  direkt  noch  indirekt 
Erwähnung  findet.  In  Wahrheit  aber  will  PI.  damit  Anytos  selbst  als 
das  Erziehungsprodukt  seines  Vaters,  des  ao(f6;  \4v9i^io>v  (90a),  ironi- 
sieren, der  zunächst  wegen  seiner  ao(f(a  hervorgehoben  und  dann  mit 
dem  etwas  zweifelhaften  Lobe  ausgezeichnet  wird,  daß  er  seinen  Sprößling 
«i  i&qtxps  xal  inai^evafv,  o)  s  SoxfT  ^A9t]raiwv  tw  nkrix^st'  uIqovvjki 
yovv  avTüv  Inl  ras  fifyiarns  «()/«?.  Hier  ist  der  Schlüssel  zu  dieser  plato- 
nischen Szene:  Anytos  ist  gekränkt  einmal  als  erklärter  Anhänger  der 
Demokratie,  die  ihn  wie  jene  berühmten  Männer  zu  besonderen  Ehren 
erhoben  hat,  und  dann  als  das  Erziehungsprodukt  des  Anthemion,  dessen 
aoifia,  iTTijui'keuc  und  nkoürog  ihn  doch  hinlänglich  befähigten,  die  Er- 
ziehung seines  Sohnes  mit  den  gleichen  Mitteln  und  den  gleichen  — 
Erfolgen  durchzuführen,  wie  Themistokles,  Aristeides,  Perikles  und  Thu- 
kydides.  Die  Probe  auf  diese  Behauptung  bildet  das  von  PI.  für  Anytos 
festgehaltene  Ethos,  das  ihn  in  geistiger  Beschränktheit  (92  e)  die  Schlag- 
worte der  Masse  gebrauchen  läßt." Dagegen  nimmt  Ed.  Meyer, 

Gesch.  d.  Altert.,  die  Angaben  der  Apologie  über  den  Sohn  des  Anytos, 
von  dem  wir  nicht  einmal  den  Namen  erfahren,  für  bare  Münze. 


254  Constantin  Bitter. 

wenigstens  wissen  wir,  daß  er  um  die  Zeit  von  Pl.s  Rückkehr 
noch  ein  allerdings  nicht  sehr  wichtiges  Amt  bekleidete.  PL  übt 
keine  späte  Rache  für  den  Sokr.-Prozeß  5  es  sind  andere,  die  dem 
Anytos  gezeigt  haben ,  was  Schimpfen  ist.  Vielleicht  waren  auch 
das  Sokratiker;  das  wissen  wir  nicht,  aber  einen  kennen  wir,  der 
gegen  ihn  geschrieben  hatte  und  das  Schimpfen  wie  kein  anderer 
verstand.  Das  war  Lysias,  der  den  Sokr.  gegen  Anytos  verteidigt 
hatte,  allerdings  gegen  den  Anytos  des  Polykrates.  Dieser  ist  es, 
den  PI.  ebenfalls  im  Auge  hatte."  —  Dabei  entsteht  freilich  eine 
Schwierigkeit,  auf  die  W.  Aly  aufmerksam  macht.  Dieser  hat  die 
Person  des  Anytos  behandelt  in  den  Neuen  Jahrbüchern  1913 
S.  169 — 75.  Er  erklärt  (S.  174  A.) :  „Ist  Wilamowitz  mit  seiner 
Datierung  im  Recht,  so  kann  der  Anytos  der  Lysiasrede"  —  d.  h. 
der  Lys.  22,  8  unter  diesem  Namen  erwähnte  Aufsichtsbeamte  der 
städtischen  Kornzufuhi-  —  „nicht  der  Ankläger  des  Sokr.  sein." 
Auch  Schmid  in  Christs  Gesch.  d.  Griech.  Lit.^  I  S.  480  erklärt 
„die  Identität  des  Anytos  bei  Lys.  22,  8  mit  dem  Ankläger  des 
Sokr."  für  „ganz  unwahrscheinlich".  Menzel  S.  43  hat  die  „nackte 
Tatsache",  daß  Anytos  15  Jahre  nach  dem  Prozesse  das  Amt  eines 
Archen  bekleidete",  mit  Berufung  auf  Lys.  22  sehr  stark  betont, 
um  damit  alle  ungünstigen  Urteile  über  den  Charakter  des  Mannes 
niederzuschlagen. 

Zu  90a  6  vvv  veioGTL  £lXi](fa>g  za  IIoXv'A.Q(XTOvg  XQT^f-iata  lai^rjviag 
b  Grjßalog  habe  ich,  älteren  Erklärern  folgend,  in  meinen  Unter- 
suchungen von  1888  bemerkt  (S.  121):  „Ismenias  kann  kein  anderer 
sein  als  der  bekannte  Führer  der  demokratischen  Partei ,  und  es 
ist  kaum  zu  bezweifeln,  daß  mit  seinem  plötzlichen  Reichwerden, 
das  ihm  die  Schätze  des  Polykrates  einbringt  dövrog  iivog'^  —  wie 
es  vorher  heißt  —  „die  Bestechung  durch  persische  Gelder  gemeint 
ist,  welche  er  nach  Xenophons  Bericht  im  Jahr  395  angenommen 
hat:  und  der  Dialog  müßte  also  nach  dieser  Zeit  abgefaßt  sein." 
Dazu  habe  ich  (S.  125  A.  1)  aus  Stallbaum-Fritzsches  Einleitung 
notiert:  „Photius  .  .  erzählt  uns  von  einem  Thebaner  Pol.,  dem 
ein  Orakelspruch  verheißen  hatte,  er  werde  Gold  finden,  wenn  er 
den  Platz  kaufe,  auf  dem  das  Zelt  des  Mardonius  vor  der  Flucht 
der  Perser  gestanden  sei.  Cobet  macht  .  .  die  Bemerkung  'Poly- 
crates  Thebanus  nescio  quis  Ismeniam  heredem  scripserat'."  Dazu 
habe  ich  mir  die  Randbemerkungen  gemacht :  Beloch ,  Griech. 
Gesch.  II,  220  A.  3  :  PL  nennt  den  rhodischen  Unterhändler  Poly- 
krates anstatt  Timokrates.  Ebenso  Ed.  Meyer,  Gesch.  d.  Alt.  V, 
233.    Auch  Wilamowitz  sprach  von  einem  „Gedächtnisfehler  Pl.s". 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    255 

Nietzsche  meinte ,  der  Prozeß  des  Ismenias  382  habe  die  Sache 
ans  Licht  gebracht.  Ähnlich  Teichmüller,  Lit.  Fehden  II,  348. 
Apelts  Anmerkung  dazu  (S.  85)  ist  ziemlich  verworren.  Neuerdings, 
PI.  II,  104,  verwirft  Wilamowitz  die  bevorzugte  Erklärung  und  er- 
innert daran,  daß  Ismenias  auch  schon  Rp  336  a,  „dem  1.  Buche, 
also  vor  dem  G  geschrieben",  als  „schwerreicher  Mann"  erscheine. 
Sein  Geld,  fügt  er  bei,  „stammte  von  einem  Polykrates;  wie  es 
zu  Ism.  kam ,  läßt  sich  nicht  erraten.  Bei  Zenobius  (Ath.  2,  24, 
Paris.  5,  63)  hören  wir,  daß  der  Thebaner  Polykrates  eine  ver- 
gi'abene  Kriegskasse  des  Mardonios  gefunden  hatte.  Darauf  also 
bezieht  sich  PI."  Auch  Burnet  in  der  Einleitung  seiner  Aus- 
gabe des  Phn.  S.  XXXI  sq.  zweifelt  stark  an  der  Verwertbarkeit 
unserer  Stelle. 

Rätselhaft  ist  für  mich  die  Stelle  76  e:  el  {.uj,  wOTtSQ  x^sg 
lleyeg,  avay/.alov  aot  amevai  tiqo  xiZv  f.ivGTriQicüv,  aXV  el  neqi- 
fieivaig  re  xat  /.ivr^d^eirjg.  Apelt  (S.  77  A.  16)  speist  uns  mit  der 
Bemerkung  ab:  „Diesen  scherzhaften  Vergleich  der  Einweihung  in 
die  Dialektik  mit  der  Einweihung  in  die  Mj^steiien  liebt  der  plato- 
nische Sokr.  Im  Sy,  Phn,  G  und  anderen  Dialogen  finden  sich 
Beispiele  dafür."  Nun  ja.  Aber  was  hat  das  „wie  du  gestern 
sagtest"  zu  bedeuten?  Ich  sehe  darin  eine  literarische  Anspielung, 
bin  aber  im  übrigen  ratlos.  Es  wundert  mich  bloß,  daß  noch  nie- 
mand darauf  verfallen  ist,  auf  einen  verlorenen  platonischen  Dialog 
zu  schließen,  in  dem  Menon  wie  hier  als  Gesprächsperson  vorkam, 
womit  ja  zugleich  auch  die  auffallende  Eigenheit  des  Me,  daß  ihm 
die  Einleitung  fehlt  ^),  erklärt  werden  könnte.  Schade,  daß  der  so 
viel  vermißte  Philosophos  in  diese  Zeit  nicht  paßt.  Aber  wie  wäre 
es  mit  der  Erstausgabe  der  Rp?  Vielleicht  läßt  sich  ein  findiger 
Kopf  ermuntern ,  die  angedeuteten  Dinge  für  ihre  Ausstattung  zu 
verwerten. 

Ratlos  stehe  ich  auch  vor  den  mathematischen  Sätzen  von 
87  ab.  Weder  Apelts  Übersetzung  noch  seine  S.  81 — 84  gegebene 
Erklärung,  die  im  wesentlichen  wiederholt  was  von  ihm  in  der 
Pestschi'ift  für  Th.  Gomperz,  1902,  S.  290  ff.  entwickelt  worden 
war  ist  mir  faßlich. 

Noch  einiges  aus  Pohlenz.  S.  167  gibt  er  die  Anmerkung: 
„Über  den  Charakter  Menons  bei  PI.  und  Xenophon  vgl.  Ew.  Bruhn  . ., 
der   richtig   in  Xenophons  Charakteristik  Polemik   gegen  PL  sieht. 


^)  Pohlenz  S.  190:  „Der  abrupte  Eingang  ist  einzigartig."   Das  stimmt 
nicht  ganz,  s.  Cra  und  Phi. 


256  Constantin  Ritter. 

Nach  Xenophon  hätte  PL  nicht  mehr  ohne  weiteres  voraussetzen 
können,  daß  Menon  nur  eine  Herrschaft  auf  Grund  der  Gerechtigkeit 
schätzt."  —  Sonderbar!  Jedenfalls  wäre  die  Frage  des  Sokr.,  ob  die 
Tüchtigkeit  des  Mannes,  die  ihn  zur  Herrschaft  befähige,  nicht  auch 
Gerechtigkeit  in  sich  schließe,  auch  von  einem  Mann  wie  Polos  (im  G) 
nicht  verneinend  beantwortet  worden,  ja  selbst  von  Kallikles  nicht. 
Und  die  Bejahung  dieser  Frage  durch  Menon  konnte  vernünftiger- 
weise dem  Xenophon  keinen  Anlaß  zur  Polemik  bieten.  Wilamo- 
witz  erkläi't  (II,  144  f.):  „Die  Beurteilung  der  Person  ist  bei  PI. 
und  Xenophon  ganz  verschieden,  und  im  Altertum  hat  Herodikos 
(Athen.  505  a)  bei  PI.  beabsichtigten  Widerspruch  gegen  Xenophon 
gefunden;  gegenwärtig  ist  das  Umgekehrte  behauptet  .  .  Eine  Ent- 
scheidung ist  nicht  möglich  .  .  Xenophons  Gehässigkeit  wird 
durch  die  eigenen  Erfahrungen  hinreichend  erklärt,  und  eine  greif- 
bare Berücksichtigung  platonischer  Worte  ist  nicht  vorhanden.  PI. 
charakterisiert  den  Menschen  Menon  überhaupt  nicht.  Für  ihn  ist 
er  nichts  als  der  Schüler  des  Gorgias,  der  diesen  vertritt. 

Den  von  Pohlenz  S.  170  f.  gegebenen  Ausführungen  steht 
Wilam.  II,  145  A.  1  entgegen.  „.  .  .  Es  ist  ein  kaum  begreifliches 
Mißverständnis,  sich  .  .  gar  eine  Gegenschrift  des  Gorgias"  gegen 
Pl.s  gleichnamigen  Dialog  „zu  konstruieren,  die  auf  Pl.s  Me  ein- 
gewirkt hätte." 

S.  174  A.  lesen  wir  bei  Pohlenz:  „Was  die  Worte  des  Sokr. 
kneidi]  de  ov  aaviov  (.uv  ovd^  enLy^eiQEig  cxqxelv,  %va  ö^  eXEv&sgog  f^g, 
ifxov  (5'  i/cixsiQSig  (xq^elv  (86  d)  sollen,  versteht  man  nur,  wenn  nian 
sie  als  Reminiszenz  an  G  91  de  faßt  .  ."  Wiederum  sonderbar! 
Die  Worte   scheinen  mir   ohne   weiteres   verständlich.    Vgl.  76  bc. 

S.  180  führt  P.  aus,  „im  schärfsten  Gegensatz  zum  Pr"  hören 
wir  Me  p.  88,  „daß  es  Tapferkeit,  Gerechtigkeit,  Selbstbeherrschung 
auch  ohne  Wissen  gibt  .  .  Aber  aufs  schärfste  hebt  er  .  .  hervor, 
daß  diese  avev  vov  bald  nützen,  bald  schaden,  und  daß  sie  nur  in 
Verbindung  mit  dem  Wissen  zur  Glückseligkeit  beitragen  (88  c), 
und  das  gleiche  muß  natürlich  auch  von  der  Tätigkeit  der  Staats- 
männer im  letzten  Teile  gelten.  Daraus  folgt  aber  auch,  daß  sie 
nur  in  uneigentlichem  Sinne  ccya&ol  heißen  können."  Ganz  richtig! 
Aber  ebenso  gewiß  kann  eine  avögsia,  diy.aioavvr]  usw.  avev  vov 
nur  in  uneigentlichem  Sinne  avdqüa,  dr/.aioovvr}  usw.  oder,  all- 
gemeiner bezeichnet,  ccQsr^  heißen,  und  durch  genaue  Bezeichnung 
wird  der  vermerkte  Gegensatz  zum  Pr  sofort  aufgehoben.  Und 
wenn  P.  vorher  (S.  175)  behauptet:  „Höchst  überrascht  sind  wir, 
wenn   wir   z.  B.    lesen ,    die   Tapferkeit    sei   schädlich ,    el  f.i^  eait 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    257 

(fQüvi]Oig  Tf  ävÖQeia  alX  oiov  Oaggog  zi.  Denn  nach  dem  Pr  ist  eine 
avögela  avev  vov  unmöglich,  ddiS  .ifaggog  eben  keine  ardgsla  (51a)" 
—  so  bin  ich  vielmehr  darüber  überrascht,  daß  P.  die  Mahnung  zur 
„Ergänzung  abgebrochener  Beweise",  zu  „selbständigem  Durch- 
arbeiten" der  Sätze,  zu  „scharfer  Mitarbeit",  die  er  dem  Leser  im 
Sinne  Pl.s  so  oft  (z.  B.  S.  97.  98.  100.  107.  151)  erteilt,  einen 
Augenblick  selbst  unbeachtet  gelassen  hat.  „Wir  sehen,  daß  PI. 
den  Begriff  ardgeia  jetzt  anders  faßt  als  früher,  aber  eine  nähere 
Aufklärung  erhalten  wir  zunächst  nicht."  Wir  sollen  sie  als  auf- 
merksame Leser  selbst  finden.  Der  Unterschied  liegt  nur  in  den 
ovöj-iaxa,  den  schwankenden  Wortbezeichnungen. 

S.  192  f.  sucht  P.  für  die  Vorstellung ,  die  er  sich  von  der 
Absicht  und  Entstehung  des  G  gebildet  hat ,  durch  Vergleichung 
mit  dem  Me  eine  Bekräftigung  zu  gewinnen:  „.  .  Werfen  wir  einen 
Blick  auf  den  G  zurück.  Daß  dieser  dem  Me  unmittelbar  voran- 
gegangen ist ,  haben  wir  aus  verschiedenen  Zeichen  erschlossen. 
Im  Me  ist  PI.  voller  freudiger  Hoffnung,  aber  er  blickt  zurück  auf 
eine  kritische  Zeit,  wo  seine  Freudigkeit  zu  erlahmen  drohte,  weil 
er  an  der  Möglichkeit  des  Erkennens  und  Lehrens  selber  zweifelte. 
Ich  denke ,  so  wird  es  uns  erst  vollständig  klar ,  wie  es  kommt, 
daß  der  G  von  allen  platonischen  Dialogen  die  trübste  Stimmung 
zeigt.  Als  höchstes  Ziel  schwebte  ihm  schon  im  G  .  .  die  politisch- 
ethische  Reformation  des  ganzen  Volkes  vor.  Aber  den  Weg,  der 
zu  diesem  Ziele  führte,  sah  er  noch  nicht.  Nun  kam  die  Ent- 
deckung, von  der  im  Me  sein  Herz  voll  ist,  und  gab  ihm  die  Gewiß- 
heit, daß  das  Wissen  möglich  sei,  daß  es  möglich  sei,  auf  andere 
sittlich  einzuwirken."  —  Ich  habe  oben  die  von  P.  gebotene  Er- 
klärung für  die  trübe  Stimmung  des  G  abgelehnt.  Auch  bei  diesem 
vergleichenden  Rückblick  vermag  ich  meine  Meinung  nicht  zu 
ändern;  um  so  weniger,  da  mir  auch  die  Stimmung  des  Me  von  P. 
nicht  treffend  gekennzeichnet  zu  werden  scheint. 

Schließlich  möchte  ich  noch  darauf  aufmerksam  machen ,  daß 
die  Lehre  von  der  ai'df.ii'rjOig  eine  eigentümliche  Beleuchtung  erhält 
durch  eine  Bemerkung ,  die  Fräulein  SuUivan ,  die  Erzieherin  der 
Helen  Keller,  über  die  geistige  Entwicklung  ihres  blinden  und  tauben 
Zöglings  macht:  „So  stockend  und  unzureichend  meine  Erklärung 
auch  gewesen  sein  mag,  sie  berührte  verwandte  Saiten  in  der  Seele 
meines  kleinen  Zöglings,  und  die  Leichtigkeit,  mit  der  Helen  die 
großen  Tatsachen  des  physischen  Lebens  begriff,  bestärkte  mich  in 
der  Meinung,  daß  im  Kinde  bei  seiner  Geburt  die  gesamten  Er- 
fahrungen des  Menschengeschlechtes  schlummernd  vorhanden  sind. 

Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft.    Bd.  191  (1922.  I).  17 


258  Constantin  Ritter. 

Diese    Erfahrungen    sind    wie    photographische   Negative,    bis    die 
Sprache  sie  entwickelt  und  die  Erinnerungsbilder  hervorbringt." 


Euthydemos  (=  Eus):  behandelt  von  Lutoslawski  S.  210 — 213, 
Gomperz  S.  433—36,  Natorp  S.  116—19,  Räder  S.  137—146,  Ritter 
S.  450—462,  Windelband-Bonhöffer  S.  152  f.,  v.  Arnim  S.  123—134, 
139  fF.,  Wilamowitz  I  S.  296—319,  II  154—68,  Frachter  S.  265—68. 

Beim  Eus  betrifift  der  Hauptstreit  ^)  unter  den  Gelehrten  den 
zeitlichen  Ansatz.  In  meinen  Untersuchungen  von  1888  habe  ich 
ihn  mitsamt  dem  verwandten  Cra  neben  den  Pr  stellen  und  der 
peinlichen  Anklage  des  Sokr.  vorausgehen  lassen  wollen.  „Unter 
allen  Umständen",  sagte  ich  (S.  126  f.),  „müßte  ich  protestieren 
gegen  einen  Versuch,  eine  der  drei  bezeichneten  Schriften,  in  denen 
der  Ton  überlegenen  Spottes  so  kräftig  anklingt ,  in  die  nächsten 
Jahre  nach  dem  Tode  des  Sokr.  zu  setzen."  Daß  ein  Ansetzen 
des  Eus  und  Cra  vor  399  verfehlt  ist,  habe  ich  bald  eingesehen. 
Sogar  die  Sprachvergleichung,  die  mir  deutlich  machte,  daß  die 
damals  noch  von  den  meisten  Gelehrten  gehegte  Meinung,  der  Eus 
sei  später  als  Phs  und  The,  unhaltbar  sei,  führt  darauf,  die  durch 
ihre  übermütige  Laune  in  der  Tat  dem  Pr  verwandten  zwei  anderen 
Stücke  von  diesem  zu  trennen  durch  einen  erheblichen  Zwischenraum. 

Ausschlaggebende  Bedeutung  maß  man  früher  der  Stelle  am 
Schluß  des  Dialogs  (04  d  ff.)  zu,  wo  ein  Überkluger,  der  den  Sokr. 
durch  Kriton  vor  philosophischen  Diatriben  warnen  läßt,  in  scharfem 
Ton  abgefertigt  wird.  Spengel  hatte  in  dem  Ungenannten  Isokrates 
zu  erkennen  geglaubt,  und  es  galt  fast  als  heiliges  Dogma,  daß  PI. 
wirklich  diesen  meine ,  und  eine  ganze  Reihe  von  Folgerungen 
wurden  scharfsinnig  daraus  abgeleitet.  Die  Gründe,  wegen  der  ich 
diese  Folgerungen  schon  1888  verworfen  habe,  stehen  mir  heute 
noch  aufrecht.  Ich  wiederhole  das  Wichtigste.  Vor  allem:  Der 
Eus  gehört  einer  früheren  Sprachstufe  an  als  der  Phs,  der  mit  der 
bekannten  freundlichen  Beurteilung  des  namentlich  genannten  Iso- 
krates schließt.  —  Allerdings  (S.  135  ff.)  „es  ist  wahr,  was  Spengel 
sagt  .  .,  daß  man  keinen  zweiten  Namen  auffinden  kann,  welcher 
der  Zeichnung  im  Eus  mehr  entspräche",  als  eben  Isokrates.  Aber 
„so  viel  haben  Spengels  glänzende  Ausführungen  doch  nicht  dartun 
können,  daß  unter  keinen  Umständen  eine  andere  Person  als  die 
des  Isokr.  unter  dem  Xoyonoioq.  könnte  verstanden  sein.  Sauppe 
hat  die  fragliche  Person  in  dem  Rhetor  Theodorus  von  Byzanz  finder 


')    Mit  der  Eohtheitsfrage  brauchen  wir  uns  nicht  mehr  aufzuhalten 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    259 

wollen ,    Hermann  meint ,   man  könnte  .  .  an  Polykrates  denken  .  . 
Doch   glaube   ich ,    ebenso   wie  Hermann ,    es    sei  zu  viel  verlangt, 
wenn  man  hier  einen  bestimmten  Namen  haben  will.    Spengel  sagt 
freilich ,    man    sehe ,    daß    'eine    nicht   unbedeutende  Persönlichkeit 
zurechtgewiesen'    werde,    und    es    geschehe   dieses  'in  so  scharfen 
Zügen,    daß   damals  jeder  Leser  den  getroffenen  sogleich  erkennen 
mußte'.     Dies    zugegeben ,    so    wäre    doch  noch  nicht  ausgemacht, 
daß    derselbe    auch  uns   näher  bekannt  sein  müsse.     Man  erinnere 
sich    doch ,    daß  bis  heute  uns   noch  niemand  über  die  Person  des 
Kallikles    näher   aufgeklärt   hat,    der   im  platonischen  G  eingeführt 
wird.    Ein  unbedeutender  Mensch  wahrlich  kann  (auch)  er  .  .  nicht 
gewesen  sein  ...     Es  ist  übrigens  merkwürdig,  wie  sehr  das  Bild 
des  Kallikles  dem  des  angeblichen  Isokrates  im  Eus  ähnlich  sieht  .  . 
Der    einzige    Unterschied    zwischen    Kallikles    und    der    fraglichen 
Person    im  Eus    ist    der,    daß   jener   als  otjrtoQ  gekennzeichnet  ist, 
dieser    als   Redenschreiber.     Wenn    dieser  Zug   bei    dem   letzteren 
fehlte ,    so    könnte    es  recht  wohl  einem  Ausleger  beikommen ,    die 
Stelle   im  Eus    auf  Kallikles    zu   deuten ,    und    es  dürfte  in  diesem 
Fall  schwer  sein,   einen  solchen^  Versuch  zurückzuweisen.     Daraus 
mag  aber  erhellen,    daß  die  Deutung  auf  Isokrates  keineswegs  ge- 
sichert ist  .  .    Übrigens  möchte  ich  schließlich  gegen  die  Autorität 
von  Schleiermacher,   Heindorf,   Spengel  und  Hermann  mit  Socher, 
Munk  und  Steinhart  noch  die  Behauptung  wagen,  es  sei  gar  nicht 
sicher,  ob  PI.  im  Eus  einen  Einzelnen  vor  anderen  seiner  Gattung 
im  Auge  gehabt  habe  .  ,    Alle  Logographen  miteinander  werden  .  . 
als  Männer   behandelt,    welche    in  der  Mitte  zwischen  Philosophie 
und  Politik   sich  halten  .  .     Auch   derjenige  Strich  der  Zeichnung, 
welcher  zu  persönlicher  Anwendung  am  ehesten  Anlaß  gibt,   ovös 
oif-iai  TtioTCOT   avTov  ejtI  öiyiaav^Qiov  avaßeßt]Y.ivai,  scheint  mir  zur 
Kennzeichnung  der  ganzen  Gattung  dieser  Leute  nicht  ungeeignet. 
Wenn  von  dem  einen  oder  anderen  gesagt  werden  konnte,  er  kenne 
tatsächlich  das  praktische  Gebiet  der  gerichtlichen  Kämpfe  gar  nichtj 
da  er  denselben   stets  fern  bleibe ,    obgleich  seine  Reden  sich  mit 
ihnen  beschäftigen  .  .,   so  warf  das  ein  aufklärendes  Licht  auf  die 
leichtfertige  und  gewissenlose  Gesinnung  von  ihnen  allen,  nach  der 
sie,   wie   65  e  behauptet  wird,    einen  unangefochtenen  Genuß  ohne 
ernste  Stellungnahme  zu  den  Aufgaben  des  Lebens  als  wünschens- 
wertes Ziel  für  sich  in  Aussicht  nahmen." 

Die  letzten  Ausführungen  möchte  ich  heute  zurücknehmen. 
Den  Worten  in  04 e  olanEQ  del  av  ttg  tiZv  toioitiov  av-ovodi 
^rjQovvTiov  y.al  7ieQl  ovöevog  a^itov  ava^iav  afrovdrjv  ttolovvtiov  muß 

17* 


260  Constantin  Ritter. 

ich  wegen  des  Zusatzes  ovTioai  yäq  Ttcog  eine  rolg  ovoj-iaai  die  Be- 
deutung eines  wörtlichen  Zitats  zusprechen.  Eben  damit  werden 
sie  freilich  zum  neuen  kräftigen  Zeugnis  gegen  die  Gleichsetzung 
des  Unbenannten  mit  Isokrates,  in  dessen  Öchriften  sie  nicht  vor- 
kommen. Daß  sie  am  Ende  der  Sophistenrede ,  selbst  wenn  man 
diese  (trotz  der  überzeugenden  Gegengründe  von  Wilamomitz  II 
S.  112  f.)  für  verstümmelt  halten  will,  keinen  Platz  hatten,  ist  von 
H.  Gomperz,  Wiener  Öt.  27  (1905)  Ö.  77,  gezeigt  worden.  Freilich 
Frachter  S.  221  schreibt:  „Die  öophistenrede  .  .  ist  nach  der 
Meinung  einiger  am  Schlüsse  verstümmelt.  War  der  Aasdruck  in 
diesem  verlorenen  Stücke  wirklich  gebraucht,  so  wäre  dadurch  für 
den  Eus  .  .  eine  ungefähre  Zeitbestimmung  gegeben.  Denn  der  Eus 
bildet  geradezu  eine  Replik  auf  die  angeführte  Äußerung,  wird  ihr 
also  in  nicht  sehr  großem  Abstände  nachgefolgt  sein.  Allein  die 
Verstümmlung  der  Sophistenrede  ist  strittig,  und  fehlt  wirklich  ein 
Stück,  so  ist  nach  dem  Schlüsse  des  Erhaltenen  nicht  einmal  wahr- 
scheinlich, daß  darin  die  zitierten  Worte  standen.  Aber  handelt 
es  sich  denn  um  ein  wörtliches  Zitat?  Ich  halte  dies  abweichend 
von  H.  Gomperz  (Wiener  St.  1906  S.  31)  keineswegs  für  un- 
zweifelhaft ^)."  .  . 

Von  anderen  Gelehrten  habe  ich  zu  der  Frage  folgendes  an- 
zuführen : 

Lutoslawski  (S.  211  f.)  schreibt,  die  „enge  Beziehung 
zwischen  dem  Eus  und  der  Sophistenrede  des  Isokrates ,  zuerst 
von  Spengel  (1855)  und  Thompson  (1868)  bemerkt,  ist  dann  weiter 
aufgedeckt  worden  von  TeichmüJler,  Sudhaus  (Rh.  Mus.  1889), 
Dümmler  und  anerkannt  von  Zeiler  und  Susemihl  ohne  irgend  be- 
merkenswerten Einsprach.  Diesen  Forschungen  zufolge  kann  der 
Eus  nicht  vor  390  und  wird  er  vermutlich  nicht  viel  später  ver- 
öffentlicht sein." 

Gomperz  (S.  434)  meint:  „Da  die  Charakteristik  jenes  Un- 
genannten in  der  Hauptsache  wie  in  Einzelzügen  .  .  auf  Isokrates 
paßt,  so  lag  es  nahe,  eben  diesen  hier  gemeint  zu  glauben.  Diese 
Mutmaßung  läßt  sich  nicht  zu  voller  Sicherheit  erheben."  Natorp 
(S.  109)  spricht  von  der  dem  Phs  gegenüber  „geänderten  Stellung 
zu  Isokrates  im  Schlußteil  des  Eus".  Räder  kann  sich  kaum 
genug  tun   in  der  'Maskenforschung',   d.  h.  in  Verfolgung  des  von 

*)  Räder  S.  145  A.  2:  „Diese  Worte  scheinen  ein  wörtliches  Zitat 
zu  sein;  sie  sind  aber  weder  in  Isokrates'  Reden  noch  sonst  irgendwo 
überliefert.  Möglich  ist  es  ja,  daß  sie,  wie  Dümmler  (Kl.  Sehr.  I  S.  128) 
vermutet,  im  verlorenen  Schlußteil  der  Sophistenrede  gestanden  haben." 


i 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten,    261 

Spengel,  Teichmüller,  Dümmler  und  anderen  vorher  beschrittenen 
Wegs  zur  Aufdeckung  angeblicher  versteckter  Beziehungen  zwischen 
Schriften  Pl.s  und  mit  ihm  wetteifernder  Nebenbuhler.  Er  behauptet 
kühnlich,  mit  Berufung  auf  Spengel  (S.  137):  „Ein  bitterer  Gegner 
Pl.s  war  der  Redner  Isokrates ,  der  ihn  viele  Jahre  hindurch  und 
noch  nach  dem  Tode  mit  seinem  Haß  verfolgte.  Die  jetzt  ver- 
breitete Ansicht ,  daß  die  beiden  Männer  anfangs  in  freundlichem 
Verhältnis  zueinander  gestanden  haben,  läßt  sich  nicht  aufrecht- 
erhalten, da  sie  ausschließlich  auf  der  Mißdeutung  einer  später  zu 
besprechenden  Stelle  des  platonischen  Phs  beruht;  wir  wissen  in 
der  Tat  nicht,  wann  die  Feindschaft  angefangen  hat,  aber  jedenfalls 
muß  der  G  einen  sehr  unangenehmen  Eindruck  auf  Isokrates  ge- 
macht haben."  —  Mag  sein;  aber  wenn  Räder  von  einer  um  hohe 
sittliche  Ziele  sich  ereifernden  Schrift  einen  recht  unangenehmen 
Eindruck  empfängt  nur  darum ,  weil  er  selber  anderen  Theorien 
folgt  als  der  Verfasser,  wird  das  ihn  in  persönliche  Feindschaft 
und  Haß  hineintreiben?  Man  sagt  uns  wohl:  ein  Mensch  von  dem 
eitlen  Selbstgefühl  des  Isokrates  konnte  keine  Kritik  ertragen.  Ich 
zweifle ,  ob  nicht  manche  der  Leute ,  die  so  urteilen ,  kleinlicher 
und  eitler  sind,  als  jener  war.  Jedenfalls  dürfen  sie  von  ihren 
Empfindungen  aus  keinen  Schluß  ziehen  auf  das,  was  PI.  empfand 
und  tat,  wo  er  tadelnde  Bemerkungen  auf  seine  Person  oder  auf 
die  von  ihm  eingeschlagenen  Wege  beziehen  mußte.  Jeder  Mensch 
freilich  wird  in  Beurteilung  anderer  Menschen  von  seinen  persön- 
lichen Verhältnissen  und  Erlebnissen  ausgehen,  aber  als  Mahnung  zu 
vorsichtigem  Zurückhalten  sei  Rp  409  c  in  Erinnerung  gebracht.  Ich 
möchte  einige  treffliche  Bemerkungen  hierherziehen,  die  P.  Shorey 
(The  unity  of  Plato's  thought  p.  72)  macht:  Wir  können  doch  nicht 
behaupten,  „PI.  und  Isokrates  könnten  nimmermehr  gut  Freund  mit- 
einander gewesen  sein  nach  der  Erklärung  am  Schluß  der  Sophisten- 
rede,  die  Tugend  sei  nicht  lehrbar,  oder  auch  nach  irgendeiner 
anderen  polemischen  Anspielung  in  ihren  Schriften.  Huxley,  Matthew 
Arnold,  Frederic  Harrison,  Herbert  Spencer  und  andere  Streiter  in 
den  Kämpfen  des  19.  Jahrh.  haben  viel  schärfere  Fechterstöße  als 
diese  mit  dem  Austausch  höflicher  oder  leicht  ironischer  Kompli- 
mente verbunden."  —  Im  Anschluß  an  die  abgedruckten  Sätze  wird 
von  Räder  die  Helene  und  die  Sophistenrede  des  Isokr.  durch- 
stöbert und  als  selbstverständlich  hingestellt,  daß  PI.  sich  durch 
diese  habe  beleidigt  fühlen  müssen.  R.  mutet  uns  sogar  zu,  zu 
glauben,  es  habe  „wohl  auch  PL  nicht  am  wenigsten  geärgert,  daß 
Isokrates  von  seinen  Gegnern  erzählte,  daß  sie  sich  für  ihren  Unter- 


262  Constantin  Ritter. 

rieht  bezahlen  ließen,  was  unzweifelhaft  von  PI.  nicht  gilt"  —  als 
ob  ihn  ein  Vorwurf  hätte  ärgern  müssen,  den  niemand  auf  ihn  be- 
ziehen konnte!  Natürlich  sieht  E.  auch  in  dem,  was  89c — e  von 
den  Meistern  der  Xoyo7ioiiy.i]  xä^vq  gesagt  wii'd  (trotz  Phs  79 ab), 
eine  zweifellose  Anspielung  auf  Isoki'ates,  und  so  kommt  natürlich 
für  die  Hauptstelle  Oidff.  heraus  (S.  145):  „Daß  damit  der  schon 
vorher  verspottete  Isokrates  gemeint  wird,  darf  wohl  als  ausgemacht 
gelten  .  .  .  Durch  diesen  Abschluß  des  Dialoges  wird  sowohl  seine 
Veranlassung  als  sein  Zweck  uns  deutlich  gemacht.  Er  ist  ver- 
anlaßt worden  durch  Isokrates'  Angriff  auf  PI.  und  die  Eristiker  in 
Gemeinschaft,  und  sein  Zweck  ist,  zwischen  PI.  und  den  Eristikern 
die  Grenze  zu  ziehen.  Gegen  beide  Seiten  macht  PI.  Front;  er 
greift  nicht  nur  die  Eristiker  an,  sondern  richtet  auch  einen  Gegen- 
angriff auf  Isokrates.  Von  dem  abfälligen  Urteil  des  Isokr.  über 
die  Eristiker  nimmt  er  sogar  entschieden  Abstand;  wie  unbarmherzig 
er  auch  die  Eristiker  verspottet,  fühlt  er  sich  doch  am  Ende  mit 
ihnen  mehr  verwandt  als  mit  den  Bedenschreibern.  Beide  Angriffe 
mußten  aber  ohne  Nennung  der  Namen  erfolgen,  was  schon  dadurch 
notwendig  w^ar,  daß  Sokr.  als  Gesprächsperson  auftreten  sollte."  — 
Mit  diesem  Schlußsatz  halte  man  die  Bemerkung  zusammen ,  die 
"VVilamowitz  (II,  156)  macht:  „Den  Antisthenes  einzuführen,  ver- 
hinderte der  sokratische  Dialog  durchaus  nicht :  das  haben  die  Er- 
finder des  modernen  Antisthenesromans  ganz  vergessen,  obwohl  er 
doch  bei  Xenophon  auftritt,  Aristipp  ebenfalls."  Wir  wollen  aber 
W.  auch  über  den  Schlußabschnitt  des  Eus  hören.  Was  hat  es 
für  einen  Sinn  und  Zweck,  daß  Kriton  dem  Sokr.  das  Urteil  des 
unbenannten  Kritikers  hinterbringt?  (II,  165:)  „Künstlerisch  hat 
das  die  Bedeutung,  das  Urteil  aussprechen  zu  lassen,  das  auch  der 
Leser  an  diesem  Punkte  hat,  aber  vielleicht  aus  Respekt  nicht  auf- 
kommen lassen  will :  wie  kann  Sokr.  sich  mit  dem  Gesindel  gemein 
machen.  Das  rechtfertigt  auch  PI.  nicht,  denn  er  selber  wird  nicht 
anders  denken.  Um  den  Sokr.  zu  decken,  verschiebt  er  die  Frage. 
Der  Kritiker  verwirft  die  Philosophie  überhaupt;  zu  ihrer,  nicht 
zu  seiner  Verteidigung  kann  Sokr.  antworten;  die  Sophisten  gibt 
er  implicite  preis.  Es  ist  nicht  natürlich ,  daß  Ki-iton  den  Mann 
nicht  mit  Namen  nennt,  und  daß  Sokr.  nicht  fragt,  wer  es  war, 
sondern  ob  es  ein  praktischer  Redner  oder  Redeschreiber  war  .  . 
Gewandt  hat  es  PI.  so,  weil  seine  allgemeine  Antikritik  sich  gegen 
diese  ganze  Klasse,  die  toiovtoi,  die  (.isd^ogia  Ttokirix^g  xat  cpiXo- 
Goqiiag  richten  sollte.  Und  die  Einführung  eines  unbenannten 
Kritikers  ist  ihm  so  wenig  fremd  wie  die  Berufung  auf  unbenannte 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    263 

Urheber  von  Lehrmeinungen,  z.  B.  Rp  487  d,  499  d  ...  Er  gehört 
unter  die  zweite  von  Sokr.  unterschiedene  Klasse  als  7X0L)]Zt]g  tcov 
koyiüv  olg  oi  QtJTogeg  aycoiiZovzai ;  Kriton  hatte  ihn  als  einen  xüjv 
jtEQL  Toig  Xöyovg  Toig  elg  zä  dr/.aoTtJQia  öeivöJv  unterschieden. 
Wenn  das  die  Athener  lasen  und  auf  einen  bestimmten  rieten, 
wen  konnten  sie  nennen?  Isokrates  nicht;  der  schrieb  ja  nicht 
für  Prozesse.  Daß  er  das  in  früheren  Jahren  getan  hatte ,  mit 
geringem  Erfolge ,  konnte  jetzt  nicht  mehr  angeführt  werden  .  .  . 
Die  Athener  konnten  wirklich  nur  Lysias  nennen,  auf  den  bis 
hierher  alles  zutrifft;  daß  er  vor  langen  Jahren  einmal  die  Rede 
gegen  Eratosthenes  gehalten  hatte,  fiel  nicht  ins  Gewicht.  PI.  hat 
ihn  nicht  gemeint,  aber  unter  die  ßhetoren,  die  er  abweist,  mochte 
er  immerhin  gerechnet  werden.  Das  Folgende  trifft  kaum  mehr  auf 
ihn  zu."  Da  ist  „die  Rhetorik  im  ganzen  ebenso  gemeint  wie  die 
Eristik  im  ganzen  vorher.  Diese  mußte  im  Dialoge  ihren  benannten 
Vertreter  haben ;  hier  werden  Klassen  unterschieden,  und  eben  des- 
halb fällt  kein  Name.  Vor  dem  Erscheinen  des  Panegyrikos  hatte 
Isokr.  wirkHch  noch  nichts  getan,  was  mit  der  Politik  in  Verbindung 
stand.  PL  hat  also  unmöglich  auf  ihn  gezielt.  Aber  gerade  diese 
letzte  Chai'akteristik  traf  auf  Isokr.,  wie  er  sich  fühlte  und  wie 
er  gelten  wollte,  zu;  er  schrieb  ja  am  Panegyrikos.  Insofern  hat 
Spengel  ganz  recht  gesehen.  Es  ist  also  wohl  denkbar,  daß  er  am 
Eus ,  so  sehr  ihm  die  Bekämpfung  der  Eristiker  recht  war ,  eine 
geringe  Freude  gehabt  hat ;  aber  ebenso  möglich,  daß  ihn  die  letzten 
anerkennenden  Worte  (06  c)  versöhnten."  Auch  ein  Satz  aus  dem 
1.  Band  des  PL  gehört  hierher  (S.  301):  „Der  Kritiker,  dessen 
Verurteilung  der  Philosophie  Kriton  gehört  hat,  könnte  ebensogut 
ein  Politiker  wie  Anytos  sein ;  hier  bleibt  er  namenlos ,  weil  er 
die  Rhetorik  im  ganzen  vertritt,  sowohl  die  gerichtliche  wie  die 
politische,  was  sich  in  einer  Person,  zumal  der  sokratischen  Zeit, 
nicht  vereinigte." 

Pohlenz  findet  (S.  363)  eine  enge  Parallele  zwischen  Rp  V 
Schluß  von  74  c  an  und  dem  Schluß  des  Eus.  Da  er  nicht  be- 
zweifelt, daß  an  jener  Stelle  der  Rp  PL  gegen  Isokrates  polemisiert, 
scheint  ihm  dieser  Umstand  „am  meisten  dafür  zu  sprechen",  daß 
Isokr.  auch  im  Eus  der  Gegner  ist.  FreiHch  erkennt  er,  daß  diese 
Annahme  ihre  Schwierigkeiten  hat.  „Dann  muß  der  Eus  hinter  den 
Phs  fallen,"  wofür  (361)  „auch  inhaltlich  vieles  spricht."  „Doch 
sagt  auch  Phs  75  a  PL :  aocpiag  ds  TÖlg  (.lad^r^raig  do^av,  ov%  ali^- 
O^Etav  TioQi'Ceig.  Man  hat  das  Gefühl,  daß  er  auch  dort  bestimmte 
Leute  vor  Augen  hat,  aber  schwerlich  Isokrates.     So  könnte  auch 


264  Constantin  Ritter. 

im  Eus  ein  für  uns  nicht  mehr  kenntlicher  Gegner  gemeint  sein. 
Dann  fiele  der  Dialog  zwischen  Me  und  Phs."  —  In  diese  Zeit 
wird  er  wirklich  fallen. 

V.  Arnim  (S.  129)  schreibt:  Die  Deutung  auf  Isokrates  „ist 
ganz  ungewiß.  Wäre  sie  richtig,  so  müßte  der  Eus  noch  in  die 
Zeit  gesetzt  werden,  wo  Isokr.,  vor  der  Gründung  seiner  Schule» 
in  Athen  als  Gerichtsredenschreiber  tätig  war.  Denn  als  solcher 
ist  der  Gegner  Pl.s  ausdrücklich  charakterisiert.  Antwort  auf  71SQI 
üO(piacü)v  kann  also  die  Stelle  keinesfalls  sein,  weil  in  dieser  Rede 
Isokr.  die  Anleitung  zur  gerichtlichen  Beredsamkeit  ausdrücklich 
von  sich  ablehnt." 

Blaß,  Att.  Bereds.  II  ^  35  meint,  daß  die  Stelle  auf  Isokrates 
abzwecke,  sei  wohl  nicht  zu  bezweifeln,  „wenn  auch  die  eingeführte 
Persönlichkeit  mit  etwas  unbestimmten  Umrissen  gezeichnet  ist,  da 
Isokr.  ohne  Anachronismus  sich  nicht  einführen  ließ."  Hirzel, 
Dialog  I,  218  spricht  von  dem  „Pseudo-Isokrates"  oder  dem  „Un- 
genannten,   in    dem   man  mit  Unrecht  Isokrates  erkennen  wollte". 

Als  abschließend  kann  man  hier  das  Urteil  Prächters  (S.  268) 
gelten  lassen:  „Man  hat  in  dem  Angreifer  Isokrates  vermutet  und 
auf  diese  Identifizierung  weittragende  Schlüsse  hinsichtlich  der 
Stellung  des  Dialogs  innerhalb  der  Beziehungen  zwischen  Isokr., 
Antisthenes  und  PI.  und  hinsichtlich  seiner  Abfassungszeit  be- 
gründet. Tatsächlich  hat  sich  Isokr.  literarisch  in  der  hier  in  Frage 
kommenden  Weise  gegen  die  Eristik  im  philosophischen  Unterrichte 
ausgesprochen.  Auch  die  im  Eus  gegebene  persönliche  Charakteristik 
paßt  auf  ihn."  (Es  folgen  die  Einzelheiten.)  .  .  „Wir  können  heute 
außer  Isokr.  niemanden  namhaft  machen ,  der  der  Schilderung  in 
ihren  einzelnen  Zügen  entspräche.  Aber  daraus  folgt  noch  lange 
nicht,  daß  Isokr.  wirklich  der  Gesuchte  ist.  Denn  unsere  Kenntnis 
der  Literatur  und  Geistesgeschichte  jener  Zeit  ist  durchaus  lücken- 
haft. Der  Isokratesh3^pothese  kann  also  im  besten  Fall  nur  Wahr- 
scheinlichkeit zugesprochen  werden  .  ." 

Fast  ebenso  zäh  wie  um  Isoki-ates  ist  der  Streit  um  Antisthenes 
geführt  worden,  d.  h.  darüber,  ob  dieser  unter  den  eristischeu 
Sophisten,  die  auf  der  Szene  erscheinen,  zu  verstehen  und  also  die 
Personen  Euthydemos  und  Dionysodoros  bloß  Maskenfiguren  seien. 
Auch  hier  gehört  Räder  zu  den  glaubensfreudigsten  Jüngern 
Teichmüllers.  Doch  auch  Natorp.  Und  neben  ihnen  Gomperz. 
Hören  wir  diesen  für  alle.  (S.  433 :)  „Es  sind  Sokratiker  und  vor 
allem  Antisthenes,  den  PI.  treffen  will,  indem  er  jene  Klopffechter 
schlägt.    Die  skurrile  Art,  in  der  dies  geschieht,  liefert  wieder  ein 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  tkber  PI.  erschienenen  Arbeiten.    265 

nnverächtliches  chronologisches  Merkmal.  Der  leichtgeschürzte,  an 
das  Possenhafte  grenzende  Angriff  muß  der  ernsten  Bestreitung 
antisthenischer  Lehren  vorangegangen  sein,  welche  der  Th  und  So 
enthalten.  Das  gegenteilige  Verhältnis  würde  eine  umgekehrte 
Klimax  ausmachen ,  die  der  Kunstverstand  auch  eines  geringeren 
Meisters,  als  PI.  es  war,  zu  meiden  gewußt  hätte."  Nachdem  dann 
einige  Proben  von  den  „paradoxen  Fehlschlüssen"  gegeben  sind,  mit 
denen  sich  der  Träger  der  Titelrolle  und  sein  Bruder  produzieren, 
fährt  G.  (S.  435)  fort:  „Nun  ist  es  eine  erlesene  Malice  Pl.s,  Lehr- 
sätze des  Antisthenes  in  den  Aberwitz  jener  \\'ortverdreher  und 
Begriffsjongleure  einzuschmuggeln.  So  die  Behauptung  der  Un- 
möglichkeit anderer  als  identischer  Urteile,  der  Unmöglichkeit  des 
"Widersprechens  und  unwahrer  Aussagen  überhaupt  .  .  Es  ist  ein 
polemischer  Kunstgriff  Pl.s,  die  von  ihm  geringgeschätzten  Dok- 
trinen eines  gehaßten  Gegners  durch  die  Gesellschaft,  in  die  er  sie 
einführt,  und  durch  die  Personen,  denen  er  sie  in  den  Mund  legt, 
zu  diskreditieren.  An  Antisthenes  läßt  uns  übrigens  schon  das 
erste  Auftreten  jener  eristischen  Marktschreier  denken.  Denn  daß 
sie  von  der  Rhetorik  zur  Dialektik,  und  zwar  erst  in  vorgerückten 
Jahren,  übergegangen  sind,  das  ist  ein  Zug,  der  den  zeitgenössischen 
Letter  sofort  an  Antisthenes  erinnern  mußte ,  der  einen  ähnlichen 
Weg  gewandelt  ist  und  den  PI.  im  So  gleichfalls  als  'spätlernenden 
Greis'  verspottet."  H.  Maier,  an  dessen  Darstellung  Wilamowitz 
(II  S.  164  A.)  rügt,  daß  er  der  „modernsten  Antistheneslegende" 
viel  zu  starke  Zugeständnisse  gemacht  habe,  findet  doch  immerhin 
(Sokrates  S.  204  f.):  „Euthydemos  und  Dionysodoros  sind  keines- 
wegs Masken  .  .,  sie  erscheinen  mit  voller  Deutlichkeit  als  wirkliche 
Sophisten,  die  bis  vor  kurzem  die  vielseitigen  sophistischen  Künste, 
zu  denen  namentlich  auch  die  militärische  Techne  gehörte,  mit  Eifer 
und  Erfolg  getrieben  hatten ,  seit  einiger  Zeit  aber  in  schon  vor- 
gerückten Jahren  zu  einem  anderen  Geschäft  übergegangen  waren. 
Von  der  jetzigen  Höhe  blicken  sie  geringschätzig  auf  ihre  frühex'e 
Beschäftigung  zurück.  Ihr  neues  Metier  ist  die  Eristik.'"'  Ähnlich 
erkennt  Apelt  (Einl.  S.  2)  die  Geschichtlichkeit  des  Sophistenpaares 
an,  das  PI.  vielleicht  von  seiner  Jugend  her  „als  rechtes  Prototyp 
für  die  Sophistenzunft  der  Gegenwart  noch  lebhaft  vor  der  Seele 
stehen"  mochte ,  will  aber  doch  die  Polemik  Pl.s  zum  guten  Teil 
auf  den   „dahinter  stehenden"  Antisthenes  gemünzt  wissen. 

Die  Beziehungen  zwischen  Eus  und  Th  sind  unverkennbar. 
Und  auch  ich  bin  nicht  bloß  aus  sprachlichen  Gründen  überzeugt, 
der  Eus  geht  voraus,  der  Th  folgt  später.    Umgekehrt  faßt  Natorp 


260  Constantin  Ritter. 

den  Eus  (S.  116)  als  eiueu  „Nachtrag,  der  im  Tli  so  bestimmt  an- 
gekündigt ist ,  daß  er  sogar  als  Anhang  zu  diesem ,  wie  eine  Art 
Satja'spiel,  zugleich  veröffentlicht  sein  könnte  .  .  Es  ist  haupt- 
sächlich das  Problem  des  Falschvorsteilens,  in  welchem  die  beiden 
Schriften  zusammenhängen.  Im  Th  (90  e)  wird  bei  der  Erörterung 
dieses  Punktes  auf  viele  absurde  Folgerungen  hingedeutet,  auf  die 
die  Annahme,  daß  es  gar  kein  Falschvorstellen  gebe,  führen  würde, 
die  aber  Sokr.  für  jetzt  nicht  entwickeln  will,  weil  es  scheinen 
könnte,  als  träfen  die  lächerlichen  Konsequenzen  ihn  selbst;  denn  er 
hatte  ja  die  fragliche  Ansicht  anscheinend  zu  der  seinigen  gemacht. 
Erst  wenn  man  mit  der  ganzen  Untersuchung  fertig  sei,  so  daß 
jene  schlimmen  Konsequenzen  nicht  mehr  ihn,  sondern  andre  treffen, 
verspricht  er,  sie  darzulegen.  Wenn  je  PI.  in  einer  seiner  Schriften 
die  nächstfolgende  voraus  angekündigt  hat,  dann  hier."  —  !  — 
„Im  Eus  nämlich  werden  die  lächerlichen  Konsequenzen  jener 
törichten  Voraussetzung  (besonders  85 — 88)  ergötzlich  genug  ent- 
wickelt. Daß  es  sich  hier  wieder"  —  wie  im  Th  —  „um  Antisthenes 
handelt,  dafür  gibt  es  diesmal  einen  di-eifachen  äußeren  Beweis."  .  . 
(118)  „Wie  aber  der  Th  in  der  angeführten  Stelle  deutlich  auf  den 
Eus  vorausweist,  so  findet  sich,  und  zwar  wieder  in  demselben 
Sachzusammenhang,  eine  andre  Stelle  des  Eus,  die  nicht  minder 
greifbar  auf  den  Th  zurückdeutet,"  nämlich  86  c  (nebst  88  a). 
„Das  gegen  Protagoras  dort  Bewiesene,  will  PI.  sagen,"  —  nämlich 
„daß  die  Meinung,  jede  Meinung  .  .  sei  wahr,  sich  selbst  widerlegt", 
indem  sie  auch  die  entgegengesetzte  Meinung  für  wahr  erklärt  — 
„trifft  ebenfalls  den  Antisthenes,  dessen  Weisheit  in  diesem  Punkte 
nur  Wiederaufwärmung  der  des  Protagoras  ist." 

Ki'äftigen  Einspruch  gegen  dieses  ganze  Verfahren  des  Text- 
ausdeutens  und  Zwischen-den-Zeilen-Lesens  hat  namentlich  Wila - 
mowitz  erhoben.  Er  schreibt  (I  S.  296):  „Die  meiste  Mühe  ist 
daran  verschwendet  worden,  hinter  Euthydem  einen  vornehmeren 
Gegner  herauszufinden  und  einen  am  Schlüsse  namenlos  eingeführten 
Kritiker  des  Sokr.  zu  benennen.  Verlorene  Liebesmühe.  PI.  kämpft 
(wie  im  Cra)  gegen  eine  falsche  Methode ,  die  zwar  noch  gegen- 
wärtig herrscht,  aber  aus  dem  5.  Jahrhundert  stammt.  Für  sie 
braucht  er  einen  Vertreter,  der  Zeitgenosse  des  Sokr.  ist:  das  ist 
Euthydemos.  Und  am  Schlüsse  verteidigt  er  die  Philosophie  gegen 
die  Rhetorik:  Gattung  gegen  Gattung:  es  ist  eine  Herabwürdigung, 
diese  Kämpfe  zu  persönlichen  Fehden  zu  machen,  übrigens  auch 
nur  dadurch  ermöglicht,  daß  hier  oder  da  ein  Sätzchen  heraus- 
gegriffen wird,    statt   auf  das  Ganze  zu  sehen."     (II,  155:)  „Man 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PL  erschienenen  Arbeiten.    267 

hat  die  Existenz  des  Dionysodoros  bezweifelt ,  und  Xenophon 
(Mem.  III,  1,  1)  konnte  ihn  allerdings  aus  PI,  übernehmen.  Aber 
daß  er  nicht  weiter  bezeugt  und  die  Verdopplung  der  Sophisten 
ein  besonders  glückliches  Motiv  ist,  genügt  nicht,  einem  solchen 
baren  Einfall  Halt  zu  geben."  (159:)  „Am  meisten  Staub  hat  die 
Leugnung  des  avxiXtyeiv  und  x^'EvÖEoitaL  durch  die  Sophisten  auf- 
gewirbelt. Sokr.  erklärt  86  c,  das  wäre  eine  alte  Behauptung,  deren 
sich  Protagoras  -/.al  o\  in  TtaXaioregoi  häufig  bedient  hätten  .  i 
Es  ist  damit ,  sollte  man  meinen ,  jede  Beziehung  auf  einen  Zeit- 
genossen ausgeschlossen;  hält  einer  an  dem  alten  Satze  fest,  so 
war  es  auch  für  ihn  gesagt,  aber  einen  persönlichen  Angriff  konnte 
niemand  in  den  Worten  erkennen."  Das  Ergebnis  der  weiteren 
Prüfung  ist  (S.  161):  Man  „kann  gar  nicht  anders  urteilen,  als  daß 
PL  im  Eus  und  Cra  ganz  ohne  jede  Spitze  gegen  Antisthenes 
schreibt"  .  .  „Es  ist  auf  das  schärfste  zu  betonen  und  demgemäß 
auch  anderes  zu  beurteilen ,  daß  PLs  Polemik  jedes  persönlichen 
Akzentes  entbehrt;  er  bestreitet  eine  falsche,  aber  schon  durch  die 
eindringliche  Widerlegung  als  beachtenswert  anerkannte  Ansicht." 
(Ähnlich  noch  einmal  S.  165.) 

Wieder  kann  man  hier  Prächters  Urteil  als  abschließend 
annehmen  ^).  Es  steht  S.  268.  Im  übrigen  verweise  ich  auf  meine 
eigenen,  Piaton  I  S.  458  f.  gegebenen,  Ausführungen.  Zwei  Sätze 
daraus  schreibe  ich  hier  ab:  „Am  glaublichsten  ist  mir  (nach  den 
Indizien,  die  heute  für  uns  voi-liegen),  daß  der  Euthydemos  ge- 
schrieben ist  zu  einer  Zeit,  da  Piaton  auf  den  Gedanken  politischen 
Wirkens  in  der  Heimat  verzichtet  hatte  und  nun,  wahrscheinlich 
nach  längerer  Abwesenheit  von  Hause,  sich  die  Verhältnisse  darauf 
ansah,  wo  er  am  besten  Stellung  nehmen  könnte,  um  wenigstens 
das  freie  Spiel  der  geistigen  Kräfte  nach  eigenem  Sinne  eingreifend 
mit  zu  bestimmen.  Er  fand  es  schlimm  und  ärgerlich ,  daß  die 
Philosophie,  der  Sokrates  in  so  ernstem  Sinne  gedient  hatte,  durch 
das  eitle  Treiben  nichtiger  Gesellen  entwürdigt  wurde  und  daß  die 
anderen  Schüler  des  Sokrates  solchem  Unfug  nicht  steuerten.  Und 
er  will  sich  Raum  schaffen,  indem  er  gründlich  ausfegt." 

Die  betrachteten  Versuche,  Anspielungen  auf  bestimmte  Per- 
sonen und  womöglich  auch  literarische  Leistungen  von  solchen 
nachzuweisen,  haben  immer  zugleich  Bedeutung  für  den  chrono- 
logischen Ansatz  der  Schrift,  die  solche  Anspielungen  enthalten  soll. 
Die    erkannte  Unmöglichkeit   sicherer  Nachweisungen   für  den  Eus 


*)  Sehr  gut  sind  auch  die  Bemerkungen  Bonhöffers  S.  153  A.  1. 


268  Constantin  Ritter. 

veranlaßt  uns ,  nach  anderen  Anhaltspunkten  für  seine  Datierung 
zu  suchen.  Wie  verhält  sich  der  Eus  zu  anderen  platonischen 
Schriften?  Auch  da  zeigt  sich  wieder,  daß  aufgefundene  Be- 
ziehungen zweideutig  zu  sein  pflegen.  Vom  Verhältnis  zwischen 
ihm  und  dem  Th  war  schon  die  Rede.  Sehen  wir  nach  seinem 
Verhältnis  zum  Me.  Da  belehrt  uns  Gomperz  (S.  435  f.):  in  der 
Betrachtung,  die  der  Eus  über  die  Güter  des  Lebens  anstellt, 
kommt  zutage,  daß  die  Einsicht,  die  den  richtigen  Gebrauch  lehrt, 
das  einzige  unbedingte  Gut  ist.  Die  ganze  Erörterung  darüber 
„liefert  einen  sicheren  Beweis  dafür,  daß  der  Eus  dem  Me  nach- 
gefolgt ist.  Denn  während  im  Me  die  Frage  nach  der  Lehrbarkeit 
der  Tugend  weitläufig  verhandelt  wird,  bejaht  sie  Sokr.  hier  ohne 
weiteres,  mit  einem  kurzen  Worte  freudiger  Zustimmung."  Anders 
sieht  V.  Arnim  die  Sache  an.  Er  erklärt  (S.  126  f.),  daß  der  Me 
88  b  „den  ganzen  Gedankengang  aus  dem  Eus  kurz  rekapituliert 
und  in  den  Zusammenhang  der  Untersuchung  über  die  Lehrbarkeit 
der  Tugend  hineinstellt.  Man  kann  also  nicht  bezweifeln,  daß  der 
Me  später  geschrieben  ist  als  der  Eus  und  in  gewissem  Sinne  eine 
Fortsetzung  desselben  ist."  E,äder  stimmt  zwar  bezüglich  der 
Folge  Me — Eus  mit  Gomperz  überein;  aber  seinen  Beweis  läßt  er 
nicht  gelten.  Er  sagt  (ö.  143  A.  4),  „Gomperz  (vgl.  Bonitz^  S.  122) 
sieht  in  dieser  Stelle  einen  sicheren  Beweis  dafür,  daß  der  Eus 
später  ist  als  der  Me,  weil  die  im  Me  behandelte  Frage  .  .  hier  als 
erledigt  behandelt  werde.  Er  hat  aber  übersehen,  daß  die  'freudige 
Zustimmung'  nicht  der  Lehrbarkeit  der  Tugend  gilt,  sondern  der 
der  Weisheit,  welche  auch  im  Me  vorausgesetzt  wurde.  In  beiden 
Dialogen  ist  der  Gedankengang  derselbe ;  nur  wird  der  Beweis  im 
Eus  mit  größerer  Sicherheit  geführt."  —  Auch  Wilamowitz 
(I,  301)  urteilt:  „der  Me  wird  vorausgesetzt  (daß  die  Tugend 
lehrbar  ist,  gilt  als  zugestanden)."  Ebenso  Apelt  (S.  97  A,  30): 
„Diese  Frage ,  deren  Lösung  der  ganze  Dialog  Me  gewidmet  ist, 
gilt  also  hier  ohne  weiteres  in  bejahendem  Sinne  beantwortet." 

Auch  sonst  herrscht  bei  den  Versuchen,  den  Eus  einer  chrono- 
logischen Reihe  einzuordnen ,  kein  volles  Einvernehmen  und  die 
vorgebrachten  Beweise  könnten  zum  Teil  gerade  umgestülpt  werden. 
Z.  B.  sagt  V.  Arnim  (S.  123):  „Daß  der  Eus  den  im  Ch  unldar 
gebliebenen  Punkt"  —  über  das  „Verhältnis  der  Fachdisziplinen 
zur  höchsten  Wissenschaft"  —  „klarer  macht,  zeigt,  daß  dieser 
Dialog  nach  dem  Ch  geschrieben  ist.  .  .  Der  Eus  ist  .  .  das  Binde- 
glied zwischen  der  ersten"  (nach  v.  Arnim  Pr,  La,  Ly,  Eu,  Ch,  Eus 
umfassenden)    „und    der  zweiten  Schriftengruppe.     Er  bringt  nicht 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  ttber  PI.  erschieneneu  Arbeiten.    269 

nur  den  Abschluß  der  ersten  und  teilt  mit  ihr  die  nach  Gegenstand 
und  Methode  für  sie  bezeichnenden  Merkmale ,  sondern  hat  auch 
eine  unverkennbare  Verwandtschaft  mit  dem  G,  dem  Me  und  dem 
Cra.  Darum  muß  er  unmittelbar  vor  dem  G  geschrieben  sein." 
(127:)  „Es  wäre  ganz  verkehrt,  daraus,  daß  im  Ch  die  Wissen- 
schaft vom  Guten  genannt  wird,  während  im  Eus  das  Suchen  nach 
der  höchsten  Wissenschaft  sich  in  Widersprüche  verwickelt  und 
vergeblich  bleibt,  auf  die  spätere  Entstehung  des  Ch  zu  schließen. 
Ausschlaggebend  für  die  Prioritätsfrage  ist  vielmehr  die  Tatsache, 
daß  im  Eus  der  begriffliche  Gegensatz  zwischen  der  höchsten 
Wissenschaft  und  den  übrigen  Wissenschaften  scharf  formuliert  und 
die  Art,  wie  sie  zur  Glückseligkeit  zusammenwirken  sollen,  genau 
bestimmt  wird,  während  im  Ch  dieser  wichtige  Punkt  unklar  bleibt. 
Man  kann  daraus  mit  Sicherheit  schließen,  daß  der  Eus  nach  dem 
Ch  geschrieben  ist.  Er  repräsentiert  ihm  gegenüber  eine  höhere 
Stufe  in  jener  methodischen  Entwicklung  des  Problems  der  höchsten 
Wissenschaft,  die  sich  als  roter  Faden  durch  die  ganze  Reihe  der 
Jugenddialoge  hindurchzieht."  (129  f.:)  „Auf  den  ersten  Blick  sieht 
man  die  nahe  Verwandtschaft"  zwischen  Eus  89  e  f.  und  G  63  c, 
„wo  die  Rhetorik  7roXLTi/.ijg  f.wQiov  eiöcokov  und  uoqiov  rrjg  /.oXa- 
"KEiag  genannt  wird."  „Da  nun  für  den  Gedankengang  im  Eus  dieser 
Ausfall  gegen  die  Rhetorik  absolut  überflüssig  ist  und  sich  nur  aus 
der  gereizten  Stimmung  Pl.s  gegen  seine  rhetorischen  Rivalen  er- 
klären läßt,  der  er  im  G  Luft  machte,  so  muß  man  urteilen,  daß 
diese  Stelle  sehr  gut  zu  einer  den  Eus  unmittelbar  vor  den  G 
rückenden  Datierung  stimmt."  Warum  sie  nicht  ein  Nachhall  aus 
dem  G  sein  sollte,  vermag  ich  ebensowenig  einzusehen,  als  ich  den 
vorgetragenen  Beweisen  über  die  Priorität  des  Ch  vor  dem  Eus, 
an  die  ich  selber  glaube,  so  ganz  sicher  trauen  möchte.  —  Weiter 
schreibe  ich  aus  v.  Arnim  noch  ab  (S.  135  ff.;:  „PI.  hat  in  seiner 
dogmatischen  Lehre  von  der  Idee  des  Guten  Rp  VI  05  b  ausdrück- 
lich auf  die  Aporie  des  Eus  Bezug  genommen  .  .  Diese  Rp-Stelle 
ist  als  Rekapitulation  der  Erörterung  im  Eus  anzusehen.  Wir  sind 
daher  berechtigt,  aus  ihr  zu  entnehmen,  was  PI.  positiv  dachte  und 
unter  dem  Schleier  der  Aporie  verhüllt  seinen  Lesern  darbieten 
wollte,  als  er  den  Eus  schrieb  .  .  .  Ist  aber  hierdurch  der  .  .  Gehalt 
der  Erörterung  im  Eus  richtig  gedeutet,  so  ist  klar,  daß  dieselbe 
dem  Ziel,  welches  PI.  mit  der  ganzen  Reihe  seiner  Jugendwerke 
verfolgt,  näher  kommt,  als  irgendeines  der  früheren  Werke,  daß  also 
der  Eus  das  letzte  Werk  dieser  Reihe  sein  muß."  Dazu  stimmen 
folgende  Sätze  aus  Wilamowitz  (I,  305):    „Ängstlich  vermeidet 


270  Constantin  Ritter. 

PL,  dem  Hauptwerke  vorzugreifen,  an  dem  er  längst  arbeitet,  das 
seinen  eigentlichen  Plan,  seine  Philosophenpolitik,  enthüllen  soll. 
Dennoch  zeigt  gerade  die  Behandlung  der  königlichen  Kunst,  daß 
ihm  bereits  Gedankengänge  bekannt  sind,  auf  die  er  erst  viel 
später  .  .  im  Po  seine  Leser  führen  wird.  Ebenso  wie  der  Me 
weist  der  Eus  auf  die  Rp  voraus ;  beide  würden  ohne  diese  Hin- 
deutungen in  sich  geschlossener  sein;  allein  PI.  wollte  eben  daran 
keinen  Zweifel  lassen ,  daß  Philosophie  und  Politik  zusammen- 
gehörten; darin  lag,  daß  seine  Schule  auf  beide  vorbereiten  wollte. 
Me  und  Eus  zusammen ,  wie  sie  zusammen  verfaßt  sind ,  werben 
für  die  neue  Schule,  der  erste  wie  ein  Programm,  der  zweite  wird 
ein  Protreptikos  zum  Eintritt."  Dem  reihe  ich  noch  einmal  einige 
Sätze  Räders  (S.  146)  an:  „Das  höchste  Ziel,  zu  dem  uns  .  .  der 
Eus  führt,  ist  die  Zusammenstellung  der  'königlichen  Kunsf  und 
der  Dialektik  .  .  Etwas  Näheres  wird  darüber  nicht  ausgesprochen, 
was  erst  in  der  ßp  geschehen  sollte ,  die  daher  als  ein  späteres 
Werk  Pl.s  aufgefaßt  werden  muß.  Anderseits  .  .  zeigt  .  .  der  Spott 
über  die  Lehre  von  der  Anwesenheit  der  Begriffe  in  den  Dialogen, 
daß  der  G  schon  vorlag"  —  warum  nicht  etwa  bloß  der  Eu?  — 
„und  das  Fehlen  der  Frömmigkeit  unter  den  Kardinaltugenden  setzt 
den  Eu  voraus  .  ."  Treffend  erinnert  Bonhöffer  (S.  152  A.), 
„daß  die  Ausführungen  des  Kleinias  über  die  GTQaTrjyinTJ ,  die  er 
als  species  der  d^r^QEvxiv.ri  betrachtet,  und  die  weitere  Diärese  der 
rix^ai  in  noirjTiAal  und  d^rjQEiTixal  (90b  ff.)  schon  eine  kleine 
Vorübung  bilden  auf  die  Methode  der  Klassifikation,  die  PI.  später 
im  So  und  Po  angewendet  hat". 

Ich  glaube :  mit  größter  Bestimmtheit  darf  man  behaupten,  der 
Eus  und  der  Cra  können  zeitHch  nicht  weit  auseinanderliegen. 
Wenn  man  den  Ch  und  La  als  Zwillingsbrüder  betrachten  darf, 
dann  gewiß  nicht  weniger  sicher  den  Eus  und  Cra.  Darüber  wird 
bei  Betrachtung  des  Cra  noch  zu  reden  sein. 

Über  die  künstlerische  Form  des  Werkes  höre  man  vor  allem 
Wilamowitz  (I,  296):  „in  ihm  ist  eine  Kunst  des  Aufbaus  und 
der  Dramatik  aufgeboten ,  die  den  Werken  der  höchsten  Meister- 
schaft ebenbürtig^)  ist.  Der  Dialog  pflegt  nicht  nach  Verdienst 
eingeschätzt  zu  werden,  weil  die  Gegner,  die  er  überwindet,  diesen 


^)  Auch  Apelt  (Einl.  S.  1)  erklärt,  hinsichtlich  der  künstlerischen 
Vollendung  gehöre  der  Eus  zu  den  hervorragendsten  Leistungen  Pl.s 
und  spricht  (S.  15)  von  dem  „Reiz,  den  das  mit  ganz  außerordentlichem 
Kunstverstand  entworfene  Werk"  mit  seinem  „wohltuenden  Wechsel  von 
Erregung  und  Beruhigung"  „auf  den  aufmerksamen  Leser  ausübt". 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    271 

Aufwand  von  Witz  nicht  zu  vei'dienen  scheinen,  und  ftii-  Pl.s 
Philosophie  Positives  kaum  herauskommt."  (305:)  „In  dem  archi- 
tektonischen Aufbau  kommt  ihm  kein  Dialog  an  Geschlossenheit 
und  Harmonie  gleich."  Schade,  daß  mir  der  Raum  nicht  erlaubt, 
die  folgenden  1^/2  Seiten  abzudrucken.  Doch  ist  nicht  unrichtig,  was 
Prächter  (S.  267)  bemerkt,  daß  für  uns  nicht  bloß  das  historische 
Verständnis,  sondern  auch  „der  Genuß  dadurch  beeinträchtigt  werde, 
daß  uns  die  zeitgeschichtlichen  Beziehungen  des  Werkes  nur  un- 
vollkommen bekannt  sind".  Gut  ist  auch  der  Wink,  den  Bou- 
höffer  (S.  152  A.)  gibt:  „Eine  besondere  Finesse  ist  es,  wie  PL 
im  zweiten  Gespräch  den  Kleinias  auf  einmal  selbständig  und  ganz 
vernünftig  die  Untersuchung  fortführen  läßt,  so  daß  sich  Kriton 
baß  verwundert.  Es  soll  hier  eben  gezeigt  werden,  daß  bei  der 
sokratischen  Manier  des  öialeyead^ai  die  jungen  Leute  wirklich  zum 
Denken  erzogen  werden;  und  wenn  Sokr.  hernach  sich  stellt,  als 
wüßte  er  nicht  mehr  sicher,  ob  Kleinias  oder  ein  anderer  das 
Betreffende  gesagt  habe,  so  ist  das  lediglich  seine  höfliche  Be- 
scheidenheit, die  nicht  mit  Erfolgen  prunken  will." 

Den  „Zweck  und  Hauptinhalt"  des  Eus  habe  ich  (PI.  I  S.  455) 
mit  folgendem  zu  beschreiben  gesucht:  „Es  soll  gezeigt  werden: 
die  Philosophie  ist  die  wichtigste  Beschäftigung  für  den  Menschen. 
Aber  man  darf  die  Philosophie  nicht  in  der  bloßen  Schlagfertigkeit 
des  Disputierens  und  formallogischer  Gewandtheit  suchen,  die  nur 
der  persönlichen  Eitelkeit  dient  und  die  sachliche  Erkenntnis  nicht 
fördert.  Richtig  betrieben ,  im  Sinn  und  nach  dem  Vorbild  des 
Soki'.,  wird  sie  immer  Rücksicht  nehmen  auf  den  höchsten  Zweck 
alles  Handelns.  So  ist  sie  dann  die  sichere  Grundlage  der  Staats- 
kunst. Dagegen  so  ein  Mittelding  zwischen  Philosophie  und  Politik, 
das  statt  ihrer  empfohlen  wird,  ist  nichts  Rechtes."  —  Bonitz 
hatte  (PI.  Stud. 2  121)  als  „Absicht  des  Ganzen"  angegeben:  „Der 
Beruf  der  Philosophie ,  die  wahre  Bildnerin  der  Jugend  zu  sein, 
wird  gerechtfertigt  gegenüber  der  Scheinweisheit,  die  an  ihre  Steile 
eintreten  will,  durch  Selbstdarstellung  der  einen  und  der  anderen." 
Kühnemann  (Grundl.  S.  286)  ist  damit  nicht  ganz  zufrieden. 
Er  will  lieber  sagen :  „Wesen  und  Bedeutung  der  Philosophie  als 
Lebensmacht"  und  bezeichnet  als  „die  das  platonische  Wesen  kon- 
stituierenden Züge  der  Schrift :  in  ihr  kommen  zusammen  der  Er- 
ziehungsgedanke, das  ethische  Problem  und  die  Frage  von  Wesen 
und  Bedeutung  der  Philosophie.  In  ihrem  methodischen  Denken 
ist  die  Philosophie  die  Erziehung  des  Menschen  zur  Klarheit,  und 
ohne    sie  kann  er  nicht  leben.     Aus  den  ethischen  Fragen  springt 


272  Constantin  Ritter, 

die  Beziehung  auf  die  sittliche  Gemeinschaft  heraus.  In  diesem 
ihrem  großen  Problem  als  einer  Aufgabe  reiner  Erkenntnis,  die  auch 
um  der  Erziehung  der  Menschen  willen  unumgänglich,  erweist  die 
Philosophie  ihre  Notwendigkeit  und  ihre  Würde."  Apelt  dagegen 
(S.  15)  gibt  Bonitz  vollkommen  ßecht.  Dazu  sagt  er  selbst  noch: 
„Was  PI.  den  Griffel  in  die  Hand  drückte,  war  nicht  das  vorüber- 
gehende ,  gelegentliche  Interesse ,  der  Petulanz  gewisser  wissen- 
schaftlicher Gegner  entgegenzutreten  und  sie  in  ihrer  Nichtigkeit 
bloßzustellen,  sondern  die  schwere  Gefährdung  der  ganzen  sittlichen 
Bildung  seines  Volkes  durch  die  Sophisten  und  gewisse  sophistisch 
gerichteten  Sokratiker  .  .  Dieser  Gefahr  vorzubeugen  .  .,  setzte  .  . 
PI.  alles  daran.  .  .  Er  will  sich  und  seiner  Schule  einen  Platz  an 
der  Sonne  erkämpfen." 

Von  Einzelheiten  wird  namentlich  00 e  f.  umstritten.  Be- 
sonders handelt  es  sich  um  die  Vermutung  Zellers  zu  01a  luv 
ow  nauayifijiai  ool  ßocg,  ß'/di;  £i,  /.ai  oci  vcv  fyio  aoi  udgeiini, 
JiovvaodwQog  ti,  „daß  Antisthenes  in  seiner  Weise  das  Beispiel 
vom  Ochsen  wirklich  gebraucht  hat,  worauf  dann  PI.  dadurch  ant- 
worten würde ,  daß  er  ihn  selbst  in  der  Person  Dionysodors  zu 
der  gleichen  Exemplifikation  verwendet."  Bonitz^  (S.  134  A.)  hat 
diese  Vermutung,  die  auch  von  Apelt  (S.  134  A.  92)  gebilligt,  von 
Prächter  wenigstens  für  „beachtenswert"  erklärt  wird,  „höchst  an- 
sprechend" gefunden.  Wilamowitz  (II  S.  158)  äußert  darüber: 
„Der  dumme  Paralogismus  ist,  kaum  sollte  man's  glauben,  für  eine 
antisthenische  Widerlegung  von  Pl.s  (.itOe^ig  tol  el'öovg  erklärt 
worden.  Die  Grobheit  mit  dem  Ochsen  soll  antisthenisch  sein. 
Ich  denke  gering  von  ihm,  aber  so  dumm  war  er  doch  nicht,  auf 
TKXQEaiL  y.aKKog  tl  einen  solchen  Schluß  zu  bauen.  Dabei  ist  der 
eigentliche  Witz  gar  nicht  verstanden.  'Wenn  ein  Ochse  bei  dir 
steht,  wirst  du  ein  Ochse,  und  wenn  Dionysodor,  ein  Dionysodor' : 
das  heißt:  im  ersten  Piille  sinkst  du  zum  Tier  hinab,  im  andern 
steigst  du  zum  Weisen  hinauf.'  Sokr.  versteht  und  sagt  mit  herr- 
licher Bosheit  €tf/>y/£<  xuiiö  ye  .  .  Also  von  der  Ideenlehre  und 
von  Antisthenes  ist  hier  nichts;  die  Ideeulehre  wäre  den  Lesern 
auch  unverständlich  gewesen,  denn  wo  sollten  sie  sie  her  kennen? 
Und  nur  wer  Anspielungen  jagt  und  darüber  das  Ganze  vergißt, 
kann  so  etwas  unter  den  Schnacken  erwarten."  —  Ich  denke,  so 
ganz  einfach,  wie  W.  meint,  liegt  die  Sache  doch  nicht.  Voraus 
geht  die  Frage  des  Dionysodoros :  'Hast  du  schon  ein  -/mIov  Jigäyita 
gesehen?'  'Sogar  viele,'  antwortet  ihm  Sokr.  Nun  fragt  er  weiter : 
^icega  oi'za  xov  y.aXov  r^  ravca  ziit  /.ahTt;^  worauf  nach  einigem  Be- 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PL  erschienenen  Arbeiten.    273 

denken  die  neue  Antwort  erfolgt :  'evega  avrov  tov  '/.aXovj  ndgeavi 
fASiTOi  EKaOTO}  avtüJv  '/.akhog  Tt.'  Es  handelt  sich  hier  wirklich 
um  das  Problem  der  'Ideenlehre',  um  den  Grund  einer  gültigen 
Aussage,  die  immer  ein  Subjekt  mit  einem  Prädikat  verbindet.  Zu- 
grunde liegt  das  Bedenken  (das,  wie  wir  aus  Aristoteles  wissen, 
auch  von  Antisthenes  ausgesprochen  worden  ist):  wie  kann  über- 
haupt mit  einem  Substantiv  ein  adjektivisches  Prädikat  verknüpft 
werden?  welchen  Sinn  hat  das?  PI.  ist  überzeugt:  es  hat  bei  der 
richtigen  Aussage  seinen  guten  objektiven  Grund.  Aber  der  wäre 
schwer  anzugeben.  Man  kann  dafür  das  Wort  'Idee'  setzen.  Damit 
ist  aber  nur  die  Aufgabe  zur  Erforschung  dieses  Grundes  bezeichnet. 
Der  Cra  spricht  deutlich  wenigstens  so  viel  aus,  daß  diese  objektive 
Grundlage  des  richtigen  Urteils  etwas  Unveränderliches  und  Un- 
sinnliches sein  muß.  Daß  „wenn  Sokr.  statt  nccQEOTi  ngoaeOTt 
gesagt  hätte  wie  Sophokles  (Trag,  adesp.  355),  was  er  „ebenso  gut 
tun"  konnte,  „diese  Replik  unmöglich  wäre",  halte  ich  nicht  für 
richtig.  Eher  kann  ich  Lutoslawski  (S.  212  A.  173)  zustimmen: 
^nagslrai  wird  genau  in  derselben  Bedeutung  in  einigen  der  kleinen 
Dialoge  gebraucht,  wie  Ch  59  a  und  Ly  17d,  gleich  TtaQayiypsad-ai 
in  La  89  e.  Dieser  Gebrauch  entspricht  nicht  der  Terminologie 
der  Ideenlehre."  Auch  sonst  bin  ich  mit  den  auf  Pl.s  Philosophie 
bezüglichen  Bemerkungen,  die  W.  in  diesem  Zusammenhang  macht, 
durchaus  nicht  ganz  einverstanden. 

Eine  Frage  möchte  ich  stellen  zu  dem  93  c  in  allen  guten  Hss. 
überlieferten  eq>r]g.  Wohl  alle  unsere  Ausgaben  von  Stephanus  an 
ändern  es  ab ,  zu  q^T^g  oder  eingeschobenem  e'cpt].  Schanz  gibt  im 
Apparat :  Icpt]  Stephanus :  e'iprjg  B  T,  q>f^g  Heindorf  (e'q^r]g  iniOTaaS^ai 
apogr.  Marcianum  189);  aus  Burnet  ersehen  wir,  daß  auch  W  e(pr]g 
überliefert.  Soviel  ich  weiß,  finden  wir  im  ganzen  Text  der  echten 
piaton.  Schriften  dieses  der  Koine  angehörige  ecprjg  bei  der  guten 
Überlieferung  nur  noch  an  einer  einzigen  Stelle,  dort  aber  ebenso 
einstimmig,  nämlich  G  66 e.  Dort  hat  es  Burnet  stehen  lassen. 
Er  liest  frcel  lo  ftaycc  dvvaod^ai  eq^rjg  ayad-ov  sivai  und  fügt  bei: 
k'cprjg  BTPF  Stobäus:  q^fjg  Baiter.  (Schanz  folgt  Baiter.)  Ditten- 
berger  hat  einst  die  Vermutung  ausgesprochen,  das  zunehmende  /ntjv 
in  den  späteren  Schriften  Pl.s  sei  aus  dessen  Aufenthalt  in  Sizilien 
zu  erklären.  Das  erwies  sich  als  unhaltbar.  Aber  sollte  nicht  der 
vielgereiste  Mann  jenes  l'(fr]g  vorübergehend  unbewußt  aus  der 
Koine  aufgenommen  haben,  um  es  wieder  fallen  zu  lassen,  wie  er 
wieder  ganz  in  der  Vaterstadt  heimisch  geworden  war?  Und  falls 
es  im  G  stehen  bleiben  darf,  dann  vielleicht  auch  im  Eus? 

Jahresbericht  für  Altertumswissenachaft.    Bd.  191  (1922.  I).  18 


274  Constantin  Ritter. 

Schließlicli  möchte  ich  darauf  aufmerksam  machen,  daß  doch 
Avohl  auch  in  03  e  (nicht  bloß  in  04  e)  ein  Zitat  vorliegt :  aiExvcog 
usv  ra>  ovTi  ^iggaTtTSTE  ra  OTOf-iaza  tcZv  av^gcoTtiov^  iüotveq  xal 
(pars.  Im  platonischen  Dialog  selber  haben  ja  die  beiden  Streit- 
künstler diesen  Ausdruck  nicht  gebraucht.  (Allerdings|  ist  man 
nicht  genötigt,  an  eine  schriftliche  Vorlage  zu  denken.) 


Kratylos  {=  Cra):  behandelt  von  Pfleiderer  S.  318 — 24,'Xutos- 
lawski  S.  220—33,  Gomperz  S.  448—50,  Natorp  S.  119—261  Räder 
S.  146—53,  Ritter  S.  462—76,  Windelband -Bonhöffer  S.  153  f., 
Wilamowitz  I  S.  284—90,  Frachter  S.  271—4,  Kiock,  De  Cratyli 
Platonici  indole  ac  fine,  Breslau  1913. 

Recht  gut  in  aller  Kürze  finde  ich  die  Darstellung  von 
Gomperz.  Einige  Sätze  ziehe  ich  aus:  „Zu  den  piaton.  Werken, 
die  in  erkenntnistheoretischer  Rücksicht  eine  Vorstufe  des  Th  be- 
zeichnen, gehört,  wie  der  Me  und  das  Sy,  so  auch  der  Cra  .  .  Er 
erörtert  .  .  die  symbolische  Bedeutung  einzelner  Laute,  sehr  ähnlich 
wie  Leibniz  und  Jakob  Grimm  es  getan  haben ;  er  erkennt  in  der 
Nachahmung  äußerer  Bewegungen  durch  die  Bewegung  der  Sprach- 
werkzeuge einen  Hauptfaktor  der  Sprachbildung,  einen  wirksameren, 
als  die  Lautnachahmung  .  .  es  ist.  Zwischen  diesen  Einräumungen 
aber  und  der  Anerkennung ,  daß  die  jenen  Quellen  entstammende 
Urbedeutung  der  Worte  für  uns  zumeist  nicht  mehr  zu  enträtseln 
ist,  besteht  kein  Widerspruch.  Denn  die  Vergleichung  griechischer 
Mundarten  hat  PI.  mit  Erscheinungen  des  Lautwandels  bekannt  ge- 
macht. Dieser  und  die  von  ihm  unumwunden  zugestandene  Mit- 
wirkung eines  Elements  ganz  eigentlicher  ''Konvention'  .  .  haben 
den  anfänglichen  Laut-  und  Bedeutungsbestand  derart  verändert, 
daß  zwischen  einst  und  jetzt  eine  nicht  mehr  auszufüllende  Kluft 
gähnt.  Stünde  es  aber  auch  anders ,  so  wäre  die  Sprache  noch 
immer  kein  geeigneter  Schlüssel,  uns  das  Wesen  der  Dinge  auf- 
zuschließen. Auch  dann  wäre  es  .  .  vorzuziehen ,  die  Originale 
selbst  und  nicht  ihre  'Abbilder'  ins  Auge  zu  fassen.  Und  —  was 
das  Wichtigste  ist  —  diese  würden  im  besten  Fall  nur  die  Er- 
scheinungen, die  Welt  des  Werdens  widerspiegeln.  Die  Erkenntnis 
der  Ideen  aber  oder  der  an  und  für  sich  seienden  Wesenheiten, 
die  Erkenntnis  im  eigentlichsten  Sinne,  würde  selbst  durch  das  ein- 
dringendste  Verständnis  ursprachlicher  Worte  nicht  gefördert." 

Als  Ergänzung  dazu  einiges  aus  Wilamowitz  (S.  292): 
„Pl.s  Meinung  .  .  ist  ,  .  offenbar,  daß  der  Sprachschöpfer,  wer  er 
auch  war,  mit  dem  Klange  irgendwie  dasjenige  kenntlich  zu  machen 


Ber,  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    275 

versucht  hätte,  was  die  Wörter  bezeichnen.  Soviel  ich  sehe,  sind 
wir  auch  nicht  klüger  geworden."  (286  f. :)  „PI.  hatte  .  .  einst  den 
Kratylos  zum  Lehrer  gehabt,  also  selbst  diese  Lehre"  —  daß  die 
Etymologie  ein  unfehlbares  Mittel  zur  Begriffsbestimmung  sei  — 
^als  tiefe  Weisheit  überkommen.  Der  Einfluß  des  Sokr.  hatte  das 
zurückgedrängt,  aber  einigen  Reiz  hatte  es  für  ihn  doch  behalten, 
und  selbst  im  Alter  machte  es  ihm  Freude ,  mit  Etymologien  zu 
spielen,  auch  wenn  er  ihren  W^ert  für  die  Erkenntnis  des  Begriffes 
noch  viel  geringer  anschlug  als  in  seinem  Cra.  Der  ist  geschrieben, 
um  sich  selbst  und  seine  Schüler  von  dem  Wahne  gründlich  zu 
heüen,  daß  in  den  Buchstaben  oder  dem  Klange  eines  Wortes  sein 
Sinn  zu  finden  wäre;  er  erklärt  diesen  Weg  für  ungangbar,  aber 
er  tummelt  sich  zum  Vergnügen  so  lange  auf  ihm,  wie  es  nur  einer 
tut,  der  sich  weit  auf  ihn  vorgewagt  hatte,  ehe  er  sich  überzeugte, 
daß  es  ein  Holzweg  war."  (285)  Es  herrscht,  wie  im  Eus,  „eine 
geradezu  übermütige  Laune :  nie  wieder  ist  PI.  sich  seiner  Über- 
legenheit so  freudig  bewußt  gewesen ,  niemals  hat  er  seiner  Lust 
und  seinem  Geschick  zu  scherzen  und  zu  spotten  so  freien  Lauf 
gelassen,  so  daß  er  dem  Leser  den  seltenen  Genuß  bereitet,  herz- 
haft lachen  zu  können ,  und  wir  freuen  uns  mit  ihm ,  daß  er  die 
hoffnungsvollen  Jahre  erlebt  hat,  deren  Niederschlag  Eus  und  Cra 
sind."  (293)  „In  der  Tat  ein  lustiges  Buch.  Wir  können  .  .  nicht 
anders  als  lachen  und  wissen  sofort,  woran  wir  sind,  wenn  wir  als 
erstes  hören,  daß  Hermokrates,  der  Unterredner  des  Sokr.,  gar  nicht 
so  hieße ,  weil  er  arm  ist  und  ihm  nicht  glückt ,  die  Armut  los- 
zuwerden; ein  Name,  der  den  Hermes,  den  Geber  des  Gewinnes, 
einschließt,  paßt  nicht  auf  ihn.  Da  wäre  es  auch  kein  Name, 
sondern  ein  sinnloser  KJang.  Und  bald  geht  ein  wahres  Feuerwerk 
des  tollsten  Witzes  los ,  ein  Sprühregen  von  mehr  oder  weniger 
geistreichen  Etymologien  prasselt  auf  uns  nieder,  und  das  Hübsehe 
ist,  daß  wir  zuerst  gläubig  zuhören,  bald  aber  irre  werden,  Scherz 
und  Ernst  nicht  mehr  scheiden,  bis  wir  gar  von  wirklichen  Namen 
auf  das  Schöne  und  Schlechte  .  .  und  Gerechte  geraten,  also  Be- 
griffe ,  um  die  sich  die  Untersuchung  in  Pl.s  Schule  zu  drehen 
pflegt,  die  aber  kaum  noch  als  Namen  gelten  können."  .  .  (295)  „Die 
dramatische  Anlage  des  Dialoges  ist  kunstlos." 

Dann  aus  Bonhöffer:  „In  dem  Ringen  nach  einer  Lösung 
spricht  PI.  .  .  eine  Reihe  der  fruchtbarsten  und  genialsten  Gedanken 
aus,  die  ihn  als  den  eigentlichen  Begründer  der  Sprachphilosophie 
erscheinen  lassen.  So  scharfsinnig  er  den  wirklichen  Einklang  der 
sprachlichen  Laute   mit   den  durch  sie  bezeichneten  Vorstellungen. 

18* 


276  Constantin  Ritter. 

aufzuzeigen  vermag  .  .,  so  klar  erkennt  er  die  Unzulänglichkeit 
dieses  Erklärungsprinzips  und  kommt  schließlich  darauf  hinaus,  daß 
das  Wort  kein  eigentliches  dijXw[.ia  TtQccyf.iaTog,  sondern  nur  ein 
fiifur]fia  sei,  daß  die  Dinge  nicht  durch  die  Worte,  sondern  durch 
die  a?yy^Eia  tcZv  ovtiov  (38  d),  d.  h.  durch  die  Ideen,  erkannt  werden. 
Dieser  Begriff  der  Idee ,  durch  welche  allein  eine  ßsßaiOTrjg  z^g 
ovGiag  (86  a)  und  gegenüber  dem  heraklitischen  Fluß  aller  Dinge 
eine  Erkenntnis  gewährleistet  wird ,  tritt  in  diesem  Dialog  erst- 
mals in  höchst  bedeutsamer  Weise  hervor  und  verleiht  ihm  neben 
der  Wichtigkeit  und  Originalität  des  Hauptthemas  noch  einen  be- 
sonderen Wert." 

Die  große  Bedeutung  des  Cra  als  eines  Marksteins  für  die 
Entwicklung  der  philosophischen  Gedanken  Pl.s  und  namentlich  für 
seine  logischen  Untersuchungen  tritt  bei  Lutoslawski  in  helles 
Licht  (S.  221  f.):  „Die  Existenz  von  Dingen  wird  behandelt  als  un- 
abhängig von  den  Wörtern ,  mit  denen  wir  sie  definieren  ,  und  es 
wird  ihnen  ihr  selbständig  beharrendes  Wesen  zugeschrieben  (86  a 
und  23  d)  ...  Was  dieses  Wesen  oder  diese  Substanz  der  Dinge 
und  sogar  der  Handlungen  (87  d)  sei,  macht  PI.  noch  nicht  völlig 
klar.  Sein  erster  Schritt  ist  nur,  daß  er  versichert,  sie  müsse  be- 
harren, während  die  Erscheinungen  wechseln.  Die  Beständigkeit 
des  Wesens  der  Dinge  folgt  aus  der  Möglichkeit  des  Wissens,  die, 
nachdem  der  Me  sie  festgestellt,  niemals  mehr  in  Zweifel  gezogen 
wird  und  hier  als  die  Grundlage  denkender  Betrachtung  gilt.  Blieben 
die  Dinge  niemals  dieselben,  dann  wäre  nichts  in  ihnen,  wovon  ein 
Sein  ausgesagt  werden  könnte  (39  e).  Wenn  ein  Ding  dem  Wechsel 
unterliegt,  wird  es  ein  anderes  und  entspricht  nicht  länger  dem 
Begriff,  den  wir  zuerst  von  ihm  bildeten.  Bei  solch  beständigem 
Wechsel  wird  Wissen  unmöglich,  weil  Wissen  sich  auf  ein  be- 
stimmtes Sein  bezieht,  und  wenn  dieses  Sein  ein  anderes  wird, 
dann  kann  sich  unser  Wissen  nicht  mehr  darauf  beziehen ,  weil 
Wissen  kein  unbestimmtes  Objekt  haben  kann  (40  a).  Das  Wissen 
selbst  muß,  um  Wissen  zu  sein,  unverändert  und  wandellos  bleiben. 
Denn  wandelt  es  sich  und  entspricht  nicht  länger  dem  Begriff  des 
Wissens,  dann  hört  es  schlechterdings  auf.  Wissen  zu  sein  (40 ab). 
Dieser  Gedankengang  ist  von  grundlegender  Bedeutung  für  Pl.s 
Logik  und  für  den  Ursprung  der  Logik  überhaupt.  Er  wiederholt 
sich  manchmal  in  späteren  Schriften;  die  Tatsächlichkeit  eines  von 
wahrer  Meinung  verschiedenen  Wissens  ist  ein  Axiom  und  Voraus- 
setzung der  Wissenschaft.  Aber  Wissen  kann  sich  nicht  mit  ewig 
veränderlichen   Objekten    befassen.     Das   Ziel   ist  Beständigkeit   in 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  J  ahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    277 

seinen  Gegenständen  zu  entdecken,  und  diese,  die  Begriffe  unseres 
Verstandes,  können,  wenn  sie  von  wirklichem  Wissen  erfaßt  sind, 
keinen  Wandlungen  unterliegen.  Wandeln  sie  sich,  dann  waren  sie 
von  Anfang  an  nicht  durch  Wissen,  sondern  durch  irriges  Meinen 
gewonnen."  (224:)  „PL  ist  wirklich  vorsichtig  mit  seinen  ersten 
Schritten  in  der  Logik  und  gesteht ,  daß  die  endgültige  Lösung 
dieser  Probleme"  (die  im  Verhältnis  des  allgemeinen  Wesens  zu 
den  Einzeldingen  liegen)  recht  schwierig  ist  (40  c),  doch  ermuntert 
er  seine  Leser  zu  beherztem  tüchtigem  und  unablässigem  Nach- 
forschen (40  d).  Er  scheint  eine  spätere  Ausführung  damit  in  Aus- 
sicht zu  stellen,  daß  Sokr.  und  Kratj^los  am  Ende  des  Dialogs  sich 
gegenseitig  ans  Herz  legen ,  die  Sache  zu  erwägen.  Das  ist  in 
vollem  Einklang  mit  der  Stelle ,  die  der  Dialog  als  Einführung  in 
Pl.s  besondere  logische  Studien  einnimmt."  (227:)  „Anzugeben  was 
für  eine  Methode  angewendet  werden  solle,  um  sich  der  Wahrheit 
zu  versichern,  lehnt  PI.  ab  (39  b),  aber  er  betont,  daß  Wissen  nicht 
von  Wörtern  aus  zu  gewinnen  ist  (39  b)."  Er  „beansprucht  für 
seine  philosophischen  Zwecke  über  die  Richtigkeit  der  Wörter  zu 
entscheiden  (25  a),  ihre  Bedeutung  abzuändern  und  neue  Wörter  zu 
bilden  in  Übereinstimmung  mit  den  Anforderungen  seiner  Dialektik. 
Von  dieser  Freiheit  hat  er  in  seinen  späteren  Werken  ausgiebig 
Gebrauch  gemacht ,  während  uns  nur  wenige  neue  Wörter  in  den 
sokratischen  Dialogen  be2:eg;nen." 

O  OD 

Auch  Natorp  verdient  zum  Wort  zu  kommen.  (121ff. :)  „Sach- 
lich interessieren  uns  aus  den  Erörterungen  des  Cra  hauptsächlich 
folgende  Punkte  :  1.]  (85  ff.)  Wahr  heißt  der  Satz,  welcher  von  dem 
was  ist  (d.  h.  stattfindet,  der  Fall  ist)  aussagt  daß  es  ist,  falsch, 
welcher  (von  demselben)  aussagt  daß  es  nicht  ist.  Dies  Sein  und 
Nichtsein  aber  muß  einen  in  sich  gegründeten ,  objektiven  Sinn 
haben  .  .,  eine  gewisse  Festigkeit  oder  Gewißheit  .  .  .  (Der  Begriff, 
der  zum  Prädikat  in  einem  wahren  Urteil  dient,  muß  gegründet 
sein  und  kraft  der  Begründung  mit  identischem  Sinn  feststehen.)" 
Die  „Sachen  (/r^aj^/^ara)"  —  auch  Handlungen  werden  zu  ihnen 
gerechnet  —  werden  als  Gegenstände  des  Begriffs,  als  der  Inhalt 
des  Gedachten,  vom  Subjektiven  des  Denkvorgangs  unterschieden 
und  mit  eigener,  fester  Wesenheit  oder  eigener  Gesetzlichkeit  aus- 
gestattet, der  gemäß  sie  richtig  sind  oder  richtig  geschehen.  „In 
diesem  Merkmal  des  richtigen  geht  der  Begriff  der  'Natur'  einer 
Sache  schon  in  den  teleologischen  Nebensinn  über:  eine  Handlung 
geschieht  ihrer  Natur  gemäß,  wenn  sie  geschieht  wie  sie  soll,  wie 
der  Zweck  es  vorschreibt  .  .    Das  überträgt  sich  .  .  auf  das  Werk- 


278  Constantin  Ritter, 

zeug,  das  der  Ausübung  einer  gewissen  Handlung  dient;  auch  bei 
diesem  bestellt  die  'Natur'  iu  der  Gemäßheit  zu  der  Absicht.  So 
gibt  es  also  (worauf  die  ganze  Betrachtung  zielte)  einen  objektiven 
Sinn  und  Zweck  der  Benennung  und  des  Namens,  eine  dabei  leitende 
'Idee',  was  'es  selbst'  die  Benennung  ist;  so  wie  der  Holzschnitzer, 
wenn  er  für  das  zerbrochene  Weberschiff  ein  neues  machen  soll, 
hinzublicken  hat  auf  das  Musterbild  (eiöog)  eben  dessen,  was  'es 
selbst',  das  Weberschiff,  'ist'  (was  seinen  Begi-iff  ausmacht  89  b), 
oder  seine  Natur,  was  es  von  Natur  oder  wie  es  naturbeschaffen  ist ; 
dafür  dann  (90  in.):  'dieselbe  Idee',  das  heißt  hier:  die  identische 
Grundgestalt  der  Sache;  und  wiederum  gleichbedeutend  (93 d)  das 
Wesen  (ovaia)  der  Sache,  dann  die  Bedeutung  (Sinn,  dvvafxig),'"'' 
—  ich  glaube,  damit  ist  das  griechische  Wort  mißdeutet;  es  steht 
wohl  auch  im  Cra  in  demselben  Sinn ,  wie  bei  der  Erklärung  der 
ovaia  in  So  47  e  (48  c)  durch  dvvafiig  zov  noietv  -/.al  ndoyeLv  — 
„und  wieder  Natur  (q^vaig,  93  c  und  ferner)  .  .  .  Wir  haben  hier  .  . 
ein  sehr  deutliches  Zeugnis  für  die  ganz  schlichte  Abkunft  der  'Idee' 
vom  Begriff,  von  dem  sie  hier  kaum  unterschieden  ist.  Aber  doch 
ist  bemerkenswert,  daß  die  Identität  des  Begriffsinhalts  gestützt 
wird  auf  die  notwendige  Bestimmtheit  des  Sinns  der  Aussage  und 
die  unanfechtbare  objektive  Bedeutung  der  dieser  zugeschriebenen 
Wahrheit  und  Falschheit.  Und  so  entbehrt  auch  nicht  der  tieferen 
Tendenz  der  Hinweis  auf  den  Dialektiker  als  den ,  der  allein  den 
Gebrauch,  weil  den  Begriff,  die  'Idee',  das  Gesetz  der  Benennung 
versteht ,  also  auch  über  die  Namengebung  selber  die  Aufsicht  zu 
führen  hat  (90  c)  .  .  .  2.]  Die  Natur  der  Sachen  .  .  ist  schließlich 
nicht  aus  den  Namen  zu  schöpfen  .  .,  sondern  aus  sich  selbst  sind 
die  Sachen,  die  'Naturen'  der  Dinge  zu  erkennen  (38  e)  .  .  Es  gibt 
ein  'Schönes  selbst',  ein  'Gutes  selbst',  und  so  jedes  einzelne  von 
dem  was  'ist',  d.  h.  im  Urteil  prädiziert  wird  ...  Es  wäre  gar  nicht 
möglich,  etwas  als  schön  usw.  zu  benennen,  wenn  uns  auch  eben 
dies  beständig  unter  den  Händen  entginge,  1.  daß  es,  und  2.  daß 
es  ein  solches  (d.  h.  1.  daß  das  Subjekt  der  Aussage  ein  iden- 
tisches, und  2.  daß  der  Sinn  des  Prädikats  ein  identischer  ist)  .  .  . 
Es  wäre  dann  überhaupt  die  Aussage  unmöglich,  daß  es  (dies  und 
dies  bestimmte)  das  und  das  (bestimmte)  ist  .  .  Ja  man  könnte 
von  Erkenntnis  überhaupt  nicht  reden,  wenn  schlechthin  .  .  nichts 
heharren  sollte"  .  .  .  (125)  „Jedenfalls  ist  diese  so  kurze  wie  radi- 
kale Deduktion  eine  Wirkung  der  fortgeschrittenen  Klarheit  über 
die  Erfordernisse  der  deduktiven  Begründung  der  Wissenschaften 
überhaupt.    Denn  es  wird  .  .  nur  ganz  kurz  nebenher,  aber  in  aller 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    279 

Bestimmtheit  ausgesprochen  (36  d) :  um  das  Prinzip  (aQXtj)  einer 
jeden  Sache  hat  ein  jeder  die  gründlichste  Erörterung  und  die 
gründlichste  Untersuchung  anzustellen,  ob  es  recht  oder  nicht  recht 
zugrunde  gelegt  ist  (vTtoyiEiTai).  Ist  das  Prinzip  zulänglich  geprüft, 
so  wird  sich  zeigen ,  wie  alles  übrige  dem  folgt.  Er  beruft  sich 
auf  das  Beispiel  der  Geometrie ,  wo  der  unscheinbarste  Fehler  in 
den  Voraussetzungen  oft  die  ungeheuerlichsten  Konsequenzen  nach 
sich  zieht.  —  Hier  finden  wir  uns  bereits  dicht  an  der  Schwelle 
des  Werks,  welches  zum  erstenmal  eine  vollständige  wissenschaft- 
liche Durchfülirung  der  Ideenlehre  erbringen  wird,  ja  dieser  Aufgabe 
wesentlich  gewidmet  ist,  des  Phn." 

Die  wichtigsten  Gedanken  der  Schrift  sind  in  ihrem  Schluß- 
kapitel zusammengedrängt.  Ich  habe  dessen  Inhalt  (PL  I  S.  472  f.) 
mit  folgendem  widergegeben :  „Wenn  wir  von  einem  Schönen  oder 
Guten  an  sich  reden  oder  von  irgend  etwas  wirklich  Bestehendem 
an  sich  ('iv  (-'yMOrov  xidv  ovvwi')i  so  meinen  wir  damit  ein  immer 
Gleichbleibendes ;  und  wenn  es  nicht  schon  ein  Fehler  sein  soll, 
daß  v/ir  irgend  etwas  als  dieses  und  so  und  so  Beschaffenes  be- 
zeichnen ^),  so  darf  das  Ding  nicht,  während  wir  unsere  Worte  auf 
es  anwenden,  sich  verändern  und  in  fließendem  Übergänge  befinden, 
sondern  es  muß  seine  bestimmte  Form  (idea)  unterdessen  bei- 
behalten. Nur  so  kann  die  Erkenntnis  von  objektiven  Eigenschaften 
eines  Dinges  zustande  kommen.  Und  auch  die  Erkenntnis  oder  das 
Erkennen  selbst  als  Tätigkeit  des  Subjekts  muß,  während  sie  sich 
vollzieht,  eben  ihre  Art  und  Bestimmtheit  beibehalten,  in  ihrem 
eiöog  sich  erhalten.  Wenn  aber  ein  Subjekt  der  Erkenntnis  be- 
steht und  ein  Objekt  derselben  besteht,  ferner  das  Schöne,  das 
Gute  und  jegliches  Wirkliche  besteht,  so  sind  diese  Begriffe,  von 
denen  wir  da  reden,  offenbar  nicht  dem  Strom  und  der  Bewegung 
irgend  ähnlich." 

Bei  Frachter  scheint  mir  einiges  der  Verbesserung  zu  be- 
dürfen. Nicht  jeder  Leser  wird  verstehen ,  was  es  heißen  soll : 
„Wenn  man  auf  dem  Gebiete  der  Gesichtswahrnehmung  den  Dingen 
nicht  entsprechende  graphische  Abbilder  zuteilen,  d.  h.  (fälschlicher- 
weise) für  ihnen  entsprechend  erklären  kann,  muß  das  Gleiche  auch 
auf  dem  Gebiet  der  Gehörswahrnehmung  für  lautliche  Abbilder 
gelten."  In  engerem  Anschluß  an  den  Text  möchte  ich  dafür  ein- 
setzen :   „wie  es  unter  den  Malern  gute  und  schlechte  gibt,  so  unter 

^)  d.  h.  daß  wir  überhaupt  irgend  etwas  Bestimmtes  prädizieren  — 
mit  andern  Worten:  wenn  irgendwelcher  Satz,  den  wir  aussprechen, 
streng  richtig  und  wahr  sein  soll. 


280  Constantin  Ritter. 

den  Wortbildnern.  Beide  wollen  ein  (uifxrjfxa  tov  TtQayfxazog,  eine 
Nachbildung  von  Wirklichkeiten,  geben,  je  mit  ihren  Mitteln.  Dem 
einen  gelingt  es,  dem  andern  nicht."  —  Ferner  sagt  P. :  „Die  tat- 
sächliche Sprachbildung  ist  vom  Heraklitismus  beherrscht :  sie  ver- 
fährt so,  als  ob  die  Dinge  in  beständigem  Fluß  wären,  und  entbehrt 
in  ihrer  Namengebung  einer  beharrlich  durchgeführten  Norm  und 
Konsequenz."  Ich  würde  sagen:  „Die  tats.  Spr.  scheint  nur  bei 
oberflächlicher  Betrachtung  vom  Her.  beherrscht ,  als  ob  d.  D.  i.. 
best.  Fl.  wären,  aber  auch  die  entgegengesetzte  Auffassung,  daß 
sie  ruhend  beharren,  läßt  sich  ebenso  leicht  darin  finden."  — 
Unverständlich  ist  mir  die  Behauptung,  PI.  habe  sich  den  „Para- 
logismus",  den  „logischen  Fehler  der  Aquivokatiou"  zu  Schuld 
kommen  lassen ,  indem  er  die  Sprache  als  Werk  eines  vo[.io0^etrig 
(eines  Gesetzgebers  oder  auch  von  einer  Mehrzahl  solcher)  behandle, 
nachdem  er  vorher  gezeigt ,  daß  sie  als  Werkzeug  der  Belehrung 
uns  vom  v6f.iog  (Brauch)  übergeben  sei.  Der  rofiog  muß  ja  doch 
wirklich  einen  menschlichen  Urheber  und  Begründer  haben.  Die 
Sprache  ist  doch  nicht,  wie  das  Denken  selbst,  beim  einzelnen 
Menschen  avzocpveg.  Ebenso  unverständlich  ist  mir  hier  A.  Kiock, 
der  (S.  20)  von  einer  „metaphysica  legislatoris  persona"  spricht 
und  sich  dabei  auf  Deuschles  Piaton.  Sprachphilosophie  S.  48  und 
auf  Susemihl  beruft. 

Noch  einige  weiteren  Worte  über  die  Dissertation  von  Kiock. 
Sie  kündigt  sich  an  als  Vorarbeit  einer  editio  critica  et  exegetica  und 
beginnt  mit  Aufzählung  der  subsidia  interpretationis  potiora :  85  Ar- 
beiten von  fast  ebenso  vielen  Verfassern,  von  denen  nur  5  von  K. 
nicht  in  Augenschein  genommen  werden  konnten.  K.  wendet  sich  mit 
erfreulicher  Entschiedenheit  gegen  die  Mehrzahl  der  philologischen 
Erklärer,  die  die  Etymologien  des  Cra  als  ernste  Versuche  Pl.s 
hingenommen  haben,  vor  allem  gegen  Schäublin  (üb.  den  plat.  Dialog 
Cra,  Basel  1891,  Diss.),  den  er  (S.  11  A.  2)  gut  kennzeichnet  und 
abfertigt  mit  den  Worten:  „Seh.  p.  71:  'PI.  übt  redlich  (!)  das 
etymologische  Verfahren,  so  gewissenhaft,  als  es  die  damaligen 
Mittel  und  Einsichten  gestatteten'  .  .  —  Quis  tibi  talem  largitus  est 
licentiam'?"  Er  selber  will  beweisen  (S.  11  f.):  „Pliu  eo  consüio 
dialogum  scripsisse,  ut  linguam  hominum  ad  res  ipsas  cognoscendas 
maxime  inutilem  atque  inertem  esse  ostenderet."  Mit  Recht  betont 
er  auch ,  daß  der  Cra  darin  mit  Eus  und  Th  verwandt  sei ,  daß 
er  sich  um  die  Erkenntnistheorie  bemühe.  Doch  scheint  er  mir 
daneben  getroffen  zu  haben  mit  der  Erklärung,  daß  PI.  dabei  die 
Theorie  Heraklits  vom  Fluß  der  Dinge  völlig  verwerfe  und  die  de» 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    281 

Parmenides  von  der  TJnveränderlichkeit  des  Seienden  sich  aneigne, 
indem   er   auf  sie  seine  Ideenlehre  gründe  und  von  dieser  aus  die 
Möglichkeit    der  Erkenntnis   entscheide.     Die  Wörter  der  Sprache 
seien  etwas  Veränderliches  und  schon  deshalb  zur  Vermittlung  der 
Erkenntnis  des  Bleibenden  in  den  Dingen  nicht  geeignet.    Nützlich 
ist   die  Übersicht ,    die  K.   über  die  scherzhaften  Worterklärungen 
des  Dialogs,  nach  Gruppen  gesondert,  S.  23 — 35  gibt.    Im  Gegen- 
satz   zu    mir  (PI.  I  S.  470)   hält  K.,    wenn   ich  ihn  recht  verstehe 
(S.  38  f.),    die   Cr  24  ff.    über    die    einfachen  Wörter   der   Sprache^ 
die  allen  Abteilungen  und  Zusammensetzungen  zugrunde  liegen,  ge- 
gebenen Bemerkungen ,    daß    sie    wohl   lautsj'mbolischer  Bedeutung 
seien,  auch  für  ironisch.     Im  Schlußkapitel  verliert  er  sich  in  den 
Irrwegen    der    „Maskenforschung",    wie    ff.    Sätze    zeigen    (S.  45): 
„cimcta   vei'isimillimum    reddunt   Antisthenem    praecipue   a  Piatone 
peti  .  .    Praeterea  Prodicus  (84  b  et  passim)  lepidissima  ironia  per- 
stringitur,   qui  teste  Galeno  naturalem  nominis  et  rei  conexum  non 
nisi  usu  depravatum  esse  putavit.    Verisimillimum  est  Antisthenem 
discipixlum   vel   sectatorem  fuisse  Prodici  non  minus  austero  atque 
tristi  ingenio  praediti;"  —  diese  Charakteristik,  die  allem,  was  wir 
wirklich    von    dem    Mann    wissen ,    namentlich    aus    Athenaios    und 
Philostratos    (bei  Diels  V.  I,  298,  33   und  II,  563),    geradezu   ins 
Gesicht  schlägt,  ist  wohl  von  Gomperz  I,  343  ff.  entlehnt?  —  r^°*^ 
quidem  hodie  constat  PI™  saepenumero  iis  locis,    quibus  Prodicum 
ridet,  Antisthenem  petivisse."    Natürlich  können  alle  diese  Behaup- 
tungen  mit   Namen    wie  Schleiermacher ,   Winckelmann ,    Hermann, 
Reinhardt,   TJsener,   Natorp,    Diels,    Gomperz,   Dttmmler,    Joel   usw. 
gedeckt  werden  und  K.  versäumt  nicht,  sie  anzuführen.     Geradezu 
spaßhaft,    aber    für    eine    ganze  Richtung    gelehrter  Philologen    be- 
zeichnend  finde    ich   die  Anmerkung  auf  der  letzten  Seite:    .,(Inde 
a  pagina  11  d  Socr.  bonas  ac  salubres  res  ex  motu,  malas  ac  per- 
niciosas  ex  quiete  et  constantia  derivat.)    Videamus  quid  ex  enei- 
Sr^nEQ  zr]v  XeovTt]v  ivöedoxa   (IIa)    colligatur.     Haud   dubie   locus 
Aesopi  fabulam  asini  leonis  pelle  induti  reddit  .  .  .     Plane  frigidus 
locus  videretur,  si  Adamium  sequeremur  ratum  uullam  nisi  'Herculis 
laborem  suscepi'  vim  in  hisce  verbis  inesse.     Sed  Herculem  nihilo- 
secius  respici  apparet.    Quisnam  leonis  pelle  indutus  est?    Hercules 
et  asinus !     Antisthenem   constat  Herculem    exposuisse    omnes  vir- 
tutes  Sapientis  Cynici  exhibentem.    Acerbissima  igitur  ironia  Sapiens 
ille  Cynicus  comparari  videtur  —  cum  asino !    Sed  unum  non  prae- 
termittendum    est.     Heracliti  ratione  originationes  proferuntur  inde 
a  p.  11.    Licetne  ex  hoc  loco  colligere  Pl^  illum  Sapientem  Cynicum 


282  Constantin  Ritter. 

risisse,  quod  sensualismo  cynico  propinquus  videtur  esse  Heraclito  ? 
Heraclitum  saltem  cum  Hercule  comparatuin  esse  nummi  docent 
Heraclituin  clavam  sinistra  tenentem  exhibentes  necnon  Heracliti 
Stoici  locus :  Quaest.  Hom.  34  (=  p.  50  Bonn.)  cf.  Dielsium,  Herakl. 
1909^.  p.  83."  —  Wie  sagt  doch  Herakleitos  selber?  nolv(.ia&r]ir} 
roov  ov  diöaoy.ei.  Und  auch  an  das  Wort  Acta  26,  24  darf  erinnert 
werden.  Freilich  genügt  Adams  Erklärung  für  den  bildlichen  Aus- 
druck nicht  ganz.  Aber  mehr  wird  man  nicht  darin  suchen  dürfen  als: 
'nachdem  ich  einmal  die  stolze  fremde  Maske  vors  Gesicht  genommen', 
und  zur  Vergleichung  mag  man  86  d  und  Phs  62  d  heranziehen. 

Noch  toller  als  Kiock  treibt's  freilich  E.  Höttermann  in 
seinem  oben  schon  (S.  145)  angeführten  Aufsatz,  aus  dem  nun  hier 
eine  Kostprobe  gegeben  werden  soll:  (S.  82)  „Wie  ist  es  zu  er- 
klären, daß  gerade  Pl.s  Lehrer  es  ist,  der  im  1.  Teil  den  kynischen 
Standpunkt  gegenüber  Hermogenes  verficht?  oder  vielmehr  den 
jungen  Mann  zum  Kynismus  zu  bekehren  versucht?  Wir  erinnern 
hier  zunächst  an  die  Beobachtung,  die  wir  im  Anfange  machten: 
Hermog.  ist  so  gezeichnet,  wie  PI.  auch  sonst  kj^nische  Jünger 
zu  charakterisieren  liebt.  [Außer  Apollodoros  seien  noch  genannt 
Phaidros  und  Euthyphron  in  den  gleichnamigen  Dialogen]"  —  also 
„kynische  Jünger"  wären  das?!  —  „Ferner  lernen  wir  im  Cra  noch 
eine  in  kynischen  Kreisen  bekannte  Figur  in  der  Person  des  Sehers 
Euthyphron  kennen,  der,  wie  Joel  mit  guten  Gründen"  —  ?  — 
„vermutet,  eine  stehende  Dialogperson  des  Antisthenes  war  .  .  . 
Man  sieht  also  .  .  das  Milieu  des  ganzen  1.  Teiles  ist  kynisch. 
Das  Gespräch  zwischen  Sokr.  und  Hermog.,  das  wir  oben  als  eine 
Unterrichtsstunde  kennzeichneten,  stellt  sich  jetzt  deutlicher  als 
eine  kj^nische  Lehrstunde  heraus."  Ja  wirklich,  es  „kann  über  die 
Absicht  dieses  1.  Teils  kaum  mehr  ein  Zweifel  sein.  Wie  im  Eus, 
so  wird  auch  im  Cra  die  Antisthenische  Lehrmethode  persifliert." 
Und  was  den  Hei^mog.  betrifft,  der  damit  genarrt  wird,  „daß  er 
trotz  seiner  reichen  Herkunft  kein  Geld  hat,  um  an  den  Brüsten 
der  Weisheit  schlürfen  zu  können"  ?  „Diese  Anspielung  erhält  u.  E. 
nur  dann  eine  Spitze,  wenn  man  annimmt,  Hermog.  ist  ein  Kyniker, 
der  im  Übereifer  auf  sein  Erbteil  verzichtet  hat.  Mit  grimmem 
Scherze  wird  ihm  nun  die  scheinbare  Torheit  vorgehalten,  die  er 
mit  jenem  Verzicht  begangen  hat."  .  .  Der  „Dialog  gibt  sich  ganz 
anspruchslos.  Aber  wieviel  Interessantes  und  Amüsantes  muß  er 
in  der  Zeit  seiner  Entstehung  gehabt  haben,  in  der  man  die  Schriften 
des  Antisthenes,  denen  der  Angriff  gilt,  und  in  der  man  vor  allem 
die  Persönhchkeit  dieses  Philosophen  genau  kannte !    Was  wir  hier 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten,    283 

mühsam  auf  dem  Wege  eingehenden  Nachdenkens  mit  Leben  er- 
füllen müssen,  das  war  für  die  Zeitgenossen  ja  lebendig;  und  mit 
verständnisinnigem  Schmunzeln  wii-d  der  gebildete  Athener  die 
Persiflage  'Antisthenes  als  Lehrer'  gelesen  haben."  —  Ist  das  Spaß 
oder  ist  es  Ernst?    Jedenfalls  mir  graut  vor  solchen  Offenbarungen. 

Aus  der  auf  den  Cra  bezüglichen,   in  den  letzten  Jahrzehnten 
erschienenen  Literatur  führe  ich  noch  die  Titel  an: 
D.  Heath,  On  Plato's  Cr.    Journal  of  Philology  1888  p.  192—218. 
H.  Kirchner,  Die  verschiedenen  Auffassungen  des  plat.  Dialogs 

Cra.     Prg.  Brieg  I— IV  1891/2—1900/1. 
P.  ßosenstock,  Pl.s  Cra  und  die  Sprachphilosophie  der  Neuzeit. 

Prg.  Straßburg  W.-Pr.   1893. 
Schäublin  s.  oben  (S.  280). 
Schitetzky,  Der  plat.  Cra.   Petersburg  1890  (Journ.  f.  wissensch. 

Volksaufkl.  S.  807—18). 
A.  Steiner,  Die  Etymologien  in  Pl.s  Cra.    Arch.  f.  G.  d.  Ph.  1917 

S.  109—32. 
K.  Urbanek,  Die  Bedeutung  des  plat.  Cra.    Prg.  Krumma  (Böhmen) 

1912,  22  S. 

Das  Chronologische  haben  wir  schon  mehrfach  gestreift. 
Es  war  ein  grober  Irrtum  von  mir,  daß  ich  in  den  Unters,  von  1888 
mit  dem  Eus  auch  den  Cra  wegen  des  übermütigen  Spottes ,  den 
beide  treiben,  glaubte  zum  Pr  stellen  zu  dürfen.  Der  reiche  philo- 
sophische Gehalt  und  die  engen  Beziehungen ,  die  Eus  und  Cra 
zusammen  zum  Th  haben  und  die  der  Eus  zu  E,p  und  Po,  der  Cra 
zum  Phn  hat,  treffen  zusammen  mit  den  sprachstatistischen  Zeug- 
nissen dafür,  daß  Cra  wie  Eus  ihre  Stelle  zwischen  G  und  Phn, 
genauer  wohl  zwischen  dem  jenem  nachfolgenden  Me  und  dem 
diesem  wahrscheinlich  vorausgehenden  Sy  haben. 

Und  der  Eus  scheint  vor  dem  Cra  geschrieben  zu  sein.  Frei- 
lich den  Beweis,  den  einige  aus  der  SteUe  Ci-a  86  d  ableiten  wollen, 
erkenne  ich  nicht  an.  Dort  sagt  Sokr. :  „Auch  des  Euthydemos 
Meinung  teilst  du  wohl  nicht,  daß  allen  alles  in  gleicher  Weise 
zugleich  und  immer  zukomme."  Dazu  bemerkt  Natorp  (S.  121): 
„Natürlich  ist  es  keinem  Philosophen  oder  'Sophisten'  jemals  ein- 
gefallen ,  dergleichen ,  wie  hier  dem  'Euthydem'  nachgesagt  wird, 
im  Ernst  verteidigen  zu  wollen.  Sondern  der  Euthydem,  von  dem 
PI.  spricht,  ist  kein  anderer  als  der  Euthydem  seines  so  benannten 
Dialogs."  (Ich  weiß  nicht,  ob  Lutoslawski,  S.  222,  und  Räder, 
•S.  148,  dasselbe  meinen  mit  der  Erklärung:   „wenn  wir  die  Stellen 


284  Constantin  Eitter. 

Cr  86  d  und  Eus  94  e  f.  vergleichen,  scheint  sich  der  Cra  auf  de» 
Eus  zurückzubeziehen"  und  „man  ist  berechtigt,  an  dieser  Stelle^ 
einen  Rückblick  auf  Eus  94eff.  zu  erkennen.")  Daraus  folgert 
dann  N.  weiter:  „Wenn  das  im  Cra  von  Euthydem  Gesagte  auf  den 
Dialog  Eus  zurückweist,  so  ist  um  so  mehr,  der  Analogie  nach, 
das  gleich  Vorausgehende  über  Protagoras  auf  den  Th  zu  deuten  .  ., 
wodurch  vollends  die  Reihenfolge  Th — Eus — Cra  sich  bestätigt."  — 
Wenn  nun  aber  der  Th  einer  späteren  Zeit  angehört  als  Eus  und 
Cra  miteinander,  und  demgemäß  das  im  Cra  über  Protagoras  Ge- 
sagte sich  schlechterdings  nicht  auf  den  Th  beziehen  kann?  Dann 
wäre  „der  Analogie  nach"  auch  die  Bezugnahme  des  Cra  auf  den 
Eus  zu  leugnen.     Doch  ist  die  Analogie  nicht  zwingend. 

Pfleiderer  S.  318  f.  schließt  den  Cra  an  den  Th  an  und 
erklärt:  „Über  diesen  Ort  des  Cra  in  der  Reihe  der  platonischen 
Dialoge  kann  kaum  ein  Zweifel  sein ,  da  er  gerade  mit  dem  Th 
handgreiflich  zusammenhängt.  Beiden  gemeinsam  ist  die  vorwiegende 
Auseinandersetzung  mit  den  Lehren  des  Protagoras  und  Heraklit  .  . 
Ebenso  findet  sich  in  beiden  als  ein  ganz  besonders  wichtiger  Punkt 
die  Erörterung  über  die  Urbestandteile  oder  TtQona.  und  ozor/^Eiay 
im  Th  21eff.  ausgehend  von  dem  Verhältnis  der  Buchstaben,  Silben 
und  Worte  als  Beispiel  für  das  Reale,  im  Cra  24 f.  eigenthcher 
sprachlich.  In  diesem  Zusammenhang  streift  der  letztere  30  f.  kurz 
auch  die  ausführliche  Irrtumslehre  des  Th."  Beide  stammen  dem- 
nach „aus  derselben  Gedankenphase".  Auch  der  Anklang  von  Cra  39 e 
nolXaMq  oveiQiozTio  au  Th  Old  ovaq  uvtI  oveigazog  (und  08b  ovaQ 
iTiXovTüiaaiiiev)  ist  von  Bedeutung.  Lutoslawski,  S.  224,  beruft 
sich  auf  Pfleiderer.  Er  mahnt  jedoch,  „wir  müssen  mit  solchen 
Schlüssen  vorsichtig  sein ,  weil  PI.  in  seinen  Schriften  nicht  eine 
lückenlose  Reihe  von  Handlungen  geben  wollte ,  deren  jedes  den 
ganzen  Inhalt  der  vorher  erschienenen  voraussetzt.  Eine  Anspielung 
auf  häufige  Erörterung  eines  besonderen  Gegenstands  mag  mit  viel 
größerer  Wahrscheinlichkeit  auf  Pl.s  mündliche  Lehrtätigkeit  Bezug 
nehmen,  als  auf  seine  vorausgehenden  Schriften."  Weiter  meint  er^ 
gegen  Peipers  polemisierend:  „der  Gebrauch  von  oiaia  in  der  Be- 
deutung des  wahren  Wesens  eines  Dings  im  Gegensatz  zur  äußeren 
Erscheinung  findet  sich  noch  nicht  in  den  ethischen  Dialogen,  die 
dem  Cra  vorausliegen,  und  begegnet  hier  zum  erstenmal  .  .  .  Aber 
im  Licht  einer  vorurteilsfreien  Erklärung  ist  die  Ideenlehre  im  Cra 
erst  vorbereitet,  noch  nicht  formuliert."  —  Ich  meinesteils  heiße 
keine  Vorbereitung  mehr  was  am  Schlüsse  des  Cra  über  die  wahren, 
dem  Wechsel   der  Erscheinungen    enthobenen  oVra   gesagt  ist.     Ib 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    285 

Übereinstimmung  jedoch  mit  L.  bin  ich  in  der  hohen  Wertschätzung 
des  Cra.  Und  ich  bezweifle,  ob  es  mehr  als  eine  den  Wünschen  des 
Diederichsschen  Verlags  angepaßte  Verlegenheitsauskunft  war,  die 
M.  Wundt  S.  61  A.  seines  Piaton  gegeben  hat,  der  Eus  und  Cra 
seien  „beiseite  gelassen,  weil  für  die  platonische  Lehre  von  ge- 
ringerem Belang".  Eine  neue  gründliche  Bearbeitung  nach  dem 
Vorbild  der  englischen  Einzelausgaben  platonischer  Werke  möchte 
ich  gerade  dem  Cra  recht  herzlich  wünschen.  Wer  sie  unternimmt, 
wird  mit  Nutzen  lesen  und  vergleichen,  was  Neuere  über  die  Ent- 
stehung und  Entwicklung  der  Sprache  zu  sagen  wissen.  Unter 
anderem  möchte  ich  zur  Vergleichung  auch  den  Aufsatz  „Was  heißt 
Sprachexistenz?"  von  Bernhard  Witties  in  Fleischers  Deutscher 
Eevü,  1908  (23)  S.  368  ff.  empfehlen. 


Kippias  maior  (=  Hp  I) :  behandelt  von  Räder  S.  102 — 06, 
Ritter  S.  359—62,  459  ff.,  567,  M.  Hoffmann  Zt.  f.  G.Ws.  1904 
S.  283—8,  Pohlenz  S.  123—28  (unter  dem  Titel  „Unechtheit  des 
Hp  I"),  Frachter  S.  270  f. 

Das  Beste  über  ihn  hat  Apelt  gesagt,  in  seinen  Piaton.  Aufs. 
S.  222  ff.  und  neuerdings  (1921)  in  der  Einleitung  zu  seiner  Übers. 
Diese  ziehe  ich  hier  aus :  Man  versteht  den  Hp  I  am  besten,  wenn 
man  zuvor  den  gleichnamigen  kleineren  Dialog,  den  Hp  II  (s.  oben 
S.  103  ff.)  liest  und  sich  Rechenschaft  darüber  gibt,  wie  dieser  auf 
den  Leser  wirken  mußte.  Ein  solcher  wird,  verwirrt  und  verblüfft, 
ärgerlich  sein  „nicht  nur  über  Sokr.,  der  so  verdächtige  dialektische 
Ware  auf  den  Markt  zu  bringen  wagt ,  sondern  auch  über  sich 
selbst,  nämlich  über  sein  Unvermögen,  in  dies  dialektische  Dunkel 
sogleich  Licht  zu  bringen".  Nun:  „War  der  Verfasser  dem  irre- 
geführten Publikum  eine  Aufklärung  nicht  geradezu  schuldig,  nicht 
am  wenigsten  auch  im  Interesse  seiner  eigenen  Sache ,  die  leicht 
in  ein  ganz  falsches  Licht  kommen  konnte?  Es  drängt  sich  also 
die  Trage  auf:  Ist  der  größere  Dialog  nicht  vielleicht  bestimmt, 
das  Rätsel  zu  lösen,  das  der  kleinere  Dialog  dem  Leser  aufgibt? 
Ist  die  Aufmerksamkeit  einmal  nach  dieser  Seite  hingelenkt,  so 
wird  man  bald  Anlaß  finden,  den  damit  eingeschlagenen  Weg  weiter 
zu  verfolgen.  Denn  wenn  der  größere  Dialog  sich  auch  weder 
direkt  als  Ergänzung  des  kleineren  ankündigt  noch  die  Lösung  der 
Aporie  uns  fix  und  fertig  auf  dem  Präsentierteller  entgegenbringt, 
vielmehr  auch  seinerseits  vielfach  ein  neckisches  Spiel  mit  uns 
treibt,  so  hat  es  doch  der  Verfasser  für  den,  der  sehen  will,  nicht 
an  Andeutungen  fehlen  lassen."  .  .    Worin  liegt  das  Eigentümliche 


286 


Constantin  Ritter. 


des  Beweises,  durch  den  Sokr.  dem  Sophisten  seine  Niederlage 
beibringt?  „Darin,  daß  der  von  Haus  aus  moralisch  gemeinte  Be- 
griff des  'Besseren'  auf  das  Gebiet  des  technischen  Wissens  und 
Könnens  hinübergespielt  wird  .  .  .  Nichts  konnte  der  Eitelkeit  des 
Sophisten  mehr  schmeicheln  als  die  Vorspiegelung,  das  Fachwissen 
sei  maßgebend  für  den  Wert  der  PersönHchkeit  überhaupt,"  und 
so  schlägt  Sokr.  den  Sophisten  mit  dessen  eigenster  Waffe."  .  . 
Die  ganze  Mystifikation  geht  darauf  zurück,  daß  nicht  unterschieden 
wird  zwischen  'tun  können'  und  'tun  wollen',  zwischen  dem  bloßen 
Tun  als  solchem  und  dem ,  was  man  in  eminentem  Sinn  handeln 
nennt,  d.  h.  der  sittlichen  Bestimmung  des  Tuns."  Die  wahre 
Meinung  Pl.s  ist  uns  aus  manchen  Ausführungen  über  das  (Schöne 
und)  Gute,  das,  sobald  es  von  dem  Menschen  wh^klich  klar  erkannt 
ist,  aiich  die  größte  Anziehungskraft  für  ihn  hat,  genugsam  bekannt. 
Nun  ist  eben  dieser  Begriff  des  Guten  und  Schönen  im  Hp  II  ganz 
im  Dunkeln  gelassen  worden.  Dagegen  bildet  er  im  Hp  I  „den 
eigentlichen  Gegenstand  der  Erörterung".  „Schon  dies  deutet  mit 
einiger  Sicherheit  darauf  hin,  daß  zwischen  den  beiden  gleichnamigen 
Dialogen  auch  ein  gewisser  innerer  Zusammenhang  besteht."  Und 
in  der  Tat,  der  aufmerksame  Leser  bemerkt  auch  bestimmte  Einzel- 
heiten,  die  er  „sich  nicht  anders  zu  deuten  vermag  denn  als  An- 
spielungen auf  den  Hp  II.  Das  Eigentümliche  nämlich  der  Dar- 
steUungsform  im  Hp  I  liegt  in  der  Einführung  und  dem  Auftreten 
eines  Ungenannten,  der  sich  sehr  bald  als  Doppelgänger  des  Sokr. 
entpuppt  —  er  ist,  wie  es  scherzhaft  heißt  (04 d),  sein  nächster 
Verwandter  und  wohnt  sogar  in  demselben  Hause  — ,  als  sein 
besseres  Ich,  das  seinem  schlechteren  Ich  den  Prozeß  macht.  Denn 
Sokr.  hat  eine  schwere  Sünde  auf  dem  Gewissen.  Er  hat  über  das 
Schöne  und  Häßliche  kurz  vorher  (also  kurze  Zeit  vor  dem  Hp  I) 
unverantwortliche  Dinge  gesagt  und  sich  dadurch  an  dem  sittHchen 
Gefühl  seiner  Mitbürger  vergangen.  Man  höre ,  was  der  Dialog 
selbst  (86  c)  darüber  sagt :  '  Jüngsthin  hat  mich  jemand  in  rechte 
Verlegenheit  gesetzt,  als  ich  im  Verlaufe  eines  Gespräches,  das  ich 
nicht  näher  zu  bezeichnen  brauche  (iv  loyoig  tigIv),  einiges  als 
häßhch  tadelte,  andres  als  schön  lobte ;  er  richtete  nämlich  in  recht 
hochmütigem  Tone  an  mich  die  Frage :  Woher  Sokr.,  hast  du  denn 
deine  Kenntnis  über  die  Schönheit  und  Häßlichkeit  der  Dinge  und 
Handlungen?  Kannst  du  mir  denn  vor  allem  sagen,  was  das  Schöne 
eigentlich  ist?  Da  geriet  ich  denn  durch  meine  Unzulänghchkeit 
in  arge  Verlegenheit  und  war  außerstande,  ihm  eine  schickliche 
Antwort   zu   geben    usw.'     Es   gehört   nicht   viel  Scharfsinn   dazu. 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    287 

im  in  dieser  Stimme  des  eigenen  Gewissens  des  Sokr.  zugleich 
iie  Stimme  desjenigen  Teils  des  ehrsamen  Publikums  zu  erkennen, 
lem  der  veröff"entlichte  kleinere  Hippiasdialog  etwa  in  die  Hand 
gekommen  war,  woraus  sich  denn  unmittelbar  die  Bestimmung  des 
3p  I  als  einer  aufklärenden  und  zugleich  beschwichtigenden  Er- 
gänzung zu  dem  Hp  II  ergibt.  PI.  wäre  nicht  PI.  geblieben,  wenn 
;r  die  ßückweisung  auf  seinen  früheren  Dialog  in  einfach  und 
rocken  berichtender ,  aktenmäßiger  Form  gegeben  hätte :  seiner 
ganzen  künstlerischen  Darstellungsart  nach  konnte  er  diese  Rück- 
.veisung  nur  in  verhüllender  Form  geben,  und  diese  Form  besteht 
jben  in  jener  Verdoppelung  des  Sokr.,  die  dem  einigermaßen  acht- 
jamen  Leser  anzeigen  soll,  daß  Sokr.  eine  begangene  Schuld  wieder 
rat  machen  will."  Und  gerade  im  bedeutsamsten  Zusammenhang 
, tritt  uns  eine  ganz  unverkennbare  Beziehung  des  größeren  auf  den 
deineren  Dialog  entgegen,  die  .  .  auch  schon  von  anderen  er- 
iannt,  wenn  auch  in  ihrer  eigentlichen  Bedeutung  nicht  erfaßt 
»vorden  ist.  Denn  nicht  um  ein  Plagiat  handelt  es  sich,  wie  man 
gemeint  hat  .  .,  sondern  um  nichts  anderes  als  um  eine  Kritik  an 
ien  Aufstellungen  des  Hp  II.  Man  überblicke  nur  den  Gedanken- 
gang von  95  e — 96  e.  Die  Worte  des  Hp  I  'das  Vermögen  ist 
Schönheit,  das  Unvermögen  aber  Häßlichkeit''  geben  zunächst  deut- 
sch den  Standpunkt  des  Hp  II  wider,  dessen  Unzulässigkeit  sich 
ndes  aus  der  unmittelbar  folgenden  Betrachtung  auf  das  Klarste 
ergibt  .  ."  „Hat  man  den  Zweck  und  Sinn  des  Werkchens  richtig 
3rfaßt,  so  verwandeln  sich  seine  angeblichen  Mängel  in  ebensoviele 
rügenden.  Aufbau  und  Gliederung  verraten  eine  ebenso  sichere 
wie  kunstgeübte  Hand ;  die  Art  der  Ausführung  mit  ihrer  neckischen 
Verschleierung  des  gewonnenen  Resultats  trägt  durchaus  das  Ge- 
präge des  platonischen  Geistes.  .  .  Wenn  der  Spott  hier  zuweilen 
aber  das  Maß  dessen  hinausgeht,  was  Sokr.  sonst  in  seiner  ßitter- 
iichkeit  einzuhalten  pflegt,  so  ist  es  ja  eben  der  Fiktion  nach  nicht 
3okr.  selbst ,  sondern  der  große  Unbekannte ,  der  nur  durch  den 
Mund  des  Sokr.  dem  Sophisten  die  Leviten  liest  .  .  Hat  man  nun 
gerade  diese  .  .  Verdopplung  des  Sokr.  .  .  für  einen  plumpen  Miß- 
griff ausgegeben,  so  wird  man  angesichts  der  erkannten  Bedeutung 
ies  Dialogs  nicht  umhin  können,  diese  Verdopplung  des  Sokr. 
gerade  als  einen  sehr  glücklichen  Kunstgriff  anzuerkennen  .  .  Die 
gewählte  Maske  ist  das  treffende  künstlerische  Bild  für  die  wahre 
Situation." 

Während   ich  bisher  immer  noch,    wie  keinem  anderen  Dialog 
gegenüber,  schwankte  mit  meinem  Urteil  über  die  Echtheit  des  Hp  I, 


;288  Constantin  Ritter. 

dessen  frische  Art  und  kecke  Erfindung  ich.  keijiem  bloßen  Nach- 
ahmer platonischer  Kunst  zutrauen  mochte ,  dessen  ungewöhnlich 
derber  Spott  und  ganz  eigenartige  Verdopplung  des  Sokr.  mich  aber 
doch  stark  befremdete  ^),  bin  ich  durch  diese  Darlegungen  Apelts 
so  gut  wie  vollkommen  überzeugt  worden. 

Was  P  o  h  1  e  n  z  gegen  dieselben  vorbringt ,  hat  nicht  genug 
Gewicht.  Er  erklärt  u.  a. :  „Ich  halte  es  für  unmöglich,  daß  ein 
Mann ,  der  Sokr.  und  Hippias  persönlich  kannte ,  beide  in  dieser 
Weise  zeichnete.  Vollkommen  verständlich  wird  die  Schilderung 
dagegen  in  einer  Zeit,  wo  man  sich  für  die  /apaxr^^fig  interessierte  .  . 
Damals  konnte  es  für  einen  Platoniker,  der  wie  Aristoteles  1025 ab 
die  Trugschlüsse  des  Hp  II  richtig  stellen  wollte,  nahe  liegen,  Sokr. 
im  Dialoge  als  den  eiQcov  zu  schildern  und  ihm  den  dla^wv  Hippias 
gegenüberzustellen  ...  In  aristotelische  Zeit  weisen  uns  aber  auch 
andere  Momente.  Der  Dialog  beginnt  mit  einer  scharfen  Scheidung 
der  jüngeren  Sophisten  von  der  älteren  Generation  . .  Die  historische 
Betrachtungsweise  ist  hier  mit  Händen  zu  greifen."  Man  vergleiche 
dazu  Apelt  S.  12.  Nicht  übel  sind  dort  auch  folgende  Sätze: 
„Wenn  P.  den  Spott  und  das  Burleske  des  Dialogs  so  weit  ge- 
trieben glaubt,  daß  er  in  ihm  nur  ein  Effektstückchen  sehen  zu 
müssen  glaubt  .  .,  —  klingt  nicht  die  Derbheit  des  Spaßes  noch 
fast  wie  Höflichkeit  im  Vergleich  zu  dem,  was  z.  B.  Luther  seinen 
Gegnern  bietet?  Sind  die  grotesken  Masken,  deren  sich  Luther  im 
Streit  mit  seinen  Gegnern  bedient,  etwa  ein  Grund,  seine  Autor- 
schaft zu  bestreiten?  .  .  Auch  PI.  war  nichts  weniger  als  ein 
Phlegmatiker."  Und  gar  was  P.  Sprachstatistisches  vorbringt,  von 
der  angeblich  „berüchtigten  Formel  aXla  ti  ^ijv\  usw.  hätte  er  im 
allgemeinen  besser  für  sich  behalten.  Nur  die  Verwendung  von 
ovoia  in  Ol  b,  e  und  02  c  kann  wirklich  befremden.  E.  Hirzel, 
der  die  Bedeutungsgeschichte  dieses  Worts  im  Philol.  1913  (72) 
untersucht  hat,  schreibt  darüber  (S.  57),  PI.  habe  sich  häufig  „des 
Wortes    ovGia    in    seiner    terminologischen   Bedeutung"    als    eines 


^)  In  meinen  „Untersuchiingen"  von  1888  habe  ich  mich  möglichst 
zurückhaltend  ausgedrückt :  (S.  90)  „Die  Sprache  .  .  ist  . .  ganz  dieselbe, 
wie  in  den  anerkannt  echten  Werken  aus  früherer  Zeit"  —  dabei  mußte 
ich  aber  auf  verschiedene  Wörter  und  Wendungen  hinweisen,  die  sonst 
den  Schriften  mittleren  Alters  eigen  sind;  (S.  123)  „Den  Hp  I  möchte 
ich  schon  wegen  der  etwas  derben  Behandlung,  welche  darin  dem  auf- 
geblasenen Sophisten  widerfährt,  für  ein  jugendliches  Werk  erklären." 
In  meinem  Piaton  habe  ich  dem  Dialog,  weil  ich  ihm  noch  nicht  recht 
traute,  nur  2  Seiten  (I  359 ff.)  eingeräumt  und  ihn  wohl  etwas  zu  früh, 
zwischen  Ch  und  Eu,  angesetzt. 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    289 

^ Schulausdrucks"  der  philosophischen  Sprache,  um  das  Wesen  einer 
Sache  zu:  bezeichnen,  bedient.  „Wie  abgegriffen  das  Wort  in  dieser 
Bedeutung  wurde,  zeigt  namentlich  der  Hp  I,  ein  Werk  wohl  erst 
der  platonischen  Schule,  nicht  bloß  in  der  Art,  wie  es  diesem  Sinn 
entsprechend  ohne  weiteres  verwandt  wird,  sondern  auch  dadurch, 
daß  es  wie  ein  bereits  unentbehrliches  Wort  der  Philosophensprache 
ohne   weiteres   dem  Sophisten  Hippias   in  den  Mund  gelegt  wird." 

Wie  Apelt  urteilt  auch  Prächter  (S.  271):  „Die  Echtheit 
wird  .  .  bestritten  .  .  Für  entscheidend  vermag  ich"  die  dagegen 
angeführten  Tatsachen  „weder  im  einzelnen  noch  in  ihrer  Vereinigung 
zu  halten,  und  der  Dialog  erscheint  mir  in  seiner  bei  allem  Burlesken- 
haften doch  feinen  Satire ,  in  seiner  Gesamttendenz  und  in  seiner 
dialektischen  Methode  so  platonisch  wie  nur  möglich." 

Ernste  Zweifel  hege  ich  nur  noch  bezüglich  des  zeitlichen 
Ansatzes.  Prächter  geht  vom  Hp  I  sofort  zum  Cra  über,  läßt 
freilich  den  Hp  II  unmittelbar  vorausgehen.  Apelt  wiU  beweisen 
(S,  lu),  daß  er  als  Berichtigurg  diesem  „ziemlich  bald"  nachgeschickt 
sein  müsse.  „Diese  Annahme  liegt  nahe.  Und  doch  ist  sie  für 
mich  kaum  brauchbar.  Denn  die  (oben  S.  105  ff.)  begründete  Über- 
zeugung lasse  ich  mir  nicht  erschüttern ,  daß  der  Hp  II  zu  den 
allerfrühesten  Jugendschriften  gehöre.  Dagegen  zeigt  der  Hp  I 
einzelne  Züge  der  Verwandtschaft  mit  Dialogen  erheblich  späterer 
Zeit.  Auf  eine  merkwürdige  Ähnlichkeit  mit  dem  Eus  macht  Apelt 
selber  (S.  11  u.  Einl.  zum  Eus  S.  18)  aufmerksam.  Und  Prächter 
bemerkt:  „Es  gilt  wieder,  wie  in  den  begriffsethischen  Jugend- 
dialogen, eine  Definition,  und  wie  dort  spielt  sich  die  Verhandlung 
in  Aufstellung,  Prüfung  und  Verwerfung  einer  Reihe  von  Versuchen 
ab  und  endigt  ergebnislos.  Aber  gerade  diese  parallele  Anlage  läßt 
um  so  deutlicher  die  verschiedene  Orientierung  der  Jugenddialoge 
einer-  und  des  Hp  I  andererseits  zutage  treten.  Dort  fehlte  jede 
persönliche  Spitze  und  das  Gespräch  diente  nur  der  sachlichen 
Klärung:  hier  tritt  die  Darstellung  der  philosophischen  Unzuläng- 
lichkeit des  Hippias  und  Seinesgleichen  neben  der  dogmatischen 
Absicht  gleichwichtig  in  den  Vordergrund.  Zu  dieser  Schilderung 
sind  wie  im  Eus  die  Farben  dick  aufgetragen  .  .  .  Eine  ähnliche 
Unkenntnis  des  Gesprächspartners  ist  uns  .  .  im  Eu  und  im  Me 
begegnet.  Aber  Hippias  stellt  doch  seine  Vorgänger  in  diesen  Dia- 
logen weit  in  den  Schatten."  .  .  Dazu  nehme  man  noch  ßäders 
Sätze  (S.  102  ff. :)  „Wir  erklären  seine  Schwächen"  —  die  nach 
Apelt  gar  nicht  vorhanden  sind  —  „durch  die  Jugendlichkeit  des 
\  erfassers    und    weisen    ihm    eine    Übergangsstelle    zwischen    den 

Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft.    Bd.  191  (1922.  I).  19 


290  Constantin  Ritter. 

sokratischen  xind  den  eigentlichen  Sophistendialogen  an  .  .  .  In 
philosophischer  Hinsicht  steht  er  einigen  der  vorher  erwähnten 
Dialoge  recht  nahe,  wenn  auch  der  Standpunkt  etwas  vorgerückter 
ist  .  .  .  Zum  erstenmal  begegnet  uns  hier  (89  d)  das  Wort  eldog, 
das  später  so  ungemein  bedeutungsvoll  wird.  Es  bezeichnet  hier 
das  den  Begriff  feststellende  Merkmal  oder  gewissermaßen  den  Be- 
griff selbst  .  .  Hierin  birgt  sich  aber  nur  ein  Keim  der  Ideenlehre." 
Eine  Vergleichung  zwischen  96eff.,  Hp  II  76  a  und  G  74  c  ff.  legt 
den  Schluß  nahe,  daß  Hp  I  in  der  Mitte  zwischen  den  zwei  anderen 
liege  .  .  (105  A. :)  Horneffer  allerdings  hat  beweisen  wollen,  daß 
Hp  I  98d  mit  gedankenloser  Umbildung  aus  G  74e  geschöpft  sei. 
„Die  Stelle  des  G  versteht  sich  dagegen  am  besten  als  eine  Re- 
kapitulation der  .  .  hier  (und  95  d)  gemachten  Definitionsversuche. 
Im  G  liegt  die  Definition  des  Schönen,  die  eben  auf  dem  Hp  I 
aufgebaut  ist,  schon  fertig  vor.  Vgl.  H.  Gomperz  im  Arch.  f.  G. 
d.  Phil.  16  S.  132  ff."  Also  (S.  106):  Der  Hp  I  „bezeichnet  einen 
Schritt  auf  dem  Wege  vom  La  und  Ch  zum  G  und  zur  ßp."  — 
Der  Gebrauch,  der  im  Hp  I  von  den  Wörtern  ddog  und  Idea  ge- 
macht wird,  ist  jedenfalls  von  Bedeutung.  Dem  Ausdruck  nach  sind 
Stellen  aus  Eu  und  G  am  nächsten  verwandt,  wie  man  aus  der 
Zusammenstellung  im  Schlußkapitel  meines  Piaton  I  S.  567  ff.  und 
dem  Aufsatz  über  eidog,  idea  usw.  in  meinen  N.  Unters.,  besonders 
S.  256  ff.,  ersehen  mag. 

Auch  den  mathematischen  Ausführungen ,  die  der  Hp  I  ent- 
hält, müssen  wir  noch  Beachtung  schenken.  Sie  sind  erörtert  von 
H.  Vogt  in  einem  Aufsatz  über  „die  Entdeckungsgeschichte  des 
Irrationalen  nach  Plato  und  anderen  Quellen  des  4.  Jahrhunderts", 
in  der  Bibl.  math.,  3.  Folge  X  (1909/10)  S.  104  ff.,  138,  150.  Die 
Hauptstelle,  03  bc,  übersetzt  V.  folgendermaßen:  „Wenn  die  aus 
zwei  Zahlen  zusammengefügte  Zahl  gerade  ist,  so  können  die  Teile 
sowohl  ungerade  wie  gerade  sein  und  anderseits,  wenn  die  beiden 
Einzelgrößen  irrational  sind ,  so  können  sie  zusammengefügt  bald 
eine  rationale,  bald  eine  irrationale  Größe  liefern."  Griechisch  lautet 
die  2.  Hälfte  des  Satzes:  aQQi^ziov  {■y.azeQtov  uvctov  räxa  ^av  qi^tcc 
xa.  Gvvai-icfOTEQa  eirai,  zdya  d'  aggrjTa.  Zur  Auslegung  sagt  V.  u.  a.: 
„Die  Zusammenfügnng  der  beiden  irrationalen  Größen,  natürlich 
sind  Linien  vorgestellt,  kann  nicht  reine  Addition  sein,  denn  zwei 
einfache  irrationale  Linien,  z.  B.  y2  und  ]/3,  geben  addiert  niemals 
eine  rationale,  sondern  stets  wieder  eine  irrationale  Linie  (Euklid, 
Elemente  X,  16,  36)  .  .  .  Bedeutet  awaf-upöiEoa  aber  nicht  eine 
reine  Addition,    so  kann  der  Sinn  nur  aus  der  Figur  und  der  Zu- 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erscliienenen  Arbeiten.    291 

sammenfügung  entnommen  werden ,  welche  für  die  Bildung  des 
Begriflfs  der  irrationalen  Linien  die  bestimmende  ist ,  nämlich  aus 
der  Figur  des  rechtwinkligen  Dreiecks  und  der  Zusammenfügung 
nicht  der  Katheten  selbst,  sondern  ihrer  Quadrate  zum  Quadrat  der 
Hypotenuse  gemäß  dem  Pythagoreischen  Lehrsatz.  Zwei  irrationale 
Katheten  können  eine  irrationale  Hypotenuse  liefern  .  .,  oder  auch 
eine  rationale."  Aus  dem  Wortlaut  aber  gewinnt  er  einen  bedeut- 
samen chronologischen  Schluß.  Die  weitere  Untersuchung  nämlich 
zeigt  ihm  (S.  143):  „In  Pl.s  Terminologie^)  lassen  sich  drei  Schichten 
erkennen :  die  älteste,  die  pythagoreische,  welche  qt^tov  und  agQijcov 
nur  in  Beziehung  auf  die  Quadratdiagonale  verwendet;  die  jüngste, 
welche  wie  jene  nur  einmal  auftaucht,  indem  sie  die  Klassifikation 
Theätets  durch  die  Worte  /.i^xog  und  dvvauig  andeutet,  und  zwischen 
beiden  die  Ausdrücke ,  welche  sich  an  Theodors  Entdeckung  des 
allgemeinen  Iri'ationalen  anlehnen.  Der  Standpunkt  des  Wissens, 
den  PI.  bei  seinen  Hörern  und  Lesern  voraussetzen  durfte ,  war 
offenbar  der  Theodorische ;  auf  ihm  bewegt  er  sich  ausschließlich, 
mit  Ausnahme  jener  beiden  ganz  besonderen  Zwecken  dienenden 
Stellen.  Ihm  gehören  die  zum  allgemeinen  Gebrauch  erweiterten 
Worte  Qrjxov  und  aggr^TOv,  ihm  die  von  Theodor  selbst  gebrauchten 
Grundbezeichnungen  Gi(.if.iETQOv  und  ov  oi'i-ifAeTQOv ,  ihm  die  um- 
schreibenden Synonyma  wie  nooUijyoQov,  (.ieTQ7]T6v,  £f.if.i£TQOv,  övvaTOV 
l-ieTQEiv,  övvazöv  ftSTQsloO^at  und  ihre  Gegensätze  an,  Pl.s  Termino- 
logie zeigt  eine  große  Beweglichkeit  .  .  .  Diese  Erscheinung  weist 
darauf  hin,  daß  die  Lehre  vom  Irrationalen  selbst  zu  dieser  Zeit 
neu  und  in  der  Entwicklung  war  .  .  .  Das  später  als  Gegensatz  von 
qi]t6v  gebrauchte  aloyov,  dessen  Übersetzung  unser  'irrational  =^ 
verhältnislos'  ist,  kommt  bei  PL  nie  vor  .  .  .  (189)  Aristoteles  .  . 
gebraucht  es  einmal .  .  .  Die  Pythagoreisch- Theodorisch-Platonischen 
Worte  or^Tov  und  ccQQrjTOv  fehlen  bei  Arist.  vollständig."  Seine 
Terminologie  lehrt,  „daß  er  .  .  sich  zwar  dem  Theodorischen  Stand- 
punkt des  Lehrbuchs  und  seiner  Schüler  anpaßt,  daß  er  selbst 
aber  darüber  hinausgewachsen  ist  und  die  Klassifikation  Theätets 
wohl  kennt".  So  kennzeichnet  sie  (150)  „deutlich  einen  Übergangs- 
zustand; sie  ist  ein  Kompromiß  zwischen  den  Elementen  und  der 
Wissenschaft,  zwischen  Theodor  und  Theätet.  Auch  der  um- 
gekehrte Schluß  führt  zu  einem  beachtenswerten  Eesultat :  Wenn 
im  Dialoge  Hp  I  qt^tov  und  ccqqijvov  im  allgemeinen  Sinne  gebraucht 


^)  Die  außer  dem  Hp  I  in  Betracht  kommenden  Stellen  sind  ßp  546  bc, 
Th  47  d— 48  b,  N  819  d— 820  d. 

19* 


292  Constantin  Ritter. 

werden,  so  muß  diese  Schrift  zu  einer  Zeit  verfaßt  sein,  als  die 
Theätetische  Terminologie  entweder  noch  nicht  aufgestellt  oder  in 
weiteren  Kreisen  noch  unbekannt  war.  Deshalb  gehört  der  Dialog 
in  die  Zeit  des  voraristotelischen  Sprachgebrauchs,  also  in  Pl.s  Zeit. 
Man  ist  neuerdings  geneigt,  den  Hp  I  für  einen  echt  platonischen 
Dialog  zu  halten,  aus  dem  Jahrzehnt  399 — 390.  Der  Gebrauch  von 
QijTov  und  aQQTjTov  ist  geeignet,  diese  Ansicht  zu  stützen."  Auch 
ich  betrachte  das  als  ein  neues  gutes  Zeugnis  der  Echtheit,  und 
daß  die  Frage  nach  irrationalen  Größen  den  Verfasser  beschäftigt, 
scheint  mir  zugleich  zu  beweisen,  daß  der  Hp  unter  den  platonischen 
Schriften  nicht  sehr  früh  angesetzt  werden  darf.  Er  wird  der  Ep 
nicht  eben  sehr  weit  vorausliegen. 


Menexeiios  (=  Mx):  behandelt  von  Räder  S.  125 — 27,  Ritter 
S.  485—496,  Windelband-Bonhöffer  S.  157,  Pohlenz  S.  256—309  u. 
244  ff.,  Wilamowitz  I  S.  265—7,  II  S.  126—43,  Frachter  S.  274  f., 
Bruns  Liter.  Fortr.  S.  356 — 60,  Wendlaud,  Die  Tendenz  des  piaton. 
Mx,  Herrn.  1890  S.  171—95,  M.  Hoffmann  Zt.  f.  d.  Gy.Ws.  1905 
S.  328 — 33,  Ad.  Trendelenburg,  Erläuterungen  zu  Fl.s  Mx,  Berlin, 
Pgr.,  1905. 

Beim  Mx  ist  es  kaum  mehr  nötig,  für  die  Echtheit  zu  streiten. 
Als  ich  meine  ersten  Untersuchungen  schrieb ,  behandelte  ich  sie 
noch  als  zweifelhaft.  Genaueres  Studium  hat  mir  über  alle  Zweifel 
längst  weggeholfen.  Und  ich  meine ,  für  jedermann  sollte  über- 
zeugend sein,  was  Wendland,  Trendelenburg,  Fohlenz  zum  Beweis 
der  Echtheit  vorgebracht  haben  ^).  Einiges  davon  sei  hier  wider- 
gegeben. Da  Pohlenz  besonders  ausführlich  ist,  halte  ich  mich 
hauptsächlich  an  ihn.  Er  geht  aus  von  einer  Vergleichung  der 
Leichenrede  des  Perikles  bei  Thukydides  mit  der  im  Mx.  Er  findet 
deutliche  satirische  Beziehungen.  (S.  245:)  Daß  im  Mx  „die  Durch- 
ein ander  wirblung  der  staatsrechtlichen  Begriffe ,  die  Berufung  auf 
die  monarchische  Institution  der  ßaaiXrjg,  auf  die  Beständigkeit  der 

1)  Bruns  blieb  gegenüber  der  Echtheitsfrage  schwankend.  (S.  357 f.:) 
„Die  Themastellung  hat  in  der  sonstigen  platonischen  Sokratescharakte- 
ristik  ihresgleichen  nicht  .  .  Andrerseits  wäre  es  sehr  falsch  zu  leugnen, 
daß  die  Sokratescharakteristik  des  Mx  mit  einer  Reihe  von  unzweifelhaft 
platonischen  Mitteln  und  Gedanken  gearbeitet  hat."  (S.  360:)  „Mit  Macht- 
worten ist  einem  so  rätselhaften  Werk  wie  dem  Mx  gegenüber  wenig 
geholfen  .  .  Ich  .  .  will  aber  das  persönliche  Bekenntnis  nicht  unter- 
drücken, daß  ich  vorläufig"  (!)  „an  seine  Echtheit  nicht  zu  glauben  ver- 
mag." —  Ed.  Schwartz  hat  noch  1900  im  Hermes  (S.  124  f.)  den  Mx 
mit  Bestimmtheit   dem  Fl.  abgesprochen  als  seiner  durchaus  unwürdig. 


Ber.  übei*  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    293 

Verfassung,  die  ganze  Bezeichnung  der  athenischen  Verfassung  als 
Aristokratie  nicht  ernsthaft  gemeint  sein  kann,  ist  klar."  Auch  (246) 
die  Ausführungen  über  die  iGOvof.iia  und  die  Besetzung  der  Ämter 
sind  als  „blutige  Satire  auf  die  tatsächlichen  Zustände"  aufzufassen. 
Man  versteht  alles  einzelne  besser,  wenn  man  darin  eine  Kritik 
der  von  Thukydides  widergegebenen  Grundgedanken  des  Perikles 
erblickt,  löozr^g  und  e?^Evi}€Qia  sind  die  auch  dort  verwendeten 
Schlagwörter  der  Demokratie.  Mx  61  e  und  c  und  63  a  klingt  auch 
im  Wortlaut  an  Thuk.  II,  41,  1  an.  Außerdem  erinnert  60  d  an 
Thuk.  III,  82,  4,  46  d  an  Thuk.  II,  42,  4.  (S.  251:)  „PI.  hat  also 
bei  seiner  Satire  auf  die  athenische  Demoki-atie  es  nicht  versäumt, 
die  einzige  literarische  Darstellung  des  perikleischen  Ideals,  die  wir 
kennen,  in  einem  Bilde  widerzugeben,  das  freilich  wie  ein  Zerrbild 
anmutet,  aber  nur  zu  sehr  der  Wirklichkeit  platonischer  Zeit  ent- 
sprach. Auf  einen  Gegensatz  zu  Thukydides  braucht  man  darum 
nicht  zu  schließen ;  denn  daß  dieser  selber  den  Widerspruch  zwischen 
Ideal  und  Erfüllung  empfunden  hatte ,  wird  PI.  natürlich  gewußt 
haben."  —  Weiterhin  bemüht  sich  P,  (257:)  „durch  eine  allseitige 
Betrachtung  den  platonischen  Ursprung  des  Mx  zu  beweisen  und 
seine  Tendenz  klarzustellen".  Er  findet  (S.  260):  Die  Technik,  die 
wir  im  Mx  beobachten,  ist  dieselbe  wie  im  Phs,  an  den  viele  An- 
klänge vorkommen.  „Und  schwerlich  wird  man  behaupten  können, 
daß  im  Mx  dabei  Nachahmung  fühlbar  wird."  Freilich  wird  im 
einzelnen  manches  anstößig  gefunden,  so  namentlich  die  Rolle,  die 
Aspasia  spielt.  Schwartz  stellt  die  Frage:  'Sollte  PI.  eine  so 
dumme  Erfindung  sich  erlaubt  haben  wie  die,  daß  Perikles'  Maitresse 
dem  Sokr.  im  Jahre  386  eine  Rede  hält?'  Jedoch  „die  scheinbar 
so  dumme  Erfindung  kann  durch  aktuelle  Beziehungen  bedingt 
sein"  .  .  „Wir  wissen,  was  Aspasia  in  der  sokratischen  Literatur 
für  eine  Rolle  spielt.  Aischines  hat  die  Aspasia  .  .  in  seinem  gleich- 
namigen Dialog  zur  Lehrerin  des  Sokr.  gemacht"  und  erzählt,  wie 
dieser  andere  ihr  als  Schüler  zuwies.  Das  ging  anderen  Sokratikern 
zu  weit.  Antisthenes  hat  dagegen  Verwahrung  eingelegt  in  seiner 
bekannten  groben  Weise,  indem  er  die  Aspasia  beschimpfte.  Der 
Verfasser  des  Mx  verfährt  feiner.  Er  greift  das  durch  Aischines 
gebotene  Motiv  auf,  aber  in  ironisierend  übertreibender  Weise,  so 
daß  man  sieht,  die  Sache  sei  nicht  ernst  zu  nehmen.  Ganz  ähnlich 
benützt  er  (wie  im  Eus)  den  von  der  Komödie  verurteilten  und  zum 
Lehrer  des  Sokr.  gemachten  Konnos.  Jedenfalls  führt  er  diesen 
Mx  35  extr.  nur  ein,  um  das  Aspasiamotiv  lächerlich  zu  machen. 
Was  die  Form  des  Epitaphios  im  Mx  anlangt,  so  liegt  auf  der 


294  Constantin  Bitter. 

Hand,  daß  er  „die  rhetorischen  Mätzchen,  namentlich  die  gorgianischen 
Figuren,  imitiert  und  übertreibt".  Das  wird,  mit  Verweisung  auf 
Berndt,  De  ironia  Menexeni  (Münster  1881),  S.  264 — 67  aus- 
geführt. —  Die  eingehaltene  Disposition  „entspringt  aus  der  Natur 
der  Epitaphioi",  die  ihr  Schema  von  dem  des  früher  ausgebildeten 
Enkomion  übernommen  haben.  Dieses  Schema  ist  mit  großer  Ge- 
schicklichkeit, aber  für  den  feineren  Beobachter  unverkennbarer 
Ironisierung  angewandt.  Was  dabei  von  Kritikern  seit  alter  Zeit, 
so  schon  von  Dion.  Hai.,  bezüglich  der  Behandlung  des  zwischen 
Athene  und  Poseidon  um  Athen  geführten  Streites  getadelt  worden 
ist,  sind  mit  bewußter  Absicht  begangene  Verstöße  gegen  die  übliche 
Weise  der  Darstellung,  „die  uns  die  Kritik  nahelegen"  und  uns 
namentlich  zur  Vergleichung  mit  den  sonst  von  PI.  ausgesprochenen 
Grundsätzen  mahnen  sollen.  —  Vor  allem  in  Behandlung  der  Groß- 
taten Athens  offenbart  sich  ein  Meister  der  alles  weniger  Rühmliche 
in  satirischer  Absicht  verhüllenden  Darstellung.  Alle  Einwendungen 
gegen  Einzelheiten  werden  hier  in  einer  überschauenden  „Kritik 
der  auswärtigen  Politik  Athens"  mit  Recht  von  P.  abgewiesen. 
Z.  B.  die  belächelte  Erzählung  von  der  Einkreisung  der  flüchtigen 
Eretrier  durch  die  persische  Streifmannschaft  40  a  folgt  einem  Be- 
i-ichte  Herodots,  hat  aber  außerdem  ihre  genaue  Parallele  an  N  698  c, 
und  wieder  wird  man  —  bei  „engster  Berührung  zwischen  dem  Mx 
und  einer  Schrift  Pl.s"  (S.  280)  „schwerlich  eine  Nachahmung  im 
Mx  nachweisen  können."  Oder  (284)  „Schwartz  hat  an  der  Auf- 
zählung der  Ereignisse  (in  41  d)  Anstoß  genommen ,  weil  nicht 
deutlich  werde,  wie  oft  die  Athener  nach  Cypern  und  Ägypten  ge- 
gangen seien  und  ob  wir  an  die  Züge  von  459  oder  die  von  449 
zu  denken  haben."  Aber  es  „kann  PI.  hier  auf  eine  genaue  Angabe 
der  historischen  Ereignisse  nach  dem  Zusammenhang  überhaupt  nicht 
ankommen.  Er  will  zeigen,  wie  die  Athener  das  ganze  Meer  von 
den  Barbaren  gesäubert  haben"  .  .  .  „Geographisch,  nicht  chrono- 
logisch ist  in  erster  Linie  diese  Aufzählung",  und  gerade  so  wird 
sie  besonders  wirkungsvoll  und  „rundet"  den  ganzen  Abschnitt  über 
die  Perserkriege  „zu  einem  künstlerischen  Ganzen  ab".  Nachher 
kommt  in  der  Tat  „ein  grober  chronologischer  Verstoß"  vor.  Aber 
auch  der  zeugt  nicht  gegen  PL  Denn  daß  der  Verfasser  „über- 
haupt bewußt  im  Tone  der  tendenziösen  Geschichtsfärbung  redet, 
das  ist  ohne  weiteres  Idar". 

Zwischen  hinein  sei  auf  einige  feinen  Bemerkungen  (von  S.  288  f.) 
aufmerksam  gemacht:  „Wenn  PI.  im  Mx  an  die  strenge  Beobachtung 
der  Amnestie  erinnerte  (44  a),  so  mochte  er  dabei  noch  besondere 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    295 

Absichten  haben.  'Wir  wollen  auch  der  Toten  jener  Zeit  gedenken 
und  sie  miteinander  durch  Opfer  und  Gebete  versöhnen,  wie  wir 
versöhnt  sind'  —  ist  es  ein  trügliches  Gefühl,  wenn  man  bei  diesen 
"Worten  den  Neffen  des  Charmides  heraushört,  der  den  Athenern 
zuruft:  'Laßt  doch  endlich  die  Amnestie  auch  dem  Andenken  der 
Dreißig  zugute  kommen !  Ihr  mögt  verurteilen  was  sie  getan  haben, 
aber  sie  haben  doch  auch  in  ihrer  Weise  das  Beste  des  Landes 
gewollt,  sind  doch  auch  Söhne  unseres  Vaterlandes  gewesen  {ov  yaq 
v.a/.ici  aXhqXoiv  yipavvo  ovö^  ^Y.^Q^^-  ß^^«  övozvxui).^  Und  wenn 
dann  PL  von  der  Gegenwart  sagt :  ol  aczoi  yaq  ovreg  a/.eivoig  ytvEL 
Gvyyvoji^Tjv  alX/jloig  txouev  dtv  T  iitoi^oaiuev  ibv  t  ETtdO^Ofiev  {4:4:h), 
so  mögen  uns  leicht  die  gewissenlosen  Hetzei'eien  der  radikalen 
Demoki'atie ,  für  die  Lysias  schreibt ,  einfallen.  Für  die  radikale 
Politik  Athens  gilt  aber  Xenophons  Anerkennung,  daß  der  Demos 
die  Amnestie,  die  er  geschworen,  treulich  'noch  heute'  hält  (Hell.  II 
extr.),  und  so  mochten  Pl.s  Leser  wohl  weniger  eine  Satire  auf  die 
Radikalen  und  Geschäftsadvokaten  als  den  warmen  Appell  an  das 
Gemeinschaftsgefühl  vernehmen." 

Bemerkenswert  findet  P.  die  genaue  Kenntnis  des  korinthischen 
Kriegs.  (S.  291:)  „Sollen  wir  wirklich  glauben,  ein  Nachahmer 
hätte  50  Jahre  später  die  Ereignisse  so  genau  gekannt  und  dann 
nur  (45  b)  mit  einem  ov/.  STolf-ir^Gaf^ev  oi-iooai  auf  den  fast  perfekt 
gewordenen  Friedensschluß  angespielt?  .  .  .  Wie  am  Schluß  des 
4.  Jahrh.  ein  ßhetor  seine  Unkenntnis  des  korinthischen  Krieges 
hinter  nichtssagenden  Phrasen  zu  verstecken  sucht,  zeigt  Ps.  Lysias 
ep.  67.  8.  Im  Mx  redet  ein  Mann,  der  die  Dinge  selbst  erlebt^) 
hat,  äußerlich  wie  innerlich."  —  (S.  292  A.  1:)  „Ganz  vortrefflich 
ist  es ,  wie  Sokr.  zwischen  die  Verhandlungen  von  392/1  und  die 
von  386  die  lange  Periode  ovzu)  öij  —  q)vG€Cüg  einschaltet,  die  den 
harmlosen  Leser  den  Gegensatz  zwischen  beiden  weniger  fühlen  läßt 
und  die  Pause  zwischen  den  Ereignissen  ausfüllt  wie  ein  Chorlied 
in  der  Tragödie."  —  Abschließend  meint  P.  (S.  296  f.) :  „Wenn 
wir  nicht  alle  Stellen  befriedigend  erklären  konnten,  so  ist  soviel 
wohl  gesichert,  daß  daran  nicht  die  Unklarheit  eines  rhetorischen 
Nachahmers  schuld  ist  —  die  pflegen  ihre  Plattheiten  nur  zu  ver- 


*)  Vgl.  Wilamowitz  11  S.  135:  „Ganz  unverkennbar  ist,  daß  diese 
Partie"  —  von  der  oligarchischen  Revolution  und  der  nach  ihrem. 
Scheitern  gestifteten  Versöhnung  —  ^nur  bald  nach  den  Ereignissen  und 
zwar  von  einem,  der  sie  durchlebt  hatte,  geschrieben  ist  .  .  .  Die  Be- 
urteilung der  letzten  Geschichte  bis  zum  Königsfrieden  ist  vollends  die 
eines  Zeitgenossen." 


296  Constantin  Ritter. 

ständlich  vorzutragen  — ,  sondern  daß  aktuelle  Beziehungen  und 
Anspielungen  vorliegen,  die  wir  nicht  mehr  voll  verstehen.  Aber 
was  wir  verstehen  das  ist  genug  um  sagen  zu  können:  PI.  ist  es, 
der  die  Schrift  verfaßt  hat,  und  sie  ist  eins  der  wertvollsten  Doku- 
mente zu  seiner  Beurteilung." 

SchließHch  sucht  P.  noch  zu  ergründen,  wie  PI.  dazu  kommen 
mochte,  seinen  satirischen  Dialog  zu  schreiben.  Er  findet  die  Er- 
klärung in  der  Stimmung,  die  sich  der  besten  Männer  Athens  nach 
dem  Königsfrieden  bemächtigt  hatte  —  in  seiner  Beurteilung  ist 
auch  Isokrates  mit  PI.  einverstanden.  (S.  302 :)  „Wenn  nun  in 
Athen  bei  der  Leichenfeier  für  die  Gefallenen  der  Redner  sich 
hinstellte,  die  Segnungen  dieses  Friedens  in  den  Himmel  hob,  im 
Brusttone  der  Trivialität  die  Großtaten  der  Ahnen  pries  und  die 
uneigennützige,  womöglich  panhellenische  Politik  rühmte,  die  Athen 
von  jeher  und  auch  in  diesem  Kriege  wieder  befolgt  habe,  dann 
mochte  es  einem  Hörer  wie  PI.  wohl  schwer  werden,  auf  eine  Satire 
zu  verzichten."  Und  der  Gedanke  an  eine  solche  wurde  dann  wohl 
vollends  gezeitigt  durch  den  Eindruck ,  den  die  wohl  nicht  lange 
vorher  erschienene  Aspasia  des  Aischines  bei  ihm  hinterlassen 
hatte,  die  ihrerseits  auch  zu  satirischer  Bezugnahme  herausforderte. 
„Bei  Aischines  lernte  Sokr.  von  Aspasia  gorgianische  Figuren  und 
erzählte  davon,  auch  Perikles  habe  in  seiner  Redekunst  vieles  der 
Aspasia  zu  danken  gehabt.  Konnte  man  dann  in  seiner  Karikatur 
nicht  Sokr.  eine  regelrechte  Rede,  einen  Epitaphios  in  den  Mund 
legen?  Freilich  mußte  das  dann  ein  Epitaphios  werden,  den  Sokr. 
13  Jahre  nach  seinem  eigenen  Tode  hielt.  Aber  bei  Aischines  hatte 
Perikles  ja  auch  die  Künste  des  Gorgias  gelernt,  der  erst  2  Jahre 
nach  Perikles'  Tod  in  Athen  erschienen  war,  und  zu  dem  über- 
mütigen Tiaiyviov,  zu  dem  allein  der  Stoff  sich  eignete,  paßte  es 
ganz  gut,  wenn  man  diesen  Anachronismus  noch  übertrumpfte." 
Auch  die  zeitgenössische  Komödie  hat  Einfluß  geäußert.  Nach 
ihrem  Vorbild  mag  PI.  (S.  305 :)  „sich  wohl  auch  berechtigt  geglaubt 
haben  .  .,  auf  die  volle  künstlerische  Geschlossenheit  zu  verzichten, 
wenn  ihm  dafür  die  Gelegenheit  geboten  war,  alles  was  er  auf  dem 
Herzen  hatte  in  dieser  Gelegenheitsschrift  zusammenzudrängen  und 
als  Lehrer  des  Volkes  ausgelassenen  Scherz  mit  herber  Satire  und 
tiefernsten  Mahnungen  zu  verbinden." 

Die  zahlreichen  Berührungen  teils  sachlicher,  teils  sprachlicher 
Art,  die  zwischen  dem  Mx  und  anderen  platonischen  Schriften  be- 
stehen —  sie  sind  zum  größten  Teil  schon  von  anderen,  wie  z.  B. 
von  Berndt  und  Trendelenburg,   vermerkt  worden  — ,   dürfen  auch 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PL  erschienenen  Arbeiten.    297 

nicht  außer  Acht  gelassen  werden.  Man  vergleiche  außer  dem,  was 
schon  oben  zusammengestellt  ist,  Mx  41  ac  mit  N  699  a,  49  a  mit 
N  947  e,  37  c  mit  Ep  380  a,  42  c  f.  (und  a)  mit  Ep  470  c  ff.,  47  c 
(und  48  bc)  mit  Ep  604 d  (387  d  f.),  48  a  mit  Ep  387  d,  48  c  mit 
Ep  603e,  604b,  34a  mit  G  85a,  46cf.  mit  G  52e,  47ac  mit 
Hp  II  65 6,  46 ac  mit  Sy  96b,  36c  mit  Phs  34 e  und  beachte  auch 
die  klaren  Züge ,  die  der  Inhaber  der  Titelrolle  des  Mx  mit  dem 
Menexenos  im  Ly,  der  dort  noch  ein  paar  Jahre  jünger  zu  denken 
ist,  gemein  hat. 

Sobald  die  Echtheit  des  Mx  als  einer  platonischen  Schrift  an- 
erkannt ist,  kann  über  die  Zeit  der  Abfassung  kaum  mehr  Streit 
sein.  Der  feste  terminus  post  quem,  der  mit  Verfolgung  der  ge- 
schichtlichen Ereignisse  bis  aufs  Jahr  386  herab  gegeben  ist,  genügt 
so  ziemlich.  Denn  auch  damit  wird  Pohlenz  Eecht  haben  (S.  305): 
„Eine  solche  Gelegenheitsschrift  kann  nur  in  unmittelbarem  Zu- 
sammenhang mit  den  Ereignissen  entstanden  sein."  —  Wenn  auf 
diese  Weise  der  Mx  in  die  Nachbarschaft  des  Cra  gerät ,  der  ja 
allemnach  ziemlich  weit  gegen  das  Ende  der  ersten  Schriftengruppe 
vorzurücken  ist,  so  scheint  das  ganz  in  Ordnung  zu  sein:  „lustig" 
und  einzigartig  ist  er  nicht  weniger  als  dieser. 

Daß  Pohlenz'  Auffassung  des  Mx  im  ganzen  übereinstimmt  mit 
der,  die  ich  mir  selber  gebildet  und  in  meinem  Piaton  I  vorgetragen 
habe,  erhellt  wohl  aus  folgenden  Sätzen  (S.  494  ff. :)  „Wie  im  Eus 
und  Cra  sind  auch  im  Mx  Ernst  und  ironisierender  Scherz  in  fester, 
nicht  aufzulösender  Verklammerung  verbunden.  Deswegen  ist  auch 
die  merkwürdige  Eede  so  vielfach  und  so  gründlich  mißverstanden 
worden,  wobei  die  einen  sie  für  Piatons  unwürdig  hielten  und  zum 
Beweise  etwa  auf  die  groben  geschichtlichen  Verstöße  und  Un- 
klarheiten sich  beriefen ,  die  anderen  bei  der  Beurteilung  Piatons 
die  Fehler  in  Anschlag  brachten,  die  er  selber  hier  lächerlich  macht. 
Das  Merkwürdigste  ist,  daß  die  Eede  später  dazu  auserkoren 
wurde  .  .  den  regelmäßigen  Festvortrag  beim  staatlichen  Totenfeste 
zu  bilden  .  .  Dabei  genossen  also  die  Athener  dann  mit  Behagen 
das  Lob,  das  ihrer  Stadt  hier  gespendet  wird,  um  eben  nach  An- 
hörung desselben  „für  einige  Tage  sich  selbst  besser  und  edler 
vorzukommen,  als  sie  eigentlich  waren,"  und  sich  etwas  einzubilden 
auf  die  Eeinheit  ihres  mit  barbarischem  völlig  ungemischten  Blutes  . ., 
wohl  ohne  im.  geringsten  zu  ahnen,  wie  gründlich  der  Urheber  der 
Eede  eben  eine  solche  eitle  Aufgeblasenheit  verachtet  hatte.  Sie 
stießen  sich  nicht  an  den  Verdrehungen  der  Tatsachen,  mit  denen 
Piaton  ein  Beispiel  von  dem  gewöhnlichen  Verfahren  der  Lobredner 


298  Constantin  Ritter. 

geben  wollte  .  . ;  sie  stießen  sich  auch  nicht  an  den  Mängeln  der 
Form,  dem  in  der  Einleitung  so  aufdringlich  und  hart  hervor- 
tretenden Dispositionsschema  und  den  geschraubten  Wendungen  und 
hohl  tönenden  Phrasen ,  deren  der  erste  Haupteil  manche  enthält 
und  die  mit  allem  Recht  von  dem  Stilkritiker  der  augusteischen 
Zeit,  Dionysius  von  Halikarnassos,  getadelt  worden  sind  —  nur  daß 
dieser  verkannt  hat  .  .,  daß  Piaton  beabsichtigt  hat,  damit  die  ge- 
wöhnlichen Fehler  einer  dem  herrschenden  Geschmacke  huldigenden 
E,ede  zu  kennzeichnen  und  unter  anderem  deuthch  zu  machen,  wie 
es  sich  in  einzelnen  Abschnitten  dieser  angestaunten  Leistungen 
um  gar  nichts  anderes  als  um  überall  anzubringende  auswendig 
gelernte  Schemata  handle.  Wer  die  Einführung  und  das  Nachwort 
der  Rede  beachtet,  hat  darin  den  Schlüssel  für  das  Verständnis 
der  i-hetorischen  Einlage.  Und  sobald  diese  richtig  verstanden  wird, 
liegt  nicht  der  geringste  Grund  vor,  den  Mx  dem  Piaton  abzu- 
sprechen. Daß  er  etwa  um  dieselbe  Zeit  entstanden  sein  muß  wie 
das  Sy,  dafür  zeugen  nicht  bloß  die  geschichtlichen  Anspielungen, 
sondern  auch  die  einzelnen  Züge  der  Sprache.  Und  seinem  Ton 
und  Inhalt  nach  paßt  er  auch  gerade  hierher.  Mehrere  Einzel- 
heiten, namentlich  in  dem  über  Aspasia  Gesagten  sind  uns  heute 
nur  noch  halb  verständlich.  Es  ist  kein  Zweifel,  daß  in  diesen 
Sätzen  literarische  Anspielungen  stecken,  die  dem  zeitgenössischen 
Leserkreis  ohne  weiteres  erkenntlich  waren.  Kein  anderes  plato- 
nisches Stück  ist  so  sehr  Gelegenheitserzeugnis  und  Tialyviov,  wie 
der  gewiß  rasch  hingeworfene  Mx.  Gerade  wegen  seiner  Eigenart 
ist  er  wertvoll  .  .  In  dem  zweiten,  ermahnenden  Teil  der  Rede  ist 
Piaton  zwar  auch  bei  dem  rhetorischen  Schema  geblieben,  aber  er 
hat  dieses  wirklich  großartig  ausgeführt.  .  .  Hier  liegt  seine  echte 
sittliche  Überzeugung  zugrunde  und  deshalb  spricht  uns  hier  eine 
zu  Herzen  dringende  Beredsamkeit  an.  Um  dieses  Abschnitts  willen 
war  es  nicht  so  leicht,  die  Rede  durch  eine  besser  zu  dem  Zwecke 
passende  zu  ersetzen.  Die  Rhetoren  hatten  Anlaß  genug,  alle  ihre 
Kunst  aufzubieten,  um  diese  Leichenrede  der  Milesierin  Aspasia 
auszustechen  und  durch  eine  andere  im  Gebx'auche  der  Stadt  zu 
ersetzen.     Warum  ist  dazu  keiner  imstande  gewesen?" 

Auch  mit  Frachter  undBonhöffer  sehe  ich  mich  in  Über- 
einstimmung in  allem  Wesentlichen.  Dagegen  geht  die  Auffassung, 
die  Wilamowitz  uns  vorträgt,  so  ganz  und  gar  gegen  mein  Ge- 
fühl, daß  ich  noch  eher  die  Unechtheit  gelten  ließe,  als  ihr  mich 
fügte.  W.  scheint  den  stark  ironischen  Klang  ganz  zu  überhören, 
der  dem  rhetorischen  Pathos  vielfach  beigemischt  ist.    Erstaunlicher- 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    299 

weise  findet  er  in  der  ganzen  nach  dem  gebräuchlichen  Rhetoren- 
rezept  gestalteten  Festrede  die  ernste  politische  Absicht  Pl.s,  dem 
athenischen  Volk,  mit  dem  er  durch  den  G  sich  entzweit  hatte, 
nach  der  Rückkehr  in  die  Heimat  sich  höflich  zu  empfehlen  und 
die  verlorene  Fühlung,  deren  er  bedurfte,  damit  seine  Schule  ge- 
deihen könne,  wieder  herzustellen.  „Das  Auffälligste,"  lesen  wir 
(I,  265,  267),  „ist,  wie  er  sich  aus  der  Affäre  zieht,  als  er  das 
unvermeidliche  Lob  der  Demokratie  singen  muß."  —  Auch  Pohlenz 
als  Kritiker  in  den  Gott.  gel.  Anz,  1921  S.  14  setzt  zu  'unvermeid- 
lich' ein  Fragezeichen  —  ...  „Konnte  er  es  verantworten  über  die 
Verfassung  zu  sagen"  was  er  tatsächlich  sagt?  .  .  Ja,  „wenn  wir 
genau  zusehen,  kann  PI.  seine  Worte  verantworten".  —  Offenbar 
ist  es  W.  bei  dieser  Auslegung  selber  nicht  ganz  wohl.  Denn  er 
findet,  daß  in  der  eigentümlichen  Schrift  „zu  wenig  von  dem  PI. 
darinsteckt,  den  wir  lieben" ;  aber  er  beruhigt  sich  über  die  bekundete 
„Weltklugheit"  —  navovQyla  würde  PL  selbst  sie  nennen!  —  mit 
den  Sätzen:  „Die  Erfahrungen  der  Reise  haben  ihn  gereift;  er  muß 
Wasser  in  den  Feuertrank  des  G  gießen,"  —  das  hat  er,  wie  Pohlenz 
richtig  erinnert,  im  Me  getan ;  und  zwar,  meine  ich,  auf  anständige 
und  voll  genügende  Weise  —  „denn  er  will  in  der  Heimat  wirken. 
Ob  dies  Auftreten  dazu  geholfen  hat,  fragen  wir  vergebens,  aber 
gehindert  hat  ihn  niemand:  er  konnte  seine  Lehrtätigkeit  beginnen." 
Die  Entschuldigung,  die  W.  hier  gelten  läßt,  ist  vei'dammt  ähnlich 
der,  mit  welcher  einst  Christ  die  Echtheit  des  2.  Briefs  trotz  seines 
schmählichen  Inhalts  verteidigt  hat.  Aber  einen  solchen  PI.  würde 
ich  eben  nicht  „lieben".  In  der  Tat  nicht.  —  Auch  aUes  Gerede, 
mit  dem  W.  in  seinem  2.  Band  die  Anstöße  zu  beseitigen  sucht, 
scheint  mir  sehr  unglücklich.  —  In  gleichem  Sinn  haben  sich  als 
Rezensenten  Pohlenz  (a.  a.  0.)  und  Ne  stle  (in  d.  B.  Ph.  W.-Schr. 
1920  S.  961  ff.  u.  d.W.  Korr.-Bl.  1920)  vernehmen  lassen.  Von  P. 
höre  man  noch  ff.  (S.  14):  „'Heute,'  so  schließt  der  Redner  (46 a), 
'gedenken  wir  derer,  die  in  Hellas  gefallen  sind,  aber  auch  derer, 
die  den  Großkönig  befreit  haben.'  Soll  das  wirklich  eine  loyale  An- 
erkennung für  Athens  Politik  in  der  letzten  Zeit  sein?  Mir  klingt 
es,  als  wenn  heute  eine  Gedächtnisrede  auf  unsere  Gefallenen  damit 
abschlösse,  sie  hätten  das  Verdienst  Polen  befreit  zu  haben." 

Wegen  ihrer  Bedeutsamkeit  will  ich  aus  Wilamowitz  noch 
eine  gegen  Pohlenz  gerichtete  Bemerkung  herausholen  (II,  127): 
„Ich  bestreite  jede  Beziehung  auf  Thukydides  bei  PL  überhaupt." 
Ein  eigenes  Urteil  über  diese  Streitfrage  maße  ich  mir  nicht  an. 
Trendelenburg  stimmt  hier  mit  Pohlenz  überein  (vgl.  S.  13  zu  36  e, 


300  Constantin  Ritter. 

S.  14   zu  37  a,    S.  15   zu  38  d:    „in    diesem  Abschnitt  ist  die  An- 
spielung auf  Thukydides  II,  37,  1  besonders  deutlich"). 

Erst  nachträglich  habe  ich  die  Aufsätze  von  Wendland  und 
von  Trendelenburg  gelesen.  Sie  sind  aber  beide  so  gehaltreich 
und  bedeutsam,  daß  ich  ihre  Hauptgedanken  noch  mitteilen  muß. 
Zunächst  höre  man  Wendland:  (S.  173:)  „Es  braucht  nur  kurz 
daran  erinnert  zu  werden,  daß  die  ßednerschulen  des  Isokrates  und 
des  Alkidamas,  die  beide  von  Gorgias  ausgegangen  waren,  zur  Zeit 
der  Abfassung  des  Mx  .  .  sich  rivalisierend  in  Athen  gegenüber- 
standen." Aus  der  Zeit  heraus,  in  die  die  Programmreden  der 
beiden  Schulhäupter  fallen,  „aus  der  Richtung  und  den  Wegen,  die 
damals  gerade  die  Ehetorik  einschlug,  .  .  läßt  .  .  die  Vorrede  des 
Mx  sich  am  besten  begreifen"  .  .  Ja,  (S.  178:)  „die  Schrift  paßt 
nur  in  die  Zeit ,  in  welche  die  Programmreden  des-  Isokrates  und 
Alkidamas  fallen".  (181)  Bedeutsam  für  den  zeitlichen  Ansatz  ist 
auch,  daß  der  Mx  noch  keine  Eücksicht  auf  den  Hiatus  nimmt. 
(S.  174):  „PI.  tut  den  panegyrischen  Rednern  keineswegs  Unrecht. 
Nicht  nur  ihre  bekannte  Praxis  gab  ihm  ein  Recht,  so  zu  urteilen 
wie  er  urteilt,  sondern  es  ist  gerade  das  Prinzip,  welches  sie  ohne 
Scheu  aufstellten,  die  Anweisung,  die  sie  ihren  Schülern  für  die 
Lobreden  gaben,  gegen  die  der  Spott  des  Philosophen  gerichtet  ist .  . 
Die  echt  platonische  Anschaulichkeit  der  Schilderung  und  plastische 
Gestaltungskraft  läßt  sich  .  .  in  der  Art,  wie  Sokr.  die  hinreißende 
Wirkung  der  Grabreden  auf  sich  schildert,  ebensowenig  verkennen 
wie  die  feine  Ironie,  welche  das  Behagen  und  die  innere  Befriedigung 
persifliert ,  mit  der  der  athenische  Philister  die  auf  die  niedrigen 
Reize  der  Menge  berechneten  und  ihrer  Eitelkeit  schmeichelnden 
Reden  aufnimmt."  —  (178:)  Es  „läßt  sich  wohl  nicht  bestreiten", 
daß  Isokrates  Paneg.  23  gegen  Mx  44  e  polemisiert.  —  (181:)  „PI. 
ahmt  die  in  der  epideiktischen  Beredsamkeit  herrschende  gorgianische 
Manier  mit  ihrer  aller  geschichthchen  Wahrheit  Hohn  sprechenden 
panegyrischen  Tendenz  und  ihrem  rhetorischen  Flitterschmuck  nach, 
er  sucht  sie  vielleicht  in  manchen  Punkten  noch  zu  überbieten. 
Die  Rhetoren  mochten  immerhin  diese  Nachbildung  für  ernst  nehmen, 
ja  sie  mußten  es  wohl,  weil  sie  darin  Fleisch  von  ihrem  Fleisch 
erkannten,  ähnlich  wie  die  Dominikaner  ihr  leibhaftiges  Ebenbild 
in  den  Briefen  der  Dunkelmänner  fanden,  und  soUten  es  vieUeicht 
nach  Pl.s  Absicht.  Jedem,  der  PI.  und  sein  Sokratesideal  kannte, 
mußte  die  Rede  wie  die  bitterste  Satire  und  Ironie,  wie  eine  Parodie 
auf  die  zeitgenössische  Rhetorik  klingen.  Von  diesem  Gesichts- 
punkte   aus    erklärt   sich   die  Form,    die   gesamte  Anlage    und  der 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    301 

Inhalt  der  Rede."  —  (S.  182:)  Manche  Einzelheiten  in  der  Nach- 
bildung des  gorgianischen  Stils  „lassen  sich  nur  zu  einer  Zeit  be- 
greifen, die  noch  unter  dem  lebendigen  Eindrucke  seiner  politischen 
Reden  stand  und  die  Anspielungen  auf  die  bekannten  Vorbilder 
verstehen  konnte".  Sicher  die  meisten  der  geschichtlichen  Un- 
wahrheiten des  Mx  hat  PI.  einfach  von  seinen  Vorgän2;ern  über- 
nommen,  z.  B.  (S.  188:)  „Die  Hilfeleistung  der  Platäenser  bei 
Marathon  wird  ebenso  keck  abgeleugnet  (40  c  ißoi^^r^oev  'El?^)jviov 
oideig)  wie  bei  Lysias  (24;  auch  Is.  IV  87  erwähnt  sie  nicht)  .  .  . 
Die  Schlacht  bei  Tanagra  wird  wie  bei  Diod.  (nach  Ephorus)  XI,  80 : 
Justin.  III,  11;  Ai-istid.  I  253  d  als  unentschieden  hingestellt."  — 
(185 :)  „Ich  glaube,  daß  es  noch  einigermaßen  möglich  ist,  aus  den 
Produkten  der  Panegyrik ,  namentlich  dem  Mx ,  Lysias ,  den  iso- 
kratischen  Reden,  Hyperides,  auch  den  auf  die  isokratische  Schule 
zurückgehenden  Geschichtsquellen  einen  geschlossenen  Kreis  von 
Gedanken  und  Kunstformen  herauszustellen,  der  schon  Isokrates 
und  PI.  vorgelegen  haben  muß.  Die  bisherigen  zahlreichen  Unter- 
suchungen auf  diesem  Gebiete  leiden  fast  alle  an  der  Einseitigkeit, 
daß  man  wenige,  meist  nur  zwei  Vergleichungsobjekte  isoliert  hat 
und  so  zu  einer  oft  sehr  bedenklichen  Annahme  eines  Abhängigkeits- 
verhältnisses gelangt  ist."  —  (S.  193:)  Auf  Grund  der  aristotelischen 
Zeugnisse  über  den  Mx  „wird  sich  kaum  eine  Einigung  in  der 
Echtheitsfrage  erzielen  lassen".  —  (S.  192)  Für  die  Abfassungszeit 
darf  387,  der  Abschluß  des  antalkidischen  Friedens,  als  terminus 
post  quem,  das  Erscheinen  des  Panegyricus,  380,  als  terminus  ante 
quem  gelten.  Fast  sicher  haben  wir  auch  in  Xen.  Mem.  III  5  eine 
Bezugnahme  auf  den  Mx. 

Bei  Trendelenburg  befremdet  mich ,  daß  er  seine  Auf- 
fassung zu  der  von  Wendland  in  Gegensatz  bringt.  „Viel  eher 
könnte  man  die  Tendenz  des  Schriftchens  dahin  bestimmen,  daß  es 
zeigen  solle ,  vrie  man  einen  Epitaphos  nicht  machen  müsse  .  . 
Die  Nachahmung  ist  .  .  von  Anfang  bis  zu  Ende  ein  Pasquill." 
Anders,  meine  ich,  hat  sie  auch  Wendland  nicht  verstanden  trotz 
seiner  Erklärung ,  PI.  habe  den  Rhetoren  zeigen  wollen ,  daß  er, 
wenn  er  nur  wolle,  ohne  große  Mühe  eine  epideiktische  Rede  ver- 
fassen könne,  die  sich  vor  den  ihrigen  nicht  zu  verstecken  brauche." 
Allerdings  die  ermahnenden  Worte  der  Grabrede  nimmt  W.  viel 
ernster  als  T.  Er  sagt  (S.  192):  „Der  ernste  und  warme  Ton  der 
Ermahnungen  .  .  erweckt  entschieden  den  Eindruck,  daß  PI.  hier 
aus  eigenster  Überzeugung  redet  und  sich  über  das  Niveau  der 
gewöhnlichen  Grabreden    erhebt.     Aber    eine   solche  Mischung  von 


302  Constantin  Ritter. 

Ernst  und  Scterz  scheint  mir  doch  nicht  unpiatonisch  zu  sein  .  . 
und  seiner  polemischen  Tendenz  bleibt  doch  .  .  PL  treu,  wenn  er 
die  weichlichen  Klagen  verwirft  und ,  freilich  nicht  mehr  der 
mimischen  Ironie,  sondern  direkter  Polemik  sich  bedienend,  gegen 
die  unmoralische  Tendenz  der  Rhetoren  sich  richtet."  T.  will  auch 
in  den  Ermahnungen  und  Tröstungen  nur  salbungsvolle  Phrasen  und 
frostige  Künsteleien  finden  und  erklärt ,  auf  das  Ganze  blickend : 
„So  führt  PL  die  Rolle  des  Satirikers  folgerichtig  bis  zum  Schlüsse 
durch."  Hier  kann  ich  mich  ihm  nicht  anschließen.  Aber  trefflich 
ist  fast  alles  was  er  sonst  ausführt.  Als  Beispiel  gebe  ich  folgendes 
(S.  8):  „Für  die  Wertung  des  geschichtlichen  Teiles  .  .  wird  man 
sich  mit  Nutzen  der  Stellung  erinnern,  die  die  Redekunst  nach 
der  Lehre  des  G  zum  positiven  "Wissen  einnimmt.  *Von  den  tat- 
sächlichen Verhältnissen  selbst'  —  so  folgert  Sokr.  59  b  —  'braucht 
die  Redekunst  nichts  zu  wissen;  sie  braucht  nur  ein  Mittel  der 
Überredung  ausfindig  gemacht  zu  haben ,  um  bei  Nichtwissenden 
den  Anschein  zu  erwecken ,  mehr  zu  wissen  als  die  Wissenden. 
Die  Nichtwissenden  aber  sind  die  große  Masse'  .  .  Demnach  'wird 
der  Nichtwissende  bei  Nichtwissenden  überzeugender  wirken  als  der 
Wissende  .  .  Man  braucht  also  nur  diese  eine  Kunst  gelernt  zu 
haben,  um  den  Fachmännern  in  nichts  nachzustehen'.  Mit  solcher 
Vorstellung  von  der  Allmacht  der  Redekunst  ließe  sich  eine  noch 
'^affentheuerlichere  Geschichtsklitterung'  rechtfertigen ,  als  sie  der 
antike  Fischart  in  usum  delphini  et  in  maiorem  Atheniensium  gloriam 
hier  vorlegt."  —  Besonders  wertvoll  sind  die  ausführlichen  Er- 
klärungen einzelner  schwieriger  Stellen  des  Textes,  vielfach  mit 
wohl  gelungener  Übersetzung.  Auch  die  Mahnung  möchte  ich  nicht 
verschweigen ,  die  T.  in  seinem  Vorwort  gibt ,  es  möge  der  Mx 
unter  die  Schriften  aufgenommen  werden,  die  man  im  Gymnasium 
zu  lesen  pflegt.  T,  selbst  kann  von  einer  voll  befriedigenden  Probe 
erzählen,  die  er  bei  einer  tüchtigen  Obersekunda  gemacht  hat. 
„In  dem  Wunsche,  den  Fachgenossen,  die  ihren  Schülern  mit  der 
Lektüre  des  Mx  eine  Freude  machen  möchten,  das  Material  zur 
Vorbereitung  in  bequemer  Weise  darzubieten,"  hat  er  seine  Be- 
arbeitung dem  Druck  übergeben.  Er  scheint  mir  Recht  zu  haben 
mit  dem  Urteil,  daß  „die  Schrift  in  hohem  Grade  die  Eigenschaften 
besitze ,  die  sie  für  Schüler  mit  Nutzen  verwendbar  erscheinen 
lassen."  Nämlich  „sie  ist  von  geringem  Umfange  —  in  der  kleinen 
Ausgabe  von  M.  Schanz  füllt  sie  16  Seiten  — ,  übersichtlich  in  ihrer 
Gliederung,  gewählt,  doch  nur  vereinzelt  dunkel  im  Ausdruck  und 
äußerst  anregend  durch  ihren  Inhalt.    Freilich  wird  dieser  Schülern 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PL  erschienenen  Arbeiten.    303 

erst  dann  recht  nahe  gebracht  werden  können,  wenn  sie  einerseits 
mit  der  griechischen  Geschichte ,  andrerseits  mit  der  rhetorischen 
Sprache  sich  vertraut  gemacht,  also  eine  Rede  des  Lj'sias  oder 
Isokrates  gelesen  haben.  Dann  aber  wird  der  Mx  ihr  Interesse 
in  ganz  ungewöhnlichem  Maße  erregen ,  denn  Geschichte ,  Kultur- 
geschichte, Antiquitäten  und  sprachliche  Probleme  kommen  bei  ihm 
gleichmäßig  zu  ihrem  Rechte".  T.  weist  auch  darauf  hin,  daß  in 
Frankreich  die  kleine  Schrift  „seit  einer  Reihe  von  Jahren  zum 
eisernen  Bestand  der  Schullektüre  gehört,  ähnlich  wie  bei  uns  die 
Anabasis"  und  daß  es  demgemäß  gute  und  billige  französische  Aus- 
gaben gibt. 

Noch  einige  Einzelheiten.  35  e  ytarcaGiav  .  .  y.ai  Kovvov  ye  zov 
JMr^xQoßioV  ocTOi  ydg  uoi  ovo  sial  öiöaa/Mloi,  o  ucv  f.tovaiy.ijg, 
^  ÖS  Qi^Togr/S^g.  Dazu  bemerkt  Bruns  (S.  358):  Sokr.  „improvisiert 
die  Leichenrede.  Denn  es  ist  wohl  ohne  weiteres  klar,  daß  es 
nur  eine  Umschreibung  hierfür  ist,  wenn  er  behauptet,  eine  Rede 
der  Aspasia  zu  reproduziei'en.  Aber  auch  diese  Umschreibung  ist 
platonisch,  denn  mit  einer  ähnlichen  wird  die  Improvisation  des 
Phs  eingeführt.  Was  er  jetzt  sagen  wolle ,  heißt  es  dort  (35  c), 
müsse  er  wohl  von  irgend  jemand  gehört  haben,  er  wisse  nur  im 
Augenblick  nicht,  von  wem.  Daß  wir  aber  im  Mx  den  Scherz  mit 
der  Aspasia  nicht  als  Ernst  nehmen,  ist  —  wiederum  durch  ein 
speziell  platonisches  Mittel  —  noch  besonders  verhindert  worden. 
Wir  kennen  es  aus  dem  Eus.  Jedesmal  wo  Sokr.  dort  den  ii'onischen 
Wunsch  äußerte,  bei  dem  närrischen  Euthydemos  in  die  Schule 
zu  gehen,  war  hinzugefügt,  er  sei  ja  auch  Schüler  des  Konnos. 
Genau  so  dient  im  Mx  das  gleiche  Zitat  aus  Ameipsias'  Komödie 
als  Fingerzeig,  daß  man  die  Schülerschaft  bei  der  Aspasia  als  einen 
Witz  auffassen  solle".  Wendland  (S.  176  f.):  Die  Erwähnung  des 
Konnos  „ist  richtig  mit  dem  musikalischen  Tonfall  und  Rhythmus 
der  Rede  von  Berndt,  De  ironia  Älxi  S.  21  in  Zusammenhang  ge- 
bracht .  .  Und  Dümmler  hat  wohl  .  .  Recht,  wenn  er  Sokr.'  Aus- 
sage, er  habe  beim  Lernen  der  Rede  (von  Asj^asia)  beinahe  Schläge 
bekommen,  auf  die  'gorgianische  Di-illmethode'  bezieht".  (S.  180) 
Im  übrigen  deutet  PI.  damit,  daß  er  Sokr.  die  Rede  von  Aspasia 
lernen  läßt,  an,  daß  er  nicht  in  seinem  eigenen  Sinne  redet.  — 
Trendelenburg:  „Das  Verständnis  der  Stelle  hat  bisher  darunter 
gelitten,  daß  man  Kovvog  mit  dem  aus  Aristophanes  .  .  bekannten 
Kovväg  zusammengeworfen  hat.  .  .  Konnus  muß  .  .  ein  Zitherlehrer 
für  Kinder  gewesen  sein ,  bei  dem  angeblich  auch  Soki-.  im  Alter 
die  Lücken  in  dieser  Kunst  auszufüllen  suchte.    In  Übereinstimmung 


304  Constantin  Ritter. 

hiermit  scherzt  Sokr.  Eus  95  d,  daß  Konnus  jedesmal,  wenn  er  sich 
ihm  nicht  füge,  böse  werde  und  sich  dann  um  ihn,  der  doch  nichts 
lerne,  weniger  kümmere.  Das  ist  das  vollkommenste  Gegenbild  zur 
Aspasia,  die  Sokr.  prügelt,  wenn  er  etwas  verschwitzt  hat  (Mx  36  c). 
Damit  aber  ist  der  Scherz  erklärt.  Um  Athener  vor  Athenern  zu 
loben,  dazu  bedarf  es  keiner  Kunst  und  Unterweisung.  Das  bringt 
jeder,  auch  der  größte  Dilettant,  fertig.  Nun  ergibt  sich  der  Sinn 
des  Folgenden  von  selbst.  Wessen  Mund  den  Elementarlehrer  und 
die  Hetäre  als  aller  Weisheit  Urquell  preist  .  .,  der  muß  folgerichtig, 
wie  es  Sokr.  tut,  Lamprus,  den  berühmtesten  Musiker  seiner  Zeit, 
und  Antiphon ,  rbv  (.leliyr^QW  'IAöquotov  (Phs  69  a) ,  als  minder- 
wertige Lehrer  ausgeben.  Also :  Wie  Antiphon  und  Lamprus  die 
berühmtesten,  so  sind  Aspasia  und  Konnus  die  lächerlichsten  Ver- 
treter ihrer  Kunst.  Wenn  Sokr.  sich  für  deren  Schüler  ausgibt, 
so  sagt  er  damit,  daß  der  Sprecher  am  Grabe  eine  gründliche  Vor- 
bildung nicht  nötig  habe;  was  er  für  seine  Zwecke  braucht,  kann 
er  jedem  Stümper  abgucken.  Der  Musik  aber  kann  er  nicht  ent- 
behren, weil  seine  Mittel  —  Wohlklang,  Reim,  Eurhythmie,  —  wie 
sein  Zweck,  das  y.rjleiv  und  yorjZEceiv  des  Hörers,  wesentlich  musi- 
kalischer Art  sind.  —  Die  römischen  Schriftsteller  haben  die  Kunde 
von  Connus  als  nobilissimus  fidicen  aus  Cicero  ep.  fam.  IX,  22,  3, 
dieser  wieder  aus  PL,  ein  Beweis ,  wie  früh  das  Gefühl  für  den 
Humor  Pl.s  abhanden  gekommen  ist." 

Zu  36 d  bemerkt  Trendeienburg:  „Die  Antithesen:  £(p/</> — Aoyw, 
'/.oivrj  —  löia,  V7t6  TTjQ  Tioksiüs  —  V7v6  tiüv  oheiiov  gehören  zu  den 
allergewöhnhchsten ;  nebenher  gehen  gesuchte  Ausdrücke :  TtOQSvuvTai 
Tvv  s'if.iaQ/^i£vr.v  TtoQEiav,  xbv  keinof-tevov  -/.ooi-iov  aTTodovvai,  deren 
Gespreiztheit  durch  die  Banalität  der  Gegensätze  in  um  so  helleres 
Licht  gerückt  wird.  Diesen  Charakter  wahrt  PI.  in  der  ganzen 
Rede.  Man  wird  aufs  lebhafteste  an  die  Bestrebungen  der  fran- 
zösischen Preziösen  erinnert.  .  .  Es  ist  ein  wundervolles  Mosaik 
von  Gesuchtheit  und  Plattheit,  und  je  länger  man  sich  damit  be- 
schäftigt, desto  bewunderungswerter  erscheint  Pl.s  Kunst  in  der 
Verarbeitung  so  auseinanderstrebender  Dinge  zu  einem  in  seiner 
Art  harmonischen  Ganzen."  —  Zu  38  a:  „i-iovrj  yag  .  .  .  /.ai  TtQOJTr] 
TQO(pt)v  av^QLoneiav  ijvsyKEV.  Man  hat  sich  Mühe  gegeben,  das  un- 
sinnige 'allein  und  zuerst'  als  rednerische  Fülle  zu  erklären,  statt 
anzuerkennen,  daß  es  sich  auch  hier  um  eine  absichtliche  Ver- 
drehung handelt,  und  zwar  wiederum  einer  lysianischen  Phrase. 
Epit.  18  heißt  es  von  'unseren  Vorfahren',  sie  hätten  nQtÖTOi  vml 
{.iovoi  die  Tyrannen  vertrieben  und  die  Demokratie  eingesetzt.    In 


Ber.  über  d.  in  d.  letzten  Jahrzehnten  über  PI.  erschienenen  Arbeiten.    305 

dieser  Eeihenfolge  läßt  der  Ausdruck  die  Erklärung  zu :  'zuerst  und 
(für  lange  Zeit)  allein'.  So  aber,  wie  PI.  die  Worte  umstellt,  haben 
sie  keinen  Sinn.  Bewundernswert,  wie  scharfsinnig  die  Schwäche 
der  Phrase  herausgefühlt  und  mit  wie  leichter  Hand  sie  ins  Un- 
sinnige verkehrt  ist." 

Zu  45  b  schlägt  T.  vor  vTceg  Tlagiiov  abzuändern  in  vTceq 
Uigdcov  =  TleiQanov.  Dann  wäre  damit  auf  die  Vernichtung  der 
spartanischen  Mora  durch  die  Peltasten  des  Iphikrates  angespielt, 
„und  man  müßte  sich  billig  wundern,  wenn  unser  Redner  sich  diesen 
Waffenerfolg  der  Athener,  der  zu  seiner  Zeit  einen  ganz  unglaub- 
lichen Eindruck  machte,  hätte  entgehen  lassen".  o\  ev  tcT)  JleiQaio) 
heißen  ja  bei  Xenophon  Hell.  IV,  5,  5  die  Leute,  über  die  Agesilaos 
Gefangenenschau  hält,  als  ihm  das  Unglück  gemeldet  wird.  —  Das 
scheint  mir  sehr  beachtenswert.  Doch  ziehe  ich  auch  dieser  Ver- 
mutung die  Abänderung  vor,  die  ich  früher  vorgeschlagen  habe  und 
die  mir  sachlich  besser  in  den  Zusammenhang  zu  passen  scheint: 
VTteQ  ^Iiovcüv.  Graphisch  erkläre  ich  mir  die  Sache  so ,  daß  die 
zweite  Silbe  der  Präjjosition  versehentlich  doppelt  geschrieben  und 
dann  das  Zeichen,  das  die  Tilgung  der  überschüssigen  Buchstaben 
verlangte,  fälschlich  auf  die  Silbe  QN  bezogen  wurde.  Dann  ergab 
sich  ^YUEPIIEPIQN  und  von  da  durch  Konjektur  unser  üaglcüv. 
Nur  nachsprechen  aber  kann  ich  die  angehängte  Bemerkung  T.s : 
„Daß  der  Redner  selbst  das  heikle  Thema  vom  Antalcidischen 
Frieden  zu  einer  Verherrlichung  Athens  benutzt,  ist  natürlich  nur 
bei  starker  Korrektur  der  Tatsachen  möglich.  Wenn  aber  PI.  diese 
sogar  an  Ereignissen  vornehmen  läßt,  die  .  .  frisch  in  aller  Ge- 
dächtnis sein  mußten,  so  zeigt  er  damit,  was  er  den  Rednern  an 
Schönfärberei,  den  Hörern  an  Gedankenlosigkeit  zutraute."  Dagegen 
muß  ich  zu  dem  was  er  zu  49b  bemerkt,  wieder  Zweifel  äußern: 
„Dies  ist  vermutlich  die  Stelle,  die  der  Nachricht  bei  Cicero  orat. 
151  zugrunde  liegt,  die  Grabrede  im  Mx  sei  alljährlich  bei  den 
Epitaphien  vorgelesen  worden."  Dieser  Nachricht  wäre  also  kein 
Glauben  zu  schenken  ?  Und  doch  findet  T.  selbst  in  seinem  letzten 
Satze  es  begi'eiflich,  „daß  Jahrhunderte  das  Pasquill  nicht  nur  ohne 
Argwohn,  sondern  mit  derselben  Ehrfurcht  lasen,  wie  die  ernsten 
Schriften  Pl.s." 


Jahresbericht  ftlr  Altertumswissonschan.    Bd.  191  (1922.  f). 


JAHRESBERICHT 

über  die 

Fortschritte  der  klassischen 

Altertumswissenschaft 

begründet  von 

Conrad  Bursian 

herausgegeben  von 

A,  Körte. 


Hundertzweiundneunzigster  Band. 

Achtundvierzigster  Jahrgang   1922. 

Zweite  Abteilung. 

LATEINISCHE  AUTOREN. 


LEIPZIG. 

O.   R.   REISLAND. 

1922. 


Alle   Rechte  vorbehalten. 


Altenburg,  S.-A. 

Pierersche  Hofbuchdruekerei 

Stephan  Geibel  &  Co. 


Inhaltsverzeichnis 

des  hundertzweiundneunzigsten  Bandes. 


Seite 

Jahresbericht    über  Plautus    1912 — 1920.     Von    Oskar 

Köhler  in  Dresden 1 — 45 

Bericht    über    die  Literatur    zu  Sallust    aus    den  Jahren 

1919—1922.     Von  A.  Kurfeß    in    Charlottenburg       46—63 

Bericht    über    die    Literatur   zu    Varro    aus    den    Jahren 

1909—1918.     Von  Karl  Mras  in  Graz  (Wien)    .       64—108 

Bericht  über  die  Seneca  -  Literatur  aus  den  Jahren 
1915  —  1921.  Von  Karl  Münscher  in  Münster 
(Westf.) 109—214 

Bericht  über  die  Literatur  zu  Quintilians  Institutio  ora- 
toria  aus  den  Jahren  1910 — 1921.  Von  Georg 
Ammon  in  Regensburg 215 — 308 


Jaliresbericht  über  Piautas  1912—1920. 

Von 

Oskar  Köhler  in  Dresden. 


Der  letzte  von  W.  M.  Lindsay  verfaßte  Bericht  über  die 
Fortschritte  der  Plautusstudien  reicht  bis  1911.  Die  Länge  der 
Berichtszeit  und  der  hinter  uns  liegende  Krieg  machen  es  überaus 
schwierig,  die  Literatur ,  vor  allem  die  ausländische ,  vollständig  zu 
beschaffen,  und  es  wird  im  nächsten  in  hoffentlich  nicht  zu  ferner 
Zeit  erscheinenden  Bericht  manches  Nachtrags  bedürfen. 

I.  Handschriften  und  Orthographie. 

H.  Degering,  Über  ein  Bruchstück  einer  Plautushandschrift  des 
4.  Jahrhunderts.  Sitzungsber.  d.  Berl.  Ak.  1919,  468  ff.;  497  ff. 
Degering  hatte  das  Glück,  ein  Bruchstück  einer  bisher  un- 
bekannten alten  Handschrift  des  4.  Jahrhunderts,  das  Cist.  123 — 147 
uud  158 — 182  enthält,  für  die  Preußische  Staatsbibliothek  (Ms.  lat. 
784)  zu  erwerben.  Es  stammt  aus  dem  Besitz  des  Leipziger  Antiquars 
K.  W.  Hiersemann  und  diente  in  einem  Ovidkodex  des  12.  Jahr- 
hunderts als  Verkleidung  der  Innenseite  des  Holzdeckels.  Da  die 
Verse  148 — 157  und  die  Szenenüberschrift,  zusammen  also  11  Zeilen, 
fehlen,  die  der  Buchbinder  unten  abgeschnitten  hat,  betrug  die  Ge- 
samthöhe des  Schriftspiegels  205  mm  bei  einer  Breite  von  175  mm, 
während  sich  die  Blattgröße  auf  290  X  255  mm  berechnen  läßt. 
Das  Format  ähnelte  also  stark  dem  des  Ambrosianus ;  die  Zeilenzahl 
aber  ist"  fast  doppelt  so  groß  wie  in  Ä  (36  :  19).  Von  der  Vorder- 
seite des  Blattes  gibt  Degering  einen  guten  Lichtdruck  bei. 
Selbst  auf  diesem  ist  noch  zu  erkennen ,  daß  die  Buchstaben  in 
echter  Purpurtinte  geschrieben  sind ,  wofür  es  bisher  kein  Beispiel 
gab.  Es  handelt  sich  also  um  einen  Luxuskodex  —  Degerin^- 
bezeichnet  ihn  mit  N —  der,  wie  Klotz  (Berl.  phil.  Wochenschr. 
1919,  1225  ff.)  wahrscheinlich  macht,  dem  oströmischen  Kaiserhausc 
gehört  hat. 

So  haben  wir  jetzt  drei  alte  Handschriften:  Ä  und  N  in  der 
Schriftform  des  4.  Jahrhunderts  und  P,  den  erschlossenen  Arche- 
Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft  Bd,  192  (19'i2.  II).  1 


Oskar  Köhler. 


typus  von  BCDT\  ihr  Verhältnis  zueinander  verdeutlicht  Dege- 
ring diirch  folgenden  Stammbaum : 


Tatsächlich  steht  N  näher  an  P  als  an  Ä :  er  hat  die  Verse 
126/9,  die  in  Ä  fehlen,  liest  132  perdita  est,  Ä  deperit,  144  sup- 
positionem  eins  rei ,  Ä  suppositionemque  eius,  145  solae  scimus, 
Ä  scimus  solae ;  aber  er  ist  auch  kein  bloßer  Vertreter  der  pala- 
tinischen  Rezension,  da  er  bei  Abweichungen  von  P  in  den  meisten 
Fällen  die  grammatisch,  sachlich  oder  metrisch  richtigere  Lesart  hat, 
z.  B.  123  illanc  ego  (schon  von  Pareus  erschlossen) ,  P  illam  ego ; 
126  quia  sum  onusta  (bereits  von  Camerarius  eingesetzt),  P  quasi 
sum  honesta;  139  puellam  eam  a  me  accepit,  P  eam  puellam  a 
me  I  accepit.  Ein  gemeinsamer  Fehler  von  NPÄ  ist  143  aiebat 
für  aibat.  Leider  fehlt  das  Zeugnis  von  Ä  für  159  und  168,  die 
in  ^P  fragmentarisch  überliefert  sind;  wären  sie  es  auch  in  ^,  so 
wäre  Leos  (Forschungen  '^  1912,  1  ff. ;  vgl.  besonders  58  ff.)  Nach- 
weis, daß  A  und  P  Abschriften  eines  Kodex  sind,  urkundlich. 

So  widerspricht  Lindsay  (Class.  Eev.  33  [1919],  152)  der 
gemeinsamen  Spitze  des  von  D  e  g  e  r  i  n  g  angesetzten  Stammbaums, 
wie  er  auch  in  seinen  Notes  on  Plautus ,  Class.  Quart.  7  (1913), 
1  ff.  gegen  Leo  erneut  betont ,  daß  Ä  als  Gelehrtenausgabe  auf 
Varro  oder  Flaccus  zurückgehe  und  die  *ipsa  verba'  des  Plautus 
biete,  P  aber  und  Nonius  auf  die  Sammlungen  des  Probus ;  die  A 
und  P  gemeinsamen  Fehler  seien  „unvermeidliche  Irrtümer".  Auch 
den  Truculentus,  von  dem  er  eine  Ausgabe  in  Aussicht  stellt,  kann 
er  nicht  als  Beweis  dafür  ansehen ,  daß  es  in  Hadrianischer  Zeit 
nur  den  einen  verdorbenen  Text  gegeben  habe. 

Dagegen  führt  Ch.  Exon,  Apriorism  and  Some  Places  in 
Plautus,  Hermath.  38  (1912),  52  ff.  eine  große  Reihe  von  Beispielen 
an,  in  denen  A  klarste  Modernisierung,  P  die  echte,  altertümliche 
Lesung  zeigt ;  so  nimmt  auch  er ,  wie  Leo ,  einen  gemeinsamen 
späten  Archetypus  an ,  von  denen  A  und  P  —  jetzt  müssen  wir 
sagen  NP"  —  verschiedene  Ausgaben  darstellen.  Das  letzte  Wort 
hierüber  ist  offenbar  noch  nicht  gesprochen. 


Jahresbericht  über  Plautus  1912—1920.  3 

Die  Frage  nach  der  Stellung  des  Nonius,  den  Leo  (ForBcb.  ^ 
S.  16)  zwischen  A  und  P  setzt,  Lindsay  a.  a.  0.  aber  als  bloßen 
Nachbar  von  P  und  Gegner  von  A  ansieht ,  findet  erwünschte 
Klärung  durch 

J.    Mussehl,    Bedeutung    und    Geschichte    des    Verbums    cSvere. 
Herrn.  54  (1919),  387  f. 

Er  weist  mit  Sicherheit  nach,  daß  das  Wort  cevere  Nonius  84, 
17  (Pseud  864  conquiniscito  A,  conquiniscito  simul  P,  ceveto  simul 
Non.)  allerfrühestens  um  200  n.  Chr.  in  den  Plautustext  eingedrungen 
sein  kann,  in  einer  Zeit,  als  die  Überlieferung  AP  schon  bestand, 
und  daß  nichts  als  ein  Fehler  in  P  (das  aus  863  eingedrungene 
simul)  in  dieser  späten  Zeit  die  Einschmuggelung  von  cevere  als 
vermeintlichem  Synonymum  von  conquiuiscere  ermöglicht  hat.  Es 
darf  sich  also  niemand  mehr  auf  diese  Noniusstelle  berufen ,  um 
alte,  von  AP  unabhängige  Überlieferung  zu  erweisen. 

Zur  Orthographie  des  Plautus  liegen  folgende  Arbeiten  vor: 

1.  R.  G.  Kent,  Dissimilative  Writings  for  ii  and  iii  in  Latin.  Trans. 
Amer.  Philol.  Assoc.  43  (1912),  85  ff. 

2.  R.  G.  Kent,  Ei-Readings  in  the  Mss.  of  Plautus  vs.  Mathema- 
tics.     Class.  Philol.  9  (1914),  199  f. 

3.  E.  H.  Sturtevant,  Dissimulative  Writing  in  Republican  Latin 
and  uo  in  Plautus.     Class.  Philol.  11  (1916),  202  ff. 

4.  W.  Nieschmidt,  Quatenus  in  scriptura  Romani  litteris  Graecis 
usi  sint.     Diss.  Marburg  1913. 

Die  Ergebnisse  von  1.  sind: 

a)  Zu  allen  Zeiten  wurde  nach  Vokalen  einfaches  i  geschrieben 
statt  -ji  in  Wörtern  wie  Pompei ,  reicio ,  und  nach  Konsonanten  in 
Wörtern  wie  abicio,  ebenso  intervokalisch  im  Werte  von  ij  in 
Wörtern  wie  aio. 

b)  Zur  Zeit  der  Republik  wurde  ii  zur  Bezeichnung  von  zwei- 
silbigem i-i  vermieden  durch  den  Gebrauch  von  iei  oder  ie. 

c)  Zur  Zeit  der  Republik  und  in  einiger  Ausdehnung  auch 
später  wird  einfaches  a  e  o  ii  geschrieben  statt  zweisilbigem  a-a, 
e-e,  0-0,  ii-u. 

d)  ov  und  v  wird  gebraucht  für  uv  und  v  für  vu ,  ebenso  wie 
iro  für  vu  uud  uu. 

e)  ii  und  uu  mied  mau  nicht,  weil  man  Doppeldeutigkeit 
ferchtete,  sondern  weil  man  einen  einmal  geschriebenen  Buchstaben 
aicht  gern  wiederholte. 

f)  Das  Vermeiden    von  ii  für  i   in   den  Regeln    des  Accius  er- 

1* 


4  Oskar  Köhler. 

klärt  sich  daraus,  daß  man  Verwechslung  mit  zweisilbigem  i-r  ver- 
hüten wollte. 

g)  Der  Gebrauch  von  ei  nach  i  in  den  Pluralendungen  der  io- 
Stämme  war  der  Grund  für  das  Vorwiegen  von  ei  in  der  Endung 
der  reinen  o-Stämme. 

li)  Für  zweisilbiges  ain,  das  überall  troehäisch  gemessen  werden 
kann  und  immer  vor  Konsonanten  steht,  können  wir  aine  schreiben; 
der  Dativ  ei  hat  ebenso  wie  huic  und  quoi  dreifachen  Wert : 
— ,  w  -,  -  - ;  die  normale  phonetische  Entwicklung  gab  einsilbiges  ei ; 
el  ist  in  Wirklichkeit  eji ,  zurückgebildet  nach  Analogie  von  ejus ; 
8l  ist  eine  Rückbildung  nach  dem  Vorbild  von  eum,  eam,  eo.  Die 
normale  Schreibung  für  alle  drei  ist  ei. 

2.  Für  die  Zeit  des  Plautus  ist  die  Schreibung  ei  nur  korrekt 
für  klassisches  I,  das  früher  Diphthong  war,  Diese  Lesungen  treten 
in  beiden  Handschriften  auf,  aber  auch  für  i  und  I,  und  zwar  hat 
A  182 ,  P  48  richtige  Beispiele.  Daß  A  und  P  nur  ein  einziges 
Mal  übereinstimmen  (Pseud.  349),  hält  Kent  für  Zufall  und  be- 
tont gegen  Anderson,  wie  auch  schon  L  i  n  d  s  a  y  im  letzten  Be- 
richt S.  6,  mit  Recht  die  Möglichkeit,  daß  die  richtigen  ei-Lesungen 
auf  Plautus  selbst  zurückgehen.  Doch  stimmt  er  Anderson  zu 
in  der  Ansicht,  daß  man  in  den  Ausgaben  ei  nur  Truc.  262  schreiben 
sollte,  wo  es  durch  Wortspiel  (eiram)  gesichert  ist,  da  man  es  sonst 
folgerichtig  in  alle  Wörter  einführen  müßte,  in  denen  es  sprachlich 
gerechtfertigt  ist. 

3.  Sturtevant  weist  gegen  Kent  (1)  darauf  hin,  daß  die 
lateinische  Rechtschreibung  ebenso  wie  die  anderer  Sprachen  nicht 
der  Aussprache  gefolgt  sei,  daß  also  kein  Streben  nach  Dissimilation 
vorlag,  wenn  man  im  Ausgang  der  Republik  quom,  ingenuos,  adicio, 
inferis  schrieb  statt  quum  .  . .  inferiis,  wie  man  sprach.  Bei  Plautus 
ist  die  Schreibung  udiceret  noch  phonetisch  richtig.  Als  man  aber 
das  i  aus  ieci,  iactum  ins  Praesens  einschleppte,  behielt  man  trotz- 
dem die  alte  Schreibung  bei  und  ersann  dann  zur  Erklärung  die 
Theorie  vom  Abscheu  vor  der  Doppelschreibung  ii.  Hierzu  halfen 
auch  Schreibungen  wie  socieis ,  die  anfangs  mit  der  Aussprache 
übereinstimmten ,  aber  auch  blieben ,  als  der  Unterschied  der  Aus- 
sprache von  ei  und  l  geschwunden  war.  Quom  ,  servos  u.  ä.  kann 
noch  nicht  zu  cum,  servus  geworden  sein,  als  dolos  zu  dolus  wurde  \ 
wahrscheinlich  dauerte  der  phonetische  Unterschied  nicht  lange ;  esj 
ist  möglich,  daß  bereits  in  plautinischer  Zeit  servos  wie  servus  ge-l 
sprechen  wurde;  aber  die  Schreibung  blieb.  Ebenso  ist  voltis,  da 
bei   Plautus    noch   der    Aussprache    entspricht,    wie   Amph.  14   vol. 


Jahresbericht  über  Plautus  1912 — 1920.  5 

voluptatem  zeigt,  später  zu  vultis  geworden  als  moltus  zu  multus. 
Neben  voltis  haben  wir  bei  Plautus  sultis  =  si  voltis ,  ein  untrüg- 
licher Beweis  dafür,  daß  der  Wechsel  von  -ol-  zu  -ul-,  außer  nach 
V,  vor  Plautus  fällt,  nicht  nach  Plautus,  wie  Anderson  annahm. 
Die  Konjunktion  quom  wurde  kurz  nach  Terenz'  Tode  so  gesprochen 
wie  die  Präposition  cum ;  wenn  es  auch  möglich  ist,  daß  cum  durch 
tum  bewirkt  wurde ,  bevor  equom  zu  equum  wurde ,  so  ist  es  doch 
wahrscheinlich,  daß  das  unbetonte  -quom  aller  Wörter  in  dieser 
Zeit  zu  -quum  überging. 

4.  Nieschmidt  stellt  fest,  daß  in  der  Schreibung  griechischer 
Wörter  sich  Ä  ebensowenig  zuverlässig  erweist  wie  P,  und  daß  wir 
mit  Hilfe  der  Spuren  in  den  codd.  nicht  auf  Plautus'  eigenen  Brauch 
kommen,  sondern  nur  auf  Varros  Zeit.  Ähnlich  dem  Zustand  der 
Cicerohandschriften  sind  auch  in  denen  des  Plautus  die  griechischen 
Wörter  teils  in  griechischen,  teils  in  lateinischen  Buchstaben  wieder- 
gegeben. Beispielsweise  hat  Pseud.  443  A  OZEÜ  P  (uZEY,  dagegen 
Gas  731  Ä  (üZEY,  P  OZEU,  während  andei-erseits  Trin.  669  A  schreibt 
Ma>P«)C  für  (mores)  moros. 

II.  Komposition  und  Aufführung  der  Stücke. 

Realien. 

1.  W.  Schwering,  Die  sogenannte  Kontamination  in  der  latein. 
Komödie.     Neue  Jahrb.  37  (1916),  167  ff. 

2.  A.  Körte,    Contaminare.     Berl.    phil.  Wochenschr.  1916,  979. 

3.  B.  Prehn,  Quaestiones  Plautinae.     Diss.  Breslau  1916. 

4.  KroU-Skutsch,    Gesch.    d.    röm.   Literatur  I  (1916),    175f. 

5.  H.  W.  Prescott,  An  Introduction  in  Studies  in  Roman  Comedy. 

I.  The    Interpretation    of  Roman    Comedy.      Class.    Philol.    11 

(1916),  125  ff. 
II.  The  Antecedents    of  Hellenistic  Comedy.     Class.  Philol.  12 
(1917),  405  ff,  13  (1918),  113  ff.,  14  (1919),  108  ff. 

6.  H.  W.  Prescott,  luorganic  Roles  in  Roman  Comedy.     Class, 
Philol.  15  (1920),  245  ff. 

7.  P.  E.  Sonn  e  nbu  rg,  Plautus  und  seine  Originale.    Wochenschr. 
f.  klass.  Philol.  1917,  623  ff. 

8.  W.    M.    B 1  a  n  c  k  e ,    The    Di-amatic    Values    in    Plautus.     Diss. 
Philadelphia  1918. 

9.  C.  L  a  n  g  e  r ,  De  servi  persona  apud  Menandrum.  Diss.  Bonn  1919. 
10.  K.    Kiinst,    Wo    hat    die    Betrachtung    der    attischen    Neuen 

Komödie  literarhistorisch  anzuknüpfen?    N.  Jahrb.  1920,  355 ff. 


Q  Oskar  Köhler. 

Die  seit  Leos  Untersuchungen  fast  zum  Glaubenssatz  gewordene 
Ansicht  von  der  „Geschlossenheit  des  Stiles  der  via"  ist  in  der 
Berichtszeit  stark  ins  Wanken  geraten.  Zuerst  wies  Schwering 
(1)  nach,  daß  contaminare  gar  nicht  heißt  'raiscendo  depravare' 
(Thes.  ling.  Lat.)  oder  'ex  multis  unam  facere'  (Schol.  zu  And.  16), 
sondern  wie  das  stammverwandte  contingere  nur  „anrühren",  „an- 
tasten" (Körte)  und  lediglich  vom  griechischen  Stück  gesagt  Averden 
kann,  wie  besonders  Körte  (2)  hervorhebt.  Der  fabula  contaminata 
steht  gegenüber  die  integra ,  d.  h.  unangetastete ,  unkoutaminierte, 
iinverändert  übertragene ,  wie  es  nach  prol.  4  der  Heautontimoru- 
menos  ist.  Da  nun  bei  Terenz,  der  sich  zur  Rechtfertigung  seines 
Verfahrens  ausdrücklich  auf  seinen  filteren  Kunstgenossen  beruft, 
die  Kontamination  sich  immer  nur  auf  unbedeutende  Nebenrollen 
erstreckt,  die  entweder  aus  einem  anderen  Stücke  übernommen  oder, 
was  Körte  hervorhebt,  aus  eigener  Erfindung  eingefügt  sind  —  wie 
Antipho  im  Eunuchus  und  Charinus  und  Byrria  in  der  Andria  — , 
während  die  ganze  Anlage  des  übertragenen  Stückes  erhalten  bleibt, 
so  kann  Plautus  kaum  wesentlich  anders  zu  Werke  gegangen  sein. 

Wenn  trotzdem  die  meisten  Stücke  des  Plautus  sehr  viel  derber 
in  den  Motiven  und  viel  lockerer  im  Aufbau  sind  als  die  des 
Terenz,  so  genügt  es  nicht,  zur  Erklärung  dieses  starken  Stiluuter- 
schieds  mit  Schwering  auf  die  in  Kom  allmählich  eintretende 
Verfeinerung  in  der  Geschmacksrichtung  hinzuweisen.  So  groß  auch 
der  Anteil  ist,  den  der  übersprudelnde  Witz  und  die  Sprachgewalt 
des  Plautus  an  dem  Gegensatz  zum  Stile  des  Terenz  hat,  der  Unter- 
schied, wie  ihn  Prehn  (3)  an  der  Verwendung  der  possenhaften 
Züge,  die  altererbter  Besitz  der  Komödie  von  Epicharm,  dem  Satyr- 
spiel und  der  ccQXCci'a  her  sind,  nachweist,  kann  nur  auf  die  Auswahl 
der  Originale  zurückgeführt  werden :  Plautus  folgt  dem  jugendlichen 
Menander ,  der  die  Perinthia ,  die  derbe  Vorgängerin  der  Andria, 
und  den  Stichus  (Adelphoe  a)  schuf  mit  seiner  potatio  am  Schluß, 
die  dem  Gelage  am  Ende  des  Persa  so  sehr  ähnelt,  ferner  dem 
Diphilus,  der  den  skurrilen  Zechmotiven  noch  näher  steht,  dem 
Philemon  und  anderen  uns  unbekannten  Dichtern;  Terenz  dagegen 
übersetzt  ausschließlich  den  auf  der  Höhe  seiner  Kunst  stehenden 
Menander  und  seinen  Nachahmer  ApoUodor. 

Damit  soll  nicht  „jede  Kontamination  geleugnet"  werden,  wie 
R.  Fraenkel  in  der  Rez.  Prehns  (D.  Lit.-Ztg.  1917,  1035  ff.) 
meint ,  sondern  das  Beispiel  des  Terenz ,  dessen  Arbeitsweise  wir 
ohne  die  Angaben  in  den  Prologen  und  ohne  Donat  nie  ergründen 
könnten,  soll  zu  größerer  Vorsicht  mahnen.    Auch  Prescott  (5,  I) 


Jahresbericht  über  Plautus  1912—1920.  7 

sieht  in  der  Mannigfaltigkeit  des  Plautus  das  Abbild  der  ver- 
schiedenen Originale  und  warnt,  alle  Mängel,  die  Reste  der  zu- 
sammenhangloseren älteren  Komödienform  sein  können,  ohne  weiteres 
als  römisch  zu  bezeichnen  :  Fehlende  Motivierung  darf  so  lange  nickt 
auf  Rechnung  von  Kontamination  gesetzt  werden,  als  nicht  die  ge- 
samte Tragödien-  und  Komödienliteratur  daraufhin  untersucht  ist; 
die  antiken  Zuschauer  nahmen  keinen  Anstoß  daran,  daß  im  Persa 
die  Abfindung  des  Parasiten  nicht  vorgeführt  wird;  Menander  läßt 
im  Stichus,  dessen  lose,  drei  ganz  verschiedene  Elemente  umfassende 
Komposition  sehr  wohl  griechisch  sein  kann  ,  und  Philemon  in  der 
Mostellaria,  die  Leo  (Lit. -Gesch.  HO  ff.)  als  eine  im  ganzen  genaue 
Wiedergabe  des  griechischen  Stückes  bezeichnet,  Personen  fallen, 
die  in  der  Exposition  eine  wichtige  Rolle  spielen ;  die  Casina  ist 
nichts  als  eine  breit  angelegte  Farce.  So  zeigt  eine  unbefangene 
Analyse  einer  ganzen  Reihe  von  Stücken,  daß  es  eine  vorgefaßte 
Meinung  ist,  wenn  man  sie  mit  dem  Maßstab  euripideischer  Ge- 
schlossenheit im  Aufbau  mißt. 

Den  umgekehrten  Weg  schlägt  Kroll  (4)  bei  der  Analyse  des 
Pseudolus  ein.  Er  Aveist  auf  die  Schwierigkeit  der  Aufgabe  hin, 
die  dem  schnell  arbeitenden  Plautus  durch  das  Zusammenschweißen 
mehrerer  Stücke  erwachsen  wäre,  und  nimmt  deshalb  an,  daß  be- 
reits der  griechische  Dichter  verschiedene  Motive  ineinandergearbeitet 
hat,  ein  Ergebnis,  zu  dem  ich  auch  für  den  Miles  (B rix- Nia- 
mey er*  1916,  S.   18)  gelangt  bin. 

Prescott  (5,  II)  unterschätzt  nicht  den  Einfluß  des  Euripides 
auf  die  neue  Komödie,  wie  ihn  Leo  (^Forschungen^,  113)  festgestellt 
hat ,  aber  er  wendet  sich  gegen  die  Annahme  einer  zu  weit-  und 
tiefgehenden  Wirkung ,  wie  sie  z.  B.  zum  Ausdruck  kommt  in  der 
Ansicht  Körtes  (Die  griech.  Kom.,  Lpzg.  1914,  69  f.),  daß  auch 
das  Liebesmotiv  der  Tragödie  entstamme ;  vielmehr  hat  es  die 
Komödie  ebenso  wie  die  Tragödie  unmittelbar  aus  dem  wirklichen 
Leben  geschöpft.  (Daß  dabei  der  Realismus  in  der  väa  nicht  über- 
schätzt werden  darf,  weist  nach  G.  Thiele,  Plautusstudien,  Hermes 
48  [1913],  540).  Neben  der  Aristophanischen  Komödie,  auf  deren 
Zusammenhang  mit  der  jüngeren  Schwester  vor  allem  in  den  Exodoi 
schon  Süß  (Rh.  Mus.  65,  1910,  441  ff.)  hingewiesen  hat,  ist  der 
Einfluß  der  megarisch-sizilischen  nicht  zu  unterschätzen ;  doch  reicht 
die  Überlieferung  nicht  aus ,  eine  lückenlose  Darstellung  vom 
Werden  der  hellenistischen  Komödie  zu  geben.  Diese  steht  auch, 
in  ihrer  vollkommensten  Form  immer  in  lebhafter  Beziehung 
zum    Publikum    und    ist    Einflüssen    ausgesetzt,     die    Augenblicks- 


8  Oskar  Köhler. 

Schöpfungen    veranlassen ;    man   muß  sich  also  hüten ,    sie    zu    ernst 
zu  nehmen. 

Die  auffallendste  Abweichung  von  der  Tragödie  ist  die  Ver- 
wendung kurzer,  mit  der  Gresamthandlung  nur  lose  verknüpfter 
Rollen,  wie  des  Lucrio  im  Miles,  des  Gripus  im  Rudens,  des 
Callipho  und  Chariuus  im  Pseudolus.  Prescott  (6),  der  diese 
Rollen  einer  eingehenden  Betrachtung  unterwirft,  gelangt  zu  folgenden 
Ergebnissen :  Sie  dienen  meist  ökonomischen  Zwecken ;  so  vertritt 
der  Choragus  im  Curculio  gewissermaßen  den  Chor,  insofex'n  er  den 
Zwischenakt  ausfüllt;  andere  helfen  zur  Charakteristik  der  Haupt- 
personen oder  erleichtern  den  Rollenwechsel ,  indem  sie  zum  Er- 
götzen der  Zuschauer  die  Zeit  mit  bloßen  Witzeleien  füllen ;  ferner 
ermöglichen  sie  den  Dialog ,  tragen  zur  lebhaften  Entwicklung  der 
Handlung  bei  und  zur  Lösung  von  Verwicklungen ;  meist  erfüllen 
sie  mehrere  Zwecke  auf  einmal ;  bisweilen  erscheinen  sie  erst  am 
Schluß  ,  wie  Callidamates  in  der  Mostellaria  als  homo  ex  machina, 
bisweilen  nur  in  der  Exposition.  Der  Grund  für  die  vielen  kleinen 
Rollen  ist  darin  zu  sehen ,  daß  es  sich  in  der  Komödie  meist  um 
drei,  in  der  Tragödie  aber  nur  um  eine  Familie  handelt.  Der  da- 
durch sich  ergebende  lose  Aufbau  stört  zwar  den  sorgrältigen  Leser, 
nicht  aber  die  Zuhörerschaft,  die  nur  auf  die  wesentlichen  Züge 
einer  rasch  verlaiifenden  Handlung  gerichtet  ist. 

Ebenso  hält  Sonuenburg  (7)  die  bisherige  Vorstellung  von 
den  Stücken  der  via  für  zu  eng.  Das  Fehlen  des  ovofiaori  y-W^ioi- 
dslv  bei  Terenz  und  seine  Scheu,  Götter  einzuführen,  beweist  nichts 
für  die  Originale.  Die  Zusammenhänge  zwischen  Elegie  und  neuer 
Komödie,  die  Leo  aufweist,  erklären  sich  viel  einfacher  und  natür- 
licher aus  dem  gleichen  Hintergrund  des  Hetärenlebens  als  durch 
literarische  Beeinflussung. 

Blancke  (8)  weist  nach,  daß  Plautus  eine  Vereinigung  von 
Komödie,  Schwank  und  Posse  bietet:  Die  begleitende  Musik  soll 
die  komische  Wirkung  erhöhen ;  es  ist  reine  Unterhaltungsliteratur, 
und  ihr  einziger  Zweck  ist.  Lachen  zu  erregen.  Wird  diese  Wirkung 
erreicht,  so  darf  man  aus  anderen  Gründen  keine  Kritik  üben. 
Legt  man  an  diese  Augenblickskunst  den  Maßstab  des  ernsten 
Dramas,  so  hat  man  eine  eigenwillige  Masse  dramatischer  Unmög- 
lichkeiten in  der  Hand.  Der  Zufall  bewegt  alles ;  aber  all  die  Zu- 
fälligkeiten sind   ein  bewußtes  Mittel  für  komische  Wirkung. 

Langer  (0)  stellt  dar,  wie  sich  bei  Aristophanes  die  Sklaven- 
rollen immer  mehr  ausbreiten,  und  wie  die  Menandrischen  Sklaven, 
die  Individuen,    nicht  Typen  verkörpern,   die  Mitte  halten  zwischen 


Jahresbeiicht  über  Plautus  1912—1920.  9 

aristophanischen  und  euripideischen  Zügen.  Den  servus  currens 
führt  er  gegen  Weiß  mann  mit  Prehn  und  Schild  (s.  S.  11) 
auf  die  griechischen  Vorbilder  zurück ;  ebenso  schließt  er  sich 
Prehn  an  in  dem  Nachweis  der  inneren  Entwicklung  Menanders 
von  der  Derbheit  der  Jugendstücke  Perinthia,  Adelphoe  ü  und 
Samia  zu  Terenzischer  Feinheit. 

Kunst  (10)  führt  aus,  daß  die  Annahme  einer  natürlichen 
Entwicklung  der  attischen  Lustspiele  der  hypothetischen  Ver- 
gewaltigung durch  die  Tragödie  nicht  geopfert  werden  dürfe.  Diese 
mußte  erst  selbst  durch  Euripides  ein  gut  Stück  der  veo.  entgegen- 
geführt werden.  Das  Schmaus-,  Zech-  und  Prellthema  wirkt  aus 
der  OQxaia  nach.  In  der  Gestaltung  des  komischeu  Sklaven  und 
des  schmeichlerischen  Parasiten  scheint  gerade  die  alte  Komödie 
sogar  zwischen  der  sizilischen  Posse  Epicharms  und  der  neuen 
Komödie  vermittelt  zu  haben.  Weder  gibt  es  einen  Beweis  dafür, 
daß  Menander  sich  gleich  blieb ,  noch  daß  Philemon  und  andere 
ihn  in  der  Geschlossenheit  des  Aufbaus  erreichten. 

Den  Anteil  des  Plautus  an  den  erhaltenen  Stücken  suchen  zu 
sondern : 

H.  E.  Wieand,  Deception  in  Plautus  (A  Study  in  the  Technitjue 

of  Roman  Comedy)  Bryn  Mawr  1920. 
K.  M.  Westaway,  The  Original  Element  in  Plautus,   Cambridge 

1917. 
M.  Richter,  Priscorum  poetarum  et  scriptorum  de  se  et  aliis  iudicia. 

Diss.  Jena  1914  (Comm.  philol.  Jen.  XI). 

Wieand  geht  von  der  Feststellung  aus,  daß  die  allermeisten 
Stücke  des  Plautus  darauf  hinauslaufen,  durch  Intrigen  in  den  Be- 
sitz der  Geliebten  zu  kommen.  Verlauf  der  Täuschung,  Charaktere 
der  beteiligten  Personen  und  Helfershelfer,  Mittel  der  Durchführung 
(Lüge ,  Verkleidung ,  falsche  Briefe ,  Diebstahl  u.  ä.) ,  Beziehung 
zwischen  Plan  und  Erreichtem  werden  vergleichend  untersucht. 
Dabei  ergibt  sich ,  daß  auf  klares  Herausarbeiten  der  Intrige  die 
größte  Aufmerksamkeit  verwendet  ist ,  Genauigkeit  in  Nebendingen 
aber  nicht  gesucht  wird.  Der  Endzweck  ist  lediglich  Unterhaltung 
der  Zuschauer. 

Westaway  untersucht  eingehend  die  erhaltenen  Stücke  nach 
folgenden  Gesichtspunkten  :  geschichtliche  Anspielungen,  Geographi- 
sches ,  Kriegswesen ,  Politik  und  Rechtsgebräuche ,  Alltagsleben, 
Religion ,  Münzwesen ,  Sprache  und  kommt  zu  dem  Ergebnis ,  daß 
sich    auf    all    diesen  Gebieten    beträchtliche    selbständige   lateinische 


IQ  Oakar  Köhler. 

JZutaten  finden,  die  aber  nicht  auf  alle  Stücke  gleiclimäßig-  verteilt 
sind.  Auf  Grund  dieser  Beobachtungen  glaubt  er ,  eine  chrono- 
logische Reihe  der  plautinischen  Stücke  aufstellen  zu  können:  das 
älteste  soll  neben  der  Cistellaria  der  Mercator  (gegen  Marx,  der 
ihn  bekanntlich  nach  dem  ßudens  setzt ;  doch  vgl.  dazu  Leo, 
Forsch.^  162  ff.)  sein,  da  in  ihm  alle  örtlichen  Anspielungen  und 
sonstigen  römischen  Zutaten  fehlten;  daran  reihten  sich  Asinaria, 
Mostellaria,  Menaechmi ,  die  schon  mehr  dem  römischen  Geschmack 
angepaßt  seien.  Danach  sei  Plautus  zur  Kontamination  übergegangen 
im  Poenulus  und  Miles  gloriosus,  der  seine  endgültige  Fassung  um 
-die  Wende  des  Jahrhunderts  erhalten  habe.  (Auch  Marx,  Naevius. 
Sitz.-Ber.  d.  Sachs.  Ak.  1911,  46  ff.  setzt  ihn  ins  Jahr  201.)  Daß 
für  einen  solchen  Versuch  unsere  Kenntnis  der  plautinischen  Arbeits- 
weise nicht  ausreicht,  ist  klar ;  richtig  aber  ist  die  Feststellung,  daß 
ein  Mann,  der  sich  in  so  entgegengesetzte  Stücke  wie  Mercator  und 
Pseudolus ,  Captivi  und  Amphitruo  hineinversetzen  konnte ,  große 
Anpassungsfähigkeit,  bedeutende  Schöpferkraft  und  dramatischen 
Sinn  besessen  haben  muß. 

Richter  S.  10  ff.  stellt  fest,  daß  Plautus  nur  zweimal  persön- 
lich hervortritt:  As.  13  f.  lobt  er  dieses  Stück  wegen  seiner  komi- 
schen Wirkung,  und  Bacch.  214  f.  drückt  er  seine  Vorliebe  für  den 
Epidicus  aus.  Urteile  über  bestimmte  zeitgenössische  Dichter  und 
Dichtungen  finden  sich  nicht,  nur,  dem  Stile  der  via  entsprechend, 
der  Tragödie  entlehnte  Ausdrücke ,  um  komische  Wirkung  zu  er- 
zielen. 

Den  Gebrauch  der  Eigennamen  behandeln : 

Fr.    Pol  and,    Zur    Charakteristik    Menanders.     Neue    Jahrb.    33 

(1914),  585  ff. 
B.  L.  U 1 1  m  a  n ,  Proper  Names  in  Plautus,  Terence  and  Menander. 

Class.  Philol.  11  (1916),  61  ff. 

Pol  and  macht  folgende  Beobachtung:  Von  den  55  in  den 
menandrischen  Stücken  des  Terenz  vorkommenden  Namen  ist  nahezu 
die  Hälfte  bei  Menander  belegt,  von  den  etwa  280  Personennamen 
des  Plautus  etwa  nur  21  oder,  bei  Beschränkung  auf  die  als  Me- 
nandrisch  anzusprechenden  Stücke  Cistellaria,  Stichus,  Bacchides 
und  Aulularia,  gar  nur  7.  Ferner  wiederholt  sich  bei  Terenz  nahezu 
ein  Drittel  der  Namen,  bei  Menander  selbst  sogar  zwei  Drittel,  bei 
Plautus  aber  nur  ein  Viertel.  Daraus  ist  zu  schließen,  daß  Plautus 
die  in  den  Originalen  stehenden  Namen  änderte. 

Ullman    vergleicht    die    Namen    von    Hetären    bei    Plautus, 


Jahresbericht  über  Plautus  1912  —  1920.  11 

Terenz  und  Menander :  Namen  auf  -ium  sind  bei  Plautus  sehr  häufig, 
bei  Menander  vereinzelt,  bei  Terenz  nicht  zu  linden.  Von  72  ver- 
schiedenen Namen  in  den  Fragmenten  des  Menander  stehen  23  in 
den  6  Stücken  des  Terenz  und  nur  1-i  in  den  20  Stücken  des  Plautus. 
Da  Plautus  wahrscheinlich  die  gleiche  Zahl  von  Stücken  wie  Terenz 
dem  Menander  entlehnt  hat ,  müßte  auch  die  Übereinstimmung  in 
den  menandrischen  Namen  etwa  die  gleiche  sein. 

Mit  der  Motivierung  befassen  sich  folgende  Arbeiten : 
C.  Harms,  De  introitu  personarum    in  Euripidis    et  novae  comoe- 

diae  fabulis.     Diss.  Göttingeu  1914. 
M.  Brasse,  Quatenus  in  fabulis  Plautinis  et  loci  et  temporis  uni- 

tatibus  species  veritatis  neglegatur.     Diss.  Breslau   1914. 
W.  Koch,  De  personarum  comicarum  introductione.     Diss.  Breslau 

1914. 

Harms  will  an  der  Art,  die  Personen  auftreten  zulassen,  den 
Zusammenhang  der  neuen  Komödie  mit  der  Tragödie  auf^veisen : 
Das  Auftreten  wird  motiviert  durch  Afiekte  (Schmerz ,  Erregung, 
selten  Freude);  zwei  Personen  treten  heraus,  um  eine  im  Hause 
begonnene  Unterhaltung  fortzusetzen ;  die  heraustretende  Person 
will  eine  andere ,  von  deren  Ankunft  sie  gehört  hat ,  treffen ;  auch 
unverhofftes  Auftreten,  wie  das  der  prologsprechenden  Grötter,  wird 
nach  Möglichkeit  kunstvoll  erklärt.  Dagegen  liegt  Aristophanische 
Technik  vor,  wenn  sich  die  Personen  erst  auf  der  Bühne  überlegen, 
was  sie  tun  wollen. 

Brasse  führt  alle  die  Stellen  auf,  in  denen  die  Einheit  des 
Ortes  und  der  Zeit  den  Dichter  zwingt,  gegen  die  Wahrheit  zu  ver- 
stoßen ;  er  geht  aber  zu  weit ,  wenn  er  das  zum  altererbten  Rüst- 
zeug niederer  dramatischer  Dichtung  gehörende  Beiseitesprechen, 
Nichtsehen  auf  der  Bühne  anwesender  Personen  u.  a.  dazu  rechnet. 

Koch  behandelt  die  Formeln,  die  sich  auf  das  Anklopfen  und 
die  Wörter  foris  und  foras  beziehen,  und  erörtert  alle  Möglichkeiten 
der  Annäherung  zwischen  Personen,  die  bereits  auf  der  Bühne  stehen, 
und  solchen,  die  dazutreten. 

Wichtige  Beiträge  zur  Komödientypik  liefern : 
E.  Schild,  Die  dramaturgische  Rolle  des  Sklaven  bei  Plautus  und 

Terenz.     Diss.  Basel  1917. 
O.  Stotz,  De  lenonis  in  comoedia  figura.     Diss.  Gießen  1920. 

Schild  untersucht  eingehend  die  Verwendung  der  Sklaveu- 
rollen  in  der  Exposition  und  im  Verlauf  der  Handlung  und  ent- 
wickelt die  ihnen   beigelegten  Charakterzüge.     Es  ergibt  sich,    daß 


12  Oskar  Köhler. 

die  Sklaven  die  innere  Einheit  der  Persönliclikeit  vermissen  lassen^ 
daß  sie  sich  unbeständig  und  unaufrichtig  zeigen,  und  daß  sie  nicht 
verstehen,  Maß  zu  halten  entsprechend  ihrem  Mangel  an  edler  An- 
lage und  freier  Erziehung. 

Stotz  schildert  die  Aufgabe  des  Kupplers  in  der  griechisch- 
römischen  Komödienliteratur  und  gibt  eine  eingehende  Darstellung 
der  Charaktereigenschaften  der  plautinischen  Vertreter  dieser  Rolle» 
Das  Ergebnis  ist  das  erwartete :  Bei  Plautus  sind  sie  derb ,  leben- 
sprühend ,  die  Farben  sind  im  Verhältnis  zu  den  griechischen  Vor- 
bildern dick  aufgetragen,  die  Züge  vergröbert,  während  bei  Terenz. 
auch  diese  Rolle  vei-feinert  und  abgeblaßt  ist. 

Die  Technik  behandeln  auch  folgende  Arbeiten: 

E.  Fraenkel,    De   media   et   uova  comoedia  quaestiones  selectae. 
Diss.  Göttingen  1912. 

J.   Wagner,  De  nuntiis  comicis.     Diss.  Breslau  1913. 

F.  Schmidt,  De  supplicum  ad  aram  confugientium  partibus  scae- 
nicis,     Diss.  Königsberg  1911. 

H.  Otter,  De  soliloquiis,  quae  in  litteris  Graecorum  et  Romanorum 

occurrunt,  observationes.     Diss.  Marburg  1914, 
M.  Forberg,  De  salutaudi  formulis  Plautinis  et  Terentianis.    Diss. 

Leipzig  1913. 

Fraenkel  iintersucht  die  Botenberichte  bei  Plautus  und  weist 
den  darin  erkennbaren  Einfluß  der  Tragödie  nach. 

Wagner  betont  mehr  die  Bedeutung,  die  die  Boten  bei  Plautus 
für  die  Entwicklung  der  Handlung  haben ,  und  das  Streben  des 
Dichters ,    die  Berichte   leicht  verständlich  und  lebhaft  zu  gestalten. 

Schmidt  sucht  auf  Grund  von  Haut.  975  zu  erweisen,  daß 
das  dem  Leben  entnommene  Motiv,  Sklaven  am  Altar  Zuflucht 
suchen  zu  lassen,  das  wir  Most.  1094  und  Rud.  706  fi".  finden,  in 
der  Spätzeit  Menanders  verbraucht  gewesen  sei. 

Otter,  S.  66  ff.,  weist  darauf  hin,  daß  Plautus  die  Monolog- 
sprecher ohne  weiteres  zum  Zwiegespräch  mit  sich  selbst  übergehen 
läßt,  während  Terenz  in  solchem  Falle  Wendungen  wie  atqui  ali- 
quis  dicat,  roget  quis  einführt. 

Forberg  gibt  eine  sorgfältige  Darstellung  des  Gefühlswertes 
aller  Stellen,  die  Gruß  und  Gegengruß  enthalten:  Plautus  zeigt, 
dem  Gebrauch  der  Volkssprache  entsprechend,  großen  Reichtum  an 
mannigfachsten  Begrüßungsformeln :  die  Stellen,  an  denen  der  Gruß 
fehlt ,  lassen  besondere  Erklärung  z\i.  Ganz  anders  ist  es  bei 
Terenz,  bei  dem  überhaupt  viel  weniger  gegrüßt  wird. 


Jahresbericht  über  Plautus  1912—1920.  13 

Über  Akteinteilung  und  Aufführung  liegen  folgende  Arbeiten  vor : 

F.  M.  Foster,  The  Divisions  in  the  Plays  of  Plautus  and  Terence. 

Studies  in  Laug,  and  Lit.  I  (1913),  Nr,  3. 
C.  C.  Conrad,    The    Technique    of   Contiuuous    Action    in   Koman 

Comedy.     Diss.  Chicago  1915. 
E.  F.  Rambo,  The  Significance  of  the  Wing-Enti-ances  in  Roman 

Comedy.     Class.  Philol.  10  (1915),  412  ff. 
K.  R  e  e  s ,    The    Function    of  the    jtqo^vqov   in    the    Production    of 

Greec  Plays.     Class.  Philol.   10  (1915),   117  ff. 
E.    Fiechter,    Die    baugeschichtliche    Entwicklung    des    autiken 

Theaters.     München  1914. 
J.  Stein thal,  De  iuterpolationibus  Plautinis.     Diss.  Berlin  1918. 

Foster  weist  nach ,  daß  weder  Plautus  noch  Tereuz  von  der 
üblichen  Akteinteilung  etwas  weiß.  Auch  die  Szeneneinteilung  mit 
den  Überschriften ,  die  oft  nicht  stimmen  ,  kann  nicht  ursprünglich 
sein,  da  die  Schauspieler  selbst  ihr  Auftreten  und  ihren  Abgang 
ausdrücklich  angeben.  Vielmehr  wurden  die  Stücke  ohne  Unter- 
brechung zu  Ende  gespielt.  Selbst  das  Leerwerden  der  Bühne,  der 
einzige  natürliche  Grund  für  eine  Akteinteilung,  berechtigt  nicht  zu 
der  Annahme  einer  Pause ,  die  etwa  durch  Auftreten  eines  Chors 
oder  durch  Flötenspiel  ausgefüllt  wurde,  ganz  abgesehen  davon,  daß 
dadurch  nur  in  wenigen  Fällen  die  Fünfzahl  der  Akte  herauskommt, 
sondern  eine  Mannigfaltigkeit,  die  zwischen  3  (Mostellaria)  und  7 
(Bacchides)  Akten  schwankt. 

Hierauf  baut  Conrad  weiter :  Es  ist  unmöglich,  wie  es  Leo, 
Der  Monolog  im  Drama,  versuchte,  aus  den  erhaltenen  lateinischen 
Stücken  den  Brauch  der  Griechen  zu  erkennen.  Die  äußere  Über- 
lieferung bietet  nicht  die  geringste  Handhabe,  die  Akteiuteilung  des 
Donat  auf  Terenz  selbst  zurückzuführen.  Erst  Varro  versuchte  unter 
dem  Einfluß  hellenistischer  Philologie,  die  der  späteren  griechischen 
Tragödie  eigene  oder  zugewiesene  Einteilung  in  5  Akte  auf  die 
lateinische  Komödie  zu  übertragen.  Historisch  betrachtet  kann 
Leersein  der  Bühne  die  Stelle  ehemaliger  Chorlieder  bezeichnen, 
aber  aus  den  vorhandenen  Stücken  ergibt  sich  keinerlei  Notwendig- 
keit, mit  Rücksicht  auf  den  Unterschied  zAvischen  idealer  Zeit,  und 
wirklichem  Verlauf  längere  Pausen  anzunehmen.  Vielmehr  ist 
gerade  bei  weit  auseinanderliegenden  Teilen  der  Handlung  der 
Wille  erkennbar ,  den  Zusammenhang  dadurch  fühlbar  zu  machen, 
daß  eine  Person  auf  der  Bühne  zurückbleibt.  Selbst  wirkliches 
Leersein  bedeutet  nur  ganz  kurze  Unterbrechung,  keine  Pause,  und 


24  Oskar  Köhler. 

berechtigt  nur  in  den  seltensten  Fällen  zu  der  Annahme ,  daß  im 
Griechischen  xo^oü  stand.  Auch  der  tibicen  (Pseud.  573)  bedeutet 
keine  Akteinteihing.  Sein  Hereinziehen  in  die  Handlung  gebt  auf 
die  alte  Komödie  zurück,  und  sein  Spiel  bildet  nur  die  Einleitung 
zur  folgenden  Monodie.  Wenn  aber,  wie  Leo  annimmt,  die  Mono- 
dien von  Plautus  selbst  gedichtet  sind  an  Stelle  der  griechischen  Chor- 
gesänge ,  so  ist  gerade  das  ein  Beweis  f  ü  r  ununterbrochenes  Spiel» 
In  diesem  Zusammenhang  wendet  er  sich  mit  Recht  gegen  die 
seit  Leo  (Hermes  46  [1911],  292  fF.;  vgl.  auch  Plaut.  Forsch.  ^  227 
Anm.  3  und  Lindsays  Bericht,  Bursiau  167  [1914],  14  ff.)  all- 
gemein angenommene  Auffassung,  daß  Bacch.  107  das  Vorhanden- 
sein des  Zwischeuchors  auch  bei  den  Römern  beweise  (vgl.  auch 
R.  C.  Flickinger,  Nochmals  Bacch.  107.  Berl.  philol.  Wochschr» 
32  [1912],  1299),  indem  er  unter  Beibehaltung  der  handschriftlichen 
Lesart  schreibt: 

105.  Ba.     Aqua  calet :   eamus  hinc  intro  ut  laves. 

107.  Simul  huic  nescioqui  turbare  qui  huc  it,  decedamus  (hinc), 

106.  Nam  uti  navi  vecta's,  credo,  timida's.     So.  Aliquantum,  soror. 

108.  B  a.  Sequere  hac  igitur    me  intro  in  lectum ,    ut   sedes  lassitu- 
dinem. 

Er  streicht  also  nach  105  den  in  den  Handschriften  doppelt  er- 
scheinenden Vers  106,  da  die  darin  ausgesprochene  Begründung  nur 
zu  107  recht  paßt.  Als  die  Schwester  bejaht,  mahnt  Bacchis ,  vor 
dem  Bade  erst  auszuruhen.  Zur  Erklärung  des  turbare  gentigt  es 
anzunehmen ,  daß  Bacchis  die  Stimme  des  ihr  unbekannten  Lydus 
hört  (nescioqui),  der  109  ff.  spricht,  oder  an  die  114  erwähnte  pompa 
zu  denken.  (In  diesem  Falle  ist  auch  die  Lindsaysche  Lesung 
turbae  [vgl.  S.  38]  möglich ;  im  übrigen  erinnert  diese  pompa  an 
die  plus  decem  ancillae  der  Bacchis  im  Heautoutimorumenos  [739] ; 
für  einen  besonderen,  mit  dem  Stück  nicht  zusammenhängenden  y,tof.wg 
bietet  die  Stelle  jedenfalls  keinerlei  Anhalt.)  Ferner  ist  der  Dialog 
der  Schwestern  (101 — 108)  typisch  und  kennzeichnend  für  lanunter- 
brochenes  Spiel;  denn  durch  ihn  wird  die  Zeit  zwischen  dem  Ab- 
gang und  dem  Wiederaufti*eten  des  Pistoclerus  ausgefüllt. 

Damit  fällt  zugleich  auch  ein  willkommenes  Licht  auf  das  völlig 
Willkürliche  der  für  den  Leser  hergerichteten  Szeneneinteilung ; 
treten  doch  Gas.  814  und  Truc.  914  neue  Personen  mitten  im  Verse 
auf,  und  Gas.  279  unterbricht  die  Szenenüberschrift  den  Redefluß 
des  Lysidamus  oder  die  Antwort  des  Chalinus ,  worauf  Lindsay, 
Class.  Rev.  83  (1919),  26  hinweist. 


Jahresbericht  über  Piautus  1912-1920.  15 

Rambo  untersucht  die  Palliatkomödie  auf  die  Bemerkung  de& 
Vitruv  (de  archit.  V,  6,  8)  hin,  daß  von  den  beiden  Seiteneingängen 
des  römischen  Theaters  der  eine  a  foro  ,  der  andere  a  peregre  be- 
deute, und  findet,  daß  in  20  von  den  erhaltenen  26  Stücken  der 
Markt  rechts  vom  Zuschauer ,  Hafen  und  Fremde  links  zu  suchen 
sind,  während  in  den  übrigen  Markt  und  Hafen  auf  derselben  Seite 
liegen. 

Rees  schließt  aus  As.  880  ff.,  Most.  157ff.,  817,  Fers.  757  ff.. 
Stich  683  ff.,  daß  das  Prothyron  (vestibulum,  ambulacrum  Most.  817), 
wofür  Piautus  ante  ostium ,  ante  ianuam ,  ante  aedes  braucht ,  im 
Gegensatz  zu  in  via,  architektonisch  ein  unerläßlicher  Bestandteil 
des  griechischen  Hauses  war,  der  den  üblichen  Raum  für  Innen- 
szenen in  der  klassischen  Zeit  wie  zur  Zeit  der  vea  darstellte,  mit 
dem  £y,y,vy.hjjiia  aber  nichts  zu  tun  hatte. 

Fi  echter,  S,  68  ff.,  vertritt  die  gegenteilige  Ansicht,  daß 
solche  Szenen  sichtbar  gemacht  wurden  durch  Offnen  der  großen 
Türen  der  Bühnen  wand,  wodurch  eine  Art  Hinterbühne  „außerhalb 
des  Hauses"   entstanden  sei. 

Steinthal  löst  die  vielbehandelte  Sitzplatzfrage:  Zu  Piautus* 
Zeit  saßen  alle  Zuschauer  in  der  an  einen  Hügel  angelehnten 
cavea,  ob  auf  dem  Erdboden  oder  auf  mitgebrachten  Schemeln,  bleibt 
dahingestellt.  Wer  keinen  Sitzplatz  fand ,  mußte  umkehren  (Capt, 
10  ff.,  Mil.  79  ff.).  Dagegen  werden  Amph.  65  f.  und  Poen.  19  f. 
feste  Sitzplätze  (subsellia)  erwähnt,  und  die  Zuspätkommenden 
brauchen  das  Theater  nicht  zu  verlassen ,  sondern  erhalten  Steh- 
plätze. Wann  diese  für  die  Aufführung  jedesmal  gezimmerten  Sitz- 
plätze aufgekommen  sind ,  wissen  wir  nicht ;  fest  steht ,  daß  sie  im 
Jahre  154  abgeschafft  wurden  und  die  Zuschauer  während  der 
nächsten  Jahre  stehen  mußten.  Amph.  1 — 96  und  Poen.  1 — 49 
sind  aus  einem  Gusse,  aber  nachplautinisch ;  sie  gehören  zusammen 
mit    der  Erweiterung   des  Casinaprologs  (5 — 20)  in  die  Zeit  159/4. 

Damit  ist  F.  H  o  r  n  s  t  e  i  n ,  Die  Echtheitsfrage  der  plautinischen 
Prologe.     Wien.  Stud.  36  (1914),   104  ff.,  überholt. 

Ch.  Knapp,  References  to  Painting  in  Piautus  and  Terence.    Class, 

Philol.  12  (1917),  148  ff. 
— ,  References  to  Literature  in  PI.  and  Ter.    Am.  Journ.  of  Philol, 

40,  (1919),  231  ff. 
— ,  References  in  PI.  and  Ter.  to  Plays,  Players  and  Playwrights. 

Class.  Philol.  14  (1919),  35  ff. 

gibt  eine  sorgfältige  Sammlung  aller  der  Stellen,  die  sich  auf  Malerei, 


16  Oskar  Köhler. 

Literatur,  Schauspieler  und  Dichtkunst  beziehen.  Wenn  er  schließt, 
daß  zu  Plautus'  Zeit  von  den  Zuschauern  die  Anspielungen  auf 
Fresko-  und  Tafelgemälde  verstanden  wurden,  so  ist  das  für  die 
oft  sehr  abgelegenen  Beispiele  aus  der  griechischen  Mythologie  und 
Geschichte  wohl  nicht  anzunehmen.  Im  übrigen  ist  die  Frage,  ob 
Most.  832  ff.  die  gegen  zwei  Geier  loshackende  Krähe  gemalt  oder 
in  Mosaik  dargestellt  war,  überflüssig,  da  das  ganze  Gemälde 
nur  in  der  Phantasie  des  Tranio  vorhanden  ist.  Ob  aus  Stellen 
wie  Pseud.  338  sat  sie  longae  fiunt  fabulae  auf  eine  Normallänge 
von  etwa  1000  Versen  geschlossen  werden  darf,  ist  zweifelhaft. 
Was  sonst  an  Anspielungen  auf  Schauspieler  und  Publikum  gegeben 
wird ,  ist  sehr  lehrreich ,  z.  B.  der  Hinweis ,  daß  das  plaudite  viel 
tieferen  Sinn  erhält ,  wenn  man  sich  vergegenwärtigt ,  daß  bei 
schlechtem  Spiel  die  Schauspieler  geprügelt  wurden ,  daß  die  Zu- 
schauer schon  früh  am  Morgen  eintrafen  (Poen.  5  ff.),  daß  Frauen, 
sogar  infantes  und  nutrices  (ibid.  28  ff.)  und  auch  Sklaven  da  sind 
(ibid.  23  ff.). 

In  das  Gebiet  des  Religiösen  führen: 

H.  M  e  n  d  e ,    De    animarum    in   poesi    epica    et    dramatica   ascensu. 

Diss.  Breslau  1914. 
S.  G.  Oliphant,    The  Use    of  the  Omen  in  PI.  and  Ter.     Class. 

Journ.   7  (1911/2),   165  ff. 
ß.  Staehlin,  Das  Motiv  der  Mantik  im  antiken  Drama.     Gießen 

1912  (Religionsgesch.  Untersuchungen  XII). 

Mende  zieht  S.  20  den  Traum  des  Philolaches  in  den  Kreis 
seiner  Betrachtung,  in  dem  diesem  die  Gestalt  des  toten  Gastes  er- 
schienen sein  soll. 

Oliphant  findet  bei  Plautus  23  Beispiele  von  Vorbedeutungen, 
während  bei  Terenz,  der  auch  sonst  Volkstümliches  meidet,  kein 
einziges  steht:  sie  bilden  einen  bedeutungsvollen  Zug  in  der 
Technik  der  Stücke  und  tragen  nicht  wenig  zur  komischen  Wir- 
kung bei. 

Staehlin  weist  im  Kap.  6  darauf  hin,  daß  die  bisher  ge- 
fundenen Fragmente  des  Menander  das  Motiv  der  Mantik  nicht 
haben.  Bei  Plautus  ist  es  zu  finden  in  Amph.,  As.,  Aul.,  Bacch., 
Gurc,  Men.,  Merc,  Mil.,  Most.,  Poen.,  Rud.,  Stich.  Die  Fragen 
nach  dem  griechischen  oder  römischen  Ursprung  finden  eingehende 
Beantwortung. 

W.  Chislett,  Three  Ancieut  Critics  of  Modern  Education.    Class. 
Jouru.  9  (1913/14),  399  f. 


Jahreabericht  über  Plautus  1912—1920.  17 

setzt   die  Kritik,    die  Lydus    Bacch.  437  ff.    an    der    attischen  Er- 
ziehung übt,  in  Parallele  zu  Aristophanes,  Wolken  1321  ff. 

Das  Bankwesen  des  Altertums  behandeln: 
F.  Pringsheim,    Der   Kauf   mit   fremdem  Geld.     Romanist.  Bei- 
träge z.  Eechtsgesch.  1916,  34  ff. 
J.  Hasebroek,  Zum  griechischen  Bankwesen.    Herm.  55  (1920), 
113  ff. 

Pringsheim  schließt  aus  der  Handlung  des  Curculio  und 
Pseudolus,  daß  das  Surrogationsprinzip  auch  im  hellenistischen  Recht 
wirksam  war.  Im  Cure,  wird  der  Gauner  nicht  Eigentümer,  weil 
er  mit  fremdem  Gelde  bezahlt  hat;  im  Pseud.  wird  er  es,  weil  er 
mit  eigenem  Gelde,  d.  h.  dem  seines  Herrn,  bezahlt  hat.  Die  Sache 
ist  Surrogat  des  Geldes.  Weil  diese  Rechtsanschauung  für  den 
römischen  Hörer  ziemlich  versteckt  liegt,  sah  sich  Plautus  nicht 
genötigt,  die  Vorlage  zu  ändern. 

Hasebroeck(S.  125)  vergleicht  die  Geschäftshandlungen,  die 
in  den  Stücken  des  Plautus  mit  Hilfe  des  Bankiers  vollzogen  werden : 
Die  Zahlung  geschieht  Cure.  345  ff.  auf  Grund  einer  auf  den  In- 
haber lautenden  Anweisung,  ohne  daß  der  Bankier  die  Berechtigung 
zum  Abheben  nachzuprüfen  braucht;  Bacch.  325  ff.  tritt  ein  Siegel- 
ring an  deren  Stelle.  Daneben  blieb  mündliche  Anweisung  das 
Übliche :  As.  436  ff.  geht  der  Schuldner  mit  seinem  Bankier  per- 
sönlich in  das  Haus  des  Gläubigers,  während  Capt.  449  ff.  Gläubiger 
und  Schuldner  zusammen   die  Bank  aufsuchen. 

Die  einzelnen  Stücke, 

Eine  kritische  Behandlung  aller  Stücke  bieten : 

Fr.  Leo,  Plautinische  Forschungen^  1912,  Kap.  III  und  Römische 

Literaturgeschichte  I,   1913,  109  ff. 
K.  K  u  n  s  t ,  Studien  zur  griech.-röm.  Komödie,  Wien  und  Leipzig  1919. 

Amphitruo:  Gegen  die  von  Leo  (vgl.  Forsch.  ^,  185  Anm.  2) 
vertretene  Kontamination  wendet  sich  Kunst  S.  174,  der  sich  für 
die  Annahme  einer  „Zusammenschweißung  verschiedener  Sagenmotive 
im  Original"  entscheidet;  ebenso  H.  W,  Pr esco tt,  The  Amphitruo 
of  Plautus.  Class.  Philol.  8  (1913),  14  ff.,  der  während  der  „langen 
Nacht"  Szenenwechsel  zwischen  der  Straße  vorm  Hause  des  Amphi- 
truo und  dem  Hafen  annimmt  und  in  dieser  mythologischen  Travestie 
neben  rlem  Persa  das  wichtigste  Stück  sieht,  um  die  mittlere  Komödie 
lebendig  zu  machen  (vgl.  hierzu  Leo,  Litg.  132,  Anm.);  ferner 
Schwering    184,    Prehn    81  ff.,    Wieand  156.     Die  Rolle    des 

Jahresbericht  für  Altertumswiasenschaft  Bd.  192  (1922,  11).  2 


IQ  Oskar  Köhler. 

Sosia  behandelt  J.  Zoccoli,  Un  gabbato  fra  gli  intriganti  di  Plautus^ 
Riv.  d'It.  16  (1913),  601  S. 

Asinaria:  K.  Meister,  Das  Original  der  Asin.  des  Plautus. 
Festschrift  für  Ad.  Bezzenberger ,  Göttingen  1921,  1  flF.  weist  als 
griechischen  Titel  das  in  BD  erhaltene  Onagros  'WildeseP  nach: 
Da  das  Tier  20  Minen  einbringt,  muß  es  ein  wertvoller  Zuchthengst 
gewesen  sein;  Plautus  verwandelte  ihn,  weil  der  gemeine  Esel  für 
seine  Spaße  sich  besser  eignete  (341  f.,  500)  als  das  exotische,  vielen 
seiner  Hörer  vielleicht  unbekannte  Tier.  —  Das  Gelage  am  Schluß 
geht  nach  Kunst  S.  156  im  Hause  der  lena  vor  sich,  so  daß  es 
vom  Parasiten  und  Artemona  beobachtet  werden  kann ;  828  f.  teilt 
er  mit  Weise  einer  anderen  Bearbeitung  zu. 

Aulularia:  A.  Krieger,  De  Aululariae  Plautinae  exemplari 
Graeco.     Diss.  Gießen   1914,  kommt  zu  folgenden  Ergebnissen :  Das 
Urbild  ist  ein  Stück  Menanders,  wahrscheinlich  sein  QrjaavQog-^  der 
Schauplatz  ist  Athen ;  den  Bühnenhintergrund  bilden  das  Haus  des 
Euclio,  das  fanum  Fidei  und  das  Haus  des  Megadorus,  in  dem  auch 
Eunomia  und  Lyconides  wohnen.     Strobilus,  der  Sklave  des  Mega- 
dorus und  des  Lyconides,   ist  dieselbe  Person ;  aus  inneren  Gründen, 
und  weil  die  Athener  einen  Tempel  der  TliffTig  nicht  kannten,  sind 
starke    Änderungen    durch    Plautus    anzunehmen.       Auch    Kunst 
S.  118  £P.    sieht    das    Stück    als    kontaminiert   an.      G.   Jachmann 
wendet  sich  in  der  Besprechung  Kriegers  (Berl.  phil.  Wochenschr.  35 
[1915],  1010  ff.)    mit    Recht    gegen    die  Gleichsetzung    der  Sklaven, 
und  Enk,  De  Aulularia  Plautina,  Muemos.  47  (1919),  84  ff.  nennt 
den  Sklaven  des  Megadorus  Philodicus ,    der    überall  statt  Strobilus 
in    den  Text    paßt,    und    behält    den  Namen  Strobilus    nur  für  den 
pedisequos  des  Lyconides  bei ;  er  sieht  einen  Retraktator  am  Werke, 
der    nicht   bloß    die   beiden  Sklaven    durch  einen  Schauspieler  dar- 
stellen lassen  wollte,  sondern  auch  glaubte,   das  Stück  hiamoristischer 
zu    machen ,    wenn    er    Oheim    und    Neffe    als    Rivalen    im    gleichen 
Hause    wohnen   ließ.     Ihm    sind    demnach    die  irreführenden  Worte 
727   ante  aedes  nostras    zuzuschreiben ,    während   145   advento  zeigt, 
daß    Eunomia    ihren  Bruder    nur    besucht.     Auch  Foster    a.  a.  0» 
S.  11   weist  völlig  überzeugend  nach,   daß  361  ff.  kein  neuer  Sklave 
eingeführt   werden    kann ;    Sprecher    ist  der  Sklave  des  Megadorus ; 
ebenso    nennt  A.  Funck    in  seiner  Übersetzung   „Der  Geizige  und 
sein  Schatz",  Berlin  1914,    den  Sklaven  des  Megadorus  Philodicus^ 
Strobilus  nur  den  des  Lyconides.    Prescott,  Inorganic  Roles  252 
rechnet  die  Aulularia  zu  den  lose  komponierten  Stücken. 

Bacchides:    Prehn  S.  62    hält    das  Stück    für    reine  Über- 


Jahresbericht  über  Plauhis  1912—1920.  19 

Setzung;  er  setzt  das  Original  zwischen  317  und  307,  aber  näher 
an  307,  da  die  Rolle  des  Miles  und  des  Parasiten  bereits  abgenutzt 
ist.  Wieand  S.  148  sieht  in  den  Bacch.  ein  gutes  Beispiel  dafür, 
wie  Plautus  alles  auf  die  Hauptintrige  anlegte,  weniger  wichtige 
Verbindungsteile  wegließ.  Ähnlich  urteilt  Kunst  S.  106:  „Sehe 
ich  recht,  hat  Plautus  nicht  die  menandrische  Intrige  an  sich,  son- 
dern nur  ihre  Auffassung  durch  besagte  tripartitio  (953  flF.)  etwas 
modifiziert",  während  Fraenkel,  S.  100  ff.,  und  Leo,  Lit.-G.  119  f. 
das  Stack  als  kontaminiert  erweisen  zu  können  glauben. 

Captivi:  Aus  Prolog  55  ff,  schließt  Kunst  S.  176,  daß  das 
Stück,  dessen  Ethos  Philemon  verrate,  unmittelbar  nach  Zama  fällt. 
während  es  Westaway  a.  a.  0.  für  undatierbar  hält.  —  G.  Al- 
bini, Note  di  estetica  Plautina:  Captivi  e  Trinummus.  Atene  e 
Roma  17  (1914),  1  ff.,  rühmt  die  Einfachheit  der  Handlung  und 
die  edle  Menschlichkeit  des  Stückes. 

Casina:  Kunst  S.  139:  Plautus  beschneidet  den  Ranken 
zuliebe  den  Stamm  und  hat  nun  Zeit ,  die  derbe  Schlußfarce  ent- 
sprechend herauszuarbeiten.  Ob  er  in  den  Schlußszenen  das  Original 
noch  vergröbert  hat,  ist  nicht  zu  sagen.     Der  Schluß  weist  auf  die 

Ci Stellaria:  Prehn  a.  a.  0.  10,  Anm.  1  nimmt  die  ^üva- 
QiOTwaai  als  Original  an  (vgl.  v.  10).  —  Kunst  S.  115,  An.  1, 
sieht  in  126/9  eine  Parallelfassung;  Leo-Lindsays  Bezeichnung 
amplificatio  hält  er  für  irreführend. 

Curculio:  C.  C.  Conrad,  The  Role  of  the  Cook  in  PI.  Cure. 
Class.  Philol.  13  (1918),  389  ff.,  glaubt,  daß  die  Annahme  einer 
Lücke  bei  273  vermieden  werden  kann.  Die  Einführung  des  Kochs, 
der  in  der  Traumdeutung  die  Stelle  des  Palinurus  vertritt,  scheint 
ihm  den  Zweck  zu  haben ,  daß  der  Schauspieler  aus  der  Rolle  des 
Palinurus  in  die  des  Curculio  schlüpfen  kann.  Da  ferner  der  Koch 
nicht  stillschweigend  verschwinden,  noch  weniger  Palinurus  so  un- 
motiviert wiedererscheinen  kann,  und  da  277/9  in  den  Handschriften 
teils  dem  Koch ,  teils  Palinurus  zugeteilt  sind ,  so  schließt  er ,  daß 
274  ff.  und  die  in  der  nächsten  Szene  dem  Palinurus  zugeschriebenen 
Worte  dem  Koch  zu  geben  sind. 

Epidicus:  A.  L.  Wheeler,  The  Plot  of  the  Epidicus.  Amer. 
Journ.  of  Philol.  38  (1917),  237  ff.  folgt  mit  Leo,  Lit.-G.  133  dem 
Nachweis  Dziatzkos ,  daß  das  griechische  Stück  mit  der  Hochzeit 
eines  Bruders  mit  seiner  Halbschwester  endete ;  aber  er  bezweifelt, 
daß  das  Stück  in  der  erhaltenen  Form  plautinisch  ist,  und  sieht 
87/8    die    Spur    davon ,    daß    es   zusammengeschnitten    wurde ,    noch 

2* 


nr.  Oskar  Köhler. 

wäbrend  es  sich  auf  der  Bühne  hielt.  Auch  den  fehlenden  Hin- 
weis, daß  Periphanes  die  Philippa  heiratet,  legt  er  dem  Zusammen- 
streicher zur  Last,  da  Plautus  sonst  die  Züge  der  Intrige  ganz  klar 
herausstellt.  Zusammenfassend  sagt  er:  In  seiner  gegenwärtigen 
Oestalt  ist  der  Epidicus  kurz,  verwickelt  und  dunkel,  mit  augen- 
scheinlicher Absicht,  die  bloßen  Hauptsachen  der  Handlung  darzu- 
bieten, besonders  die  komischen  Stellen.  Es  ist  eine  Art  „Auszug'", 
und  das  ist  eine  Kompositionsform,  die  dem  Plautus  fremd  ist.  — 
Kunst  S.  168  dagegen  ist  der  Meinung,  daß  Plautus  selbst  nicht 
allein  den  römischem  Empfinden  als  Inzest  erscheinenden  Schluß, 
sondern  auch  die  auf  analogen  Grundsätzen  fußende  erste  List  des 
Epidicus  (87  ff.)  aus  der  Handlung  in  die  Vorgeschichte  abge- 
drängt habe. 

Menaechmi:  Kunst  S.  171  f.  wünscht  bereits  von  1100  ab 
Verteilung  der  Verse  auf  beide  Menächmen  und  sieht  in  der  ganzen 
Stelle  bis  1110  eine  Schauspielern  zuliebe  gemachte  Einlage.  — 
Auf  den  novellistischen  Gehalt  der  Menächmenfabel  weist  hin 
G.  Thiele,  Plautusstudien.  Herrn.  48  (1913),  536  An.  1.  — 
E.  Cuq,  Revue  des  Etudes  anciennes  21  (1919),  249,  gibt  eine 
Interpretation  der  Verse  590/3.  Er  zeigt ,  daß  Menächmus  alles 
daran  setzt ,  den  bei  den  Ädilen  anhängigen  Kriminalprozeß  seines 
Klienten  nicht  zum  Austrag  kommen  zu  lassen,  um  zu  seinem 
Liebchen  eilen  zu  können.  Es  gelingt  ihm  auch,  zu  erwirken,  daß 
sein  Klient  sich  zur  Zahlung  einer  bestimmten  Summe  Geldes  ver- 
pflichten darf  (sponsio),  d.  h.  einen  Zivilprozeß  daraus  zu  machen. 
Aber  die  Summe  muß,  wie  jede  dem  Staat  gegenüber  eingegangene 
Verpflichtung,  durch  einen  besonderen  Bürgen  sichergestellt  werden. 
Mit  dem  Suchen  dieses  Bürgen  vergeht  aber  so  viel  Zeit,  daß  Me- 
nächmus trotz  aller  aufgewendeten  Mühe  doch  das  prandium  ver- 
säumt. Dieser  Gedanke  muß  in  dem  um  einen  Fuß  zu  kurzen 
Vers  593  ausgedrückt  gewesen  sein. 

Mercator:  Kunst  S.  142  ff.  weist  auf  die  seltsame  Ver- 
schmelzung des  Typs  der  nova  nupta  mit  dem  der  matrona  hin, 
den  Dorippa  darstellt.     Den  Schluß  hält  er  für  verkürzt. 

Miles  gloriosus:  J.  Mesk,  Die  Komposition  des  Plautini- 
schen  Mil.  glor.  Wien.  Stud.  35  (1913),  211  ff.,  schließt  sich  Leos 
Kontaminationstheorie  an.  Demgegenüber  kommt  0.  K  ö  h  1  e  r  in  der 
Einleitung  zu  Brix-Niem ey er  s  Ausgabe  *  1916,  S.  13  zu  folgen- 
dem Ergebnis :  Das  uns  vorliegende  Stück  stellt  den  Versuch  dar,  die 
der  Weltliteratur  angehörenden  märchenhaften  Entführungsgescliichten  p 
ins  Dramatische    überzuführen    und    damit  den   Charakter  eines  mit 


I 


Jahresbericht  über  Plautus  1912—1920.  21 

Frauengunst  prahlenden  Menschen  zu  verbinden.  Das  ist  aber  eine 
Aufgabe,  die  sich  nur  ein  wirklicher  Dichter  stellen  kann,  nicht  ein 
zusammenschweißender  Bearbeiter  zweier  bereits  vorhandener  Bühnen- 
werke. Nur  die  Szene  III,  2,  die  C.  Marchesi,  Note  Plautine 
e  Terenziane.  Studi  Ital.  di  filol.  class.  19  (1912),  274  ff.  als  ein 
Stück  selbständiger  Poesie  des  Plautus  ansieht ,  macht  als  bloße 
Episode  den  Eindruck,  als  ob  sie  mit  Hilfe  von  Vers  585  aus  einem 
anderen  Stücke  durch  Kontamination  ganz  im  Sinne  des  Tereuz 
eingeführt  sei.  Jetzt  aber  weist  Prescott,  Inorganic  Roles  265, 
nach,  daß  auch  das  Episodenhafte  wohl  zum  Stil  der  via  paßt  und 
nicht  avif  Kontamination  zurückgeführt  zu  werden  braucht.  Auch 
Prehn  S.  34  nennt  diese  Szene  embolium  spectatorum  gratia  in- 
sertum,  glaubt  aber,  am  Ende  des  zweiten  Aktes  die  Arbeit  eines 
Retraktators  zu  erkennen,  der  III,  2  habe  überflüssig  machen  wollen. 

Mostella  ria:  Prescott  a.  a.  0.  S.  283  weist  daraufhin, 
daß  Scapha  nur  eingeführt  ist,  um  ihre  Herrin  zu  charakterisieren. 

Persa:  Prehn  S.  6  gegenüber,  der  dem  Parasiten  844  f. 
heus  vos!  und  hicin  Dordalus  est  leuo '?  geben  will,  bemerkt  Kunst 
S.  61  mit  Recht ,  daß  auch  ohnedies  Saturio  beim  Schlußgelage 
nicht  zu  fehlen  braucht. 

Poenulus:  W.  Seh weriug.  De  Ovidio  et  Menandro.  Rhein. 
Mus.  69  (1914),  233  ff.,  führt  Szene  I,  2  auf  Menanders  Carche- 
donius  zurück.  Gegen  die  Kontaminationshypothesen,  die  alle  ver- 
schieden ausfallen,  wendet  sich  Kunst  S.  124  ff. :  Plautus  habe 
barbare  vertendo  manche  Feinheit  des  Vorbildes  seinem  Publikum 
zuliebe  vergröbert ;  offenbar  habe  er  eine  comedie  larmoyante  zu 
einer  derben  Burleske  umgeändert.  —  Viele  Anstöße  erklären  sich 
auch  aus  der  starken  nachplautinischen  Überarbeitung,  die  zugleich 
ein  Zeichen  für  die  große  Beliebtheit  des  Stückes  ist.  —  Über  den 
Prolog  vgl.  S.  15;  über  die  beiden  Schlüsse  handelt  W.  M.  L  i  n  d - 
say,  Adnotatiunculae  Plautinae.  Class.  Quart.  14  (1920),  49ff. • 
Wie  in  den  altenglischen  Komödien  am  Schlüsse  der  Geldleiher 
schachmatt  ist,  so  ist  das  entsprechende  Ende  der  römischen  Komödie 
Pers.  858  Leno  periit.  Plaudite !  In  dem  einen  der  beiden  Schlüsse 
des  Poenulus ,  dem  in  trochäischen  Septenaren ,  dem  gewöhnlichen 
zum  Beifall  ermunternden  Metrum,  geschriebenen  erfährt  der  Kuppler 
eine  mildere  Behandlung  als  gewöhnlich;  in  dem  anderen  heißt  es 
in  üblicher  Weise  1368  Multum  valete ,  malum  orane  ad  lenonem 
reccidit.  Offenbar  hat  die  Kritik  an  der  Behandlung  des  Kupplers 
und  an  der  Länge  des  Stückes  Anstoß  genommen  und  dadurch  den 
ersten    Schluß    veranlaßt.      Erwähnung    verdient    auch ,    daß    in    der 


22  Oskar  Köhler. 

trochäischen  Szene  über  eine  dicke  Flötenspielerin  gespottet  wird, 
ähnlich  wie  Aul.   332   at  nunc  tibi  dabitur  pinguior  tibicina. 

Für  das  Datum  des  Stückes  erhalten  wir  möglicherweise  einen 
Hinweis  durch  524  Praesertim  in  re  populi  placida  atque  interfectis 
hostibus.  So  scheint  das  Ende  des  zweiten  punischen  Krieges 
Plautus  Gelegenheit  gegeben  zu  haben ,  ein  Stück  zu  übertragen, 
in  dem  ein  Karthager  im  Mittelpunkt  steht.  Den  Titel  Poenulus 
hat  das  Stück  erst  später  erhalten;  Plautus  selbst  nannte  es  Vers  54, 
d.  h.  in  dem  echten  Teile  des  Prologs,  Patruos,  da  Hanno  der  Oheim 
des  Agorastokles  ist. 

Pseu  dolus:  J.  v.  Harr  er.  Die  Kompos.  des  Plautin.  Pseu- 
doliis.  Progr.  d.  Sophiengymn.,  Wien  1912,  macht  einen  neuen 
Versuch  zu  erweisen,  daß  Plautus  das  Stück  aus  zwei  griechischen 
Vorlagen  zusammengeschweißt  habe.  —  Demgegenüber  weist  Kroll, 
Teuflfels  Lit.-Gesch.  ^,  175  f.,  mit  Recht  auf  die  Möglichkeit  hin,  den 
griechischen  Dichter  für  die  Mängel  des  Stückes  verantwortlich  zu 
machen.  —  Kunst  S.  160  ff.  möchte  mit  Dietze  das  Original  dem 
Philemon  zuschreiben ;  das  gäbe  einen  Grund  weniger,  alle  Schwierig- 
keiten des  lockeren  Aufbaues  dem  Übersetzer  zuzuweisen.  Die 
Unrast  des  Sklavenspiels  zeigt  eine  gewisse  Verwandtschaft  mit  dem 
Heautontimorumenos. 

Rudens:  C.  C.  Coulter,  The  Composition  of  the  Rudens  of 
Plautus.  Class.  Philo).  8  (1913),  54  ff.,  sucht  zu  erweisen,  daß  nur 
der  erste  Teil  des  Stückes  Züge  des  Diphilus  zeige,  der  der  fieat] 
nahestehe,  während  Akt  4/5  einen  anderen  Autor  und  Schauplatz 
verrate.  Mit  Recht  verweist  dagegen  Kunst  S.  136  auf  Leo, 
Forschungen  ^  160 :  „Der  Rudens  hat  eine  zwar  innerlich  einheit- 
liche, aber  äußerlich  zweigeteilte  Handlung."  —  G.  Thiele, 
Plautusstudien,  Hermes  48  (1913),  522  ff.,  hebt  die  starke  Lokal- 
farbe des  Stückes  hervor,  die  durch  den  Seesturm  bedingt  wird, 
ein  Motiv,  das  nicht  der  Tragödie,  sondern  den  vom  Epos  ab- 
hängigen Romanen  und  Novellen  eigen  ist.  Mit  dem  romantischen 
Charakter  des  Stückes  hängt  es  zusammen,  daß  keine  bestimmte 
Zeit  vorausgesetzt  wird.  Die  eigentlich  komischen  und  schwank- 
haften Züge  finden  sich  im  Rudens  ebenso  wie  im  Trinummus  nur 
an  einzelnen  Stellen  und  zwar  scharf  gesondert  von  der  Haupt- 
handlung. Trotzdem  hat  in  beiden  Stücken  Plautus  absichtlich  den 
Titel  der  schwankhaften  Nebenhandlung  entlehnt,  was  der  Absicht 
der  griechischen  Dichter  widerspricht.  —  E.  A.  Housman,  Jests 
of  Plautus,  Cicero  and  Trimalchio.  Class.  Rev.  32  (1918),  162  ff., 
erklärt  die  Worte  des  Daemones  767  quin  inhumanum  exuras  tibi? 


Jahresbericht  über  Plautus  1912—1920.  23 

aus  den  mythologischen  Kenntnissen  der  beiden  Unterredner  (vgl. 
489  f.,  509,  604):  Wie  Herkules  den  menschlichen  Teil  seines  Wesens 
im  Feuer  ablegt  und  zum  Gott  wird ,  so  soll  Labrax  durch  das 
reinigende  Feuer  aus  dem  inhumanus  erst  ein  richtiger  Mensch 
werden.  —  Lindsay,  Adnot.  Plaut.,  Class.  Quart.  14  (1920),  49  ff., 
vergleicht  mit  dem  Prolog  Amph.  91  f.  Etiam ,  histriones  anno 
quom  in  proscaenio  hie  lovem  invocarunt,  venit,  auxilio  is  fuit  und 
schließt  daraus,  daß  der  Kudens  das  Stück  war,  für  das  die  Schau- 
spieler Jupiters  Hilfe  erflehten,  und  daß  er  ein  Jahr  vor  dem  Am- 
phitruo  aufgeführt  wurde. 

Stichus:  Leo  vertritt  auch  Lit.-G.  128  f.  den  Standpunkt,  daß 
Plautus  jeden  der  drei  Akte  einem  anderen  Original  entlehnt  habe. 
—  P.  J.  Enk,  De  Stichi  Plautinae  compositione.  Mnemos.  44 
(1916),  18  ff.,  verteidigt  die  Zusammengehörigkeit  der  beiden  ersten 
Akte  und  sieht  nur  den  Schluß,  als  zu  lose  angeknüpft,  für  un- 
menandrisch  an ,  obwohl  auch  er  Adelphoe  d  in  die  Frühzeit  Me- 
uaiiders  setzt.  Aber  die  frühe  Eutstehungszeit  (um  317)  und  die 
Ähnlichkeit  mit  dem  Persa  lassen  die  Annahme  Schwerings 
S.  184,  Prehns  S.  52  ff.  und  Langers  S.  46  und  81  völlig  be- 
rechtigt erscheinen ,  daß  dieses  lose  Gefüge  von  unterhaltenden 
Szenen  tatsächlich  vom  jungen  Menander  stammt,  der  die  spätere 
Geschlossenheit  seines  Stils  durch  die  schöne  Exposition  voraus- 
ahnen läßt. 

Trinummus:  Kunst  S.  143  führt  die  Unklarheit  in  der 
Charakteristik  des  Stasinus  auf  Philemon  zurück. 

Truculentus:  Kunst  S.  158:  Plautus  scheint  seine  Titel- 
person einer  weiteren  Typenkomödie  entlehnt  zu  haben. 

Vidularia:  Thiele  S.  537  setzt  das  Original  des  ßudens 
früher  an,  da  aus  diesem  der  Venustempel  beibehalten  ist. 

in.  Prosodie. 

Die  lambenkürzung  haben  folgende  Arbeiten  zum  Gegenstand: 

1.  G.  Jachmann,  Studia  prosodiaca,    Habilitationsschrift,  Marburg 
1912. 

2.  — ,  Zur  aitlateinischen  Prosodie.     Glotta  7  (1916),  39  ff. 

3.  W.  Kroll,  lambenkürzung.     Glotta  7  (1916),   152  ff. 

4.  G.  Jachmann,  Bemerkungen  zur  plautinischen  Prosodie.  Rhein. 
Mus.  71  (1916),  527  ff. 

5.  Fr.  Vollmer,    lambenkürzung  in  Hexametern.    Glotta  8  (1917), 
130  ff. 


24  Oskar  Köhler. 

Jachmann  weist  nach,  daß  in  der  vorletzten  Hebung  iambischer 
Senare  und  vor  der  Diärese  asynartetisch  gebildeter  Septenare  und 
Oktonare  die  lambenkürzung  sehr  selten  ist.  Tritt  an  dieser  Vers- 
stelle Auflösung  der  Länge  ein ,  so  sind  es  entweder  pyrrhichische 
und  solche  iambische  Wörter,  die  bereits  pyrrliichisch  empfunden 
Avurden,  wie  male,  quasi,  ego,  tibi,  cave,  abi,  modo,  oder  Pronominal- 
formen von  mens,  tuus,  suus ,  ie. ,  die  mit  Synizese  zu  lesen  sind, 
da  sie  auch  in  Totalisation  vorkommen.  Denn  der  Rhythmus  des 
Verses  sollte  am  Schluß  nicht  durch  iambisches  Wort  verdunkelt 
werden.  Formen  wie  qui's  illic,  quid  istuc  hat  schon  Plautus  nicht 
mehr  als  lambenkürzung  empfunden  (vgl.  Vollmer,  S.  25),  cale- 
facit  aber,  patefacit,  videlicet  sollen  durch  Proklisis  schon  vor  Plautus 
gekürzt  gewesen  sein,  ebenso  sei  diutius,  diutinus  bereits  bei  den 
Szenikern  prokeleusmatisch  gewesen. 

Diesen  Standpunkt  nimmt  auch  ein : 
J.  P.  P  o  s  t  g  a  t  e  ,    Atnotauda    in    Latin  Prosody.     Class.  Quart.  1 1 
(1917),  169  ff., 

indem  er  Rud.  93  eo  vos,  aniici,  detinui  diutius  hinter  amici  (tum) 
einschiebt. 

Dagegen  verteidigt 
W.    M.    Lindsay,    The    Prosody    of   diutius.      Class.    Quart.     12 
(1918),  47 

die  handschriftliche  Lesung  und  weist  mit  Recht  darauf  hin ,  daß 
vereinzelte  Proben  alter  Aussprache  bei  Plautus  nicht  selten  sind ; 
80  wird  die  ältere  Form  diutius  gestützt  durch  diütine  Rud.  1241 
und  diutinus  Mil.  503.  Die  phonetische  Entwicklung  ist:  diütius,^ 
diutius,   diutius. 

Ebensowenig  wird  man  glauben  müssen ,  daß  Versschlüsse  wie 
suom  patrem  immer  mit  Synizese  zu  lesen  seien;  vielmehr  ist  bei 
Emphase  auch  dort  die  zweisilbige  Form  des  Pronomens  anzu- 
nehmen. 

Im  zweiten  Aufsatz  stellt  Jachmann  fest ,  daß  in  Kretikern 
und  Bakcheen  die  lambenkürzung  sich  in  denselben  Grenzen  hält 
wie  in  der  vorletzten  Hebung  iambisch  schließender  stichischer 
Verse,  d.  h.  daß  eigentliche  lambenkürzung  ihnen  fremd  ist.  Ebenso 
werden  Silbenfolgen,  die  entweder  an  sich  den  Wert  eines  lambus 
haben  oder  ihn  durch  Verwendung  einer  altertümlichen  Laütgestalt 
(siet,  torquier,  danunt,  gegen  deren  Beschränkung  auf  iambischen 
Versschluß  er  sich  mit  Recht  wendet)  oder  bei  der  avvVeoig  ovo- 
l-iätiov  (satis,    magis  mit  positionsbildendem  s)  erhalten  können,  in 


Jahre8t)ericht  über  Plautus  1912—1920.  25 

diesen  Versen  im  allgemeinen  oder  wenigstens  mit  Vorliebe  iambisch 
gebraucht. 

Richtig  ist  die  Feststellung,  daß  die  lambenkürzung  eine  pho- 
netische Eigenschaft  der  Umgangssprache  ist,  zu  der  der  (daktylische) 
Dichter  nach  Belieben  Stellung  nehmen  kann ;  unannehmbar  aber 
die,  daß  sie  im  allmählichen  Absterben  begriffen  und  zur  Zeit  Ciceros 
erloschen  war  und  dafür  eine  andere  Kraft  lebendig  wurde ,  die 
Endsilbenkürzung.  Ich  führe  hierzu  Lindsays  AVorte  an  (Schul- 
ausgabe der  Captivi  ^,  Oxford  1921,  S.  11):  These  pronunciations 
are  unfamiliar  to  us  merely  because  the  dramas  of  the  Augustan 
age  have  been  lost.  They  would  be  used  by  Augustan  comedians 
as  well.  The  belong  not  to  early  comedy,  but  to  all  comedy ;  the 
are  the  pronunciations  of  everyday  talk. 

Kroll  betont  vor  allem,  daß  es  sich  bei  den  Kretikern  und 
Bakcheeu  weniger  um  ein  Meiden  der  lambenkürzung  handelt ,  als 
daß  diese  Maße  in  ihrer  ursprünglichen  Gestalt  gar  keinen  Platz 
dafür  haben,  daß  es  vielmehr  im  Lateinischen  einen  großen  Vorrat 
an  Wörtern  gibt,  die  sich  bequem  dem  bakchisch-kretischen  Rhyth- 
mus fugen,  der  deshalb  so  häufig  im  römischen  Drama  zu  finden  ist. 
Daß  es  überflüssig  war,  sich  dabei  auf  das  sogenannte  Exonsche 
Gesetz  zu  beziehen ,  gibt  er  selbst  zu  (Wissenschaftl.  Forschungs- 
berichte II,  Latein.  Philologie.     Gotha  1919,  S.  30). 

In  seiner  Entgegnung  auf  diesen  Erklärungsversuch  hebt  Jach- 
mann mit  Recht  hervor,  daß  die  Betonung  facilius  nicht  ohne 
weiteres  als  Rest  von  Anfangsbetonung  erklärt  werden  kann ,  da 
die  Fälle,  in  denen  facilius  betont  wird,  immerhin  zahlreich  sind 
(vgl.  Sturtevant,   S.  29). 

Gegen  die  Ansicht,  daß  lamben-  und  Endsilbenkürzung  zwei  ver- 
schiedene, zeitlich  getrennte  Vorgänge  seien,  wendet  sich  auch  Vo  1 1  m  e  r : 
Der  bakchisch-kretische  Rhythmus  zerstört  ebenso  wie  der  daktylische 
den  üblichen  Fluß  lateinischer  Rede;  da  die  lambenkürzung  viel  mehr 
auf  die  Teile  der  Rede  wirkt,  die  durch  scharfe  Satzakzente  verflüchtigt 
sind,  als  auf  einzelne  Wörter,  so  begreift  man,  daß  durch  andere 
Ae'^fg  die  Allegrowirkung  einfach  aufgehoben  wird.  Die  natürliche 
lambenkürzung  verflüchtigte  die  Sprache  viel  mehr,  als  im  Vers  zu 
finden  ist.  Unter  griechischem  Einfluß  wurde  die  Sprache  allmählich 
konventionell  ]  daher  blieb  die  lambenkürzung  nur  noch  da  fühlbar,  wo 
sie  die  Endsilben  der  Wörter  traf;  und  gelegentlich  konnten  Wörter 
wie  rogäs  aus  der  Alltagsrede  in  den  Hexameter  eingeführt  werden. 
Gegen  diese  wohl  ziemlich  allgemein  angenommene  Erklärung 
des  I.K.G.  wendet    sich  in  Anlehnung  an  E.  A.  Sonnenschein. 


2Ö  Oskar  Köhler, 

The  Law  of  Breves  Breviantes  in  the  Light  of  Phonetics.  Class. 
Philol.  6  (1911),  1  ff.,  K.  Kauer,  mit  dem  ich  in  schriftlichen 
Gedankenaustausch  über  die  ganze  Frage  getreten  bin.  Wenn  ich 
auch  glaube,  daß  Kau  er  trotz  Berufung  auf  die  Phonetik  die  Verse, 
die  eben  nur  fürs  Ohr  bestimmt  waren,  doch  zu  wenig  hört  und  zu 
sehr  sieht,  daß  er  die  Versmelodie  zerstört,  wenn  er  Eun.  8  liest 
£x  Gra^cis  bonis  Lati'nas  fecit  nön  bonäs,  um  bonis  aus  dem  Wege 
zu  gehen ,  und  daß  er  das  rasche  Leben  der  Umgangssprache  ver- 
gißt, wenn  er  der  Verteilung  der  an  der  Kürzung  beteiligten  Silben 
und  Wörter  auf  verschiedene  Sprecher  zu  großes  Gewicht  beilegt 
—  nimmt  ja  auch  bei  eintretender  Elision  ein  Schauspieler  dem 
anderen  das  Wort  aus  dem  Munde  — ,  so  führe  ich  doch  um  der 
Wichtigkeit  der  Sache  willen  seine  Zuschrift,  deren  weitere  Ausführung 
an  anderem  Ort  er  sich  ausdrücklich  vorbehält,   hier  im  Wortlaut  an : 

„Die  Hauptschwierigkeit  bei  dem  LK.G.  bildet  für  Sonnen- 
schein die  angenommene  Kürzung  positionslauger  Silben,  nament- 
lich in  Fällen  wie  z.  B.  qmd  cocprohras,  quid  äpstulisti^  quid  tgndve, 
nöuo  örndtu  usw.,  wo  auch  ein  Hinüberziehen  der  Konsonanten  zur 
folgenden  Silbe  ganz  unmöglich  ist. 

Von  entscheidender  Bedeutung  scheint  mir  aber  folgende  Be- 
obachtung zu  sein.  Nach  den  bisher  angenommenen  Formulierungen 
durch  Skutsch  und  Lind say  tritt  die  Kürzung  eo  ipso  ein,  bzw. 
wird  die  Kürzung  aus  der  Umgangssprache  herübergenommen.  Nun 
finden  wir  aber  eine  ganz  erkleckliche  Anzahl  von  Stellen ,  sowohl 
bei  Plautus  als  bei  Terenz ,  wo  das  Wort ,  das  die  brevis  und  bre- 
vianda  enthält  und  in  der  Senkung  steht,  von  dem  Schauspieler  Ä 
gesprochen  wird,  während  das  Wort  mit  der  betonten  Silbe,  die  als 
brcvians  die  Kürzung  erst  bewirken  soll ,  vom  Schauspieler  B  ge- 
sprochen wird,  wobei  es  keinen  Unterschied  macht,  ob  die  brevianda 
natura  oder  positionc  lang  ist.  Kann  man  sich  vorstellen,  daß  eine 
lange  Silbe  durch  den  Hochton,  den  ein  anderer  ausspricht,  gekürzt 
wird?     Ist  da  die  Berufung  auf  die  Umgangssprache  möglich? 

An  drei  Stellen  wird  die  brevians  vom  Schauspieler  A  ge- 
sprochen, die  brevianda  dagegen  vom  Schauspieler  B.  Soll  die  lange 
Silbe  im  Munde  des  zweiten  Sprechers  durch  die  angeblich  stark 
betonte  Silbe  des  ersten  Schauspielers  gekürzt  werden?  Das  ist 
doch  ganz  unmöglich. 

Und  schließlich  ein  ganz  singulärer  Fall.  Stich.  660 :  Stiche 
*  Hern  *  quid  uis?  spricht  die  brevis  der  Schauspieler  Ä^  die  bre- 
vianda der  Schauspieler  B  und  die  folgende  brevians  wieder  der 
Schauspieler  Ä,  so  daß  auch  brevis  und  brevianda  von  verschiedenen 


Jahresbericht  über  Plautus  1912—1920.  27 

Personen  gesprochen  werden.  In  diesem  Falle  von  einer  Kürzung, 
die  aus  der  Umgangssprache  aufgenommen  wurde,  zu  sprechen,  ist 
-eine  reine  Unmöglichkeit.  Hier  tritt  überhaupt  nie  eine  Kürzung 
ein ,  wenn  wir  den  Vers  nicht  für  das  Auge ,  sondern  für  das  Ohr 
berechnet  betrachten ;  denn  Hern  ist  natürlich  kurz ,  und  die  Posi- 
tionslänge entstünde  erst,  wenn  wir  den  Vers  nur  als  für  das  Auge 
berechnet  ansähen. 

Ich  glaube,  daß  diese  Stellen  geradezu  beweisen,  daß  von  einer 
ausnahmslosen  Herübernahme  der  Kürzungen  aus  der  Umgangs- 
sprache überhaupt  nicht  die  Rede  sein  kann,  daß  somit  Sonnen- 
schein mit  seiner  Annahme  dieser  Irrationalität  wirklich  recht  hat. 
Es  wäre  jetzt  nur  noch  die  Frage  zu  erörtern,  ob  durch  schnelleres 
Sprechen  diese  Überzeitigkeit  beseitigt  werden  konnte ,  woran  ja 
schon  Bentlej  gedacht  hat;  denn  es  ist  ja  doch  kein  Zufall,  daß 
diese  Erscheinung  sich  nur  in  solchen  Versen  findet  (z.  B.  auch  in 
den  sortes),  die  lediglich  für  das  Sprechen  berechnet  waren.  Dies 
ist  in  gewissen  Fällen  (naturlange  Vokale)  zweifellos  möglich.  Aber 
für  das  Auge  wird  dadurch  die  Unregelmäßigkeit  nicht  beseitigt. 
Und  für  eine  Sprache ,  die  die  Quantität  bei-ücksichtigt ,  bleibt 
Positionslänge  immer  lang,  wenn  man  auch  noch  so 
schnell  spricht.  Es  fragt  sich  nur ,  ob  diese  Annahme  einer 
irrationalen  Hebung  oder  Senkung  für  alle  Fälle  des  I.K.G.  not- 
wendig ist,  oder  ob  sich  da  nicht  ein  Mittelweg  hei'ausstellt.  Ich 
glaube  nämlich,  daß  wir  es  bei  den  Erscheinungen,  die  gegenwärtig 
als  Fälle  des  I.K.G.  bezeichnet  werden,  mit  einem  Komplex  zu  tun 
haben,  indem  nämlich  in  einer  Reihe  von  Fällen  tatsächlich  bereits 
wirkliche  Kürze  vorliegt ,  andererseits  durch  Synizese ,  die  auch 
Kroll  noch  nicht  für  abgetan  hält,  eine  Anzahl  ausscheidet,  während 
in  einer  großen  Anzahl  (Positionslänge  oder  Fälle  wie  tlhi  aüt  usw.) 
mit  der  Irrationalität  gerechnet  werden  muß. 

Zu  der  ersten  Kategorie  gehören  alle  jene  Fälle,  wo  neben 
dem  langen  Vokal  auch  der  kurze  vorkommt  (z.  B.  mihi,  tibi  usw.) 
ego,  uolo  usw.,  caue  und  dergleichen ,  vgl.  auch  slquidem  neben  st- 
quidem  usw.  Hier  konnte  der  Dichter  nach  Bedarf  entweder  die 
kurze  oder  lange  Messung  annehmen.  Nur  bezüglich  einer  Gruppe 
von  Erscheinungen  möchte  ich  nur  kurz  das  Nebeneinandervorkommen 
kurzer  und  lauger  Silben  hervorheben,  nämlich  bei  den  Formen  des 
Pronomens  ille,  die  ja  sehr  oft  durch  das  I.K.G,  getroffen  werden. 
Nur  in  ungefähr  30  Prozent  der  Fälle  muß  die  erste  Silbe  lang 
gemessen  werden.  Das  scheint  mir  ein  deutlicher  Hinweis  darauf 
zu  sein ,  daß  hier  das  Nebeneinandervorkommen  kurzer  und  langer 


28  Oskar  Köhler. 

Messung  anzunehmen  ist  (vgl.  Marx,  Leipz.  Sitzungsberichte  1907 
S.  129  ff.).  Dadurch  ist  auch  die  Frage  entschieden,  welche 
S kutsch  noch  Kopfzerbrechen  gemacht  hat.  Da  er  nämlich  bei 
nie,  wenn  es  zweimorige  Geltung  hat,  Abwurf  des  e  annahm,  kam 
er  natürlich  ins  Gedränge,  wo  andere  Formen,  wie  z.  B.  iJla,  eben- 
falls nur  zweimorig  bemessen  werden  können.  Mit  der  Annahme  der 
doppelten  Quantität  ist  natürlich  diese  Schwierigkeit  behoben ,  und 
eine  Anzahl  von  Versen  wird  keiner  Änderung  bedürfen.  Bezüglich 
der  Fälle ,  wo  naturlauger  Vokal  ohne  nachfolgende  Positionslänge 
bildende  Konsonanten  steht,  möchte  ich  die  Frage  noch  offen  lassen. 
Nehmen  wir  aber  nur  solche  Fälle ,  wo  auch  im  besten  Falle  eine 
Vokalkürzung  nicht  zulässig  ist.  z.  B.  tibi  aiit,  dann  ergeben  sich 
eben  mit  der  großen  Anzahl  der  Beispiele  mit  Positionslänge  die 
Fälle  der  Irrationalität. 

Halten  wir  an  diesem  Ergebnis  fest,  dann  ist  wirklich  nicht 
einzusehen,  weshalb  nicht  auch  ein  Trochäus  an  Stelle  einer  Hebung 
oder  Senkung  stehen  kann ,  und  damit  wäre  an  einer  Reihe  von 
Stellen ,  wo  ein  solcher  überliefert  ist ,  wozu  auch  die  Fälle  mit 
unde,  nempe,  quippe,  omnis,  vielleicht  auch  ipse,  iste  usw.  kommen, 
die  Heilung  ohne  weiteres  gegeben ;  doch  gehört  dies  nicht  mehr 
zur  Frage  des  I.K.G. 

So  viel  scheint  mir  aber  festzustehen,  daß  der  Ausdruck  I.K.G. 
nicht  mehr  paßt.  Denn  betrachtet  man  seine  Erscheinungen  als 
solche  der  Umgangssprache,  so  hat  das  Gesetz  nichts  mit  der  Metrik 
zu  tun ,  und  sofern  die  Metrik  in  Betracht  kommt ,  hat  es  nichts 
mit  dem  nur  angenommenen  Vorgang  der  Kürzung  zu  tun.  Die 
Metrik    verwendet    nur    kurze  oder  lange   Silben ,    kürzt  aber  nicht. 

Praktisch  bringt  die  Sache  keine  großen  Veränderungen  mit 
sich.  Höchstens  daß  wir  einen  Vers  wie  Eun.  233  nicht  mit  quid 
interest,  sondern  mit  quid  interest  beginnen,  was  vielleicht  ein  Licht 
auf  die  so  häufig  vorkommenden  einzelnen  iambischen  Verse  in 
trochäischen  Reihen  oder  umgekehrt  werfen  kann.  Mir  handelte  es 
sich  um  den  Versuch  einer  Erklärung,  der  man  seit  C.  F.  W.  Müller 
eigentlich  aus  dem  Wege  gegangen  war.  Daß  durch  Sonnen- 
scheins Erklärung  die  Beschränkung  auf  iambische  Silbenfolge, 
worauf  mich  Maas  aufmerksam  machte,  noch  nicht  erklärt  ist,  gebe 
ich  ohne  weiteres  zu,  kann  aber  vorderhand  nichts  dazu  sagen." 

Über  die  wichtige  Frage  nach  der  Übereinstimmung  von  Wort- 
und  Versakzent  handeln  zwei  Arbeiten: 

(J.  Hoischen,  De  verborum  accentu  in  versibus  Plautinis  observato 
quaestiones  novae.     Diss.  Münster  1914. 


Jahresbericht  über  Plautus  1912—1920.  29 

E.  H.  Sturtevaut,  The  Coincidence  of  Accent  and  Ictus  in  Plautus 
and  Terence.     Class.  Philol.  14  (1919),  234  ff. 

Hoi sehen  gibt  eine  kritische  Übersicht  über  die  Ansichten, 
die  die  Gelehrten  seit  Ben tley  über  diese  Frage  entwickelt  haben, 
und  wendet  sich  dann  der  Betrachtung  der  einzelnen  Wortklassen 
zu:  1.  Tribrachysche  Wörter  werden  nie  auf  der  Pänultima  betont, 
daktylische  selten  und  nur  im  ersten  Fuß  iambischer  Verse  und  im 
fünften  der  Oktonare,  während  in  Anapästen  hostibus  u.  ä.  zugelassen 
ist.  Die  verschiedene  Behandlung  der  beiden  Wortklassen  erklärt 
sich  daraus ,  daß  die  daktylischen  Wörter  einen  Nebenakzent  auf 
der  letzten  Silbe  hatten :  perdite.  Die  Griechen  haben  keine  der 
beiden  anstößigen  Betonungen  gemieden.  2.  Die  Proceleusmatiker 
verwendet  Plautus  so,  daß  sie  dem  Prosaakzent  (wozu  H.  auch  die 
Anfangsbetonung  fäcilius  rechnet!)  entsprechen;  sequimini  läßt  er 
nur  dort  zu,  wo  Corpora  stehen  kann.  3.  Anapästische  und  spon- 
deische  Wörter  sind  im  zweiten  Fuße  des  Senars  nur  oxytoniert, 
wenn  Monosyllabon  folgt,  im  dritten  Fuße  nie  wegen  der  Zäsur,  die 
als  Ergebnis  der  Wortstellung  zur  Wahrung  des  Prosaakzents  streng 
eingehalten  wird ,  während  bei  Menander  ein  Fünftel ,  bei  Aristo- 
phanes  ein  Zehntel  der  Verse  zäsurlos  ist.  Im  trochäischen  Sep- 
tenar  werden  vor  der  Diärese  iambische  Wörter  von  enklitischem 
Monosyllabon  begleitet,  wodurch  die  falsche  Betonung  aufgehoben 
wird.  So  zeigt  sich  überall,  auch  aus  den  im  folgenden  behandelten 
Enklitizä  und  doppeliambischen  Schlüssen,  die  Ansicht  von  Bentley 
undRitschl  bestätigt,  daß  starke  Übereinstimmung  zwischen  Vers- 
und  Satzakzent  vorhanden  ist-,  völlig  widerlegt  aber  wird  das 
Meyer  sehe  Dipodiengesetz. 

Den  umgekehrten  Weg  schlägt  Sturtevant  ein.  Er  will  die 
Behauptung  widerlegen,  daß  Übereinstimmung  zwischen  Wort-  und 
Versakzent  mehr  das  zufällige  Ergebnis  sei  des  gleichen  Gesetzes, 
nach  dem  in  der  Sprache  wie  in  der  Metrik  der  Ton  auf  der  Länge 
oder  der  ersten  von  zwei  Kürzen  liegen  müsse.  Zu  diesem  Zwecke 
untersucht  er  den  natürlichen  Fluß  des  Verses  und  vergleicht  die 
daraus  sich  ergebende  Betonung  von  Silbengruppen  mit  der  der 
entsprechenden  Eiuzelwörtex-.  Das  Ergebnis  ist  folgendes:  Die 
Silbengruppe  -  ^  ist  auf  der  Pänultima  betont  bei  Plautus  in  58  *^/o, 
bei  Terenz  in  56  ^/o  der  Fälle,  die  entsprechenden  trochäischen 
Wörter  aber  in  83  ^lo  bei  Plautus,  in  86  ^/o  bei  Terenz ;  die  Silben- 
gruppe ^^  hat  Pänultimabetonung  bei  Plautus  in  32  "/o,  bei  Terenz 
in  26  "/o,  die  entsprechenden  Wörter  aber  in  42  ®  o  bei  Plautus,  in 
35  ^/o    bei  Terenz.     In    derselben  Weise    verfährt    er   bei  drei-  und 


30 :  Oskar  Köhler. 

mehrsilbigen  Wörtern  und  den  entsprechenden  Silbengruppen ;  immer 
ist  bei  den  Einzelwörtern  der  Prozentsatz  der  natürlichen  Betonung 
größer.  Eine  Ausnahme  macht  nur  die  Silbengruppe  ^ww-  und 
die  entsprechenden  "Wörter  wie  facilius-,  hier  ist  auf  der  drittletzten 
betont  die  Silbengruppe  in  30  "/o  bei  Plautus,  in  37  ®/o  bei  Terenz, 
die  entsprechenden  Wörter  aber  nur  in  9  "/o  bei  Plautus,  in  12®/o 
bei  Terenz ,  während  sie  Anfangsbetouung  zeigen  in  91  °/o  bei 
Plautus  und  in  88  *'/o  bei  Terenz.  Von  dieser  Ausnahme  abgesehen, 
die  ein  Rest  der  ursprünglichen  Anfangsbetonung  sein  mag  oder 
nicht,  läßt  sich  überall  eine  starke  Neigung  erkennen,  den  Wörtern 
ihren  Prosaakzent  zu  lassen.  Dabei  bleibt  der  Satzakzent  außer 
Betracht,  dessen  Berücksichtigung  noch  manche  anscheinend  ab- 
weichende Betonung  erklären  würde.  Dies  ist  jedenfalls  ein  Beweis 
dafür,   daß  der  Dreisilbenakzent  stark  expiratorisch  war. 

Die  „Kürzung  durch  Tonanschluß  im  alten  Latein"  behandelt 
eingehend  F.  Vollmer  in  den  Sitz.-Ber.  d.  Bayr.  Akad.  1917. 
9.  Abhdlg.: 

Wir  dürfen  aus  dem  Gesetz  vom  zerrissenen  Anapäst  schließen, 
daß  Wörter  wie  slquidem ,  töquidem  die  erste  Silbe  kurz  haben, 
außer  wenn  sie  die  erste  oder  fünfte  Hebung  trochäischer  Lang- 
verse bildet.  Nirgends  ist  si  quidem  zu  betonen;  wohl  aber  findet 
sich  82  mal  bei  Plautus  sicheres  siquid^m,  31  mal  s'iquidem ,  dazu 
noch  15  mal  in  Anapästen.  An  anderen  enklitischen  Verbindungen 
steht  trochäisches  ecquis  (über  90  mal)  neben  ecquis ,  siquis  neben 
slquis,  nequis  neben  nequis,  quisquis  neben  quisquis,  numquis  neben 
nümquis  (Meu.  548).  Bei  Zusammensetzungen  mit  -que ,  -ne,  -ve 
erscheint  es  zweifelhaft,  ob  an  Tonkürzung  oder  Endsynkope  wie 
bei  ac,  seu  zu  denken  ist.  Die  von  S  kutsch  angenommene  Syn- 
kope von  illic,  illa,  illud,  istic  hat  keine  Wahrscheinlichkeit;  des- 
halb ist  für  ille  und  iste  neben  der  trochäischen  Messung  auch  pyr- 
rhichische  (vgl.  Kau  er,  S.  28)  vorauszusetzen.  Dieses  Nebeneinander 
von  ille  und  ille,  iste  und  iste  erscheint  begreiflich,  wenn  man 
siquidem  neben  sl  quid6m  stellt.  Kürzung  durch  Tonanschluß  liegt 
auch  vor  in  hödie ,  sme ,  nüdius ,  quasi ,  ömitto ,  pröficiscor  neben 
pröficio,  profanus  neben  pro  fäno.  Die  Kraft  dieser  Kürzung 
durch  Enklise  ist  offenbar  ebenso  groß  wie  die  lambenkürzung;  sie 
bewirkt  sogar  nösquidem,  meäequidem,  measquidem,  hiquidem  aus 
höquidem.  Kürzung  von  ö  zu  T  liegt  möglicherweise  auch  in  ille 
vor :  *ölse  >►  *olle  >  *ulle,  dies  in  Anlehnung  an  is  zur  Unter- 
scheidung von  ullus  zu  ille;  so  würde  die  doppelte  Messung  des 
Stammes    11-    bei    den    Szenikern    die    einfachste  Erklärung   finden. 


Jahresbericht  über  Plautus  1912-1920.  31 

Auch  das  Nebeneinander  von  Immo  und  immo  spricht  dafür ,  daß 
das  Wort  unter  Tonanschluß  gefallen  ist. 

W.  L  i  e  b  e  u ,  De  verborum  iambicorum  apud  Plautum  synaloephis. 
Diss,  Marburg  1915, 

weist  nach,  daß  iambische  Wörter  nicht  unterschiedslos  elidiert  werden  ; 
mehr  als  die  Hälfte  aller  Elisionen  fällt  auf  auslautendes  o.  Dar- 
unter sind  Substantiva  sehr  selten;  am  häufigsten  ist  die  1.  Pers, 
Sing.  Ind.  Praes.  solcher  Verba  elidiert,  die  dem  Volksmund  ge- 
läufig sind,  woraus  deutlich  hervorgeht,  daß  die  Synalöphe  aus  der 
Umgangssprache  stammt.  Vor  langer  Silbe  ist  Verschleifung  häufiger 
als  vor  kurzer  (4  :  1),  Im  letzten  Fuß  des  Senars  und  im  4.  und 
letzten  des  trochäischen  Septenars  kommt  Synalöphe  nur  vor  Inter- 
jektionen vor.  Hiat  in  iambischem  Wort  findet  sich  an  denselben 
Stellen,  an  denen  Jacobsohn  Diärese  annimmt;  daneben  bleiben 
22  Hiate  unerklärt.  Die  von  Lachmann  aufgestellten  Regeln 
finden  also  keine  Bestätigung. 

IV.  Metrik. 

■  W.  M.  Lindsay,  Class.  Eev.  32  (1918),  Aug./Sept.  unterzieht 
Stich.  1  ff.,  das  Eingangsduett  der  Schwestern  Panegyris  und  Pam- 
phila,  einer  neuen  Behandlung,  um  zu  zeigen,  daß  Plautus  ein  viel 
größerer  Verskünstler  war,  als  man  gewöhnlich  annimmt,  und  daß 
man  ein  Canticum  weder  willkürlich  ändern  noch  unmögliche 
Messungen  wie  amäbo,  oportet,  verberari,  martmis,  amisha  für  ami- 
citia  einführen  darf:  Man  soll  einfach  anerkennen,  daß  gewisse  metri- 
sche Typen  des  Plautus  noch  nicht  entdeckt  sind.  Wenn  „Des 
Mädchens  Klage"  vermuten  ließ,  daß  Plautus  seine  musikalischen 
Vorbilder  im  Tingeltangel  suchte ,  weil  ihm'  die  neue  griechische 
Komödie  keine  liefern  konnte,  so  erinnert  jetzt  Marx,  Stobaeus 
von  0.  H  e  n  s  e  V,  praef.  28  daran,  daß  von  Diphilus  fr.  12  K.  das  be- 
rühmte Maß  des  Archilochus,  fr.  89  K.  einen  Wechsel  von  Kretikern 
und  Choriamben  wie  Gas.  628  f,  As.  132  f.,  Most.  700  ff.  enthält. 
(Doch  vgl.  dagegen  Wilamowitz,  Die  Samia  des  Menandros. 
Sitzungsber.  d.  Berl.  Akad.  1916,  85  f.) 

Den  Grundton    des    ersten  Teils    des  Canticums    gibt  die  Zeile 
-  '  ^  I- 

credo    egö    mispräm ,    ein  in  den  glykoneischen  griechischen  Chören 

oft  gefundenes  Metrum,  z.  B.  Eurip.,  Ale.  990.     Die  nächsten  vier 

Zeilen  haben  dasselbe  Metrum  mit  Auftakt ;  dieser  ist  dreimal  kurz, 

I  I  i_ 

einmal  lang :  quae  täm  dm  vidüä :  Synaphie  ist  ausgeschlossen,  weil 


32  Oskar  Köhler, 

das  a  in  vidua  bereits  zu  Plautus'  Zeit  kurz  war.    Diese  fünf  Zeilen 
behandelt  Lindsay  im  Oxford-Text  noch  als  Dochmien. 

Die  sechste  Zeile  nam  nos  eins  (einsilbig)  änimum  ist  ein  Kolon 
Keizianum :  Diese  werden  bei  Plautus  so  variiert  wie  im  Griechi- 
schen die  Dochmien ;  hier  bildet  es  den  Übergang  vom  Glykoneus 
zu  drei  iambischen  Dimetern  mit  Kolon  Reizianum. 

Es  folgen  zwei  anapästische  Dimeter  als  vorläufiger  Hinweis 
auf  24  ff.,  hierauf  8  und  8  a :  Neque  id  magis  facinüs  Quam  nös 
mönet  pietäs  als  Glykoneen  wie  1  a,  dann  wieder  iambische  Dimeter 
mit  Kolon  Reizianum. 

10  Loqul  de  re  virf  mit  Synkope  wie  Eurip.,  Hipp.  532. 

11 — 14  folgen  Variationen  von  la  mit  Kolon  Reizianum,  15 
zweimaliges  Kolon  Reizianum,  16  und  17  Übergang  zu  den  folgenden 
Anapästen;  dabei  klingt  in  27  noch  einmal  das  Echo  des  glyko- 
neischen  Teils  an  mit  folgendem  anapästischem  Metron:  fäc  quöd 
tibi  tuos  päter  fäcere  mlnätur,   ebenso   50,   nur  mit  sit  als  Länge. 

Die  Monodie  der  Alkmene  Amph.  633  ff.  behandelt  C.  Lind- 
ström,  Eranos  11   (1911),   125 ff. 

F.  W.  Hall,  Nuances  in  Plautine  Metre.  Class.  Quart.  15 
(1921),  99  ff.,  stellt  fest,  daß,  abgesehen  von  dem  Verse  des  Phädrus 
*Palam  muttire  plebeiö  piaculümst',  der  ein  molossisches  Wort  vor 
dem  letzten  Metron  des  Senars  hat,  da  er  dem  Telephus  des  Ennius 
entlehnt  i.-.t,  weder  bei  Seneca  noch  sonst  bei  Phädrus  sich  ein  Bei- 
spiel dafür  findet.  Ebensowenig  kommt  es  vor  in  den  Langversen 
des  Varro  Reatinus  und  Lucilius ,  die  zum  Lesen ,  nicht  zum  Auf- 
führen bestimmt  waren.  In  der  Tragödie  aber  des  Livius  Andro- 
nicus  und  des  Ennius  war  es  gebi'äuchlicb. 

Bei  Plautus  finden  wir  20  unzweifelhafte  Beispiele  dafür ,  und 
zwar  wird  in  Versen  mit  dieser  Besonderheit  Zusammenfall  von 
Wort  und  Versakzent  in  den  übrigen  Füßen  gesucht ;  in  den  letzten 
beiden  Füßen  geschieht  dies  durch  vier-  oder  fünfsilbiges  Wort; 
spondeische  und  anapästische  Wörter  dagegen  werden  an  dieser  Vers- 
stelle gemieden,  da  sonst  im  fünften  Fuße  Widerstreit  zwischen 
Iktus  und  Betonung  eintreten  würde.  Wahrscheinlich  ist  dieser 
Rhythmus     ursprünglich     tragisch     und     von    Plautus     übernommen, 

1.  um  zu  parodieren:   Amph.  407  Et  clandestina  ut  celetur  consuetio ; 

2.  um  der  Steigerung  willen:  Aul.  95  cultrum  securim  pistillum 
mortarium ;  3.  des  Gegensatzes  wegen :  Cure.  380  qui  homo  mature 
quaesivit  pecuniam  Nisi  eam  nature  parsif,  4.  um  hervorzu- 
heben: Capt.  192  ibo  intro  atque  intus  subducam  ratiunculam,  d.h. 
das  Abzählen  des  Geldes  zu  kennzeichnen. 


Jahresbericht  über  Plautus  1912—1920.  33 

lu  ähnlicher  Weise  bewirken  dramatische  Emphase  die  chor- 
iambischen Wörter  wie  Bacch.  152  magistron  quemquam  discipulum 
minitarier? 

Bei  Terenz  ist  von  solcher  Stimmungsmalerei  so  gut  wie  nichts 
zu  finden. 

V.  Wortschatz  (Lexikographie)  und  Formenlehre. 

G.  Lodge,  Lexicon  Plautinum  I,    fasc.  7  (Fabula-Hercle),  Leipzig 
1914. 

Eine  wertvolle,  von  Lindsay  angeregte  Vorarbeit  für  dieses 
allzu  langsam  erscheinende  unentbehrliche  Hilfsmittel  bieten: 

J.  T.  Allardice    and    E.  A.  Junks,    An   Index    of  the  Adverbs 
of  Plautus,  Oxford  1913. 

W.  Kahle,  De  vocabulis  Graecis  Plauti  aetate  in  seriaonem  Lati- 
num vere  receptis.  Diss.  Münster  1918, 
behandelt  die  zu  Plautus'  Zeit  im  Lateinischen  vorhandenen  grie- 
chischen Lehnwörter,  die  völlig  lateinische  Lautgebung  und  Endung 
zeigen,  wie  purpura,  sona,  fucus ,  mina,  und  deren  Ableitungen 
und  zeichnet  an  Hand  dieser  Wörter  ein  Bild  davon,  wie  die 
Römer  von  den  Griechen  kulturell  beeinflußt  sind  in  Nahrung, 
Kleidung ,  Wohnung ,  Handelsverkehr ,  Kriegswesen ,  Kunst  und 
Wissenschaft,  Religion  \ind  Kultur,  Kenntnis  des  Tier-  und  Pflanzen- 
reichs. Hierauf  fuhrt  er  noch  die  griechischen  Fremdwörter  bei 
Plautus  an,  die  man  einerseits  durch  die  in  Rom  lebenden  Griechen 
kannte,  und  die  andererseits  aus  den  Originalen  stehengeblieben 
waren  und  in  den  Handschriften  zum  Teil  in  griechischen  Buch- 
staben überliefert  sind  (vgl.  S.  5  N  i  e  s  c  h  m  i  d  t).  Ein  sehr  sorg- 
fältiger Index,  in  dem  die  Fremdwörter  besonders  bezeichnet  sind, 
erhöht  die  Brauchbarkeit  der  wertvollen  Abhandlung. 

C.    C.    Coulter,    Compound    Adjectives    in    Early    Latin    Poetrj. 
Transact.  Amer.  Philol.  Assoc.  47  (1916),   153  ff.  : 

Die  zahlreichen  zusammengesetzten  Adjektiva  bei  Plautus,  von 
denen  80  ",o  a/ia^  eiQrjfiäpa  sind ,  sind  im  allgemeinen  häufiger  in 
den  lyrischen  Teilen  als  in  den  Senaren.  Sie  sind  sehr  ungleich 
über  die  20  Stücke  verteilt;  vergleichsweise  wenig  finden  sich  in 
Men.,  Merc,  Rud.  und  Stich.,  eine  sehr  große  Zahl  im  Pseud.  und 
Trinummus.  Terenz  hat  dagegen  verschwindend  wenig.  Beigegeben 
ist  ein  sorgfältig  gearbeitetes  alphabetisches  Verzeichnis. 

Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft  Bd.  192  (1922.  11).  3 


34  Oskar  Köliier. 

A.  Gagner,    De   hercle,    mebercle    ceterisque    id    geuus    partlculis 

priscae  poesis  Latinae  scaenicae.  Greifswald  1920, 
txntersueht  Ableitung  ([o]  Hercle  von  einem  o-Stamm  herclos ;  me, 
Hercle,  iuvato!  me  Dius  Fidius  iuvet !  e  Castor!  e  de  Pol!),  Pro- 
sodie  (vgl.  hierzu  Klotz,  Philol.  Wocheusclir.  1921,  392  ff.)  und 
Verwendungsart  der  ursprünglichen  Götteranrufungen  hercle,  pol, 
medius  fidius,  ecastor :  Sie  sind  zu  bloßen  Beteuerungspartikeln  ge- 
worden;  die  Männer  schwören  nicht  bei  Castor,  die  Frauen  nicht 
bei  Hercules;  im  Munde  von  Kupplern  und  Parasiten  sind  diese 
Formeln  verhältnismäßig  selten ;  auch  hier  zeigt  Terenz ,  gemessen 
an  dem  Reichtum  des  Plautus,  Zurückhaltung  gegenüber  dem  volks- 
tümlich Derben.  Eingehende  Indizes  erleichtern  den  Überblick  über 
die  umfangreiche  Arbeit. 
A.  Müller,  Die  Schimpfwörter  in  der  römischen  Komödie.     Philol. 

72  (1913),  492  ff., 
sammelt  die  reiche  Fülle  der  Verschimpfungen  bei  Plautus  und  ordnet 
sie  unter  folgenden  Gesichtspunkten :  Herren  gegen  Sklaven,  Sklaven 
gegen  Herren,  Sklaven  untereinander,  Sklaven  gegen  Kuppler  usw. 
M,  Re  ich  e  n  b  ech  er ,  De  vocum,  quae  sunt  scelus,  flagitium,  faci- 
nus  apud  priscos  scriptores  usu.     Diss.  Jena   1913: 

Scelus  heißt  ursprünglich  „unglückselige  Sache",  dann  jedes 
Handeln  gegen  die  giiten  Sitten,  die  Gesetze  und  die  Religion  (ver- 
wandt mit  impietas) ;  ferner  wird  es  als  Schimpfwort  auf  den 
Menschen  übertragen  und  schließlich  als  Ausruf  gebraucht.  Die 
Bedeutung  „boshafte  Gesinnung"  wird  erst  in  späterer  Zeit  mit  dem 
Worte  verbunden.  —  Scelestus  heißt  „verbrecherisch",  von  Sachen 
„durch  Verbrechen  befleckt",  von  sich  selbst  gesagt  „elend".  — 
Scelerosus  fehlt  bei  Plautus;  sceleratus  heißt  „zu  Verbrechen  ge- 
neigt" ;  es  findet  sich  nur  zweimal  bei  Plautus.  —  scelerus  als  Adj. 
nur  Pseud.  817  sinapis  scelera,  während  es  in  Wendungen  wie 
scelerum  caput  als  von   scelus  gebildet  aufzufassen   ist. 

Flagitium  ist  abzuleiten  von  flagellum,  bedeutet  also  ursprüng- 
lich „Auspeitschen",  dann  „übles  Gerede  in  der  Öffentlichkeit,  Schande, 
Freveltat". 

Facinus  bezeichnet  leichteren  Frevel,  doch  nie  ohne  Adjektiv; 
es  wird  auch  als  Ausruf  gebraucht;  facinus  committere  gebraucht 
Plautus  ebensowenig  wie  scelus  committere,  wohl  aber  facinus  facere. 
L.  Gurlitt,  Plautinische  Studien.  Philol.  72  (1913),  225  ff., 
gibt  dadurch ,  daß  er  asta  den  Nebensinn  cpaXlög  unterlegt ,  Most. 
323  ff.,  As.  713  ff.,  Mil.  1011  ff.  eine  stark  obszöne  Deutung. 


Jahresbericht  über  Plautus  1912—1920.  35 

J.  Köbm,  Der  ursprüngliche  Sinu  von  animum  despondere  und 
die  zugrunde  liegende  Vorstellung.  Ein  Beitrag  zur  Geschichte 
der  Geisteskrankheiten  besonders  bei  Plautus.  Indog.  Forsch.  31 
(1912/13),  286  ff. 

Animum  despondere  heißt  bei  Plautus  ohnmächtig  werden,  die 
Besinnung  verlieren ,  weil  der  in  Ohnmacht  fallende  Mensch  sein 
Bewußtsein  wie  ein  Opfer  der  Gottheit  hingibt,  die  ihn  ergreift  und 
seinen  Geist  beherrscht.  Capt.  547  ff.  wird  Geisteskrankheit  vor- 
getäuscht. Den  Wutaufall  in  den  Menächmi  vergleicht  Köhm  mit 
dem  Botenbericht  im  Hercul.  für.,  der  mit  Absicht  travestiert  sei ; 
da  die  mittlere  Komödie  besonders  mit  dem  Mittel  der  Travestie 
arbeite,  ist  er  geneigt,  die  Menächmi  dazu  zu  rechnen. 
W.  Schwering,  Dens  und  divus.  Indog.  Forsch.  84  (1914/5),  1  ff. 
Beide  Wörter  stammen  von  *deivos.  Dens  ist  der  Gottesbegriff, 
die  himmlischen  und  niederen  Gottheiten  umfassend,  so  schon  Capt. 
313,  Aul.  737  und  742,  divus  das  Gottindividuum:  Amph.  52  ff. 
deus  sum,  commutavero  .  .  .  sed  ego  stultior,  quasi  nesciam  vos  velle, 
qui  divos  siem ,  oder  logisch  ausgedrückt :  Divus  ist  das  konträre, 
deus  das  kontradiktorische  Gegenteil  von  homo.  Welcher  GottV 
kann  heißen:  Quis  deum?  Quis  deorum?  Quis  deus?  aber  nur: 
Quis  divum?  (As.  716).  Die  Lyrik  liebt  mehr  das  vielgestaltige 
deus.  Zu  neuem  Leben  wurde  das  altertümliche  Wort  divus  er- 
weckt durch  die  zu  den  Göttern  erhobenen  Kaiser.  Aus  dieser 
Verwendung  erwuchs  dann  erst  in  christlicher  Zeit  der  adjektivische 
Gebrauch. 

E.A.  Sonnenschein,  Tam  .  .  .  quam.  Class.  Rev.  30  (1916),  158 f. 
bespricht  Most  809  und  Pers.  851. 
W.  Coulin,  Plautus  Rud.  826.     Hermath.  17  (1912/13),  178: 

Controversiast  heißt  nicht:  „Ich  stimme  nickt  zu",  sondern: 
„Hier  liegt  eine  Verwandlung  vor",  was  apage  bestätigt:  Palästra 
ist  zum  Mann  geworden  wie  der  Tempel  der  Venus  zu  dem  des 
Herkules. 

VI.  Sprachgebrauch  (Phraseologie)  und  Syntax. 

E.  A.  Sonnenschein,    Ego  Emphatic  and  Unemphatic ,  in  Rises 
and  Falls  of  old  Latin  Dramatic  Verse.     Class.  Philol.  16  (1921), 
231  ff., 
weist  nach ,    daß  zum  Verbum  gesetztes  ego  keineswegs  immer  em- 
phatisch   ist ,    daß    im  Gegenteil  die  Fälle,  in   denen  das  Pronomen 

3* 


36  Oskar  Köhler. 

nur  der  Deutlichkeit  dient  und  nicht  anders  gebraucht  ist  als  in 
den  modernen  Sprachen,  überwiegen,  und  zwar  im  Verhältnis  95  :  74. 

J.  A.  W  a  r  t  e  n  a ,  De  geminatione  figura  rhetorica  omnibus  exemplis 
illustrata,  quae  e  fabulis  Plautinis  et  Terentianis  af'ferri  possunt. 
Diss.  Groningen  1915, 

will    die    „bisher    vernachlässigte"    psychologische  Betrachtungsweise 

auf   die   Gemination    anwenden.     Vgl.    die  Rez.    von  K  ö  h  m ,    Berl. 

philol.  Wochenschr.  1916,  168  flF. 

E.  Lenz,  De  P.  Terenti  Afri  et  T.  Macci  Plauti  figurarum  phoneti- 
carura  usu.      Programm  Hörn   1911, 

zieht  von  Plautus  nur  Capt.,  Men.,  Mil..  Most.,  Pseud.  und  Trin.  in 
den  Kreis  seiner  Betrachtung.  In  diesen  sechs  Stücken  kommen 
1076  Fälle  von  Paronomasie  vor,  in  denen  des  Terenz  728,  während 
in  den  Figuren,  die  es  mit  Wiederholung  desselben  Wortes  zu  tun 
haben,  Übereinstimmung  herrscht.  Bei  beiden  ist  in  den  Cantica 
die  Zahl  der  phonetischen  Figuren  um  mehr  als  ein  Drittel  größer 
als  in  den  Senarszenen. 

E.  Linpinsel,  Quaestiones  Plautinae.  Plautus  qua  ratione  verba 
temporalia  in  versibus  collocaverit  atque  praedicata  obiecta  sub- 
iecta   per  binos  versus  distribuerit.     Diss.  Münster  1918, 

stellt  dar,  wie  bei  Plautus  bereits  der  Satz  über  den  Vers  hinaus- 
gewachsen ist.  Die  verba  finita  stehen  am  Versende  oder  -anfang 
oft  so ,  daß  der  Vers  von  zwei  Verben  eingeschlossen  ist ,  oder  vor 
und  nach  Zäsur  und  Diärese.  Subjekt  oder  Objekt  ist  somit  oft- 
mals durch  Versschluß  vom  Verbum  getrennt. 

H.  Odenthal,  De  formarum  faxo  faxim  similium  in  euuntiatis 
secundariis  condicionalibus  positarum  usu  Plautino.  Diss.  Münster 
1916. 

Zugegeben  ist,  daß  die  optativischen  und  potentialen  Formen 
auf  -sim  und  -rim  aoristisch  sind;  daß  dies  bis  auf  Plautus  auch 
mit  den  Formen  auf  -so  und  -ro  der  Fall  war,  und  wie  sie  all- 
mählich in  Fut.  I  und  II  übergegangen  sind,  wird  an  den  kondicio- 
nalen  Nebensätzen  nachgewiesen. 

E.  H.  Heffner,  The  Sequence  of  Tenses  in  Plautus.  Diss.  Penn- 
sylvania 1917, 

weist  nach,  daß  Plautus  die  consecutio  temporum  beachtet;  wo  Aus- 
nahmen vorliegen,  läßt  sich  bis  auf  ganz  wenig  Fälle  eine  Erklärung 
dafür  geben. 


Jahresbericht  über  Plautus  1912-iy20.  37 

E.  Kiekers,   Zur  direkten  Rede  bei   Plautus  und  Terenz,     Glotta 

10  (1920),  210  f., 
macht    die    Beobachtung,    daß    der    „unechte"    Schaltesatz    und    die 
Ellipse  des  Verbum  dicendi  in  dem  die  direkte  Kede  vorbereitenden 
Satze  schon  bei  Plautus  vorkommt:  Mil.  61  Pulcher  est,  inquit  mihi, 
et  liberalis  und  Trin.  245  f.  Atque  ibi  ille  cuculus :  o  ocelle  mi,  fiat ! 

Ch.  E.  Bennett,  Syntax  of  Early  Latin  II.  The  Cases.  Boston 
19U.    Rez.  von  Schmalz,  Berl.  phil.  Wochenschr.  1915,    559  ff. 

E.  Löfstedt,  Sprachliche  und  epigraphische  Miszellen.  Glotta  4 
(1913),  253  ff.. 

erklärt  Poen.  659  tu   si  te  di  amant,  agere  rem  tuam  occasiost.    Es 

liegt    Ineinanderfließen    zweier   Vorstellungen    vor:    tu    agere    potes 

und  te  agere  occasiost. 

VII.  Ausgaben  und  Textverbesserungen. 

1.  Captivi^  ed.  J.  P.  Waltzing,  Lüttich  und  Paris  1920. 

2.  Menaechmi  ^  ed.  M.  Niemeyer,  Leipzig  1912. 

3.  Miles*  ed.  0.  Köhler,  Leipzig  1916. 

4.  Trinummus  ^  ed.  J.  P.  Waltzing,  Löwen  1913. 

5.  V.  C.  Lindström,  Plautina.     Eranos  11  (1911),   107  ff. 

6.  E.  Wallstedt,  Spieilegium  Plautinum  III,  ibid.  145  ff. 

7.  E.  Löfstedt,  Zu  Plautus.     Eranos  11   (1911),  240  ff. 

8.  J.  Postgate,  PlautineConjectures.  Hermath.  138  (1912),  115  ff. 

9.  W.  M.  Lindsay,  Notes  on  Plautus.    Class.  Quart.  7  (1913),  1  ff. 

10.  Ch.  Exon,  Apriorism  and  some  Places  in  Plautus.     Hermath. 
38  (1912),  52  ff. 

11.  W.  M.  Lindsay,  Adnotatiunculae  Plautinae.     Class.  Quart.  14 
(1920),  49  ff. 

Amph, 

626  ita  nugas  blatis  Septenarende  =  Cure.  452  Senarende :  Die 
1.  Person  heißt  blato ,    nicht  blatio ,   wie  der  Thesaurus  mit  Hosius 
annimmt.     Lindsay  (11). 
Asin. 

10  Huic  Graece  nomen  Onagrost  fabulae.    Meister,  Festschr. 
f.  Bezzenberger,  Göttingen  1921,  S.  1. 

77  Volo    amari    obseculum  (codd.  obsecutum)  illius ,    volo  amet 
me  patrem.     Lindström  (5). 

343    sedebam    e    me    statt    des    überlieferten    sedebam    me    me. 
Löfstedt  (7). 


38  Oskar  Köhler, 

534    hie    äies    sumraus    (quom    est)    apud    me    inopiae  exusatio. 
Löfstedt  (7). 
Aul. 

471   Si  id    palam    fecisset:    (fecisset,    set)  exemi  ex  manu  ma- 
nubrium.     Lind  ström  (5). 
B  a  c  c  h. 

51  Die  Interjektion  peri  =  perii  wird  elidiert  wie  Cist.  287. 
L  i  n  d  s  a  y  (9). 

107  Simul  huic  (nos)  nescio  quoi  turbae,  quae  huc  it,  decedamus 
(sis).  Havet.  Simul  huic  nesciöquoi  turbae,  quae  huc  it,  decedamus 
(hinc).  PI.  zieht  keine  scharfe  Grenze  zwischen  nescioquis  irgend- 
einer und  nesciöquis  ich  weiß   nicht  wer.     Lindsay  (11). 

495 f.  Servatibi  sodalem  (una)  et  mihi  filium.||  Factum  volo,  ||  Melius 
esset  multo,  me  quoque  si  cum  illoc  relinqueres.     Wallstedt  (6). 

544  Sed  sibi  ne  invideatur,  ipsi  ignavia  recte  cavent  und 

546  Atque  etiam  unum  hoc:  Wallstedt  (ö). 

673  Quid  (malurn)  igitur.     Wallstedt  (6). 

738  At    quidem    hercle    ad  rem  perdundam.     Wallstedt  (6). 

797  Bene  navis  agitatur :  pulchre  haec  confertur  ratis  soll  navis 
mit  Leoscher  Verschleifung  zu  lesen  sein  und  an  nave  =  naviter 
anklingen.     Lindström  (5). 

856  Dixin  tibi  ego  illum  te  iuveuturum  qualis  sit.  Wall- 
stedt (6). 

950  dolis  ego  deprensus  ändert  yl  zu  dolis  ego  prensus. 
Exon  (10). 

963  f.  Ab  Helena  cognitum  esse  proditum  Hecubae ;  sed  ut 
olim  ille  se  Blanditiis  (vix)  exemit  et  persuasit  se  ut  amitteret. 
Wallstedt  (6). 

966  Post  cum  magnifico  milite,  urbis  inermus  qui  capit.  Wall- 
stedt (6). 

1068  f.  Hoc  est  incepta  efficere :  evenit  mihi, 

Ut  praeda  ouustus  veluti  ovans  incederem. 

Wallstedt  (6). 

1106  Lindsay  (11)  läßt  den  anstößigen  Vokativ  Philbxene 
weg  und  liest  mit  zweimaligem  Hiat  vor  Personenwechsel:  Salv6.  || 
Et  tu.  II  Unde  agis?  ||  Unde  homo?  Dagegen  verteidigt  Sonnen- 
schein unter  Berufung  auf  den  anapästischen  Rhythmus  mit  Recht 
die  handschriftliche  Lesung  (Class.  Quart.  14  [1920],  81). 
Cap  t. 

69  f.  Juventus  nomeu  indidit  'Scorto'  mi  eo 

Qiiia  iuvocatus  soleo  esse  in  convivio.     Lindsay  (9). 


Jahresbericht  über  Plautus  1912—1920.  39 

102  Quod  quidem  ego  nimis  quam  cupio  cum  impetrassere. 
Wallstedt  (6). 

280  Tum  igitür  ei  quom  tanta  gratia  est,  ut  praedicas.  Wall- 
stedt (6). 

826    proprius    (pro-privus)    hat    in     der    religiösen    Bedeutung 
„fehlerlos"    die    ursprüngliche  Quantität  erhalten.     Waltzing  (1). 
Vgl.  Havet,   Acad.  Inscr.,  Compt.  Rend.   1918,   161. 
Gas. 

23  Eicite  ex  auimo  curam  (fraglicher  Hiat)  atque  alienum  ahes. 
Da  bronzen  im  Altlateiu  dreisilbiges  ahenus  und  viersilbiges  aheneus 
ist  und  nicht  zweisilbiges  aenus  und  dreisibiges  aeneus,  so  ist  hier 
vielleicht  zweisilbiges  ahes  anzunehmen,  und  die  feierliche  Anrufung 
der  Fides  mag  die  alte  Form  erhalten  haben.     Lindsay  (11). 

126  Post  autem  nisi  (si)  tu  ervi  acervom  ederis.  Wallstedt  (6). 

416  Jamne  mortuo's?  ]|  Osteude.  Mea  (ea)  est.  ||  Malacruciast 
quidem.  Da  mala  crux  praktisch  ein  Wort  war,  gab  es  vielleicht 
auch  ein  Kompositum  malacrucia ;  vgl.  Pers.  574  I  sis  [in]  malum 
cruciatum.  II  I  sane  tu  —  hanc  eme ;  ausculta  mihi.  Steckt  auch 
hier  in  malacruciam '?     Lindsay,  Class.  Rev.  33  (1919),  26. 

523  Sed  facito  dum,  per  viam  puer  versus  quos  cantat,  colas. 
Wallstedt  (6). 

536  Sed  eccura  egreditur  (vir)  senati.     Walls-tedt  (6). 
Cist. 

5  f.  Nescio  .  .  .  arbitror ;  it(a)  Omnibus  . .  .  dedistis.  Lindsay  (9). 

7  Eo  ego  vos  amo  et  eo  magnam  a  me  iniistis  gratiam.  Wall- 
stedt (6). 

88  Neque  pudicitiam  meam  mihi  alius  quisquam  imminuit.  || 
Opsecro :  Wegen  der  Prosodie  von  pudicitia  (vgl.  amicitia ,  vereba- 
mini)  hat  A  redigiert  zu  nee  pudicitiam  imminuit  meam  mihi  quis- 
quam alius.     Exon  (10). 

524  Lies  gnatam  für  filiam.     Wallstedt  (6). 

531  Sed    tamen    ibo    et   persequar,    amens    quid    faciat :    cauto 
opust?     Wallstedt  (6). 
Cure. 

44  Nempe    huic    lenoni    qui    hie    habet    mit    Bothe  Lindsay, 
Journ.  of  Philol.  34,  262. 
Epid. 

15  scurra  ist  militärischer  Fachausdruck  für  Stubenhocker.  In 
Trin.  202  Urbani  assidui  cives,  quos  scurras  vocant  ist  Anspielung 
auf  assiduus  =  As-Geber  und  assiduus  =  seßhaft  zu  wittern.  Lind- 
say (11). 


40  Oskar  Köhler. 

65  deperit.  II  (perii)  degetur.     Löfstedt  (7). 

353  meis  his  zu  lesen  für  manibus  bis,  da  liaec  für  haec  manus 
stehen  kann  (Ep.  10)  und  Leos  Theorie  von  der  us-Elision  un- 
haltbar ist.     Lindsay  (9). 

541    Plane    hicinest    qui    mihi    in    Epidauro    primus    pudicitiam 
pepulit  ist  anapästischer  Septenar.    A  ändert,  um  die  durch  Amph. 
930 ,    Ep.  405 ,    Merc.  846    gesicherte  Lösung   von  pudicitia  zu  be- 
seitigen.    Exon  (10). 
Merc. 

598  f.  :=^  842  f.  Die  Verse  sind  ein  wohlbekanntes  Zitat  aus 
einer  der  Tragödien  des  Naevius  oder  Livius  Andronicus,  das  eine 
Mal  von  Eutychus,  das  andere  von  Charinus  gebraucht,  also  an 
beiden  Stellen  stehen  zu  lassen.  In  speratrix  ist  altlateinische  Form 
fiir  prosperatrix  zu  sehen.  Lindsay  (11). 
Mil. 

1138  P  neminem  pol  video  nisi  hünc  quem  adeo  olfacio,  A  streicht 
pol  wegen  der  Prosodie  von  hünc.     Exon  (10). 

1255    will  Klotz,   Philol.  Wochschr.  1921,  392  ff.  lesen  quis- 
vis?  II  Scio. 
Most. 

156  nunc  postquam  nili  sum  —  id  vero  meopte  mit  Aposiopese 
nach  sum.     Löfstedt  (7). 

740  Qui?  II  Quia  venit  navis  nostra(m)  nave  (=  naviter)  quae 
frangat  ratem.     Lindström  (5). 

871  Malum  quom  impluit  ceteros,  ne  impluat  me,  da  der  Dativ 
mi,  den  hier  die  Mss.  haben,  emphatisch  mihi  heißen  müßte.  Lind- 
say (5). 

992  Mihi    nisi    erum  ut    mit  P  zu  schreiben ,    da  erum  hervor- 
gehoben werden  soll.     Lindsay  (9). 
P  ers. 

57  Pater  avos  proavos  abavos  atavos  tritavos.  Plautus  liebt  es 
nicht,  iambische  Verse  mit  Tribrachys  anzufangen,  dessen  Auflösung 
verschiedenen  Wörtern  angehört;  er  meidet  also  itä  facit;  daher 
scheint  hier,  wie  355  und  Mil.  878  die  Skansion  pater  mit  ursprüng- 
licher Länge  vorzuliegen;  ebenso  Poen.  1137  tua  pletas.  Lind- 
say (9). 
Poen. 

1168  Thraecae  sunt:  in  celonem  sustolli  solent:  nach  Art  eines 
Zuchthengstes  pflegen  sie  sich  zu  erheben;  'jCI^Xcov:  o  Inißattcov 
'irntoc,^  admissarius,  Anspielung  auf  die  thrakischen  Pferde ;  vgl.  die 
Geschichte    von  Diomedes    und  Herkules.     Damit   schwindet  wieder 


Jahresbericht  über  Plautus  1912—1920.  41 

ein  Beispiel  der  von  Leo  angenommenen  gemeinsamen  Korruptelen ; 
denn  A  hat  in  celonem .  P  celumne.  Lindsay,  Class.  Quart.  12 
(1918),  140. 

1317  Cur  non  adbibuisti,  dum  istaec  loquere,  tympanum?  mit 
viersilbiger  Messung  von  adbibuisti.     Lindsay  (9). 

1366  P  ut  bünc  festum  diem,  A  tilgt  bunc  wegen  seiner  Pros- 
odie.     Exon  (10). 
Pseud. 

51  vendidit  volüptas  mea  ändert  A  zu  mea  voluptas  vendidit. 
Exon  (10). 

146  f.  Ut  ne  peristromata  quidem  :  Stich.  378  Tum  Babylonica 
et  peristroma  (Plur.)  tonsilia  et  tappetia  und  Trin.  247  Ibi  illa  pen- 
dentem  ferit:  iam  amplius  orat:  non  satis  mit  Choriamb  im  3.  Metrum 
lassen  folgenden  iambischen  Oktonar  mit  Choriamb  im  zweiten  Fuß 
annehmen:  Ut  ne  periströmä  qnidem  äeque  picta  sint  Campanica. 
Lindsay  (11). 

371  eassa  nux  =  gefallene  (taube)  Nuß;  cassus  Part.  Perf.  Dep. 
von  cadere ;  cf.  occaso  sole ;  also  incassum  vergeblich  =  in  casum. 
Lindsay  (11). 

743  meo  me  ludo  lamberas.  In  Rücksicht  auf  Poen.  296  meo 
me  lacessis  ludo  ist  lambero  der  Sinn  von  lambo  zu  geben,  ebenso 
Lucilius  585  lamberat  placentas.  Eine  falsche  Interpretation  des 
Lucilius  war  der  Grund  von  Paul.  Fest.  105,  19  lamberat  =  scindit 
ac  laniat.     Lindsay  (11). 

805  Nemo  illum  quaerit,  qui  optimus  carissimust  ^^  qui ,  cum 
sit  optimus,  carissimust.     Lindsay  (9). 

997  Propera  pellegere  epistulam  ergo.  ||  Id  ago.  tacitus  sis  modo 
mit  A  zu  lesen;  P  hat  si  taceas  modo.     Lindsay  (9). 

1276  Plaüdünt,  'parüm'  cl4mitänt  üt  revörtär  palimbacchisch  zu 
lesen.     Lindsay  (9). 
Rud. 

86  Non  ventus  fuit,  verum  Alcumena  Euripidi.  Die  Lesung 
interpretiert  und  verteidigt  Sonnenschein,  Class.  Rev.  28 
(1914),  40  f. 

150  credo  (e)laverunt  heri.     Postgate  (9). 

601  videbatur  ad  me  simia  adgredirier.  A  hat  wegen  der 
lambenkürzung  im  1.  Fuß  in  videtur  modernisiert.     Exon  (10). 

829  Utpote  sunt  ignavi  homines.     Lindsay  (11). 

1003  arbitratu.  ||  abi.  {|  ita  enim  vero.     Löfstedt  (7). 

1141  non  feret,  nisi  ver(o  e)a  dicet:  nequiquam  hariolabitur. 
PoBtgate  (8). 


42  Oskar  Köhler. 

Stich. 

4  apsentem    ut    est  aequom ,    A    ita    ut    aequomst    beseitigt    die 
lambenkürzung.     Exon  (10). 

9    sed    hic  mea    soror,    A    läßt    mea    weg,    um    bic    zu    messen. 
Exon  (10). 

27  tarnen  si  faciat,  A  modernisiert  zu  tametsi  faciat.  Exon  (10). 

44  tarnen  pol ,    A  quia   pol    ändert    die    plautiniscbe    Skansion 
Exon  (10). 

92  salsura  evanescit.     Postgate  (8). 

167  Audititavi  saepe  boc  volgo  dicier  mit  dem  Frequeutativum 
audititare.     Lindsay  (9). 

213  quot  aütem  potiones,  A  ändert  diese  Prosodie.    Exon  (10). 

237   quis  baec  est,   diese  lambenkürzung  tilgt  A.     Exon  (10). 

256   negäto  esse  quod  dem   nee  mibi  nee  mutuom,  A  bat  wegen 
der  Kürzung  des  elidierten  negato    in  nega  geändert.     Exon  (10). 

339  Nimio  in  parti  multo  tanta  plus  quam  speras.  ||  Salva  sum. 
Die  Überlieferung  ist  zu  halten.     Lindsay  (9). 

451  ea  ibo  opsonatum  ändert  A  fälschlich  zu  ibo  opsonatum 
atque ;  vgl.  Capt.  90  vel  Ire  extra  portam.     Exon  (10). 

597   qui  malüm   tibi  ändert  A  zu  quid   malum.     Exon  (10). 

632  P  quid  es  capturus  consili,  A  beseitigt  den  indirekten 
Fragesatz  und  die  Lesung  es.     Exon  (10). 

636 P ut  pariere  ist  die  bessereLesung,  -4 hat  ut  perier int.  E  x  o  n  (1 0). 

696  Amicam  uter  utrubi  accumbamus?  [|  abi  tu  sane  superior. 
Diese  Lesung  von  P  ist  zu  halten,  da  gegen  die  Kürzung  von  eli- 
diertem amic(am) ,  zumal  im  1.  Fuß,  nichts  einzuwenden  ist.  Der 
Herausgeber  von  A,  dem  diese  Kürzung  nicht  einleuchtete,  setzte 
Mulierem  ein.  Exon  (10). 
Trin. 

188  P  nihil  est  qui  respondeam ,  A  modernisiert  zu  quod  re- 
spondeam.     Exon  (10). 

293  Hisce  ego  te  (de  Bothe)  artibus  gratiam  facio,  ne  colas  neve 
imbuas  Ingenium.  Lindsay  (9)  hält  te ,  da  es  sich  durch  die 
Schmiegsamkeit  der  plautinischen  Ausdrucksweise  erklären  läßt. 

328  P  ego  Uli  facere,  si  tu  non  nevis,  A  mit  klarster  Moderni- 
sierung illi  facere,  nisi  tu  non  vis.     Exon  (10). 

495    Ah! 

Mirum  quin  ti'i  illo  tecum  divitias  feras.  In  den  codd.  sind 
auch  die  außerhalb  des  Metrums  stehenden  Ausrufe  an  den  Zeilen- 
anfang gesetzt,     Lindsay  (9). 

538    Magis    'apage'    dicas,    si    omuiä    me    audiveris.      Jacob- 


Jahresbericht  über  Plautus  1912—1920.  43 

s  0  h  n  s  Hiat  uud  Syllaba  auceps  vor  letztem  Metrum  ist  unbewiesen ; 
me  ist  kennzeichnend  für  die  Biegsamkeit  plautinischer  Ausdrucks- 
weise.    Lindsay  (9). 

768  Ignota  facies  quae  non  visitata  sit.  Die  Überlieferung  ist 
zu  halten,  da  Plautus  vorschwebte  quae  ignota  facies.  Lindsay  (9). 
Truc. 

2  Die  Schreibung  deum  eris  für  de  vostris  läßt  sich  datieren : 
Die  Abkürzung  üeris  für  vestris  findet  sich  nicht  vor  dem  9.  Jahr- 
hundert. Es  zeigt  sich  das  Uugeschick  des  Schreibers  von  B^  der 
ungetrenate  Majuskel  vor  sich  hatte.     Lindsay  (9). 

105  Scistis  ist  zu  halten,  da  Lö  fste  dt  wahrscheinlich  gemacht 
hat,  daß  nach  Analogie  von  novi  auch  scivi  =  scio  und  nescivi  = 
nescio  gebraucht  wurde  (Capt.  265,  Poen.  629).     Lindsay  (9). 

181  Amantes  si  q[ui  non  danunt  —  non  didici  fabulari.  || 

181a  Amans  si  qui  'quod  non  est,  dabo?'  — non  didici  fabu- 
lari.    Lindsay   (9). 

363  Velim ,  si  fieri  possit  P  ist  die  bessere  Lesung,  A  hat 
Vellem  .  .  .  posset.     Exon  (10). 

695  f.  larane  autem  ut  soles?  |  lamne?  ||  Nil  dico.  |j  I  iutro.  Bei 
solcher  Verteilung  entschwindet  die  letzte  Stütze  für  nihil ,  und 
Syllaba  anceps  vor  Personenwechsel  ist  gesichert ,  ein  großer  Fort- 
schritt gegenüber  griechischer  Eintönigkeit.     Lindsay  (11). 

942  Campans  dicit  "^acceptavi'  cousultum  istuc,  mihomo  Lind- 
say nach  brieflicher  Mitteilung.  Class.  Rev.  31  (1917),  132  The 
Festus  Glosses  m  a  Monte  Cassino  Ms.  (Nr.  90)  hatte  er  auf  Grund 
der  falschen  Lesung  Apaavi  vorgeschlagen:  'abaavi'.  (i)  consultum, 
mi  homo ;  jetzt  hat  eine  genauere  Vergleichuug  des  AJ.-Glossars 
aptavi  ergeben,  worin  Lindsay  acceptavi  vermutet. 

Vm.  Naclileben. 

W.  Heyl,  De  Querolo  comoedia.     Diss.  Gießen  1912. 

P.  Dittrich,    Plautus    und  Terenz    in  Pädagogik  und  Schulwesen 

der  deutschen  Humanisten.     Diss.  Leipzig  1915. 
C.  C.  Coulter,    The    Plautine  Tradition    in  Shakespeare.     Journ. 

of  Engl,  and  Germ.  Philol.   19  (1920),   1  ff. 
L.  Havet,  Piaute  Asinaria  540/2.    Rev.  de  philol.  87  (1913),  191. 
W.  Martini,  Die  große  Episode  in  Lessings  dramatischer  Technik. 

Neue  Jahrb.  1920,  341  ff. 
A.  Denecke,  Goethe  und  Plautus.    Lit.  Echo  14  (1911/12),  1034 ff. 

Heyl    handelt    über    die  Abfassungszeit    des  Querolus:    Er    ist 


44  Oskar  Köhler. 

in  rhythmischer  Prosa  geschrieben ,  wie  vor  allem  der  Schluß  der 
Sätze  zeigt.  Der  Dichter  glaubte  damit  die  Verse  des  Plautus  und 
Terenz  nachzuahmen.  So  erklärt  sich  die  Überschrift :  Aululariara 
hodie  sumus  acturi  non  veterem,  at  rudern,  investigatam  Plauti  per 
vestigia.  Die  Aulularia  also  wird  nachgeahmt;  aber  nicht  bloß  an 
Plautus  und  Terenz  finden  sich  Anklänge,  sondern  auch  an  Cicero, 
Virgil,  Juvenal,  Martial,  Petron  und  Horaz.  Der  Verfasser  ist  kein 
archaisierender  wie  Fronto  und  Apuleius;  er  ist,  wie  die  Unter- 
suchung seines  Wortschatzes  ergibt,  in  die  zweite  Hälfte  des  4.  Jahr- 
hunderts zu  setzen. 

Dittrich  weist  nach,  daß  in  Deutschland  im  16.  Jahrhundert 
Plautus  vernachlässigt  wurde  zugunsten  des  Terenz;  vier  Über- 
tragungen des  ganzen  Terenz  im  15. '16.  Jahrhundert  stehen  von 
Plautus  nur  Bacchides  und  Menächmi  1511,  Aulularia  1535,  Me- 
nächmi  1570  \ind  Captivi  1582  gegenüber;  eine  Gesamtübersetzung 
erscheint  erst  Ende  des  18.  Jahrhunderts.  In  den  maßgebenden 
Schulordnungen  der  Zeit  werden  überall  Aufführungen  von  Komödien 
vorgeschrieben,  die  freieres  Auftreten  der  Schüler  hervorrufen  sollen. 
In  dieser  szenischen  Verwertung  der  Dramatiker  beruht  die  Stärke 
der  Pädagogik  des  16.  Jahrhunderts.  Von  der  Lektüre  läßt  sich 
weniger  sagen.  Erst  ganz  allmählich  drang  die  Erkenntnis  vom 
wirklichen  poetischen  Wert  der  antiken  Stücke  durch,  und  langsam 
bildete  sich  durch  Nachahmung  neues  Schaffen. 

Coulter  verfolgt  die  Züge  in  Shakespeares  Dramen,  die  seine 
Bekanntschaft  mit  Plautus  beweisen.  Sie  finden  sich  besonders  in 
den  früheren  Stücken  und  betreffen  die  Inszenierung ,  den  Prolog 
und  Epilog,  das  Wiederfinden  verlorener  Kinder,  Verwechslungen, 
gewisse  Charaktertypen,  Prügelszenen. 

Havet  erinnert  an  eine  Stelle  in  Balzacs  M^decin  de  cam- 
pagne,  die  den  an  As.  540/2  anklingenden  Vergleich  des  Geliebten 
mit  einem  Lamm  enthält,  das  der  Hirt  besonders  ins  Herz  ge- 
schlossen hat. 

Martini  stellt  fest,  daß  Lessing,  der  schon  auf  der  Schule 
den  Plautus  eifi-ig  las  und  ihn  den  Vater  aller  Komödienschreiber 
nannte,  an  der  Technik  der  Alten  nie  ernstlich  gerüttelt  hat.  Wohl 
aber  ist  es  eine  wesentliche  Abweichung  vom  französischen  Brauch, 
daß  in  Minna  (Riccaut),  Emilia  (Orsini)  und  Nathan  (Patriarch)  im 
vierten  Akt  stets  eine  neue,  wichtige  Person  auftritt,  die  nur  an 
dieser  Stelle  erscheint.  Diese  Episoden  gleichen  ihrer  Stellung  uud 
ihrem  technischen  Zwecke  nach  durchaus  denen  im  vierten  Akt  des 
Trin.j  Truc,  Merc,  Poen.,  Pseud.  und  der  Most. :  Bei  Plautus  gibt 


Jahregbericht  über  Plautus  1912—1920.  45 

die  im  vierten  Akt  in  die  Verwicklung  eintretende  Person  den  An- 
stoß zur  scliließlichen  Lösung,  indem  sie  entweder  Geheimnisse  aus- 
plaudert oder  andere  Personen  zu  Geständnissen  veranlaßt.  Zu- 
gleich dienen  diese  Episoden  dazu ,  den  vierten  Aufzug  zu  füllen, 
dramatiscli  zu  beleben  und  komische  "Wirkung  zu  erzielen.  Die- 
selben Zwecke  verfolgt  Lessing  mit  seinen  Episoden ,  nur  daß  er 
viel  persönlicher  und  weniger  gleichförmig  verfährt. 

Denecke  weist  daraufhin,  daß  Goethe  schon  in  früher  Jugend 
den  Plautus  nachahmte.  1806/7  machte  er  den  Versuch,  ihn  auf 
die  "Weimarer  Bühne  zu  bringen.  In  einem  Briefe  an  Salzmann 
vom  6.  März  1773  zeigt  er,  mit  welchem  Eifer  er  Lenz'  Bearbeitungen 
von  Asinaria  (Väterchen),  Aulularia  (Aussteuer),  Miles  (Entführungen), 
Truculentus  (ßuhlschwester),  Curculio  (Türkensklavin)  verfolgte.  Die 
Gretchentragödie,  die  iu  die  Zeit  von  1773/83  fällt,  ähnelt  in  ihrem 
äußeren  Verlauf  den  Intrigenstücken  des  Plautus,  und  zwar  be- 
sonders dem  Curculio ;  auch  der  Brudersoldat  tritt  dort  am  Schlüsse 
auf.  An  den  Prolog  zum  Poenulus  klingen  die  "Worte  des  Direktors 
im  Vorspiel  zum  Faust  an. 


Bericht  über  die  Literatur  zu  Sallust  aus  den  Jahren 

1919-1922^). 

Von 
A.  Kürfeß  in  Charlottenburg. 


Zum  Besten ,  was  über  Sallust  geschrieben  worden  ist,  gehört 
der  tiefschürfende  Aufsatz  der  für  die  Wissenschaft  zu  früh  ver- 
storbenen Lotte  Alheit.  Besondere  Hervorhebung  verdient  die 
kritische  Handausgabe  von  Axel  W.  A  h  1  b  e  r  g ,  die  die  unzuläng- 
liche von  H.  Jordan  ersetzen  soll.  Die  von  dem  um  Sallust  hoch- 
verdienten Herausgeber  Hans  Wirz    noch    in  Angriff  genommene 


')  Zum  letzten  Berichte  (1899—1918)  ist  nachzutragen: 
Zu  I:   *1.  Eene  de  Nack,  Les  prefaces  de  Salluste.   Revue  de  Fribourg. 
28.  Jahrg.  (1907),  S.  499-. 513. 

2.    R.Laqueur,  Ephoroa.  Hermes  (1911),  S.  347  ff.  L.  glaubt,  Sallust 

sei   durch   die   ^TiiSfi^eis  des   Ephoros,    die   auf  Isokrates  zurückgingen, 

beeinflußt;  daraus  erkläre  sich  auch  die  Vernachlässigung  der  Chronologie. 

Zu  IIa:    3.    Rob.  Pöhlm  an n,  Geschichte  des  antiken  Kommunismus  und 

Sozialismus.     Bd.  II.     München  1903  (S.  479-486). 

4.    Münzer,  Die  Todesstrafe  politischer  Verbrecher  in  der  späteren 
röm.  Republik.     Hermes  XXXXVII  (1912),  S.  161  ff.  (zu  Cat.  50/51). 

*5.  Hermann  B.  G.  Speck,  Catilina  im  Drama  der  Weltliteratur. 
Ein  Beitrag  zur  vergleichenden  Stoffgeschichte  des  Römerdramas.  Leipzig 
1906  (Breslauer  Beiträge  zur  Lit.-Gesch.  hg.  von  Max  Koch  und  G.  Sarrazin). 
Vgl.  J.  Ziehen,  WS.  f.  kl.  Phil.  1906,  S.  1196. 
Zu  IIb:  6.  E.  Müller-Graupa,  Mapalia.  Philol. LXXIII (1914),  S.  302 ff. 
(zu  Jug.  18). 

7a).    *A.  Winkler,  La  bataille  du  Muthul.  Revue  Tunesienne  1907, 
S.  493-503. 
b)   R.  O  e  h  1  e  r,  Neue  Forschungen  zur  Schlacht  am  Muthul.  Jahresh. 
des  österr.  arch.  Inst.  XII  (1909),  S.  327—340. 
8.    D.  Detlefsen,  Zu  Charisius.     Hermes  XL  (1905),  S.  318 f.    Da- 
nach findet  sich  Exe.  Bobiensia  p.  552,  37  ein  Sallustzitat  (Jug.  89).    Das 
hat  schon  Goetz,   Ind.  lect.  len.  1888,   IX  (vgl.  C.  Gl.  L.  VII  260)  ver- 
bessert, Avie  P.  Weßner,  BuJb.  130  (1908  II,  S.  119),  gezeigt  hat. 
Zu  III:    9.    Pubblicazioni  della  societa  italiana  per  la  ricerca  dei 
Papiri  greci  e  latiiii  in  Egitto.    Vol.  I.    Florenz  1912.    Dort  finden  sich 
S.  180  f.   (Nr.   110)   Bruchstücke    aus   Sali.   Cat.    10   und   11    mit  darüber- 
geschriebenen griechischen  Glossen:  ühei  venalia  (10,  4):  TTQaatfxa,  subegit 


Bericht  über  die  Literatur  zu  Sallust  aus  den  Jahren  1919—1922.      47 

11.  Auflage  der  erklärenden  Ausgabe  hat  A.  Kurfeß  zu  Ende 
gefuhrt. 

Die  Echtheit  der  unter  Sallusts  Namen  erhalteneu  Epistulae 
ad  Caesarem  de  re  publica  scheint  durch  die  Dissertation 
von  Otto  Gebhard  t  und  die  Klauselmethode  Novotnys  erwiesen. 
Von  diesen  interessanten  Dokumenten  liegt  jetzt  auch  eine  kritische 
Sonderausgabe  von  A.  Kurfeß  vor. 

Was  endlich  die  Invektive  gegen  Cicero  betrifft,  werden 
neuerdings  immer  mehr  Stimmen  laut ,  die  für  die  Echtheit  ein- 
treten, bzw.  dafür,  daß  das  Schriftstück,  wie  Reitzen stein  nach- 
gewiesen hat,  im  Jahre  54  verfaßt  ist,  während  Ed.  Schwartzens 
Piso-Hypothese  wohl  endgültig  aufgegeben  ist. 

I.  Sallusts  Leben  und  Werke. 

In  erster  Linie  sei  auf  den  ausführlichen  und  im  ganzen  über 
das  Problem  gut  orientierenden  Artikel  „Sallustius"  von  Funaioli 
in  Pauly-Wissowas  Realencycl.  2.  Reihe  I,  2  (Sp."  1913— 1955) 
[Stuttgart    1920]    verwiesen.      Gleichzeitig    hat    der    Referent    seine 


(10,5):  xaT7]vayxnafv,  in  (om.  codd.)  promptum  (ibid.)  sv  tw  nQoyiQwi,  pri- 
vatim (11,  6):  iSitt^  profanaque  (ibid.):  tu  utxoa  ifQu.  Für  die  Überlieferung 
bietet  dieser  Papyrus  (saec.  IV)  nichts  Wesentliches :  er  schreibt  jmpJice 
(11,  6)  igitur  (ei  ora.)  milites. 
Zu  yi :  10.  Kurt  Lerche,  De  quippe  particula.  Bresl.  philol.  Abh. 
41.  Heft.     Breslau  1910.    (Vgl.  Schmalz,  BphWS  1912,  S.  1323). 

11.  W.  Havers,  Untersuchungen  zur  Kasussyntax  der  indo- 
germanischen Sprachen.  Straßburg  1911.  Sie  erstrecken  sich  auf  den 
sog.  Dat.  .sympatheticus,  mit  dem  der  Gen.  abwechselt.  Im  Gegensatz 
zu  Cicero,  bei  dem  dieser  Dat.  hauptsächlich  auf  das  Pron.  der  1.  und 
2.  p.  beschränkt  ist,  halten  sich  bei  Sallust  Gen.  u.  Dat.  die  Wage 
(Anlehnung  an  archaische  Muster):  Vgl.  W.  Kroll,  Glotta  V,  340  ff 

12.  Kurt  Cybulla,  De  Rufini  Antiochensis  commeutariis.  Diss. 
Königsberg  1907.  Nach  den  Besprechungen  von  I.  K.  Wagner,  WS.  f. 
kl.  Phil.  1907,  1168  ff.,  nimmt  C.  über  Pompeius  Messalinus  mit  Unrecht 
an,  dieser  habe  einen  proprium  libellum  de  Sallustü  sermone  geschrieben ; 
vielmehr  sei  aus  den  Worten  nunc,  si  videtur,  Sallustianae  periodi  numeros 
inspiciamus  (wo  Sallustianae  betont  sei),  nur  zu  schließen,  daß  Pomp, 
vorher  eine  Stelle  aus  einem  Rhetor  analysiert  habe  und  nun,  um  zu 
zeigen,  daß  die  Gesetze  der  rhythmischen  Prosa  auch  für  andere  als 
rednerische  Prosa  gelten,  eine  Stelle  aus  einem  Geschichtsschreiber  vor- 
genommen habe.  Als  Beispiel  habe  ihm  der  Anfang  von  Sali.  Historien 
am  nächsten  gelegen.  Damit  falle  auch  der  Hauptgrund  für  die  Identi- 
fikation des  Pomp.  Messalinus  mit  dem  bei  Sueton.  de  gramm.  15  er- 
wähnten Lenaeus,  dem  Freigelassenen  des  Pompeius. 

Vgl.  auch  S.  49  W.  Jaeger  und  K.  Strenger. 


48  A.  Kurfeß. 

„Einleitung"  für  die  11.  Auflage  der  Jacobs-Wirzischen  erklärenden 
Ausgabe  [s.  unten  IV  2  b]  fertiggestellt.  Einen  kurzen  Überblick 
über  Sallusts  Leben  gibt  A.  Eosenberg,  Einleitung  und  Quellen- 
kunde zur  römischen  Geschichte,  Berlin  1921  (S.  173  f.).  Auch  sei 
hier  verwiesen  auf  Franz  Kramer,  Der  lateinische  Unterricht, 
Berlin  1919  (S.  448-451)').  Über  das  Nachleben  Sallusts  gibt 
«ine  gute  Zusammenstellung  Schanz,  Gesch.  d.  röm.  Lit.  IV  (Index). 
Im  einzelnen  kommen  folgende  Schriften  in  Frage : 

1.  LotteAlheit,  Charakterdarstellung  bei  Sallust.   Neue  Jahrb.  43 
(1919),  S.  17—53. 

2.  Otto  Gebhardt,  Sallust  als  politischer  Publizist  während  des 
Bürgerkiieges.     Diss.  Halle  1920  [vgl.  unten  VII,  3]. 

3.  K.  Münscher,  Xenophon  in  der  griechisch-römischen  Literatur, 
Leipzig  1920  (=  Philologus,  Suppl.  XIII,  2). 

4.  Ed.  Norden,  Die  germanische  Urgeschichte  in  Tacitus'  Germania 
Leipzig-Berlin  1920. 

Nach  L.  Alheit  (1)  ist  Sallust  weniger  Historiker  als  Partei- 
schriftsteller, der  seine  Feder  ganz  in  den  Dienst  der  praktischen 
Politik  stellt.  Er  charakterisiert  die  Menschen  als  Typ,  als  An- 
gehörige einer  Partei.  So  behandelt  die  Verfasserin  zunächst  den 
Nobilis,  dann  den  Demokraten.  Die  Nobilität  verfolgt  nur  egoistische 
und  parteipolitische  Ziele  und  ist  darum  vom  ethischen  Standpunkt 
aus  zu  verwerfen.  Im  Catiliua  führt  uns  Sallust  die  verrottete  Nobilität 
vor  Augen,  im  Jugurtha  zeigt  er  sie  auf  dem  Weg  des  Verderbens 
in  den  Historien,  die  übrigens  einen  ruhigeren  Ton  zeigen,  legt  er 
die  Zerrüttung  des  Staates  durch  die  Adelsherrschaft  klar.  Die 
Gesellschaft  ist  schuld  an  den  Fehlern  des  Individuums,  bei  dessen 
Charakterzeichnung  sich  im  Jugurtha  im  Vergleich  zum  Catilina 
ein  gewaltiger  Fortschritt  feststellen  läßt.  A.  sucht  nun  klarzustellen, 
wie  S.  es  erreicht,  durch  Lob  und  Tadel  die  Nobiles  als  staats- 
verderblich hinzustellen.  Die  drei  Haupttypen  des  Nobilis  sind 
Catilina ,  die  hervorstechendste  Hauptfigur  der  Epoche,  die  er  der 
Figur  des  Sulla  nachgebildet  hat,  der  „dämonische"  Sulla,  dessen 
Bedeutung  er  trotz  seines  Hasses  anerkennt,  und  Pompejus,  ein 
Epigone,  aber  glühend  vor  Herrschsucht.  —  Die  typische  Demokratie 


*)  Gefreut  habe  ich  mich,  bei  Ed.  Spranger,  Humanismus  und 
Jugendpsychologie,  Berlin  1922  (S.  35),  zu  lesen:  „Ich  erinnere  mich,  daß 
mir  in  Obersekunda  an  Sallust  zum  erstenmal  aufging:  das  ist  ein  Mensch. 
Von  Stund  an  begann  mir  das  Altertum  etwas  zu  sein.  Der  Anstoß  ging 
aber  von  dem  mehr  modernen  Typus  aus." 


Bericht  über  die  Literatur  zu  Sallust  aus  den  Jahren  1919—1922.      49 

bildet  für  Sallust  die  Verkörperung  der  Gesellschaft.  Im  Catilina 
ist  Cäsar  (im  Gegensatz  zu  Cato)  der  Hort  der  Freiheit  und  des 
Volkes;  den  Höhepunkt  des  Jugurtha  bildet  die  Persönlichkeit  des 
Marius,  der  glänzendste  Typ  der  Demokratie ;  in  den  Historien  war 
Sertorius  als  möglichst  tadelloser  Charakter  geschildert.  Diese  partei- 
politische Einstellung  hinderte  den  Sallust,  ein  großer  Historiker  zu 
sein,   ein  großer  Künstler  war  er  doch. 

Gebhardt  (2)  zeigt  im  Schlußkapitel,  daß  Sallust  auch  in 
seinen  historischen  Monographien  Tendenzschriftsteller  geblieben  ist. 
Er  wollte  in  seinen  Geschichtswerken  keineswegs  bloß  sagen,  „wie 
es  eigentlich  gewesen  sei";  er  wollte  vielmehr  auf  seine  Zeit  politisch 
wirken  (ähnliph  wie  Heinrich  v.  Treitschke).  „Sallust  hatte  sich 
dem  Eroberer  Galliens  aus  reinem  Egoismus  angeschlossen,  geradeso 
wie  Curio.  Beide  sind  an  dieser  Allianz  zugrunde  gegangen.  Curio 
fiel  als  tapferer  Offizier  auf  dem  Schlachtfeld;  Sallust  erlebte  vor 
Gericht  seinen  politischen  Bankrott.  Aber  dieser  Zusammenbruch 
vermochte  den  Kampfesmut  des  genialen  Taugenichts  nicht  zu  dämpfen. 
Er  vertauschte  nur  das  parlamentarische  Schlachtfeld  mit  dem  der 
politisch-historischen  Publizistik.  Die  politische  Leidenschaft  ist  ihm 
bis  zu  seinem  Tode  treu  geblieben ;  sie  ist  es  auch,  die,  unterstützt 
von  packender  Darstellungskraft ,  den  Leser  seiner  Schriften  noch 
heute  in  seinen  Bann  zwingt." 

Was  nun  Sallusts  Vo  rbild  er  anlangt,  so  weist  Münscher  (3) 
drei  Stellen  aus  Xenaphon  nach.  Cat.  13,  3  ==  Mem.  II  1,  30, 
Jug.  107,  1  =  Cyrup.  III  3 ,  45 ,  Jug.  10,  4  =  Cyrup.  VIII  7, 
13 — 14.  —  Auf  das  Verhältnis  des  Sallust  zu  Poseidonios  kommt 
Norden  (4)  S.  145  ^  zu  sprechen :  „Auf  die  reflexionsmäßige  Haltung 
der  Proömien  — ■  von  , Philosophie'  zu  reden ,  wäre  doch  eine  zu 
große  Ehre  —  ist  in  diesem  Sinne  oft  hingewiesen  worden,  zuletzt 
wohl  von  W.  Jäger,  Nemesios  v.  Emesa  (Berlin  1914)  130  f.  Eine 
bisher  meines  Wissens  übersehene  wichtige  Ergänzung  bietet  ein 
Vergleich  des  langen  Exkurses  de  moribus  mutatis  Cat.  5,  9  —  c.  13 
mit  dem  großen  Proömium,  mit  dem  Poseidonios  die  Erzählung  de» 
Marsischen  Krieges  einleitete  (bei  Diodor  XXXVII  3) ;  die  Kongruenz 
der  Betrachtungsweise  ist  hier  besonders  augenfällig."  Dagegen 
erscheint  Norden  die  Benutzung  des  Poseidonios  für  die  Geschichts- 
erzählung im  Jugurtha  nicht  erweisbar  trotz  der  auffallenden  Kon- 
gruenz zwischen  Strabo  XVII  831  (=  Poseid.)  i^v  ös  7]  TtQcg  rfj 
MavQovaiq  (xaiQu)  TtQoooöixtüttQa  re  xal  6vvaixL/.o)i;iQa  und  Sali. 
Jug.  16,  5  quae  pars  Numidiae  Mauretaniam  atlmgit  agro  virisque 
opulentior  [K.  Strenger,  Strabos  Erdkunde  von  Libyen  (Berlin  1913), 

Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft  Bd.  192  (1022.  II).  4 


50  A-  Kurfeß. 

S.  12].  Jedenfalls  geht  der  ethnograpliisclie  Exkurs  Jug.  17  ff. 
nicht  auf  Poseidonios  zurück.  —  Auch  auf  das  Nachleben  Sallusts 
kommt  Norden  a.  a.  0.,  S.  411^  und  471  zu  sprechen.  Prokopios 
hat  schwerlich  von  dem  berühmten  Exkiirs  über  den  Pontos  im 
III.  Buch  der  Historien  Kenntnis  gehabt.  Sein  Zeitgenosse  Laurentius 
Lydus  (de  mag.  prooem.  p.  1,  15  III  p.  93,  22  Wünsch)  verdankt 
sein  Zitat  aus  dem  I.  Buch  der  Hist.  den  Vergilscholien.  „Wo  spätere 
lat.  Autoren  Geographisches  über  den  Pontus  berühren,  ptiegen  sie 
ihre  Kenntnis  dem  Exkurs  im  III.  Buch  der  Hist.  zu  verdanken. 
Da  nun  von  19  uns  erhaltenen  Fragmenten  dieses  Exkurses  nicht 
weniger  als  10  dem  Servius  verdankt  werden ,  so  wird  die  Ver- 
mutung, daß  er  ihm  auch  seine  Kenntnis  der  pontischen  Hercules- 
säuk'u  entnahm  (zu  Aen.  XI  262) ,  um  so  mehr  erlaubt  sein,  als 
Sallust  in  dem  Exkurse  über  Sardinien  in  B.  II  auf  die  Wanderungen 
des  Hercules  im  Westen  zu  sprechen  kam ,  wobei  er  auch  die 
spanischen   „Säulen"   erwähnt  haben  muß   (vgl.  fr.  4,  5  Maur.). 

Interessant  ist  es  auch,  zu  sehen,  wie  Sallusts  historische  Er- 
kenntnis fortschreitet.  Vgl.  Th.  Birt,  BphWS.  1920,  S.  670,  Anm.  9  : 
.,Bei  Sali.  Jug.  114  sind  die  Cimbern  und  Teutonen  noch  Galli; 
die  Historien  schrieb  er  später,  und  da  erscheinen  die  Germanen. 
Die  Unterscheidung,  die  Cäsar  in  seinem  VI.  Buch  vollzog ,  setzte 
sich  eben  nicht  gleich  durch ;  erst  in  Anlaß  des  Sklavenkrieges  gab 
Sallust  ihr  Folge." 

II.  Die  eiuzelnen  Schriften. 

a)  Coniuratio  Catiliuae. 

1.  A.  Rosenberg,  Einleitung  und  Quellenkunde  zur  römischen 
Geschichte.  Berlin  1921  (56.  C.  Sallustius  Crispus:  Bellum 
Catilinarium,   S.   174 — 177). 

2.  0.  Gebhardt,  Diss.  Halle  1920  [S.  YII,  3]. 

3.  W.  Drumann,  Geschichte  Koms  in  seinem  Übergange  von  der 
republikanischen  zur  monarchischen  Verfassung.  2.  Aufl.  hg.  von 
P.  Groebe.  5.  Bd.:  Pomponii,  Porcii,  Tulli.  3.  Teil  (Schluß 
des  Bandes).     Leipzig  1919. 

4.  F.  ilünzer,  Komische  Adelsparteien  und  Adelsfamilien.  Stutt- 
gart 1920. 

Kosenberg  (1)  läßt  Sallust  die  Aufgabe  übernehmen,  der 
Wirkung  der  nach  Ciceros  Tode  im  Jahre  42  herausgegebenen 
Schrift    de    consiUis,    in    der    Cäsar    rücksichtslos    als    Anstifter    der 


Bericht  über  die  Literatur  zu  Sallust  aus  den  Jahren  1919—1922.      51 

Catilinarischen  Verschwörung  bezeichnet  war ,  kraftvoll  entgegen- 
zutreten. Dieser  tat  das  nicht  in  der  Form  des  schlichten  commcnta- 
rius ,  sondern  schuf  ein  voraussetzungsloses  Kunstwerk,  als  ob  der 
Stoff  nur  künstlerisches  und  ethisches  Interesse  hätte.  „So  trägt 
das  Bellum  Catilinarium  seinen  merkwürdigen  Zwittercharakter 
zwischen  Geschichtswerk  und  politischer  Broschüre.  Mit  der  letzteren 
hat  es  den  kleinen  Umfang  gemein  sowie  die  schlichte  Erzählung 
der  Tatsachen ;  die  dramatische  Ausmalung  der  Einzelszenen,  wie 
sie  der  künstlerischen  hellenistischen  Geschichtschreibung  eigen  war, 
fehlt  durchaus.  Dagegen  mahnt  an  ein  Geschichtswerk  die  kunst- 
volle, durch  alle  Effekte  eines  vollendeten  Redners  gehobene  Sprache 
sowie  die  Einlegung  von  Reden  und  Charakteristiken  der  Haupt- 
personen. Seine  stilistischen  Muster  suchte  Sallust  in  Thukydides 
und  Cato,  aber  von  den  jüngeren  römischen  Historikern  hat  er  sich, 
wie  es  scheint,  keinem  so  verwandt  gefühlt  wie  dem  Fannius.  Mit 
ihm  trifft  er  zusammen  in  der  durchaus  politischen  Färbung  der 
Darstellung,  die  bei  beiden  sich  gegen  die  Nobilität  richtete,  ferner 
in  der  Aufnahme  großer  Parteireden  und  eindringlicher  Charakte- 
ristiken. Es  scheint  sogar,  daß  auch  Fannius  seinem  "Werke  ein 
Proömium  allgemeinen,  philosophischen  Inhalts  vorausgeschickt  hat, 
so  wie  es  Sallust  zu  tun  pflegt.  —  Eine  ,catilinarische  Verschwörung' 
im  gewöhnlichen  Sinne  des  Wortes  hat  es  rjie  gegeben.  Tatsächlich 
war  Catilina  in  den  Jahren  63 — QQ  nur  ein  Gehilfe  der  Popular- 
partei  und  ihrer  Führer  Cäsar-Crassus  im  Kampf  gegen  die  Optimaten 
und  Pompejus.  Indessen  hatte  Cicero  in  seinen  , Catilinarischen 
Reden'  eine  andere  Auffassung  vertreten.  Er  kämpft  äußerlich  nur 
gegen  Catilina  und  dessen  Sozialrevolutionäre  Freunde  .  .  .  Zweitens 
hatte  Cicero  in  einer  Taktik,  die  dem  Parteikampf  aller  Zeiten  eigen 
ist,  den  Gegensatz  vom  politischen  auf  das  moralische  Gebiet  hinüber- 
gespielt und  seine  Gegner  als  Lumpen  und  Verbrecher  schlimmster 
Art  hingestellt.  Dagegen  in  der  Schrift  de  consilUs  brauchte  Cicero 
keine  Rücksicht  zu  üben  .  .  .  Sallust  appelliert  nun  gewissermaßen 
von  dem  Cicero  der  ,con8ilia'  an  den  Cicero  der  , Catilinarischen 
Reden'  .  .  .  Im  ganzen  genommen  ist  freilich  das  , Bellum  Cati- 
linarium' eine  wenig  erfreuliche  Arbeit ;  denn  Sallust  hat  hier  mit 
vollem  Bewußtsein  die  Geschichte  der  Jahre  64  und  63  verfälscht 
und  aus  Catilina  einen  Romanhelden  gemacht." 

Gebhardt  (2)  glaubt  (S.  19  f.),  Sallust  habe  sich  für  die 
Augriffe  Ciceros,  der  sich  auch  in  dem  Sensatiousprozeß,  der  nach 
Ablauf  seiner  Statthalterschaft    in  Afrika  gegen  Sallust  angestrengt 

wurde,  als  Redner  beteiligt  habe,    in  feiner,    geistvoller  Weise ,  die 

4  * 


52  A.  Kurfeß. 

alle  plumpen  Sclimähungen  geschickt  gemieden  habe,  gerächt:  „im 
Catilina.  der  Anklageschrift  gegen  die  verrottete  Nobilität,  die  ihn 
gestürzt  hatte.  In  der  Darstellung  des  Anarchistenputsches  der 
sechziger  Jahre  billigte  er  dem  Konsul  des  Jahres  63  v,  Chr.,  dem 
die  Aufdeckung  und  Unterdrückung  jener  Verschwörung  der  Stolz 
seines  ganzen  Lebens  war  und  blieb,  nur  eine  kümmerliche  Statisten- 
rolle zu  und  umgab  auf  dem  Höhepunkt  der  Catilinatragödie,  in 
der  Seuatssitzung  vom  5.  Dez.,  den  strengen  Moralisten  Cato,  der 
nur  designierter  Volkstribun  war,  mit  allem  Glanz  des  Siegers,  der 
die  Mehrheit  des  Senates  durch  seine  Rede,  die  über  die  Ver- 
schworenen das  Todesurteil  aussprach,  mit  sich  fortriß.  Aus  Ciceros 
eigenen  Briefen  wissen  wir,  wie  bitter  er  eine  Schmälerung  seiner 
Verdienste,  die  ihm  den  Ehrentitel  , Vater  des  Vaterlandes'  ein- 
gebracht hatten,  gerade  in  diesem  Punkte  empfand.  So  sprach  er 
Atttikus  unverhohlen  seine  Entrüstung  aus ,  daß  Brutus  in  seiner 
Lobschrift  auf  Cato  ihm ,  dem  Helden  des  5.  Dezember,  nur  die 
dürftige  Rolle  eines  Berichterstatters  und  willenlosen  Gefolgsmannes 
Catos  zuerkannt  hatte.  Cic.  ad  Att.  XH  21,  1  (17.  März  45  v.  Chr.) 
mc  autem  hie  laudat,  quod  rettulcrim,  non  quod  patefecerim,  Worte,  die 
Saliust  boshaft  in  seine  Darstellung  übernimmt:  Cat.  50,  3  consiil  .  .  . 
conrocato  senatu  refert ,  quid  de  eis  fieri  placeat.  Brutus  hatte  dem 
Retter  des  Vaterlandes  nur  das  Lob  ,optimus  consul'  zugebilligt, 
und  Saliust  hatte  nichts  Eiligeres  zu  tun,  als  seinen  Feind  gleich- 
falls mit  diesem  nichtssagenden  Prädikat  in  seiner  Darstellung  zu 
beehren:  Cat.  43,  1  belUque  gravissunii  invidiam  optumo  consiili 
imponeret.  Das  alles  spricht  dafür,  daß  Saliust  einen  Lebenden, 
keinen  Toten  damit  treffen  wollte ;  er  konnte  von  Ciceros  Unwillen 
über  die  Herabsetzung  seiner  Verdienste  durch  Brutus  bei  dem 
Mitteilungsbedürfnis  des  Redners  gegenüber  andern  wissen.  Dann 
wäre  der  ,Catilina'  noch  zu  Lebzeiten  Ciceros,  etwa  im 
Jahre  43  v.  Chr.,  als  dieser  als  Vorkämpfer  der  Nobilität  auf  dem 
Höhepunkt  seiner  Macht  stand,  nicht  erst  nach  seinem  Tode  er- 
schienen." 

Drumann-Groebe  (3)  suchen  auf  S.  517 ff.  auf  Grund  des 
gesamten  historischen  Materials  eine  ausführliche  Darstellung  der 
Verhandlungen  im  Senat  am  5.  Dez.  63  zu  geben.  Über  Cäsars 
Gutachten  S.   520  ff.,   über  Catos  Gutachten  S.   533  ff. 

Münz  er  (4)  schließt  sich  S.  272  f.  der  Ansicht  von  Ed.  Schwartz 
(Hermes  32,  564.  570)  an,  daß  Saliust  in  Sempronia  den  Sohn, 
den  Cäsarmörder  Dec.  Brutus,  den  die  Getreuen  Cäsars  als  Verräter 
am  bittersten  haßten,    habe  treffen  wollen,  und  vermutet,  daß  diese 


Bericht  über  die  Literatur  zu  Sallust  aus  den  Jahren  1919—1922.     gg 

Frau  „von  holiem  Adel  und  hohem  Reiz,  von  feinster  Bildung  und 
glänzendster  Begabung,  von  kühnem  Ehrgeiz  und  zügelloser  Leiden- 
schaft" das  Kind  der  alten  Stiefschwester  ihres  Mannes  gewesen  sei, 
d.  h.  „die  echte  und  rechte  Tochter  eines  Vaters,  dessen  Cicero  und 
seine  Altersgenossen  mit  einer  Mischung  von  Ehrfurcht  und  Schauder 
gedachten,  des  großen  Tribunen  G.  Gracchus.  In  Geist  und  Wesen 
war  jedenfalls  die  Sempronia  Sallusts  diesem  größten  Träger  des 
Semproniernamens  nicht  unähnlich".  —  (S.  349.)  Silanus  mußte 
sich  in  der  Senatssitzung  vom  5.  Dez.  63,  in  der  er  als  designierter 
Konsul,  zuerst  um  seine  Meinung  gefragt,  die  Todesstrafe  für  die 
Catilinarier  beantragt  hatte,  als  er  unter  dem  Eindruck  von  Cäsars 
Ausführungen  den  Antrag  mit  einer  gewundenen  Erklärung  zurückzog, 
von  seinem  Schwager  Cato  eine  scharfe  öffentliche  Zurechtweisung 
gefallen  lassen,  die  allerdings  Sallust  in  seiner  Rede  (Cat.  51)  ge- 
strichen hat  (doch  vgl.  Plut.  Cat.  min.  23,  1).  ^) 

b)  Bellum  Jugurthinum. 

Nach  A.  Rosenberg  (a.a,0.,  S.  177— 179,  §  57:  C.  Sallustius 
Crispus:  Bellum  Jugurthinum)  ist  auch  diese  Schrift  eine  „Tendenz- 
arbeit, die  die  Unfähigkeit  des  Nobiles,  den  Staat  zu  regieren,  zeigen 
soll.  Auf  der  anderen  Seite  konnte  in  C.  Marius  ein  Heros  der 
Popularpartei  gefeiert  werden  .  .  .  Weil  Sallust  selbst  Politiker  durch 
und  durch  war,  konnte  er  der  größte  politische  Historiker  werden, 
den  Rom  hervorgebracht  hat.  Die  Darstellung  ist  zwar  einseitig 
nach  dem  Parteistandpunkt  des  Verfassers  orientiert,  aber  Geschichts- 
fälschungen wie  im  ,Catilina'  sind  hier  nicht  nachgewiesen".  [Doch 
sind  die  Ereignisse  in  tendenziöser  Absicht  stilisiert;  vgl.  die  Diss. 
von  C.  Lauckner,  Leipzig  1911  (Jb.  1920,  II,  S.  140 ff.),  die 
merkwürdigerweise  Rosenberg  nicht  zitiert].  Für  die  Urgeschichte 
Libyens  hat  Sallust  eine  punische  Schrift  benutzt,  die  er  während 
seines  dienstlichen  Aufenthaltes  iu  Afrika  sich  hat  übersetzen  lassen. 
Mit  Recht  weist  R.  die  Historien  des  Sisenna    als  Quelle  des  b.  J. 


^)  Vgl.  auch  W.  iSchönbrunn,  Erziehung  zum  kritischen  Denken 
bei  der  Lektüre  lat.  Klassiker  (Cic.  I.  Catil.).  Berlin  1921.  —  Durch  die 
Lektüre  Sallusts  erhalten  wir  das  Bild  eines  sehr  nervösen  und  reizbaren 
aber  außerordentlich  stark  empfindenden  Menschen ;  Catilina  ist  ein  Idealist 
und  Schwarmgeist,  der  sich  zur  Rettung  und  Befreiung  des  geknechteten 
Volkes  berufen  fühlte.  Seh.  zeigt  nun,  wie  es  dem  „Streber"  Cicero  ge- 
lungen ist,  „diesen  Schwärmer  zum  größten  Schweinehund  und  Verbrecher 
zu  stempeln,  zum  Vaterlandsverräter,  zum  sinnlosen  Mörder  und  Mord- 
brenner, zum  schamlosen  Räuber  und  Totschläger". 


54  A.  Kurfeß 

zurück;  die  polemischen  Worte  (c.  95)  bezielieu  sich  nur  auf  Siseunas 
Äußerungen  über  die  Persönlichkeit  Sullas. 

c)  Historiae. 

A.  Rosenberg,  a.  a.  0.,  S.  179 — 181:  „Sallust  ist  allmählich 
vom  Parteijournalisten  zum  wirklichen  Geschichtschreiber  empor- 
gestiegen .  .  .  Daß  die  Historien  gar  keine  politische  Tendenz 
haben  sollen,  ist  bei  dem  Charakter  ihres  Verfassers  gerade  nicht 
anzunehmen.  Zunächst  wurden  wieder  die  Fehler  der  Nobilität  ge- 
geißelt. Sodann  war  das  Buch  ein  Protest  gegen  den  pompeianischen 
Gedanken  .  .  .  Sallust  suchte  zu  zeigen,  daß  der  alte  Pompejus 
weder  ein  ,großer'  noch  ein  sympathischer  Mann  gewesen  ist.  In 
Spanien  habe  er  trotz  aller  Anstrengungen  den  wirklichen  Helden 
Sertorius  nicht  überwinden  können ,  und  die  Hauptarbeit  gegen 
Mithradates  habe  Lucullus  geleistet,  den  nur  die  Intrigen  seiner 
Feinde  um  die  Frucht  seiner  Siege  gebracht  hätten.  Pompejus  habe 
nur  in  maßloser  Eitelkeit  seine  eigene  Persönlichkeit  überschätzt 
und  durch  Reuommierberichte  den  Senat  zu  täuschen  gesucht ;  einen 
solchen  Mann  als  ,römischen  Alexander'  hinzustellen,  sei  geradezu 
lächerlich."  —  Über  den  Vorkämpfer  der  Popularpartei  und  Historiker 
C.  Licinius  Macer  vgl.  Rosenb  erg,  a.  a.  0.,  S.  136  f.  —  über 
Lepidus  und  seine  Rede  vgl.  Münzer,  a.  a.  0.,  S.   311. 

III.  Überlieferung. 

A.  Kurfeß,  Zu  Sallust  III.  BphWS.  1920,  S.  1172  ff.  gibt 
die  "^Lesarten  eines  alten  Leipziger  Druckes'  der  orationes  et  €i)htolae. 
auf  den  L.  Lange  (Leipz.  Stud.  2  [1879]  S.  290)  aufmerksam  machte, 
ohne  eine  Kollation  mitzuteilen.  Es  ist  die  einzige  Sonderausgabe, 
die  wir  haben;  Jahr  und  Druckort  sind  nicht  beigefügt.  Die  Les- 
arten schließen  sich  eng  an  die  Editio  princeps  (Rom  1475)  an. 
Archaische  Formen  sind  nur  überliefert:  (Ahlberg  1919),  p.  149,  20 
pessumc,  152,  21  novos,  156,  2  advorsa,  157,  38  quamvis  (=  quom 
vis),  besonders  auffallend  p.  153,  1  und  155,  2  queis.  153,  11  findet 
sich  bereits  die  Verbesserung  sum^Hmim  [sumptiim  V). 

*  B.  L.  U  lim  an,  The  Vatican  Manuskript  of  Caesar,  Plinius 
and  Sallust  and  the  Library  of  Corbie.  (Reprinted  fr.  Philol. 
Quaterly  I,   [1922],  S.  17—21.) 

IV.  Ausgaben. 

1.     C.  Sallusti  Crispi  Catilina,  Jugurtha,  orationes  et  epistulae  ex- 
cerptae  de  Historiis.    Recognovit  Axel  W.  A  h  1  b  e  r  g.    Leipzig 


Bericht  über  die  Literatur  zu  Sallust  aus  den  Jahren  1919 — 1922.      55 

1919  (Teubner).  [Vgl.  A.  Klotz,  BphWS.  1919,  S.  1204  bis 
1210;  A.  Kur  faß,  Sokrates  1920,  S.  318—320]. 

2  a.  C.  Sallusti  Crispi  de  bello  Jugurthino  liber.  Erklärt  von 
Rudolf  Jacobs,  11.  verb.  Aufl.  von  Hans  Wirz  [bg. 
von  A.  Kurfeß].     Berlin  1922. 

2  b.    C.  Sallusti  Crispi  de  coniuratione  Catilinae  liber,    orationes  et 

epistulae  ex  Historiis  excerptae.  Erklärt  von  Rudolf  Jacobs, 
11.,  z.  T.  veränderte  und  verb.  Aufl.  von  Hans  Wirz  und 
A.  Kurfeß.     Berlin  1922   (Weidm.). 

3  a.    C.  Sallusti  Crispi  bellum  Catilinae.    Nach  Text  und  Kommentar 

getrennte  Ausgabe  für  den  Schulgebrauch  von  J.  H.  Schmalz. 
10.  Aufl.  (Bibl.  Gothana).     Gotha  1919. 

3  b.    C.  Sallusti  Crispi    de  bello  Jugurthino   liber.     Von  demselben. 

10.  Aufl.     Ebd.  1920. 

4  a.    Des    C.    Sallustius    Crispus    bellum    Catilinae.      Herausgegeben 

von  Carl  Stegmann.     Text.     5.  Aufl.     Leipzig  und  Berlin 

1920  (B.  G.  Teubners  Schülerausgaben). 

4  b.    Des  C.  Sallustius  Crispus  bellum  Jurgurthinum.     Herausgegeben 

von  demselben.     4.  Aufl.     Ebd.  1920. 
*5.    Sallust.   With  an  English  translation  by  F.  C.  Rolfe.    London- 

NewYork    (Loeb  Classical  library)   [Vgl.  Class.  Review  XXXV 

(1921),  S.  79]. 
*6.    C.  Sallustio    Crispo.     La    congiura    di  Catilina    commentato  da 

G. B.  Cammozzi  (Nuova  collezione  di  classici  latini  commentati 

ed    illustrati    ad  uso  delle    scuole.     Firenze  1918.     [Vgl.  Boll. 

di  Eil.  cl.  XXVII  (1920/1921),  S.  45  f.] 

Ahlbergs  Teubnerausgabe  (1)  ist  eine  bequeme  Handausgabe, 
die  in  knapper  Form,  doch  in  zuverlässiger  Weise  über  die  Über- 
lieferung (auch  die  indirekte)  Auskunft  gibt.  Im  Vergleich  zur 
großen  Ausgabe  ist  die  Zahl  der  im  Apparat  vermerkten  Hss  etwas 
kleiner;  zum  Teil  ist  auch  eine  andere  Bezeichnung  gewählt,  so 
A  statt  P^,  C  statt  P-.  M  statt  üf^,  so  daß  sich  jetzt  das  Stemma 
folgendermaßen  darstellt  (vgl.  Jb.   1920  II,  S.  158): 


H  MTDF 


56  A.  Kurfeß. 

Die  Abweichungen  der  Lesarten  von  denen  der  Editio  Upsaliensis 
sind  nicht  wenige  (vgl.  meine  ob.  a.  Besprechung).  Neu  hinzu- 
gekommen sind  die  ''orationes  et  epistulae  excerptae  de  Historiis'. 
Während  Maurenbrecher  durchweg  die  modernen  Formen  einsetzte, 
verfällt  Ahlberg  ins  andere  Extrem  und  setzt  überall  die  archaischen 
Formen  ein.  Im  ganzen  ist  die  Ahlbergsche  Ausgabe  verlälJlicher 
als  die  von  Maurenbrecher  ^).  Or.  Phil  19  schrieb  Maur.  mit  einer 
Hs  des  Nonius  ohrepsit,  Ahlberg  wieder  mit  den  Sall.-Hss  oppressit. 
Als  Druckfehler  blieb  bei  Ahlberg,  p.  150,  32  honis  (statt  honiis) 
stehen.  Ep.  Mithr.  7  (p.  160,  7)  war  Eumenen  (statt  Eumenem)  zu 
schreiben  (vgl.  vier  Zeilen  vorher  oben  Fersen).  P.  151,  23  hätte 
im  Apparat  angemerkt  werden  können  {pleheiy  trih.  pot.  Prise, 
gramm,  I  243.  Or.  Lep.  17  (p.  147,  30)  halte  ich  da,s  üherl.  parata 
für  möglich  (vgl.  Jug.  31,  17).  Ep.  Pomp.  9  (p.  155,  23)  liest 
Ahlberg  sumptui  onerique  sunt;  das  geht  nicht  an:  entweder  ist 
sumptui  onerique  (V)  zu  lesen  oder  sumptui  aerique  sunt  (A);  das 
letztere  ist  erlesener.  Or.  Macri  eb  (p.  159,  5)  setzt  Ahlberg  vor 
quia  (scilicct')  mit  Servius  ein ;  ich  halte  die  Stelle  ohne  das  ironische 
scilicet^  das  dem  ernsten  Macer  (im  Gegensatz  zu  Lepidus)  wenig 
liegt,  für  wirksamer. 

Das  bellum  Jugurthinum  hat  Wirz  (2)  noch  druckreif  hinter- 
lassen ;  der  Kenner  wird  viele  feine  Bemerkungen  darin  finden. 
Keine  Seite  ist  unverändert  geblieben.  Von  134  ist  die  Schrift  auf 
150  Seiten  angewachsen.  Der  Eef.  hat  nur  die  Abweichungen  von 
der  Ahlbergschen  Ausgabe  (1915)  am  Schluß  verzeichnet,  desgl. 
einige  neue  Literatur  im  Anhang  nachgetragen.  Vom  Catilina  sind 
die  ersten  20  Kapitel  noch  in  Wirz  bearbeitet;  außerdem  finden 
sich  im  Nachlaß  zahlreiche  Bemerkungen  zu  or.  Lep.  und  Phil.,  die 
am  stärksten  iimgearbeitet  wurden.  Im  übrigen  wurde  die  neuere 
Literatur  der  letzten  25  Jahre  sorgsam  benutzt.  Die  Einleitung  ist 
neu  geschrieben. 

Die  Ausgabe  von  Schmalz  (3)  ist  ein  unveränderter  Abdruck 
der  9.  Aufl.  Die  Schulausgabe  von  Stegmann  (4)  legt  bereits 
die  Ausgabe  von  Ahlberg  (1919)  dem  Text  zugrunde;   an  zirka  35 

^)  Durch  Vergleich  der  beiden  Ausgaben  haben  sich  bei  Mauren- 
brecher folgeude  Versehen  herausgestellt:  or.  Lep.  (I  55)  9  sceleris  (statt 
scelerum)  et  eontumeliarum  [omyiium  om.  Mb.]  finis  est.  Quorum  [adeo  om. 
Mb.]  Sullam  etc. ;  21  bonorum  (statt  horwrum)  or.  Cott.  (II  47)  5  fama  et 
fortuna  (statt  fortunis);  cp.  Pomp.  (II  98)  2  vicem  me  (statt  ine  vicem\  10  trans- 
(jradientur  (statt  iransgeäientur);  or.  Macr.  (III  48)  15  tolerate  (statt  toleratis) 
ep.  Mithr.  (IV  69)  2  liceret  (statt  licet). 


Bericht  über  die  Literatur  zu  Sallust  aus  den  Jahren  1919—1922.     57 

bzw.  50  Stellen  ist  der  Text  geändert.     Vielfachen  Wünschen  ent- 
sprechend, ist  jetzt  die  Einleitung  dem  Text  vorangestellt. 

V.  Erklärimg  einzelner  Stellen  (Textkritik). 

[Einige  Stellen  sind  auch  unter  YI  (Sprachliches)  behandelt.] 

Von  vielen  Seiten  in  Angriff  genommen  wurde  Jug.  38,  10 
quia  mortis  metu  mutabantur.  A.  Kunze  (BphWS.  1919,  S.  140 
bis  144)  rollt  das  ganze  bis  dahin  bekannte  Material  auf;  er  ändert 
mortis  metu  movehantur.  F.  Krohn  (ebd.  S.  501)  schlägt  vor: 
iugulubantur,  M.  Wallies  (ebd.  S.  983)  motahantur.  Im  Gegensatz 
dazu  erklärt  A.  Kurfeß  (ebd.  S.  983)  mit  J.  Fuchs,  ohne  den 
Text  zu  ändern:  „Die  drückenden  und  schmachvollen  Bedingungen 
erfuhren  durch  die  Todesfurcht  in  den  Augen  der  Römer  eine 
wesentliche  Änderung,  sie  erschienen  in  milderem  Lichte."  Unab- 
hängig davon  kam  W.  A.  Baehrens  zu  derselben  Auffassung. 
A.  Schöne  endlich  (ebd.  1920,  S.  862 — 64)  vermutet:  guia  atro- 
cissima  metuebantur  [vgl.  auch  A.  Klotz,  ebd.  1919,  S.  1205], 

Einige  Vermutungen  von  Hans  Wirz  (erkl.  Ausg.  des  bell. 
Jug.,  11.  Aufl.  1922,  Anhang  S.  153 — 156)  verdienen  Erwähnung. 
Jug.  16,  3  verteidigt  er  mit  den  Hss  m  amicis  (statt  des  bisher  üb- 
lichen in  inimicis),  52,  2  nam  (pro)  Metello  virtus  militum  erat,  110,  5 
{alii)  a  jjueritia  .  ,  .  habuisse,  114,  1  Cn.  Mällio.  —  Kurfeß  liest 
(ebd.)  Cat.  35,  5  sicvti  esset  effcta  partu. 

L.  Vallmazzi,  Appuntil  (Boll.  di  filol.  class.  27  [1920],  S.  13) 
hält  die  bisher  übliche  Interpretation  von  Cat.  12,  2  pudorem  pudi- 
dtiam,  divina  atque  humana promiscua  habere  'non  fare  distinzione 
tra  pudore  e  pudicizia',  vielmehr  ist  promiscuus  im  Sinn  von  com- 
munis 'gewöhnlich'  zu  fassen:  vgl.  Tac.  Ann.  XI  25,  18  promiscum 
patris  patriae  cognomenium,  Germ.  5  Schi. pro wiscwa  etvilia  mercantibus 
[vgl.  dazu  Gudeman  1916;  schon  Wirz^^  1894  faßte  es  im  Sinne 
von  vilia  u.  verglich  or.  Cottae  3]. 

*E.  Bolaffi,  Note  a  Sallustio  [Cat.  19,  1;  35,  5;  Jug.  42,  3] 
Kivista  indo-greco-italica  di  filologia,  lingua,  antichitä  IV  (1/2). 

VI.  Si)racliliclies. 

1.  F.  Härder,  Zu  der  Mischkonstruktion.     Glotta  X  (1919)  S.  141. 

2.  K.  Löechhorn,  Kleine  grammatische  und  kritische  Bemerkungen 
zu  Sallust.     BphWS.  1919,  S.  45—48. 

3.  A.  Kunze,  Zu  Sallust.     BphWS.  1919,  S.  860—864. 


58  A.  Kurfeß. 

4.  A.  Kurfeß,    Zu    Sallust   I.     II.  BpliWS.  1919,    S.  692—694, 
959—960. 

5.  A.  W.  de  G r o o t ,  De  numero  oratorio  Latino.    Diss.  Groningen 
1919.     [Vgl.  G.  Ammon,  BphWS.  1920,  S.  244 ff.] 

6.  A.  Re inert.  Zum  kritischen  Infinitiv  im  Lateinischen.    Wiener 
Blätter  I  3  (1922),  S.  20—22. 

Härder  (1)  vergleicht  zur  Konstruktion  nach  Art  von  metus, 
maeror  —  pars  dole^^e,  pars  timere  Sali.  Jug.  39,  1;  21,  4;  Cat.  6,  1 
(ab  —  ba).  Die  logische  Anordnung  der  Gedanken  ist  aufgegeben 
und  wird  freier  und  willkürlicher  angeführt  (ab  —  Chiasmus).  Noch 
künstlicher  Cat.  3,  3:abc  — acb;  14,  2  a  (=  aa)  b  —  b(/3/?)a. — 
Löschhorn  (2)  rennt  offene  Türen  ein,  indem  er  daraufhin- 
weist ,  daß  Sallust  nach  quippe  qui  stets  den  Indikativ  setzt  und 
quippe  häufig  im  Sinne  von  „nämlich"  gebraucht,  ebenso,  daß  Sallust 
statt  loca  im  Jug.  öfter  locos  setzt.  Ferner  glaubt  er,  es  entspreche 
nicht  sallustischem  Sprachgebrauch  dehinc  in  der  Aufzählung  zu  ge- 
brauchen,  darum  sei  Cat.  3,  2  deinde  zu  lesen.  Endlich  sei  nach 
der  Schreibweise  Sallusts  die  für  diei  zu  lesen  (Jug.  21,  2).  Die 
übrigen  kritischen  Anmerkungen  gibt  er  —  man  staune  —  zur 
erkl.  Ausgabe  von  Jacobs,  3.  Aufl.  1858!!  —  Mit  Eecht  wendet 
sich  A.  Kunze  (3),  der  Herausgeber  des  Lexicon  Sallustianum,  gegen 
diese  unzulänglichen  Ausführungen  und  ergänzt  die  Ausführungen 
über  quippe,  locos  statt  loca  auf  Grund  des  ihm  zu  Gebote  stehenden 
vollständigen  Materials,  wendet  sich  mit  Kecht  gegen  die  Uniformierung 
der  Formen  wie  die]  auch  dehinc,  glaubt  er  mit  Karl  Nipperdey, 
dürfe,  obwohl  es  höchst  aulfällig  in  der  Aufzählung  sei,  gegen  alle 
Hss  nicht  geändert  werden.  —  Kurfeß  (4)  faßt  Cat.  37,  5  das 
überlieferte  alii  qui  jetzt  im  Sinne  von  aV^i  ziveg  und  vgl.  Jug.  45,  2 
aut  quem  alium  cibum  {ij  tiva  alXov  ohov^  Jug.  17,  6  haud  saepe 
quem  (Fronto)  [vgl.  bes.  or.  Macri  15  aut  alium  quem  deum].  Schon 
Jb.  des  Phil.  Ver.  (Sokrates  1916)  S.  205  las  er  Jug.  3,  1  mit  den 
führenden  Hss  quibus  per  fraudem  iis  fuit  uü  und  faßte  esse  im  Sinne 
der  griecli.  l'oTi  (licet).  Daß  diese  Auflassung  für  Sallust  möglich 
ist,  bestätigt  A.  Kunze,  BphWS.  1919,  S.  622  mit  dem  Hinweis 
auf  Hist.  II  77  culus  erat  de  nomine  exaudiri  sonores.  Endlich  macht 
K.  darauf  aufmerksam,  daß  der  Wechsel  zwischen  Praes.  und  Perf. 
hist.  bei  Sallust  nicht  Avillkürlich  ist;  Jug.  104,  1  ist  rediit  (nicht j 
redit)  zu  lesen;  Cat.  70,  1  schreibt  Ahlberg  mit  Recht  secedit  (Jordan 
secessit).  Im  zweiten  Aufsatz  behandelt  K.  die  Cons.  temp.,  beim] 
Praes.  hist.    Jug.  103,  3  glaubte  Tosatto  placeat  in placeret  ändernj 


Bericht  über  die  Literatur  zu  Sallust  aus  deu  Jahren  1919 — 1922.     59 

zu  müssen ;  K.  hält  an  der  Überlieferung  fest,  delegit  ist  nicht  Perf., 
sondern  Praes.  [Diese  Stelle  hatte  schon  A.  Kunze  Sallustiana  IUI 
(1897),  S.  27  und  28  ausführlich  besprochen].  Darnach  ist  endlich 
Jug.  75,  5  mit  Gruter  pro esfo  forent  zn  schreiben.  —  Nach  Grroot  (5) 
vertreten  Sallust  und  Livius  im  Gegensatz  zu  Cicero  den  echten 
lateinischen  Rhythmus;  nach  der  Silbengruppierung  kann  man  diese 
beiden  geradezu  als  metrische  Prosaiker  bezeichnen.  Sie  bevorzugen 
Zäsuren  wie  urhibus  essent  -  ~w  |  -  — ,  meiden  esse  liceret,  wodurch  der 
Versausgang  ohrenfälliger  wird.  —  Reinert  (6)  greift  vier  Bei- 
spiele aus  Sallust  heraus  (Cat.  6,  3  f.,  13,  3;  31,  2.  Jug.  39,  1), 
die  dadurch  bemerkenswert  sind,  daß  mehreren  erzählenden  Infinitiven 
ein  Substantiv  vorausgeht,  das  einen  Erregungszustand  bezeichnet. 
Am  bedeutungsvollsten  aber  ist  die  Verwendung  des  Inf.  bist,  in  der 
Charakteristik  Caesars  (Cat.  54,  4)  und  Sullas  (Jug.  96,  2).  Daraus 
schließt  er:  „Für  die  antiken  (und  auch  modernen)  Schriftsteller  ist 
der  Infinitiv  in  der  Form  des  Selbstbefehls  ohne  Bezeichnung  der 
Person  der  gegebene  Ausdruck  für  lebhafte  Darstellung  seelischer 
Vorgänge". 

Von  A.  Kunze,  Sallustiana  II  (Leipzig  1893)  ist  demnächst, 
wie  mir  der  Verf.  in  liebenswürdiger  Weise  mitteilt,  ein  anastatischer 
Neudruck  zu  erwarten.  [Vgl.  hierüber  Schlee,  Jb.  d.  Phil.-Ver- 
zu  Berlin  1895,  S.  110  fi".] 

VII.  Die  strittigen  Sallustiana. 

1.  Jos.  Kiek,  Symbuleutici  qui  dicitur  sermonis  historia  critica 
per  quattuor  saecula  continuata.  (Rhet.  Stud.  hg.  v.  Drerup. 
8.  Heft)  Paderborn  1919.  [Vgl.  F.  Levy,  BphWS.  1920, 
S.  577  fi'.] 

2.  F.  Novotny,  Nova  klausulova  methoda  a  pochybna  Sallustiana. 
Listy  filol.  XLV  (1918),  p.  257—264. 

3.  0.  Gebhardt,  Sallust  als  politischer  Publizist  während  des 
Bürgerkrieges.     Zwei  offene  Briefe  an  Cäsar.    Diss.  Halle  1920. 

4.  F.  Levy,  Sallust  ad  Caesarem  H  13.    BphWS.  1920,  S.  1198  f. 

5.  C.  Sallusti  Crispi  ad  Caesarem  senem  de  re  publica  epistulae. 
Recensuit  A.  Kurfeß.  Leipzig  1921.  [Vgl.  A.Klotz,  Lit.- 
Z.-Bl.  1921,  S.  421;  F.  Levy,  Phil.  WS.  1921,  S.  945ff.] 

6.  A.  Kurfeß,  Zu  Sallust  IV.     Phil.  WS.  1921,  S.  527. 

7.  A.  Kurfeß,  Zur  Frage  der  Echtheit  der  Epistulae  ad  Caesarum 
senem  de  re  publica.     Phil.  WS.  1922,  S.  165  f. 


60  A.  Kurfeß. 

8.  A.   Kurfeß,    Die    luvektive    gegen    Cicero,    ein    eclites  Stück 
Sallust.    Jaliresb.  des  Phil,  Vereins  zu  Berlin  48  (1922),  S.  66  £F. 

9.  A.  Kurfeß,  Zu  Sali.  inv.  in  Cic.    Phil.  WS.  1922.    [Erscheint 
demnächst.] 

10.    A.  Kurfeß,    Zu  Ps.-Cic.  inv.  in  Sali.  7,   19.     BphWS.  1920, 
S.  168. 

Kiek  (1)  analysiert  p.  106 — 113  ('De  Sallustii  qui  ad  Caesarem 
seuem  inscribuntur  symbuleuticis')  die  'oratio'  und  'epistula'  und 
findet  zwar  ähnliche  Gedanken  in  beiden,  doch  verschiedene  neqi- 
Gtaaig.  Im  Anschluß  an  K.  Pöhlmann  [das  Buch  von  Ed.  Meyer 
hat  er  noch  nicht  benutzt]  tritt  er  für  die  Autorschaft  Sallusts  ein 
(S.  112  f.):  „Adeo  autem  inter  se  similes  sunt  symbuleutici  Sallustio 
tributi ,  ut  aut  unius  auctoris  opera  eos  dicas  aut  auctorem,  qui 
alterum  couscripsit,  priorem  imitatum  esse  sumas.  Si  vero  eum,  qui 
symbuleuticum  alterum  scripsit,  alterius  exemplum  secutum  esse 
ponimus ,  fieri  non  potest,  quin  praeclari  alicuius  scriptoris  hoc 
exemplum  fuisse  censeamus,  quoniam  utrumque  scriptum  rhetorum 
commentum  putare  mihi  quidem  absurdum  esse  videtur.  Cuiuslibet 
enim  rhetoris  opus  vix  imitatus  esset  alter.  Ego  tarnen  unius  viri 
esse  scripta  putare  malim ,  et  quamquam  Sallustium  auctorem  esse 
certissimis  argumentis  comprobari  posse  vix  confido ,  tamen  veri 
simillimum  duco  illius  esse  scripta  .  .  .  Symbuleutici  autem  speciem 
utramque  scriptum  totam  praebet :  ostendunt  prooemium  symbuleutico 
accomodatum,  consilium  Universum,  praecepta  singula  cum  admonitione 
et  dehortatione  coniuncta ,  exemplorum  usum ,  cohortationem.  De 
negotiis  autem  veris  imprimis  est  consilium,  ita  ut  scripta  symbuleu- 
ticis  deliberativis,  non  suasionibus  iure  subiciamus. 

Mit  Benutzung  der  in  der  BphWS.  1917,  217  ff.  dargestellten 
Methode  weist  Novotny  (2)  als  charakteristischen  Unterschied 
zwischen  Sallusts  und  Ciceros  Stil  das  Verhältnis  zur  daktylischen 
Silbenfolge  in  der  Klausel  nach :  bei  Cicero  wird  diese  gemieden, 
bei  Sallust  gesucht;  dagegen  die  Verbindungen  .. -v^, — ^  oder 
. .  .  —  ^,  '^^  —  Kj,  die  bei  Cicero  einen  hohen  Klauselwert  haben,  er- 
scheinen als  Klauseln  bei  Sallust  relativ  selten.  Die  so  gefundenen 
Kriterien  des  sallustianischen  Stils,  verglichen  mit  Ergebnissen  der 
analogen  Analyse  der  drei  strittigen  Stücke,  zeigen  bestimmte  Ver- 
wandtschaft des  Stiles  der  beiden  Suasorien  mit  dem  echten  Sallust ; 
das  Material  der  Invektive  ist  zwar  gering,  aber  auch  so  kann  man 
wenigstens  sagen,  daß  es  keine  positiven  Merkmale  des  sallustianischen 
Stiles  enthält. 


Bericht  über  die  Literatur  zu  Sallust  aus  den  Jahren  1919 — 1922.      61 

Gebhardt  (3)  fügt  dem  bereits  von  Ed.  Norden  [bei  Ed. 
Meyer,  Cäsars  Monarchie  etc.,  S.  582,  2]  beigebrachten  Zeugnis 
Gell.  XVn  18,  wo  die  seria  et  severa  oratio  Sallusts  nur  die  Schrift 
vom  J.  46  gemeint  sein  kann,  die  das  ganze  Altertum  als  „Rede'' 
galt,  ein  bisher  noch  nicht  verwertetes  Zeugnis  bei  Cassius  Dio 
XLIII  9,  2  bei ;  die  Worte  xoiavTa  GvyyQccfifxata  (plur. !)  avyyqäxpag 
können  nach  dem  Zusammenhang  nur  auf  die  beiden  politischen 
Broschüren  vom  J.  49  und  46  gehen.  Die  zweite,  zeitlich  frühere 
Schrift,  die  als  „Brief"  hinter  der  „Rede"  steht  gemäß  der  sonstigen 
Anordnung  der  Reden  und  Briefe  aus  den  Historien,  läßt  sich  noch 
näher  datieren:  21. — 23.  Februar  49.  Eine  eingehende  Analyse 
der  beiden  „Programmschriften"  und  ihre  Vergleichung  mit  Cäsars 
Reformbestrebungeu  lassen  auf  überraschend  intime  Kenntnis  auch 
der  geheimsten  politischen  Absichten  des  Diktators  schließen.  Sallust 
hat  sein  Talent  bewußt  in  den  Dienst  der  Sache  Cäsars  gestellt, 
der  dafür  den  aus  dem  Senat  Gestoßenen  wieder  rehabilitierte  und 
ihm  schließlich  die  Statthalterschaft  von  Africa  nova  übertrug.  Die 
Notiz  von  Lenaeus  (Suet.  gramm.  15)  ist  nach  Gebhardt  nicht  auf 
die  Historien,  sondern  auf  diese  beiden  offenen  Briefe  zu  beziehen. 
[Die  etymologisierende  Form"  viritute  (II,  8,  7)  ist  zu  streichen,  da 
sie  nicht  überliefert,  sondern  auf  einem  Versehen  Jordans  beruht.] 
Über  weiteres  vgl.  meine  Besprechung  Phil.  WS.  1921,  S.  52 — 55. 
In  einer  Anmerkung  am  Schluß  (S.  45  f.)  behandelt  G.  die  schwierige 
Stelle  II  4,  2. 

Levy  (4)  ist  gleichfalls  von  der  Echtheit  der  Epistulae  über- 
zeugt. Mit  dem  Schlußkapitel  der  zweiten  Schrift  (c.  13)  vergleicht 
er  Plat.  Crit.  50  a  —  e.  Doch  ist  die  Anlehnung  nur  eine  äußer- 
liche. Sallust  klammert  sich  nicht  eng  an  sein  Vorbild,  sondern 
ist  bemüht,  trotz  der  fremden  Form  etwas  Eigenes  zu  geben. 

Die  bisherigen  Ergebnisse  der  Forschung  sucht  die  kritische 
Ausgabe  von  Kurfeß  (5)  zusammenzufassen.  Im  Apparat  werden 
sämtliche  Abweichungen  des  cod.  V  gegeben ,  in  einem  zweiten 
Apparat  die  wichtigsten  Parallelen  aus  Sallust.  Für  das  übrige  ist 
zu  vergleichen  Index  IV:  Congruentiae  Sallustianae.  Dazu  gibt 
er  (6)  die  genaue  Kollation  aus  einem  alten  Leipziger  Druck  (Phil, 
lat.  74  ==  1  der  Ausgabe,  ein  Apographon  der  Editio  Romana  1475). 
Endlich  greift  er  (7)  eine  für  die  „Mentalität"  des  Verfassers 
charakteristische  Stelle  heraus  II,  7,  4fi".  =  1  7,  2  f.  und  vergleicht 
sie  mit  Cat.  10,  2  und  12,  7. 

Was    nun    die   Invektive    gegen    Cicero   betrifft,    so  tritt 


62 


A.  Kurfeß. 


Kurfeß  (8)  neuerdings  für  die  Autorschaft  Sallusts  ^)  ein.  Die 
politisclie  Gesinnung  entspricht  durchaus  der  des  jungen  Sallust, 
dem  der  Schwätzer  Cicero  von  Anfang  an  ein  Greuel  war.  Hervor- 
gerufen ist  das  Pamphlet  durch  Ciceros  politische  Schwenkung  im 
J.  54,  nicht  zuletzt  auch  durch  seine  Selbstverherrlichung  in  seinen 
Epen,  von  denen  das  eine  {de  temporibus)  gerade  im  J.  54  abgefaßt 
zu  sein  scheint.  Darum  das  zweimalige  Zitat,  das  andere  Mal  sogar 
parodiert.  Der  Stil  ist  nicht  sallustisch ;  vielmehr  sucht  der  Ver- 
fasser Cicero  nachzuahmen,  doch  so,  daß  die  z.  T.  wörtlich  herüber- 
genommenen Stellen  und  die  vielen  sonstigen  Anklänge  geradezu 
sarkastisch  wirken.  Und  doch  lassen  sich  nicht  unwesentliche 
Parallelen  aus  dem  echten  Sallust  beibringen.  Ja,  sogar  die  Solöcismen 
lassen  sich  aus  Sallust  erklären  (9).  Natürlich  ist  das  Schriftstück 
kein  Exzerpt  aus  einer  wirklich  oder  angeblich  gehaltenen  Rede, 
sondern  als  Ganzes  genommen  ein  politisches  Flugblatt,  das  eben 
durch  seine  Kürze  besonders  wirksam  war.  Das  Pamphlet  wurde 
selbstverständlich  anonym  herausgegeben  und  verbreitet.  (Zu  der 
Praxis  solcher  Pamphlete  vgl.  Cic.  ad  Att.  III  12,  1).  Aber  Quintilian 
war  Kenner  genug,  um  dieses  Produkt  für  sallustisch  zu  halten. 

„Es  wäre  geradezu  unbegreiflich",  meint  Gebhardt  (a.  a.  0., 
S.  17),  wenn  Cicero  die  überaus  günstige  Gelegenheit,  seinen  Wider- 
sacher vernichtend  zu  treffen  [bei  dem  Sturm  auf  Sallusts  gesell- 
schaftliche und  politische  Stellung  anläßlich  des  Skandalprozesses 
nach  seiner  Provinzialverwaltung] ,  hätte  unbewußt  vorübergehen 
lassen,  er,  der  so  gern  seine  Wut  an  den  verhaßten  Handlangern 
Cäsars  ausließ,  da  es  gefährlich  war,  den  noch  verhaßteren  Meister 
selbst  anzugreifen."     Cicero  brauchte    nur  in    einer  Rede   im  Senat 


')  Des  Referenten  frühere  Auffassung  hat  A.  Rosenberg,  Eiuleitg. 
usw.  zur  röm.  Gesch.  (1921)  S.  72  angenommen:  „Die  Invectiva  ist  die  Arbeit 
eines  —  wenn  auch  kundigen  —  cicerofeindlichen  Literaten  der  frühen 
Kaiserzeit,  der  für  seinen  Angriff  die  Maske  des  Sallust  vornahm.  Die 
Invektive  ist  nämlich  gutenteils  ein  Flickwerk  aus  ciceronischen  Phrasen, 
die  in  gewandter  Weise  gegen  Cicero  selbst  ausgespielt  werden."  — 
Funaioli  tritt  a.  a.  0.  für  die  Echtheit  der  Epistulae  und  der  Invektive 
ein.  Zu  inv.  2,  2  bemerkt  er  (S.  1984):  „Das  Haus  war  ja  nach  der  Zer- 
störung neu  errichtet  worden  und  von  Cicero  wieder  bewohnt.  Die  Pointe 
der  Anspielung  liegt  eben  nur  darin,  daß  jenes  Haus  früher  einem  Crassus 
gehörte,  ob  in  jetzigem  Zustande  oder  nicht,  das  ist  eine  Sache,  die  die 
Gelehrten  angeht,  nicht  aber  einen  Menschen,  der  unter  dem  brennenden 
Druck  des  Hasses  im  Kampf  des  Tages  maledicta  schleudert.  Gerade  hier 
sprudelt  das  Leben."  —  Auch  Groebe  (Drumann  V-,  551)  scheint  für  die 
Echtheit  der  Invektive  zu  sein. 


Bericht  über  die  Literatur  zu  Sallust  aus  den  Jahren  1919 — 1922.     63 

nach  bewährter  Methode  auf  den  grellen  Widerspruch  zwischen 
seinen  hohen  Worten  und  seinen  schändlichen  Taten  hinzuweisen. 
Dafür  spricht  inv.  in  Cic.  1,  1  und  1,  3;  mit  oratione  kanu  nur  die 
zur  Zeit  der  betr.  Senatssitzuug  gerade  aktuelle  „Rede"  des  J.  46 
gemeint  sein.  —  Inv.  in  Cic.  7,  19  verteidigt  K.  (10)  die  Über- 
lieferung tamquam  somno  (statt  somnid)  heatus. 

[Abgesclilossen  am  1.   Juli  1922.] 


Bericht  aber  die  Literatur  zu  Varro  aus  den  Jaliren 

1909-1918. 

Von 
Karl  Mras  in  Graz  (Wien). 

Dieser  Bericht  schließt  sich  in  seiner  äußeren  Form  sowie  in 
der  inneren  Ausgestaltung  an  meinen  ersten  Varrobericht  (Bu  143.  Bd. 
1909,  S.  63 — 111)  an.  Auch  diesmal  habe  ich  auf  Übersicht- 
lichkeit und  zusammenhängende  Darstellung  Wert  gelegt.  Die 
Schrift  De  lingua  Latina  ist  hier  nicht  berücksichtigt.  In  dem  Zeit- 
raum, der  dem  Berichte  zugrunde  liegt,  hat  sich  die  Forschung  be- 
sonders mit  Varros  Werk  über  die  Landwirtschaft  befaßt;  auch  die 
Frage  des  Ursprunges  und  der  Entwicklung  der  Satire  ist  viel  be- 
handelt worden.  Zu  meiner  großen  Freude  habe  ich  die  ausländische 
Literatur  fast  vollständig  in  meine  Hände  bekommen.  Für  besonderes 
Entgegenkommen  schulde  ich  Herrn  Prof.  Dr.  Plinio  Fraccaro 
in  Pavia  großen  Dank. 


Übersicht. 


Allgemeines. 

Erstes  Kapitel.   Der  Katalog  der 
varrouischen  Schriften. 

Zweites  Kapitel.    E.  R.  1.  III. 

1.  Allgemeines. 

2.  Ausgabe. 

3.  Übersetzungen. 

4.  Textkritik. 

5.  Quellenfrage. 

a)  Die  Quellen  für  E.  R.  1.  III. 

b)  E.  E.  1.  III.  als  Quelle. 

6.  Sachliches. 

7.  Sprachliches. 


Drittes  Kapitel, 
ischen  Satiren. 

1,   Allgemeines. 


Die  menippe- 


2.  Ausgabe. 

3.  Textkritik. 

4.  Die  Vorbilder  der  Satiren. 

5.  Die  Nachwirkung  der  Satiren. 

6.  Sachliches. 

7.  Sprachliches. 

Viertes  Kapitel.    Geschichtliche 
und  geographische  Werke. 
Ausgabe. ' 
Die  Logistorici. 
Die  Imagines. 
De  familiis  Troianis. 
Eine  Schrift  über  die  Zeitrech- 
nung. 
Geographisches. 


Fünftes   Kapitel, 
rische  Werke. 


Literarhisto- 


Bericht  über  die  Literatur  zu  Varro  aus  den  Jahren  1909 — 1918.     65 

Sechstes  Kapitel.  Werkeantiqua-      SiebentesKapitel.  Varroswissen- 
rischen  Inhalts.  schaftliche  Tätigkeit   auf  anderen 

1.  Die  Antiquitates  Ker.  Hum.  Gebieten. 

a)  Die    StoflPverteilung    in    der  1-    I^ie  Disciplinarum  libri. 
2.  Hexade.                                           2.    Die  Libri  iuris  civilis. 

b)  Varros      Zeitrechnung     in  Anhang.    Die  sogenannten  Senten- 
diesem  Werk.  tiae  Varronis. 

2.  Die  Antiquitates  Rer.  Div.  1.    Ausgabe. 

3.  Die  Antiquitates  als  Quelle.  2.    Sachliches. 

Allgemeines. 

M.    Schauz,    Geschichte    d.    röm.  Literatur    (Haudb.    d.   kl.  Alter- 

tumswiss.  VIII.  Bd.,  1.  T. ,  2.  Hälfte),   München  1909 ^  S.   422 

bis  450. 
W.  S.  Teuffels  Geschichte  d.  röm.  Literatur,  6.  Auflage,  L  Bd., 

Leipzig  1916,  S.  321—344. 
E.  Martini,   Grundriß  d.   Gesch.  d.  röm.  Literatur,  I.  Teil,  Münster 

1910,  S.  192—206. 
W.  Kopp,  Gesch.  d.  röm.  Liter.,  9.  Aufl.,  Berlin  1913,  S.  48—51. 

E.  Norden,  Einleitung  in  die  Altertumswissenschaft  (herausg.  v. 
A.  Gercke  u.  E.  Norden)],  L  Bd.,  Leipz.  1910,  S.  481  ff.  u. 
548  ff.,  2.  Aufl.  1912,  S.  347  ff.  u.  416  ff. 

Fr.  Leo,    Die  Kultur  d.  Gegenwart  (herausg.  v.  P.  H  i  n  n  e  b  e  r  g)  , 

T.  I,  Abt.  VIII,  II  1,  3.  Aufl.  1912. 
C.  B  a  r  d  t ,    Röm.  Charakterköpfe  in  Briefen,    voruehml.  aus  Cäsar. 

u.  Trajan.  Zeit,  1913,  S.  216  ff. 

F.  Lübkers  ßeallexikon  d.  kl.  Altertums,  8.  Aufl.  1914  (Tereutius 
Nr.  21). 

E.  Zell  er,  Die  Philosophie  der  Griechen,  III.  T.,   1.  Abt.,  4.  Aufl. 

(herausg.  v.  E.  Wellmanu),   1909,   S.  692  ff. 
A.  Lebouton,  Poesie  u.  bildende  Kunst  im  Zeitalter  des  Augustus, 

Zeitschr.  f.  d.  österr.  Gymn.  66  (1915),  S.  111. 
C.  Morawski,  De  contentionibus  litterariis  apud  Romanos,  iuprimis 

apud  Ciceronen,  Eos   XIX  (1913). 

In  der  neuen  Auflage  von  Schanz  sind  Varro  neun  Seiten 
mehr  gewidmet  als  in  der  zweiten  Auflage;  ganz  umgearbeitet  ist 
der  jetzt  „Charakteristik  Varros"  betitelte  §  193a.  In  der  neuen 
Bearbeitung  der  Literaturgeschichte  Te  uff  eis  sind  die  allgemeine 
Charakteristik  und  die  Stilcharakteristik  des  Autors  neu  hinzu- 
>  gekommen.  Vollständig  neu  ist  gegenüber  der  Darstellung  M.Zo  ellers 
die  E.  Martinis.     Auch    im   neuen   „Lübker"   ist    der  Abschnitt 

■Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft  Bd.  192  (1922.  II).  5 


66  Karl  Mras. 

über  Varro  ganz  umgestaltet,  der  biographische  Teil  gekürzt; 
dafür  sind  Literaturaugaben  dazugekommen.  Bardts  Charakteristik 
ist  ebenso  ausführlich  als  wohl  abgewogen.  Die  Widersprüche  in 
Varros  Wesen  und  in  seiner  Schriftstellerei  werden  von  Norden, 
Martini  und  Bar  dt  gut  hervorgehoben:  Jst  Varro  einerseits 
als  Forscher  (d.  h.  in  rein  wissenschaftlichen  Werken)  formlos,  -  so 
ist  er  anderseits  als  Schriftsteller  (d.  h.  in  Werken  der  schönen 
Literatur)  formgewandt.  Als  Gelehrter  läßt  er  es  oft  an  dem  nötigen 
Schai'fsinn  fehlen ,  auch  mangelt  ihm  die  Fähigkeit,  das  Quellen- 
material zu  durchdringen  imd  zu  verarbeiten ;  andei'erseits  ist  er 
aber  doch  ein  scharfsichtiger  Beobachter.  Ein  Fehler  ist  auch  seine 
Vorliebe  für  allzu  schablonenhafte ,  pedantische  Gliederung.  Mit 
Kecht  heißt  er  bei  Teuf  fei  einer  der  größten  Kompilatoren  aller 
Zeiten.  Diese  Schattenseiten  werden  aber  durch  schwerwiegende 
Vorzüge  aufgewogen :  sein  kernrömisches  Wesen  (Martini),  die 
sein  ganzes  Wirken  beherrschende  Liebe  zu  seinem  Volke  (Schanz), 
seinen  warmherzigen  Patriotismus  (Teuf  fei).  Mit  einer  auf 
J.  Geffcken,  Hermes  27,  S.  388  zurückgehenden  Bezeichnung 
Avird  er  von  Xorden,  Schanz  und  Martini  ein  Romantiker 
genannt.  Lebouton  weist  kurz  darauf  hin,  daß  damals  Literatur 
und  Kunst  aus  denselben  Gründen  gleichzeitig  retrospektiv  geworden 
sind.  Interessant  ist  der  Vergleich  —  den  Norden  und  Bar  dt 
ziehen  —  zwischen  Varro  und  Cicero,  zwischen  dem  schwer- 
fälligen Gelehrten  und  dem  beweglichen  Künstler,  wie  sich  Norden 
ausdrückt.  Das  Verhalten  C  i  c  e  r  o  s  gegenüber  dem  Reatiner  ist 
von  Eifersucht  auf  dessen ,  dem  seinigen  weit  überlegenes  Wissen 
nicht  frei.  Im  Einklang  mit  der  Forschung  der  letzten  Jahrzehnte, 
dfe  —  m.  E.  allzusehr —  die  Persönlichkeit  des  Posidonius  in  den 
Vordergrund  geschoben  hat,  betonen  N  ord  en  und  die  Herausgeber 
der  Werke  von  Teuffei,  Kopp  und  Zell  er  (s.  Z  eller '*  S.  699, 
Anm.  1)  den  Einfluß  des  pythagoreisch  gefärbten  Stoizismus  des 
Posidonius  auf  Varro.  Auch  Leos  sonst  nur  wenig  veränderte 
Ausführimgen  a.  a.  0.  haben  in  der  neuen  Auflage  bezeichnender- 
weise gerade  in  dieser  Hinsicht  eine  bedeutendere  Veränderung 
erfahren:  man  vergleiche  S.  34^1  f.  der  1.  Auflage  mit  S.  439  der 
dritten:  S.  440 f.  steht  ein  in  jener  Auflage  gänzlich  fehlender 
Abschnitt  über  den  jnächtigen  Einfluß  des  Posidonius  auf  Mit- 
und  Nachwelt,  Griechen  und  Römer.  Varros  Einfluß  auf  die  Nach- 
welt Avar  unzweifelhaft  größer  als  der  des  Posidonius;  seine 
Wirkung  auf  die  nachfolgende  literarische  Produktion  bezeichnet 
Martini  mit  vollem  Recht  als  enorm. 


Bericht  über  die  Literatm-  zu  Varro  aus  den  Jahren  1909—1918.      67 

Morawski  untersucht  die  Art  und  Weise  der  philosophischen 
und  literarischen  Polemik  bei  Cicero,  Lucrez  und  Varro,  wo- 
bei der  Hauptteil  der  Arbeit  Cicero  gilt  und  Varro  mit  Lucrez 
am   Schiuli  kurz  abgetan   wird  (S.   15  f.). 


Erstes  Kapitel. 
Der  Katalog  der  varronischen  Schriften. 

A.   Klotz,    Der  Katalog    der  varrou.   Schriften,    Herni.   46    (1911), 

1—17. 
G.  L.  Hendrickson,  The  Provenance  of  Jerome's  Catalogue   of 

Varro 's  Works,  Classical  Philology  VI  (1911),  334—343. 

Die  Geschichte  der  Entdeckung  dieses  Kataloges,  die  in  jeder 
Literaturgeschichte  pachgelesen  werden  kann,  setze  ich  als  bekannt 
voraus.  Kaum  entdeckt,  wurde  er  von  R  i  t  s  c  h  1  in  einem  Aufsatze 
(Rh.  Mus.  N.  F.  VI  481—560  =  Opusc.  III  419—505)  einer  ein- 
gehenden Behandlung  unterzogen.  Bezüglich  des  Ursprunges  des 
Verzeichnisses  nahm  dieser  an,  dalJ  es  offenbar  auf  Varro  selber 
zurückgehe,  jedenfalls  nicht  erst  von  Hieronymus  zusammengestellt 
worden  sei ,  da  er  seine  Liste  mit  den  Worten  schließt :  et  alia 
phirima,  quae  emmierare  longum  est  .  vix  medium  descripsi  indicem 
et  legeni'ihus  fastidmm  est.  Hier  knüpft  Klotz  an  und  meint,  daß 
die  Liste  aus  der  Einleitung  zu  den  Imagiues  stamme,  wo  Varro 
von  der  Bedeutung  der  Siebenzahl  (vgl.  den  Nebentitel  Hebdomades) 
gesprochen  und  sich  dabei  über  sich  selber  folgendermaßen  ge- 
äußert hat  (Gell.  III  10,  17):  se  quoque  tarn  duodecimam  annorum 
hebdowadam  ingressum  esse  et  ad  eicni  dietn  septuaginta  hebdomadas 
librontm  conscripsisse,  also  490  Bücher,  genau  so  viele,  wie  das  Ver- 
zeichnis des  Hieronymus  umfaßt.  Da  bekannte  Werke,  wie  De 
gente  pop.  R.,  fehlen,  nimmt  Kl.  an,  daß  Hieronymus,  dem  es 
nur  auf  die  Zahl  der  Bücher  angekommen  sei  (bekanntlich  vergleicht 
er  die  iimfangreiche  wissenschaftliche  Tätigkeit  des  Origenes  mit 
der  Varros),  in  den  Titeln  mehrfach  eine  Zusammenziehuug  vpr- 
Lrenommen  habe,  so  gleich  unter  Nr.  1  XLV  (statt  XLI)  lihros 
antiquitatum^  wo  sich  die  Zahl  45  durch  Hinzufügung  der  vier  Bücher 
De  gente  p.  R.  ergebe.  Dagegen  nimmt  Hendrickson  mit  Recht 
t  Stellung.  Mahne  schon  die  Tatsache  zur  Voi-sicht,  daß  Hieronymus 
der  naheliegenden  Versuchung  widerstanden  sei,  13.  De  scaenicis 
adionibus  III  und  14.  De  actis  scenicis  III  unter  einer  Nummer 
anzuführen,    so    sei    es    vollends    unwahrscheinlich,    daß   unter    den 


68  Karl  Mras. 

XoyioiOQL'AWV  LXXVI  (Nr.  4),  wie  Kl.  S.  8  meint,  Werke  wie  De 
anti(|uitate  litterarum  ad  Accium  und  De  utilitate  sermonis  inbegriffen 
seien.  M.  E.  erklärt  sich  XLV  statt  XLI  (unter  Nr.  1)  einfach  als 
Verschreibung:  und  ist  vor  Nr.  2  (IUI  de  vita  populi  Romani)  das 
bis  auf  ein  Wort  gleichlautende  (IUI  de  gente  p.  ß.)  ausgefallen. 
Klotz'  Ansicht,  daß  der  Katalog  aus  der  Vorrede  der  Imagines 
stamme  ,  lehnt  H.  ab ;  er  läßt  die  Alternative  gelten,  daß  V  a  r  r  o 
entweder  in  seiner  Autobiographie  am  Schluß  seines  Lebens  eine 
vollständige  Liste  seiner  Werke  mitgeteilt  oder  aber  solche  Infor- 
mationen gegeben  habe,  daß  sie  die  Grundlage  für  einen  von  einem 
späteren  Gelehrten  verfaßten  Katalog  bilden  konnten  ^)  (wenn  er  für 
den  zweiten  Teil  seiner  Alternative  die  Bezeichnung  s  a  t  i  r  a  r  u  m 
1.  und  satirarum  Meuipp.  1.  ins  Treffen  fuhrt,  so  geht  er  dabei 
von  einer  falschen  Voraussetzung  aus;  s.  unten,  Drittes  Kapitel,  1). 
Allein  H.  möge  bedenken,  daß  die  Gleichheit  der  Zahl  (490  Bücher 
nach  Varros  Angabe  in  der  Vorrede  der  Imagines  und  ebenso- 
viele  in  Hieronymus'  Verzeichnis)  die  Möglichkeit  eines  bloßen  Zu- ' 
falls  übersteigt.  Auch  irrt  er,  wenn  er  Kl.'  Auslegung  des  duo- 
decimam  annorum  hebdomadam  ingressum  bekämpft :  in  der  Tat  konnte 
Varro  auch  in  seinem  80.  Jahre  noch  sagen,  er  stehe  im  Beginn 
seiner  12.  Lebenshebdomade.  Trotzdem  glaube  ich  nicht  an  die 
Herkunft  des  Verzeichnisses  aus  der  Vorrede  der  Imagines.  Nicht 
nur  daß  Varro  dort  gar  keinen  Anlaß  hatte,  eine  genaue  Liste  zu 
entwerfen,  spricht  auch  der  Umstand  dagegen,  daß  nicht  bloß  ima- 
giniivi  XV  (Nr.  3),  sondern  auch  eine  snizoiurj  ex  imagin.  l.  XV 
(Nr.  27),  in  vier  Büchern,  im  Katalog  genannt  wird,  was  zu  der 
ganz  unwahrscheinlichen  Annahme  nötigen  würde,  daß  Varro  seine 
Vorrede  zu  den  Imagines  erst  nach  Vollendung  des  Auszuges  aus 
-diesem  Hauptwerk  niedergeschrieben  habe.  Die  Sache  dürfte  sich 
m.  E.  so  verhalten:  Varro  hat  wahrscheinlich  in  seiner  Auto- 
biographie (De  sua  vita  1.  III).  wie  bereits  Ritschi  annahm,  Rh.  - 
Mus.  a.  a.  0.,  S.  551,  d.  h.  offenbar  in  seiner  letzten  Lebenszeit, 
eine  Liste  seiner  Werke  gegeben  [vielleicht  hat  er  sie  nach  der 
Plünderung  seiner  Bibliothek  zur  Zeit  der  Proskriptionen  begonnen, 
um  den  Bestand    des  ihm  verbliebenen  Restes   neu    aufzunehmen^), 


^)  Letzteres  nimmt  auch  W.  A.  Baebrens  an,  Herrn.  50(1915),  S.  264, 
Anmerk.  1. 

-)  Darauf  scheinen  mir  seine  Worte  bei  Gellius  a.  a.  O.  hinzuweisen: 
...  ex  quibus  aliquam  multos  (sc.  libros),  cum  proscriptus  esset,  direptis 
bibliothecis  suis  non  comparuisse. 


Bericht  über  die  Literatur  zu  VaiTO  aus  den  Jahren  1909 — 1918.     69 

und  später  die  Neuerscheinungen  nachgetragen] ,  die  Zusammen- 
stellung aber  nach  der  Siebenzahl  vorgenommen  (man  denke  an 
seine  Vorliebe  für  pythagoreische  Zahlenspielerei  und  schablonen- 
hafte Systematisierung !) ;  dabei  machte  er  natürlich  nach  7x70 
Hebdomaden  (=  490  Büchern)  einen  bedeutungsvollen  Einschnitt. 
Wenn  Hieronymus  sich  äußert  „vix  medium  descripsi  indicem", 
so  hat  er  außer  den  39  Nummern ,  die  er  anführt,  noch  ungefähr 
ebensoviele  vorgefunden  (aber  natürlich  mit  weit  geringerer  Bücher- 
summe, denn  Rit  schi  hat  die  Gesamtzahl  der  Werke  des  Polyhistor 
auf  etwa  620  veranschlagt).  Was  das  Ordnungsprinzip  der  Liste 
betrifft ,  so  wird  sie  weder  von  einem  chronologischen  noch  von 
einem  sachlichen  Prinzip  beherrscht ;  wohl  aber  sieht  man,  daß  die 
Hauptwerke  an  die  Spitze  gerückt  sind,  die  belletristischen  Werke 
(hauptsächlich  Dichtungen)  an  den  Schluß  (in  der  vollständigen 
Liste  mußten  sie  in  der  Mitte  ihren  Platz  haben).  S.  9  f.  und  S.  12 
bespricht  Kl.  Differenzen  zwischen  dem  Katalog  und  sonstigen  Zitaten. 


Zweites  Kapitel. 

R.  R.  libri  III. 

1.    Allgemeines. 
G.  Ferrero,    Grandezza  e  decadenza  di  Roma,    vol.  III    (Mailand 
1904),  S.  400—408. 

F.  gibt  a.  a.  0.  eine  wundervolle  Charakteristik  ^) ,  voll  tiefer 
Gedanken,  von  Varros  Werk  über  die  Landwirtschaft,  das  er  in 
politisch-sozialer  und  nationalökonomischer  Hinsicht  würdigt,  und 
damit  auch  von  Varros  Persönlichkeit  selber.  Varro  steht  in- 
mitten des  Kampfes  zwischen  den  alten  bäuerischen  Traditionen 
und  dem  merkantilen  Geist  der  neuen  Zeit.  Sein  zwiespältiges 
Wesen  macht  sich  auch  in  dieser  Schrift  bemerkbar :  er  betrachtet 
die  großen  Städte  als  Pflanzschulen  der  Verderbtheit,  des  Müßig- 
ganges und  der  Verschwendung,  preist  die  strenge  Reinheit  des  Land- 
lebens ■ —  und  schreibt  doch  das  III.  B. ,  um  den  Landwirten  An- 
weisungen zur  Ausnützung  der  Laster  der  Großstädte ,  besonders 
Roms,  zu  geben  (Vorschriften  über  die  Zucht  von  Drosseln,  Gänsen, 
Tauben,  Hühnern,  Pfauen  und  anderen  Kleintieren,  deren  Fleisch 
als  Leckerbissen  galt). 

')  1909  war  sie  noch  nicht  zu  meiner  Kenntnis  gelangt;  ich  trage 
ihre  Besprechung  daher  jetzt  nach. 


70  l^arl  Mras. 

2.    Ausgabe. 

Gr.  Goetz,    M.  Ter.  Varr.    ler.  i-ust.  1.  tres.  Post  H.  Keil  iterum 
ed.,  Leipzig  1912. 

Nach  seiner  eigenen  Praefatio  (S.  III  f.J  wiederholt  G.  S.  IV 
bis  X  die  Keils  von  1889,  woran  er  Ö.  X — XVI  eine  textkrit. 
Besprechung  zahlreicher  Stellen  schließt.  Von  derselben  Voraus- 
setzung wie  Keil  ausgehend  (alle  Hss.  gehen  auf  den  verlorenen 
Marc,  zurück),  will  G.  pietätvoll  seine  Ausgabe  nur  als  eine  Er- 
neuerung der  Keil  sehen  betrachtet  wissen,  obwohl  sehr  viel  eigene 
Arbeit  —  entsagungsvolle  und  wertvolle  zugleich  —  in  ihr  steckt. 
Die  Zweiteilung  des  Apparates  hat  er  mit  Hecht  aufgegeben  und  in 
orthographischen  Dingen  die  Schreibweise  des  Archetypus  trotz  aller 
Schwankungen  abgedruckt.  S.  2  steht  jetzt  eine  (in  Keils  kleiner 
Ausgabe  fehlende)  Übersicht  über  die  hs.  Überlieferung  (die  dort 
gegebene  Erklärung  von  v  =  lectiones  eiusdem  ed.  correctae  a 
Politiano  ist  die  richtige,  s.  Keils  große  Ausgabe  S.  XV,  S.  2  u. 
112;  daher  hätte  G.  S.  VIII  die  damit  in  Widerspruch  stehende 
Erklärung  dieser  Sigle  aus  seines  Vorgängers  kleiner  Ausgabe  nicht 
übernehmen  sollen;  über  G.  Merulas  Vorgehen  vergleiche  man  die 
große  Ausgabe,  S.  XIV).  Mit  eigenen  Konjekturen  ist  er  sparsam 
(z.  B.  II  1,  10  alia  multa  sc.  cognomina,  für  (dil  muUi,  sehr  wahr- 
scheinlich; III  10,  1  nomine  (iilieno)  [Keil  {graeco)  nom'me]  cheno- 
boscion  appcUntis:  m.  E.  ist  womme  prägnant  gebraucht  und  ein  Zu- 
satz daher  unnötig).  An  zweifelhaften  Stellen  hat  er  sich  noch  viel 
öfter  als  K.  an  die  Lesart  des  Archetypus  angeschlossen,  so  I.  34,  1 
putescere  (semina  soleant:  K.  putrescere)  wie  macescit  I,  55,  1  (sc. 
olea;  marc.  K.)  und  macescat  III,  16,  9  {marc.  K.),  wo  übrigens 
die  Überlieferung  auf  maciscat  weist,  wie  schon  Scaliger  ge- 
schrieben hat;  I,  55,  6  in  acervis  (von  K.  getilgt)  iactando  vcnülare 
oportet  (sc.  oleas:  solange  sie  in  Haufen  beisammen  sind,  s.  S.  XH); 
57,  1  parietes  et  solum  ,  .  .  loricandi  (Keil  —  um);  II  5,  7  Icviter, 
sc.  Spina  remissa  (K.  Icniier):  9,  2  diversos  (von  Schörl  in  seinem 
im  4.  Abschnitt  zu  erwähnenden  Aufsatz  S.  100  gut  verteidigt; 
Keil  adver sos).  Die  Überlieferung  hätte  noch  an  einigen  anderen 
Stellen  gehalten  werden  können,  z.  B.  III  16,  30  qitac  (apes)  primo 
cum  (G.  wie  K.  quae  primiim)  exierunt.  Die  von  mir,  Varrobericht, 
Bursian  143,  66  (s.  auch  G.'  Praef.  XIV)  verbesserte  Konjektur 
von  Ellis  zu  II,  8,  4  ut  cibo  svffundemus  vires  besteht  auch  jetzt 
noch  zu  Recht.  Denn  was  soll  das  heißen :  vires  suffundere  (sc.  asinis 
admissariis)  ?    Dagegen  gibt  suffundare  (stützen)  den  verlangten  Sinn ; 


IJericht  über  dit;  Literatur  zu  Varro  aus  den  Jahren  1909 — 1918.      71 

zudem  ist  es  aus  deu  Sat.  Men.  (524  B.)  bezeugt.  Im  Index  no- 
minura  ist  unter  Diophanes  Bithynus  (p.  158)  ein  Versehen  aus 
Keils  Ausgabe  übernommen:  nicht  dieser  wird  „81.  2",  d.  i.  11  1, 
27  erwähnt,  sondern  Cassius  Dionysius.  Ein  Verzeichnis  der 
Autoren,  die  Varro  zitiert,  oder  auf  die  er  anspielt,  wird  schmerz- 
lich vermißt  (so  zu  III  17,  10  endo  suam  domum).  Es  ist  sehr  zu 
bedauern,  daß  G.  zu  H.  Schörls  wichtigem  Aufsatz  (s.  weiter 
uuton.  4.  Abschnitt)  nicht  mehr  in  seiner  Ausgabe  Stellung  nehmen 
konnte. 

3.    Übersetzungen. 
Lloyd  Storr-Best,  Varro  on  Farraiug.     The    three    Books  Rer.  rust. 

translated  with    Introduction,   Commeutary   and  Excursus,   LonJo, 

1912. 
Roman  Farm  Management.     The  Treatises  of  Cato  and  Varro,  done 

into  English  with  Notes  of  Modern  Instances  by  a  Virginia  Farmer. 

New  York  1913. 

Von  diesen  beiden  AVerken,  die  mir  nur  aus  den  erschienenen 
Besprechungen  bekannt  sind  (W.  AVarde  Fowler,  Classical  review 
27,  S.  105  f.;  F.F.  Abbott,  Classic,  philology  9,  S.  450  f. : 
W.  Becher,  Berl.  philol.  Wochenschr.  34,  S.  278  f.),  scheint  das 
zweite  das  bedeutendere  und  interessantere  zu  sein.  An  beiden 
Übersetzern  rühmen  die  englischen  Kritiker,  daß  es  ihnen  gelungen 
sei,  eine  Vorstellung  von  Varros  eigenartigem  Wesen  zu  geben. 
Beide  kennen  das  heutige  Italien  und  ziehen  moderne  Verhältnisse 
zur  Erklärung  antiker  Erscheinungen  heran.  Mit  dem  Text  gibt 
sich  nur  der  erste  Mühe,  der  auch  gelegentlich  Verbesserungen  vor- 
schlägt. Seine  Übessetzung  scheint  genauer  zu  sein,  während  es 
sich  beim  zweiten  um  eine  Umsetzung  in  modernes  Denken  handelt, 
wie  die  originelle  Übertragung  von  Cato  5  bei  Abbott  anschau- 
lich zeigt.  Dafür  liegt  ihr  Hauptwert  in  den  Anmerkungen,  die  auf 
ausgebreiteter  Lektüre,  persönlicher  Erfahrung,  weiten  Reisen  und 
guten  Fachkenntnissen  beruhen  (Abbott).  Der  Verfasser,  der  mit 
F.  H.  zeichnet,  ist  nach  A  b  b  o  1 1  s  Vermutung  Fair  fax  Harrison. 
ein  in  Amerika  wohlbekannter  Finanzmann  und  Eisenbahnpräsident, 
'der  —  wofür  sein  Werk  Zeugnis  ablegt  —  für  die  antike  Literatur 
warme  Begeisterung  hegt. 

4.  Textkritik. 
H.   Schörl,   Textkrit.  Untersuchungen  zu  Varros  Büchern  von  der 
Landwirtschaft,  Wien.  Stud.  35  (1913),   75—112. 


72  Karl  Mras. 

W.  A.  Ba ehren s,  Beiträge  zur  lat.  Syntax,  Philol.  Siippl.  Bd.  XII, 

(1912). 
W.  B  a  n  n  i  e  r  ,  Wiederholungen  bei  älteren  griech.  und  lat.  Autoren, 

Rh.  Mus.  69  (1914). 
J.  van  Wageningen,  Ad  Varronem,  Classical  Quarterly  VI  (1912), 

206. 
E.    Kaiinka,    Partitives    ab,    Berl.    phil.   Wochenschr.    37    (1917), 

572  ff. 
0.  Keller,  Zu  Varro  rer.  rust.  IT  1,  ebenda,  1252 f. 
L.  Havet,  La  note  L  dans  Varron,   Rer.  rust.  libri,  Eevue  de  phil. 

N.  S.  37   (1913),  131  f. 
V.  Lund  ström,  Smäplock  ur  Columellas  sprak,  Ei-anos  15  (1915), 

S.  202,  Anmerk.   1. 

Im  I.  Abschnitt  seiner  Arbeit  („Über  unsere  Überlieferung  und 
insbesondere  über  den  Wert  des  Cod.  Vindob.  33",  S.  75 — 79) 
nimmt  S  c  h  ö  r  1  Stellung  gegen  die  zuerst  von  A.  Schleicher, 
Meletematon  Varronian.  specimen  I  (1816)  S.  15  vermutungsweise, 
dann  von  Keil  mit  Bestimmtheit  vorgetragene  Ansicht,  daß  alle 
Hss.  der  landwirtschaftlichen  Werke  Catos  und  Varros  aus  einem 
Kodex  stammen,  der  sich  noch  im  16.  Jahrh.  in  der  Markusbiblio- 
thek in  Florenz  befunden  hat,  seitdem  jedoch  verschollen  ist.  Er 
macht  besonders  auf  den  Cod.  Vindob.  Latiuus  33  aufmerksam,  von 
dem  er  vermutet,  daß  er  nicht  auf  den  Marc,  zurückgehe,  sondern 
aus  derselben  Quelle  wie  dieser  stamme.  Wirklich  schlagende  Be- 
weise für  seine  Ansicht  hat  Seh.  nicht  beigebracht,  er  darf  aber 
das  Verdienst  für  sich  beanspruchen,  zu  erneuter  Untersuchung  der 
Hss.  Varros  angeregt  zu  haben.  Da  über  das  Alter  des  Kodex 
weder  Keil  noch  Seh.  sich  äußern,  habe  ich  ihn  selber  eingesehen. 
Der  erste  Blick  ließ  erkennen,  daß  er  dem  15.  Jahrh.  augehört 
und  aus  Italien  stammt  (Humanistenhs.).  Er  erhält  (fol.  1  ^  —  29^) 
die  drei  Bücher  Varros^),  ist  aber  am  Anfang  durch  Ausfall  von 
Blättern  so  verstümmelt,  daß  er  jetzt  erst  mit  I  48,  1  pro  inde  ut 
beginnt;  darauf  folgt  ColumeUa,  doch  ist  dessen  letztes  Buch 
ebenfalls  verstümmelt.  Jedenfalls  könnte  der  Vindob.  aus  dem  Marc, 
nicht  nach  dessen  Verstümmelung  abgeschrieben  sein,  da  in  ihm 
der  Schluß,  von  III,  17,  4  gregatim  an,  vorhanden  ist.  Um  den 
Kodex  zu  qualifizieren,  bespreche  ich  einige  Stellen,  axxs  deren  Tat- 


*)  Die  Bemerkung  im  Katalog   der  National-  (früher  Hof)  Bibl.,  Ta- 

bulae  codd.  mss in  Bibl.  Palat.  Vind.  asservat.  vol.  I  ]p.  5,  daß  bloß 

zwei  Bücher  enthalten  seien,  ist  falsch. 


Bericht  über  die  Literatur  zu  Varro  aus  den  Jahren  1909—1918.      73 

Sachenmaterial    ich    einen   ganz    anderen    Schluß    als    Seh,  ^)    ziehe : 

II  2,  11  quaad  refrigeratu  aere  vesperfino  rursus  pascunt  (sc.  oves) 
Cod.  Marc,  quoad  refrigerato  e.  q.  s.  A  m.  1  corr,,  Vind.,  Edit.  I: 
Gerade  die  Parallelität  zu  dem  vorhergehenden  dum  defervescant 
(sc.  meridiani  aestus)  spricht  nicht  gegen  (wie  Seh.  S.  93  meint), 
sondern  für  quaad  refrigeratiir  (Keil),  das  auch  durch  aere  vespertino 
gesichert  ist  (neben  vespert,  wäre  doch  refrigerato  überflüssig ,  ja 
unhaltbar).  Also  hat  der  Vindob.  hier  keine  ursprünglicha  Lesart, 
sondern  eine  Konjektur.  II  4,  12  scio  me  isse  spectatum  suem]  esse 
Marc,  isse  Vind.,  Ursinus  „ex  vetere  codice",  wie  unzweifelhaft 
richtig  ist  und  auch  Keil  (desgleichen  Goetz)  schreibt.  Isse  war 
leicht  durch  Konjektur  zu  linden.  II  5,  10  quod  —  non  tarn  fre- 
qiientes  quam  in  Thracia]  quamqnam  cod.  Marc,  quam  qui  v,  quam 
(richtig!)  Vind.  (allein,  Seh.  S.  99):  einfache  Konjektur  (^wamgwam 
Dittographie).  Upi  die  Beseitigung  einer  Dittographie  handelt  es 
sich  auch  II  8,  4  cum  peperit  equa  (peperit  v  Vind.,  pepererit  PAB). 

III  16,  22:  die  hs.  Lesart  (PA^B)  ist  sed  et  transiturae  sint.  An 
et  ist  wegen  des  folgenden  ef,  das  damit  korrespondiert,  nicht  zu 
rütteln;  sed  si  (A^  v  Vict.)  ist  jedenfalls  eine  Humanisteukonjektur, 
die  durch  einige  vorhergehende  si  nahegelegt  worden  ist.  Da  nun 
der  Vind.  ebenfalls  sed  si  bietet  (Seh.  S.  112),  haben  wir  darin 
wohl  einen  Fingerzeig  zu  erblicken  für  unser  Urteil  über  die  Her- 
kunft und  das  Wesen  dieser  Hs.  Daß  sie  mit  A  (einem  Paris,  s. 
XII  Xin)  und  besonders  mit  B  (Laurent.  51,  4,  s.  XV)  überein- 
stimmt,  hebt  Seh.   S.   78  hervor. 

Von  S  c  h  ö  r  1  s  Vorschlägen  zur  Textgestaltung  sind  einige  evident 
richtig,  andere  sehr  beachtenswert.  Ich  mache  besonders  auf  folgende 
aufmerksam:  I  45,  3  hat  Goetz  Keils  co^fMM^tfr  mit  Recht  wieder 
aufgegeben  (er  schreibt  -f  iinguntnr)  •  vom  Zusammenziehen ,  Ge- 
frierenlassen ist  hier  ja  nicht  die  Rede.  Da  nun  an  der  zugrunde- 
liegenden Theophraststelle  (De  caus.  pl.  I  12,  3)  es  heißt  did  tbv 
71t QL^  atqa  iI'vxqov  ovta  (Gegensatz  ra  öi  '/.dTco  ....  inb  x. 
i^EQi-iov  ovyxazayJ^EioiuEva)  ist  Schneiders  Konjektur  cinguntur  (nach 
einem  Cod.  Venetus),  die  Schörl  S.  82  wieder  aufnimmt,  sehr 
wahrscheinlich.  I  55 ,  2  hat  quae  mit  Keil  auch  Goetz;  über- 
liefert ist  jedoch  qui  (sc  rami),  woran  man  festhalten  muß  (Seh.  S.  88), 
wenn  auch  im  folgenden  zu  adversam  wieder  oleam  zu  denken  ist. 
III  16,  11  cum  dicerent  velle  expectare  (Keil  und  Goetz)]  cum  eis 


^)  Im  II.  Abschnitt,  Textkrit.  Besprechung  einiger  Stellen  aus  Varros 
landwirtsch.  Werke. 


74  Karl  Mias. 

et  (Vind.  ex)  velle  expectare  Codd.  Mit  Keil  einen  Ausfall  von 
dicerent  anzunehmen ,  ist  sehr  unwahrscheinlich.  Ich  stimme  Seh. 
(S.  111)  bei,  der  cum  ei  vellent  expectare  vorschlägt,  erkläre  aber 
die  Entstehung  der  Korruptel  anders:  et  vor  velle  ist  m.  E.  die  ur- 
sprünglich am  Rande  »tehende  Emeudation  —  et  (also  vellent  für 
velle).  Über  eis  als  Angleichung  an  die  vermeintliche  Präposition 
cum  brauche   ich   kein  Wort  zu  verlieren. 

Baehrens'  Untersuchungen  ziehen  auch  zahlreiche  Stellen 
von  Varros  E.  K.  1,  in  ihren  Bereich.  In  manchen  Stücken  hat 
er  unzweifelhaft  recht;  z.  B.  darf  au  Wiederholungen  von  Kon- 
junktionen (wie  im  Griech.  ort)  nach  längerem  Einschub  kein  An- 
stoß genommen  werden  ,11,2  das  nt  vor  ipse ,  das  nach  sechs 
Wörtern  wieder  aufgenommen  wird,  nicht  getilgt  werden  (B.  S.  407  ; 
III  16,  32  dagegen  ist  eine  ganz  verderbte  Stelle)  ').  Et  zur  Ein- 
leitung eines  Hauptsatzes  bei  vorangehendem  Nebensatz  ist  Erbgut 
aus  alten  Zeiten ,  wo  Koordination  und  Subordination  noch  nicht 
geschieden  waren,  darf  also  z.  B.  II,  7,  9  vor  ille  nicht  gestrichen 
•werden  (S.  427).  Manchmal  (vor  Konjunktionen)  bedeutet  et  ,und 
zwar',  ist  also  nicht  überflüssig:  II  7,  15  et  ideo  (B.  S.  428)  und 
III  12,  7  et  quod  (S.  406,  wo  B.  noch  andere  Belege  aus  anderen 
Autoren  beibringt).  Anderseits  geht  aber  B.  entschieden  zu  weit, 
wenn  er  die  hs.  Überlieferung  auch  in  solchen  Fällen  verteidigt, 
wo  Präpositionen  fehlen.  Wörtchen,  die  doch  aus  paläographischen 
Ursachen  oder  infolge  Mißverständnisses  einer  Konstruktion  leicht 
ausfallen  konnten,  wie  I  15  {de)  terrae  {de  ist  doch  nicht  aus  dem 
vorhergehenden  de  und  den  beiden  nachfolgenden  zu  ergänzen,  sondern 
vor  te-  ausgefallen);  er  kann  mir  auch  nichteinen  bloßen  Akk.  der 
Richtung  in  Prosa  bei  Verben  wie  conicere,  addere,  adferre  glaub- 
haft macheu,  auch  nicht  die  Annahme,  daß  III  9,  9  (B.  bietet 
fälschlich  III  8)  aequinoctio  verno  ad  autumnale^  weil  durch  ad  die 
'Richtung  wohin'  angedeutet  ist,  infolgedessen  aeCjuinoctio  als  Ablat. 
separ.  eindeutig  bestimmt  ist  und  der  Präposition  entbehren  kann 
(daran  glaubt  auch  Kroll  nicht,   Glotta  VI  350). 

Bann  i er  beleuchtet  durch  beweiskräftige  Belege  die  bekannte 
Tatsache,  daß  die  Alten  gegen  Wiederholungen  derselben  Wörter 
wenig  empfindlich  waren.     Damit  entfällt  der  Anlaß,    III   1,  4  ([uod 


^)  Auch  A.  Klotz,  Zur  Kritik  einiger  ciceronischer  Reden, 
Rh.  Mus.  68  (1913),  S.  501  und  Anm.  1  hält  R.  R.  I  1.  2  das  doppelte  ut 
für  richtig  unter  Hinweis  auf  Stellen  aus  Plautus  u.  Terenz,  so  Trin. 
141,  ebenso  wie  er  Cic.  Verr.  V  73  das  doppelte  se  bewahrt. 


Bericht  über  die  Litenitur  zu  Vano  aus  den  Jalireu  1909 — 1918.      75 

et  in  pace  a  rusticis  Rom.  alebantur  et  in  hello  ab  Ms  alebantur  das 
zweite  alebantur  zu  änderu,  in  allevabantur  mit  Gemoll  (der  Wochen- 
sclir.  f.  klass.  Pliilol.  29,  S.  978  f.  die  Priorität  dieser  Konjektur  für 
sich  reklamiert)  und  E 1 1  i  s  ,  oder  mit  S  c  h  o  e  1 1  in  o?  (ae  sum)  ebantur 
oder  gar  mit  Keil  in  ducebantur,  zumal  da  Bann  i  er  aus  Catos 
landwirtschaftlichem  Werk  —  dessen  Sprache,  wie  ich  bemerke,  auf 
Varros  Werk  infolge  weitgehender  Benutzung  stark  abgefärbt 
hat  —  ähnliche  Beispiele  beibringt  (S.  497) :  83  coicere  —  coicere, 
134,  4  dato  —  dato,   157,  1   habet  —  habet. 

J.  van  Wageningen  schlägt  zu  11.  K.  l  13,  2  vor:  ut  sit 
(soUy  aclmota  (sc.  culina) ,  weil  man  einen  Dativ  vermisse  und  es 
von  der  Küche  bei  Vitruv  VI  6,  1  heiße:  in  corte  culina  quam 
calidissimo  loco  designetur.  Zunächst  ist  die  Konjektur  bestechend, 
allein  sieht  man  näher  zu,  so  muß  man  sie  ablehnen  :  gemeint  ist 
ja  adniota  ad  cellam  vilici  (s.  Keil,  Kommentar  S.  46),  von  der 
unmittelbar  vorher  die  Kede  ist.  Ich  bemerke,  daß,  da  der  vilicus, 
was  in  der  Küche  vorgeht,  zu  beaufsichtigen  imstande  sein  muß, 
deshalb  diese  ihren  Platz  in  nächster  Nähe  seiner  cella  hat.  Daß 
es  heißt  .  .  .  quod  ibi  hieme  ,  .  .  aliquot  res  conficiuntur  usw.  ist 
ganz  natürlich,  denn  im  Sommer  ist  das  Gesinde  auf  den  Feldern, 
ich  verweise  auf  I  36  cum  in  agris  opus  fieri  non  potest,  quae  sub 
tecto  possunt  tunc  couficienda  antelucano  tempore  hiberno,  wo  auch 
die  Beaufsichtigung  dieser  häuslichen  Arbeiten  durch  den  vilicus 
ausdrücklich  erwähnt  wird :  quae  dixi  scripta  et  proposita  habere 
in  villa  oportet,  maxime  ut  vilicus  norit. 

II  1,  5  etiam  nunc  in  locis  multis  genera  pecudum  ferarum  sunt 
aliquot,  ab  ovibus,  ut  in  Phrygia  ,*  ubi  greges  videntur  complures,  in 
Samothracc  caprarum  quas  latine  rotas  appcllant,  nehmen  Kaiinka 
und  Keller  an  ab  ovibi(S  Anstoß,  aber  während  sich  dieser  damit 
begnügt,  durch  ein  +  eine  Korruptel  andeuten  zu  wollen,  sucht 
Kaliuka,  unter  Ablehnung  partitiver  Bedeutung  des  ab  sowie  der 
Auffassung,  diese  Präposition  könnte  hier  den  Ursprung  oder  den 
Ausgangspunkt  bezeichnen ,  ab  ovibus  als  eine  in  den  Text  ein- 
gedrungene Randbemerkuung  zu  dem  unmittelbar  vorhergehenden 
Satz  zu  erklären  .  .  .  a  vita  pastorali  ad  agri  culturam  descenderunt 
(nach  Varro  gründete  sich  die  vita  pastoralis  wesentlich  auf  den 
Besitz  gezähmter  Schafe).  M.  E.  liegt  hier  ein  schönes  Beispiel 
der  bei  Varro  häufigen  variatio  vor:  ab  ovibus  =  auf  dem  Ge- 
biete, im  Bereiche  der  Schafe  (wie  nQcg  mit  Genet )  ist  selbständig, 
dagegen  hängt  caprarum  wohl  eher  von  greges  als  von  genera  ab. 
Kellers  Vorschlag,  für  rotas  zu  lesen  r(upicapr)as,  ist  wenig  wahr- 


7(>  Karl  Mras. 

scbeinlicli,  sfrepsicerotas  (Schneider;  nach  Keller  eine  afrika- 
nische Antilopenart)  und  platycerotas  (Turnebus  und  Scaliger; 
nach  Keller  Damhirsche)  sind  gänzlich  abzulehnen. 

An  mehreren  Stellen  der  R,  R.  1.  finden  wir  die  Sigle  .  1  .  oder 
einfach  1,  mitten  im  Text,  manchmal  sogar  mitten  in  einem  Wort 
(z,  B.  I  55,  4  h\\l\vium).  Havet  möchte  —  wenig  wahrscheinlich  — 
L  als  mißverständliche  Umgestaltung  eines  Z  auffassen,  der  Abkürzung 
einer  Form  von  Cr]Teiv  (aber  wie  sollten  wir  uns  die  Verwendung 
dieses  griech.  Zeichens  in  einer  latein.  Hs.  erklären?)^).  M.  E.  ist 
es  sicher  ein  kritisches  Randzeichen,  dafür  spricht  ja  der  Umstand, 
daß  es  fast  nur  im  ersten  Buch  vorkommt  (außerdem  schwache 
Spuren  im  zweiten)^),  begreiflich,  wenn  wir  uns  vorstellen,  daß  ein 
Gelehrter  die  Schrift  von  Anfang  an  durchging.  Bedeuten  wird  es 
„laudabilem  locum",  wie  schon  Scaliger  vermutet  hat  (vgl.  Keil 
a.  a.  0.)  und  wie  das  Zeichen  schon  in  unserer  hs.  Überlieferung 
des  Werkes  gelegentlich  aufgelöst  worden  ist:  I  55,  1  [laudahtUor  L] 
und  59,  2  [L  laudabiliter] ;  besonders  verweise  ich  auf  den  drama- 
tischen Abschluß  dieses  Buches ,  wo  nach  den  Worten  des  Frei- 
gelasseneu, der  von  dem  eben  vorgefallenen  Messerattentat  auf  den 
Tempelhüter  erzählt,  .  .  .  tarnen  xmtareß,]  se  fecisse  rede,  steht:  L. 
Dann  würde  L  etwa  dem  (u  =  cjQalov  der  griechischen  Hs.  ent- 
sprechen. Möglicherweise  hat  es,  später  mißverstanden,  dann  eine 
weitere  Verwendung  gefunden  und  bezeichnete  nun,  wie  Keil  a. 
a.  0.  meint,  „emendationem  corruptae  lectionis  vel  adnotationem  ali- 
(|uam  in  margine  adscriptam".  Für  ganz  ausgeschlossen  halte  ich 
es  endlich  nicht,  daß  es  nichts  weiter  als  ein  mißverstandenes  Ver- 
weisungszeichen ist.  Aber  für  die  Annahme,  daß  L  laudabiliter 
u.  dgl.  bedeute,  finde  ich  eine  starke  Stütze  in  der  Tatsache,  daß 
der  Cod.  Vind.  III  16,  4  zu  dem  Vers  i/tttcov  — insliOGai  den  Ver- 
merk hat  (unmittelbar  nach  melisc) :  iocande  =  scherzend,  witzig 
(Schörl  a.  a,  0.,  S.  77). 

Wie  sich  Lundström  an  zwei  Stellen  ColumeUas  (I,  3,  1 
und  im  Inhaltsverzeichnis  nach  dem  11.  Buch)  für  die  Beibehaltung 
der  hs.  Überlieferung  inspiciendo  agro  (ohne  in)  einsetzt,  so  verwirft 
er  auch  bei  Varro  I  2,  8  duo  in  primis  spectasse  videntur  Italici 
homines  colendo  die  von  Keil  vorgenommene  und  von  G  o  e  t  z    bei- 


1)  Heraus  in  seiner  neuen  Petronausgabe  (von  der  weiter  unten  die 
Rede  sein  wird)  hält  z  in  einem  Kodex  des  Nonius  für  ein  Fehlerzeichen 
(zu  Sat.  Men.  320  B). 

2)  S.  die  Liste  bei  Keil,  Komm.  S.  18. 


Bericht  über  die  Literatur  zu  Varro  aus  den  Jahren  1909 — 1918.      77 

behaltene  Einschiebuug  des  in  vor  colendo,  unter  Hinweis  auf  Kühner - 
Stegm.  Lat.  Gr.  II  1,  752  f.  (modal-temporaler  Ablat.  des  Gerundiums). 
Dazu  bemerke  ich,  daß  hier  offenbar  jene  Verwendung  des  Gerund, 
vorliegt ,  die  sich  später  in  der  Volkssprache  so  ausgebreitet  hat, 
daß  dadurch  das  Particip.  praes.  verdrängt  wurde  (übrigens  könnte 
au  unserer  Stelle  auch  das  hi  von  in  primis  nachwirken). 

5.    Quellenfrage. 
a)   Die  Quellen  für  R.  R.  1.  III. 

0.  Hempel:  De  Varronis  rer.  rust.  auctoribus  quaestiones  selectae. 

Dissert.  Leipzig  1908. 
M.  Waehler:  De  Varronis  rer.  rust.  fontibus  quaestiones  selectae. 

Diss.  Jena  1912. 

Hempels  in  schiechtem  Latein  (Si  euim  qua,  certe  haec 
conclusio  est  iusta,  S.  62)  geschriebene  Dissertation,  deren  Stil  durch 
das  für  das  genus  tenue  einer  Dissertation  höchst  unpassende  Lieb- 
lingswort des  Verfassers  autumare  nicht  gehoben  wird,  noch  weniger 
durch  exorditus  S.  20,  befolgt  den  in  vielen  Dissertationen  üblichen 
Grundsatz,  einen  erhaltenen  Autor  zugunsten  eines  verlorenen  herab- 
zusetzen. Hier  ist  Var  r  o  der  „homo  neglegens",  Cassius  Dionysius, 
von  dem  wir  nichts  besitzen,  der  „homo  diligens"  (S.  61).  Eigent- 
lich soll  aber  Varro  sein  Wissen  nicht  einmal  dem  Cass.  Dionys. , 
sondern  dem  Epitomator  Di  ophanes  verdanken  (s.S.  83)  —  eine 
Annahme ,  die  sich  schon  dadurch  als  unstichhaltig  erweist,  daß 
Varro  I  9,  7  nicht  wie  sonst  den  Cass.  Dionys.,  sondern  den 
D  i  o  p  h  a  n  e  s  zitiert,  also  beide  Autoren  auseinanderhält.  Daß  Varro 
Aristoteles  und  T  h  e  o  p  h  r  a  s  t  bloß  indirekt  benutzt  haben  soll, 
ist  ganz  unrichtig;  darüber  habe  ich  ausführlich  im  letzten  Varro- 
bericht  S.  68  gehandelt,  in  der  Besprechung  der  ausgezeichneten 
Arbeit  von  G.  Gentilli  (De  Varron.  in  1.  K.  R.  auctoribus,  Stud. 
ital.  di  filol.  cl.  XI  99 — 163).  Die  Untersuchung  der  Geoponika 
wird ,  davon  abgesehen,  daß  es  noch  keine  moderne  textkrit.  Aus- 
gabe derselben  gibt,  dadurch  erschwert,  daß  Varro  selber  (zum 
Teil  mit  Nennung  seines  Namens)  in  sie  verarbeitet  ist.  Was 
übrigens  die  gelegentlichen  Mißverständnisse  betrifft,  die  Varro 
bei  der  Benutzung  seiner  Quellen  unterlaufen,  so  dürfen  wir  nicht 
vergessen,  daß  wir  das  Werk  eines  Achtzigers  vor  uns  haben.  Eine 
wichtige  Quelle  lassen  sowohl  Hempel  als  auch  die  anderen  Varro - 
kritiker  fast  2;anz  außer  Betracht :    seine    eigene   landwirtschaftliche 


78  Karl  Mras. 

Praxis^);  welche  Bedeutung  diese  für  die  1.  K.  R.  hat,  erhellt  schon 
aus  der  Häufigkeit,  mit  der  Varro  auf  seine  Heimat  (wo  er  auch 
dieses  Werk  schrieb) ,  Reate  uud  Umgebung,  zu  sprechen  kommt 
(s.  den  Index  bei  Goetz-Keil).  Seine  Vorlagen  las  er  mit  dem 
kritischen  Blick  des  Fachmannes  und  paßte  ihre  für  nichtitalische 
Länder  bestimmten  Vorschriften  den  Verhältnissen  Italiens  an  (siehe 
meinen  Varrobericht  1909,  S.  69). 

Fachkenntnisse  Varros  nimmt  auch  Waehler  au  (S.  62), 
dem  natürlich  H  e  m  p  e  1 ,  sein  Rezensent,  widerspricht,  Berl.  ph, 
Wochenschr.  33  (1913),  777  f..  W.  geht  in  seiner  Dissertation  mit 
trefflicher  Methode  vor:  Indem  er  zunächst  das  Verhältnis  zwischen 
Varro  undColumella  untersucht  (S.  8 — 42),  konstatiert  er,  daß 
dieser  jenen  noch  weit  öfter  benutzt  hat,  als  er  ausdrücklich  sagt 
(charakteristisch  besonders  Colum.  V  1,  5  die  auffallende  Bezeich- 
nung eines  Feldmaßes  acnua,  die  er  offenbar  aus  V.  R.  R.  I  10,  2 
hat ,  ohne  daß  er  ihn  nennt) ;  manches  varron.  Gut  verdankt  er 
Zwischenquellen,  Celsus,  Hygin  u.  a.  Die  nach  Ausscheidung 
dieser  Stellen  verbleibenden  ähnlichen,  aber  keineswegs  identischen 
Abschnitte  beider  Werke  werden  auf  eine  gemeinsame  Quelle,  Magos 
E  p  i  1 0  m  e  (C  a  s  s.  D  i  o  n  y  s. ),  zurückgeführt.  Im  2.  Kapitel  wendet 
sich  der  Verfasser  der  Untersuchung  der  varron,  Schrift  zu.  Stoff 
und  Form  der  1.  R.  R.  sind  echt  römisch;  römische  Schriftsteller 
zitiert  V  a  rr  o  und  verquickt  ihre  Ansichten  mit  seinen  eigenen, 
zieht  aber  auch  seine  eigenen  früheren  Werke  (so  die  Antiquit.) 
zur  Illustrierung  und  Belebung  des  spröden  Stoffes  heran,  zum  Teil 
aus  dem  Gedächtnis,  wie  W.  mit  Recht  bemerkt  (S.  51  f.).  Wie 
steht  es  nun  mit  Varros  nichtrömischen  Gewährsmännern?  W.  prüft 
S,  66 — 70  die  in  Betracht  kommenden  Aristotelesstellen  und  S.  71 
bis  75  die  Stellen  aus  Theophrast.  Durch  diese  Untersuchung 
werden  G  e  n  t  i  1 1  i  s  Ergebnisse  (s.  oben)  im  wesentlichen  betätigt. 
Von  vornherein  hätte  man  nicht  daran  zweifeln  sollen,  daß  der  aus- 
gezeichnete Kenner  der  griech.  Philosophie,  dem  selbst  Cicero 
ein  Kompliment  macht  (vgl,  Acad.  I  1,  3),  seine  Schrift  auf' dem 
Grunde  der  genauen  Kenntnis  der  Werke  beider  Philosophen  auf- 
gebaut hat.  Das  richtige  Urteil  über  Th  eophrast  (I  5,  1  f.)  kann 
nur  auf  eigener  Lektüre  beruhen;  die  Ähnlichkeit  zwischen  Varro 
und  Theophrast    (Histor.    plant,  u.    De    caus.  plant.)    ist    oft    so 


^)  Die  auch  Norden  zu  wenig  würdigt  (Einleit.  in  d.  Altertumswiss.  I 
S.  482*  =  3492):  „.  .  .  deren  (K.  R.  1.)  Stoff  er  mehr  aus  griech.  und  lat. 
Büchern  als  aus  eigener  Erfahrung  nahm,  obwohl  die  Resultate  dieser 
nicht  irnnz  fohlen." 


Bericht  über  die  IJteratur  zu  Varro  aus  den  Jahren  1909-1918.      79 

groß,  daß  sieh  Varros  Worte  wie  eine  Übersetzung  ausnehmen. 
Die  Benutzung  des  Mago  (Cass.  Dionys.)  schränkt  W.  gegenüber 
Hempel  stark  ein  (4.  Kapitel,  S.  77—79). 

b)  R.  R.  1.  III  als  Quelle. 

E.  Weiss,  De  Columella  et  Varrone  rer.  rust.  scriptoribus.  Disser- 
tation, Breslau  1911. 
C.  Engelke,  Quae  ratio  intercedat  iuter  Vergilii  Georgica  et 
Varronis  rer.  rust.  libros.  Leipziger  Dissertation  (Blankenburg) 
1912. 
G.  W  i  s  s  0  w  a ,  Das  Prooemium  von  V  e  r  g  i  1  s  Georgica,  Herrn.  52 
(1917). 

Weiss'  Vorgehen  ist  analog  dem  von  Hempel,  von  Varro 
auf  Columella  umgesetzt  (begreiflich  also,  daß  es  Hempels 
vollen  Beifall  gefunden  hat,  Berl.  phil.  Wochenschr.  32  [1912] 
S.  368 f.).  Weil  von  allen  landwirtschaftlichen  Autoren  Celsus 
von  Columella  am  häufigsten  genannt  wird  (S.  3),  sucht  er  zu 
beweisen,  daß  auch  Columella  nur  eine  Hauptquelle  gehabt 
habe,  nämlich  Celsus,  der  seinerseits  als  Hauptquelle  Dionysius- 
Diophanes  benutzt  habe.  Trotz  der  handgreiflichen  Überein- 
stimmungen zwischen  Columella  und  Varro  und  ausdrücklichen 
Zitate  —  bes.  instruktiv  ist  in  dieser  Hinsicht  Columellas  Vor- 
rede zum  VI.  B.  (s.  die  Zusammenstellung  S.  31  ff.)  —  geht  er 
so  weit,  Columella  die  direkte  Benutzung  der  R.  R.  1.  des  Reatiners 
abzustreiten  (S.  40) !  Wenn  man  sich  nun  vor  Augen  hält,  daß 
Celsus'  Werk  über  die  Landwirtschaft  bloß  fünf  Bücher  umfaßte, 
das  des  Columella  hingegen  zwölf  hat,  muß  man  sich  erstaunt 
fragen,  woher  dann  C.  diesen  großen  Überschuß  bezogen  haben  soll. 
Selbst  Hempel  muß  (in  der  oben  erwähnten  Besprechung  von 
Waehlers  Dissertation  [S.  777])  zugeben,  daß  dieser  die  Kraft 
einiger  Beweise  von  Weiss  wesentlich  geschwächt  hat. 

E  n  g  e  1  k  e  s  Dissertation  ist  hauptsächlich  gegen  P.  Jahn  ge- 
richtet, der  in  verschiedenen  Schriften  (s.  meinen  Varrobericht  1909, 
S.  70  ff.)  Abhängigkeit  Vergils  in  den  Georgika  von  Varros 
K.  R.  1.  annahm.  Von  vornherein  aber  ist  —  was  E.  statt  am 
Schluß,  S.  52,  an  der  Spitze  seiner  Arbeit  hätte  hervorheben  sollen  — 
die  Wahrscheinlichkeit  höchst  gering,  daß  Vergil,  der  37  v.  Chr. 
mit  der  Abfassung  seiner  Georg,  begann,  Varros  in  demselben 
Jahre  erschienenes  Werk  benutzt  habe,  zumal  da  jener  in  Neapel 
lebte.  E.  prüft  zunächst  (Pars  I ,  p.  10 — 38)  das  Verhältnis  des 
vierten  Buches  der  G.  (Bienenzucht)  zu  Varros  R.  R.  III  IG  :  nirgends 


gQ  Karl  Mras. 

resultieren  zwingende  Beweisgründe  dafür,  daß  Vergil  den  Varro 
benutzt  habe.  Aucli  im  III.  B.  der  Georg.  (Pars  II,  p.  38 — 48) 
findet  sieb  durchaus  nichts,  was  mit  zwingender  Notwendigkeit  auf 
Varro  als  Quelle  hinweisen  würde;  z.  B.  ergibt  die  Beschreibung 
der  Merkmale  einer  guten  Kuhrasse  bei  Varro  II  5,  7,  verglichen 
mit  der  bei  Vergil,  Georg,  III  51  ff.  bemerkenswerte  Unterschiede, 
ja  Gegensätze  (S.  39  f.).  Auch  in  der  Beschreibung  des  Fohlens, 
dessen  Merkmale  zu  guten  Hoffnungen  berechtigen  (Verg.  G.  III 
72 — 94  t^»-'  Varro  117,  5)  ist  Varro  als  Hauptquelle  für  Vergil 
ausgeschlossen  (S.  41  f.).  Hier  wie  dort  bringt  Vergil  Merkmale 
vor,  die  bei  Varro  fehlen.  Für  das  2.  Buch  nimmt  nicht  ein- 
mal P.  Jahn  Varro  als  Quelle  für  Vergil  an  (sondern  T  h  e  o  - 
phrast)  und  für  das  1.  Buch  kommt  Varro  ebensowenig  in  Be- 
tracht (Pars  III,  p.  48  ff.).  Während  0.  Gut  hl  in  g  (Wochenschr. 
f.  kl.  Philol.  29  [1912[  1373 f.)  mit  Engelkes  Kesultat  durchaus 
einverstanden  ist  (nur  tadelt  er  sein  schwerfälliges  und  oft  nicht 
einwandfreies  Latein),  wendet  sich  Jahn  in  seiner  Kritik  (Berl. 
philol.  Wochenschr.  33  [1913]  551—557),  die  eher  als  Selbstver- 
teidigung zu  bezeichnen  ist,  heftig  gegen  ihn. 

Auf  Varro  führt  Wisse wa,  wie  schon  andere  vor  ihm,  bei 
Vergil  die  Anregung  zurück,  das  Prooemium  seiner  Georgica  in 
Form  einer  Anrufung  von  zwölf  ländlichen  Gottheiten  abzufassen. 
Das  sei  keineswegs  gewöhnlich,  wie  Varro  selber  hervorhebe  (I  1,  4), 
der  diesen  Kalimen  (die  Zwölfzahl)  römischem  Kultbrauch  entlehnt, 
die  Götter  selbst  aber  nach  eigenem  Gutdünken  zusammengestellt 
habe  (S.  95  ff.)*,  wie  willkürlich  und  schrullenhaft  er  dabei  vorging, 
könne  man  daraus  ersehen ,  daß  die  wichtigen  agrarischen  Gott- 
heiten Saturn  und  Consus  fehlen.  Was  nun  Vergil  betrifft,  so 
gibt  W.  selber  zu,  daß  er  nicht  die  varronische  Auswahl  über- 
nommen habe.  Sehr  besonnen  urteilt  über  diese  Frage  (S.  50 — 52) 
Engelke  (gegen  ihn  Wissowa  a.  a.  0.  S.  95,  Anm.  2):  Vergil 
zählt  gar  nicht  gerade  zwölf  Gottheiten  auf,  von  denen  bloß  fünf 
beiden  gemeinsam  sind,  Sol,  Luna,  Liber,  Ceres,  Minerva  (daß  beide 
diese  Götter  anrufen,  darf  uns  bei  ihrer  Bedeutung  für  die  Land- 
wirtschaft nicht  Avundern) ;  Varro  führt  sechs  Paare  an,  Vergil 
ordnet  sie  nicht  paarweise;  Vergils  Götter  stehen  zu  den  einzelnen 
Teilen  seines  Werkes  in  Beziehung,  Varro  ruft  nur  Götter  an,  die 
den  Ackerbau ,  den  Gartenbau  und  die  Olgewinnung  beschirmen. 
Mit  Kecht  Aveist  er  ferner  darauf  hin,  daß  Vergil  sich  hier  der 
typischen  Gepflogenheit  der  Verfasser  von  Lehi'gedichten  anschloß 
(also  keine  Anregung  von  anderer  Seite   brauchte),    man  denke  an 


Bericht  übi-r  die  Literatur  zu  Varro  aus  den  Jahrou  1909—1918.      81 

Arat  (Zeus),    Lucrez  (I  21  Veuus,   „quae  .  .  .  rerum    naturam    sola 
guberuas"),   Grattius  (Diana),   Manilius  (Merkur). 

6.    Sachliches. 
A.  Geiss,   Die    politio  iu    der  röm.    Landwirtschaft.      Dissertation, 

Freiburg  i.  B.  1910. 
J.  Kromayer,  Die  wirtschaftliche  Entwicklung  Italiens    im  II.  u. 

I.  Jahrb.  V.  Chr.      Neue    Jahrb.  f.  d.  kl.  Altert.  33.  Bd.  (1914), 

145  —  169.  '^ 

J.  Curtis,  The  Double  Flutes.  Journ.  of  Hellenic  Stud.  34  (1914), 

89—105. 
E.  Fehrle,    Die  Heuschrecke   im  Aberglauben.     Hessische  Blätter 

f.  Volkskunde,  Bd.  11  (1912),  211. 
W.   Vollgraff,    Ad    Callimachi    hymnum     in    Cererem.     Mnemos. 

N.  S.  42  (1914J,  410  ff. 
W.  Soltau,  Roms  Gründungsjahr  bei  Ennius.     Piniol.   71    (1912), 

317—319. 
V.  Lundström,  Nya  Enniusfragment.  I.    Erauos  15   (1915),   2  f. 

Kurz  erwähnt  seien  hier  einige  allgemeine  Darstellungen, 
die  für  die  sachliche  Erklärung  in  Betracht  kommen :  der  gut 
orientierende  Artikel  über  Landwirtschaft  im  neuen  Lübker  (S.  577 
bis  579),  der  an  die  Stelle  des  ganz  ungenügenden  Artikels  über 
Ackerbau  (7.  Aufl.)  getreten  ist;  der  Abschnitt  über  Getreide  (von 
Orth)  in  Paulys  neu  bearbeiteter  Real-Encyclopädie,  13.  Halbband 
(1910),  S.  1336—1352;  die  Artikel  über  Düngung  und  Obstbau  von 
J.  H  0  0  p  s  im  Reallexikon  d.  germanischen  Altertumskunde. 

Geiss  behandelt  einen  terminus  technicus  der  röm.  Landwirt- 
schaft, der  nur  selten  vorkommt:  bei  Cato  de  agri  cultura  136  (die 
Hauptstelle),  ebendort  5  und  einmal  in  den  Digesten :  ferner  gibt  es 
noch  einige  wenige  Stellen,  an  denen  ganz  kurz  von  (de)politio 
oder  (de)polire  in  landwirtschaftlichem  Sinne  die  Rede  ist,  darunter 
Varro,  Sat.  Menipp.  589  B.  Ich  mache  auf  eine  bisher  übersehene 
Stelle,  R.  R.  I  2,  10  aufmerksam  (Cn.  Tremelium  Scrofam,  virum 
Omnibus  virtutibus  politum,  qui  de  agri  cultura  Romanus  peri- 
tissimus  existimatur  .  .  .  fundi  enim  eins  propter  culturam  iucundiore 
spectaculo  sunt  multis  quam  regle  polita  aedificia  aliorum),  wo 
jetzt  klar  ist,  daß  Varro  ein  Wortspiel  beabsichtigt  hat  und  beide 
Varrostellen  einander  illustrieren:  aus  jener  ^)  folgt,  daß  Varro  hier 


')  Quid  mirum?  ex  agri  depolitionibus  eiciuntur,  hie  in  cenaculo  polito 
recipiuiitur. 
Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft  Bd.  192  (1922.  II).  6 


g2  Kiirl  Mi-as. 

auf  die  politio  agri  anspielt,  und  umgekelirt  aus  dieser,  daß  dort 
der  Gegensatz  zwisclien  agri  cultura  und  städtischer  Kultur  vorliegt. 
Über  die  Bedeutung  von  politor  vmd  politio  gibt  es  zwei  Haupt- 
ansicliteu:  1.  Der  politor  ist  ein  gewöhnlicher  landAvirtschaftlicher 
Arbeiter,  der  aushilfsweise  bei  der  regelmäßigen  Ackerbestellung 
verwendet  wird.  2.  Der  politor  ist  ein  besonders  qualifizierter  land- 
wirtschaftlicher Ai'beiter,  welcher  nicht  im  regelmäßigen  Wirtschafis- 
betriebe  Verwendung  findet  (man  denkt  dabei  an  Meliorationsarbeiten) 
[G  eiss  S.  14— ;31].  Da  den  Verfasser  weder  die  bisherige  Erklärung 
noch  die  bisherige  Ableitung  des  Wortes  polio  und  seiner  Derivativa 
(von  der  y'  li  +  po)  befriedigt  (a.  S.  32 — 39),  leitet  er  es  von  yrolelv 
ab  =  öearÄern,  Brachacker  heslellen  (S. .  39 — 45).  ein  unglückseliger 
Einfall ,  da  JCoXslv^  das  nur  bei  Dichtern  vorkommt,  der  gewöhn- 
lichen Sprache  gar  nicht  angehört,  ein  Umstand,  der  die  Möglich- 
keit, polio  als  ein  auf  tioXeIv  zurückgehendes  Lehnwort  anzusehen, 
völlig  ausschließt.  Überall  kommen  wir  mit  der  der  bisherigen  Ab- 
leitung entsprechenden  Bedeutung  glätten,  in  den  Zustand  der  Fcrtig- 
strUint'j,  Vollkommenheit  bringen  aus. 

(Jicero  spricht  Ad  Attic.  I  19,  4  (vom  15.  März  60)  von  der 
Verödung  Italiens^),  Varro  hingegen  preist  die  landAvirtschaftliche 
Blüte  des  Landes  11.  R.  12,  3")  u.  6,  das  er  an  letzterer  Stelle 
geradezu  mit  einem  Obstgarten  vergleicht^).  Wie  löst  sich  dieser 
Widerspruch?  Kromayer  verweist  auf  Urkunden  aus  Süd-  und 
Norditalien  (CIL  IX  1455,  Benevent  und  XI  1147,  Veleia  und 
Placentia),  aus  denen  sich  folgendes  ergibt :  Unter  89  Besitztümern 
in  der  Mai-k  von  Veleia  und  Placentia  umfassen  bloß  8  mehr  als 
10  Hektar  und  auch  diese  halten  sich  in  den  sehr  bescheidenen 
Grenzen  von  11 — 26  Hektar.  Und  noch  günstiger  für  den  kleinen 
Besitzer  ist  das  Resultat  in  Benevent:  Hier  gibt  es  unter  92  Besitz- 
tümern auch  nur  8  mit  mehr  als  10  Hektar",  aber  das  größte  unter 
ihnen  hat  bloß  14.  Es  ist  also  in  diesen  beiden  Landschaften  alles 
Ackerland ,  das  in  den  Tafeln  zur  Verzeichnung  gekommen  ist, 
in  der  Hand  von  Mittel-  und  Kleinbesitzern.  Die  Bauernkolonien 
Avaren  zum  größten  Teil  auf  Nord-  und  Süditalien  vei'teilt.  Dagegen 
wurden  die  Lücken  des  kleinen  Bauernstandes  in  Latium  und  den 
umliegenden    Gebieten    nicht    durch    Auffüllung    desselben    ergänzt. 


^)  ...  et  sentinam  urbis  exhauriri  et  Italiae  solitudiuem  frcquentari 
posse  arbitrabar. 

-)  Vos,  4U!  nuiltas  porambulastis  terras,  ecquam  cultiorem  Italia 
vidi.stis? 

^)  Non  arboribu.s  consita  Italia,  ut  tota  pomarium  videatur? 


Bericht  über  die  Literatur  zu  Varro  aus  don  Jaliren  1909 — 1918.      83 

sondern  hier  trat  dafür  der  Großgrundbesitzer  ein,  der  die  in  der 
Nälie  Roms  gelegenen  kleinen  Güter  als  Kapitalist  aufkaufte  und 
zusammenschlug,  während  der  kleine  Mann  in  die  Kolonien  und 
Landanweisungeu  in  Süd-  und  Norditalieu  abgeschoben  wurde  (S.  152). 
Also  beziehen  sich  die  Klagen  der  Autoren  auf  Mittelitalien,  Varro 
hat  Gesamtitalien  im  Auge. 

0.  Keller  (der  Verfasser  des  Wei-kes  Die  antike  Tier- 
welt) macht  ander  oben  (unter  Textkritik)  angeführten  Stelle 
darauf  aufmerksam,  daß  die  von  Varro  (R.  R.  11  1,  5)  erwähnten 
phrygischen  Wildschafe  noch  moderne  Reisende  wie  Hamilton  lierden- 
weise  angetroffen  haben :  es  wird  sich  um  den  dickhornigen  Argali, 
Ovis  argali  oder  ammon,  handeln,  der  jetzt  noch  in  Armenien  und 
weiter  östlich  vorkommt. 

Curtis  erörtert  in  seinem  Aufsatz  die  Konstruktion  der  Flöten 
zu  verschiedeneu  Zeiten  und  die  Skalen ,  die  auf  ihnen  gespielt 
werden  konnten.  Bei  Varro  R.  R.  I  2,  15  liegt  kein  Irrtum  vor, 
wie  C.  annimmt,  denn  Varros  Worte  besagen  nicht  das,  was  C. 
in  sie  hineinlegt;  übrigens  stammt  der  Vergleich  der  vita  pastoralis 
mit  der  tibia  incentiva,  der  vita  rustica  mit  der  succentiva,  wie  aiis 
j:^   16  folgt,  aus  Dikäarch. 

Varro  nimmt  R.  R.  I  2,  25  und  27  voller  Spott  auf  aber- 
gläubische Vorschriften  der  beiden  Sasernae  (Vater  und  Sohn)  Bezug. 
Auf  erstere  Stelle  beruft  sich,  für  die  Heil-  und  Zauberkraft  der 
Gurke,  Fehrle,  auf  letztere  Vo  11g raff,  zum  Beweis  des  Glaubens 
an  die  große  Kraft  des  menschlichen   Speichels. 

Nach  Varro  R.  R.  HI  1,  2  ließEnnius  zu  seiner  Zeit  etwa 
700  Jahre  seit  Roms  Gründung  vergangen  sein'^).  Diese  Worte 
wurden  entweder  auf  einen  Irrtum  Varros  zurückgeführt  — wenig 
wahrscheinlich ,  vor  allem ,  wie  ich  bemerken  Avill ,  deshalb,  weil 
Varro  selber  dem  Enuius  einen  Irrtum  zuschreibt  — '^),  oder  man 
suchte  sie  von  einem  besonderen  chronologischen  Gesichtspunkt  aus 
zu  erklären  (Luc.  Müller:  Ennius  habe  Karthagos  und  Roms 
Gründung  in  die  gleiche  Zeit  gesetzt,  um  900  v.  Chr.),  S  o  1 1  a  u 
mt'iut,  wenn  Ennius  wie  Naevius  den  Romulus  zum  Enkel  des  Aencas 
inachte  (L.  Müller),  also  Roms  Gründung  um  1100  erfolgen  ließ, 
konnte  er  nicht  an  anderer  Stelle  das  augustum  angurium  200  Jahre 

')  Ann.  501  Vahleii":  septiiigenti  sunt  paulo  plus  aut  minus  ainii, 
augusto  augurio  postquam  inclita  condita  Roma  est. 

^)  Nam  in  hoc  nunc  denique  est  ut  dici  possit,  non  cum  Ennius  scrip.?it: 
septingenti  sunt  e.  q.  s. :  d.  h.  Jetzt  erst  stimmt  d'm  Behauptung,  nicht  zu 
Ennius'  Zeit  usw. 

6* 


84 


Karl  Mras. 


später  ansetzeu :  s.  E.  waren  die  Worte  vielleiclit  einem  Staatsmann 
bei  besonderem  Anlaß  in  den  Mund  gelegt,  etwa  beim  Herannahen 
der  Gallier  (vgl.  Liv.  V  40,  1). 

Lundström  gewinnt  (evident  richtig!)  durch  Vergleichung 
von  Colum.  I.  praef.  20  mit  Varro  K.  li.  II  praef.  4  u.  L,  L.  V  42 
folgende  Fassung  von  Frg.  Ann.  25  V.  ^ :  hoc  Latium  et  Saturnia  terra. 

7.    Sprachliches. 

G.  G  0  e  t  z ,  Sprachliche  Bemerkungen  zu  Varro  de  re  rustica.  Indo- 
german.  Forschungen,  31.  Bd.  (1912/13),  S.  298—308  (vgl.  auch 
die  Fraetatio  seiner  Ausgabe,  S.  XI  ft'.). 

Varro  bietet  einige  seltene,  ja  auch  sonst  nicht  belegte  "Wörter 
und  Formen.     Obaerarius  (K.  R.  1  17,  2)  verteidigt  G.  S.  298  f. 
durch  die  maßgebende  Überlieferung  sowie   durch  Corp.  Glossar.  V 
630,  15  obaerarius  ob  aes  obligattis  (dagegen  L.  L,  VII   105  .  .  .  ut 
ab  acre  obaeratus)\  er  vermutet,  daß  obaeratus  die  juristische  Form 
war,   obaerarius    hingegen  der  Bauernsprache   angehörte.     Schwierig 
ist  die  Entscheidung  II  4,   16,  wo  die   Überlieferung  zwischen  delici 
und  deliti  schwankt :  cum  porci  depulsi  sunt  a  mamma,  a  quibusdam 
d.  appeUaniur.    Delicus  aus  dc-lac-os  zu  lac  (Walde,  Etym.  Wörterb.  ^ 
S.  227  •,  aber  warum  die  t-lose  Form  des  Stammes  ?)  oder  dcicli  = 
deiculi,   lacte  depulsi  (Francken,   Mnem.  N.  S.   28,   285,   s.  Varro- 
bericht  1909,  S.  67)  oder  delicti  von  linquere  (Vanicek  238)  oder 
deliti  =  ausgestrichen,  nämlich  aus  dem  Verzeichnis  der  Sauglämmer, 
das    der    Schäfer    hatte    (Goetz  a.  a.  0.,    S.  301)?     Gegen    delitus 
verhält    sich    F.    H  a  r  t  m  a  n  n    im     Literaturbericht    der    Glotta  ,  VI 
(1915),  S.  335  ablehnend  (im  Text  seiner  Ausgabe  schreibt  G.  delici). 
Jedenfalls  hat  das  Wort  nichts  mit  Catos  armenta  delicula  und  oves 
delicuJae    (De   agri    cultura  2 ,    7)  'zu    tun ,    wo    Tiere    gemeint    sein 
müssen,    die    mit  irgendeinem   Mangel    behaftet    sind    und    die  man 
deshalb  verkauft.     S.   301 — 303  führt  G.  andere  Beispiele    singulärer 
Formen    aus  Varro  an,    die    z.  T.  durch  die  roman.   Sprachen   be- 
stätigt werden,  pullitris  III  9,  9  (von  pullus  wie  porcetra  von  porcus, 
ital.  puledro),  vcllimna  II  11,    9  (unter  Hinweis   auf  meinen  Varro- 
bericht    1909 ,    S.    66)    u.  a.     Daher  empfiehlt  es   sich,    so  seltsame 
Wörter  wie  frit  und  urru  (I  48,  3)  bis  auf  weiteres  einfach  hinzu- 
nehmen (S.  303  f.).     Schörls  Annahme    a.  a.  0.,  S.  83 f.  (s.  oben 
unter    Textkritik),    urru    sei    darauf   zurückzuführen,    daß    teils 
OVQLaxog    in    lat.    Schrift    wiedergegeben ,    teils    dessen  Übersetzung 
veru{tum)  beigeschrieben  war,    ist  nicht  annehmbar,    weil    nicht  ein- 


Bericht  über  die  Literatur  zu  Varro  aus  den  Jahren  1909—1918.     85 

mal  metaphorisch  mit  ovQiaxog  (Lanzenschuh)  etwas  bezeichnet  werden 
kann,  was,  wie  Varro  sich  ausdrückt,  mimts  est  quam  granum. 
S.  304  f.  verteidigt  G.  zu  I  31,  5  seine  Schreibung  (/arraf/o)  contra 
ex  segete  .  .  .  aut  quo  {ä)  [fart]  ferro  caesa^  ferrago  ^)  dicta  aut  inde, 
quod  primum  in  farracia  segete  seri  coepta.  Nun  ist  klar,  daß  es  sich 
um  zwei  Etymologien  desselben  Wortes  handelt  (F.  Hartmanu 
a.  a.  0.,  S.  336  stimmt  bei).  Besonders  einleuchtend  ist  Goetz' 
Verbesserung  und  Erklärung  von  II  1,  7  (S.  305 — 307):  .  .  .  nosiri 
.  .  .  .  oves  baelarc  (in  seiner  Ausgabe  schreibt  ev  +  halare)  vocem 
efferentes^  c  quo  post  halare  dicunt  extriia  littera,  ut  in  miätis  (von 
Keil  in  seinem  Kommentar  gänzlich  mißverstanden,  s.  S.  136). 
Baelare  ist  mehrfach  bezeugt,  ist  auch  die  roman.  Grundform,  z.  B. 
ital.  belare ,  frz.  beler.  Für  i]  =  ae  führt  er  einige  Belege  an. 
S.  307  f.  zeigt  er,  daß  die  richtige  Namensform  Tremelius,  wie  der 
Archetypus  an  einigen  Stellen  bietet,  ist  (vgl.  H  e  r  a  e  u  s  ,  Arch.  f. 
lat.  Lexikogr.  XIV  466,  Anmerk.).  Tremellius  berxiht  auf  Konfun- 
dierung  mit  Trebellius  (das  damit  gar  nichts  zu  tun  hat). 


Drittes  Kapitel. 
Die  meuippeischen  Satiren. 

1 .    Allgemeines^). 

r.  Geffcken,    Studien  zur  griech.  Satire.     Neue  Jahrb.  f.    d.  kl. 
^    Alt.  27  (1911). 
r.  A.  Gerhard,  Satura  und  Satyroi.      Philol.   75  (1918). 
r.  L.  Hendrickson,  Satura  —  The  Genesis  of  a  Literary  Form. 
Classical  Philology  VI  (1911). 
p.  W.  D.  Ingersoll,  Roman  Satire:  Its  Early  Name?    Ebenda  VTI 
(1912). 
Kroll,    Satura.     Neue    Bearbeit.    von    Paulys    Keal-Encyclop., 
t   2.  Reihe,  3.  Halbband  3). 


')  Der  Beistrich  nach'  ferrago  muß  entfalleu. 

^)  Wegen  der  Fülle  der  Namen  wähle  ich  hier  die  alphabetische  An- 
Jrdnung. 

")  Ich  bespreche  diesen  Artikel  in  meinem  jetzigen  Bericht,   weil  er, 

^obwohl    der   Halbband,    in   dem   er   steht,  erst   1921    erschienen   ist,   doch 

)ereit=i  1916  in  einem  Sonderabdruck  0.  Weinreich  zugänglich  war  (sieh^ 

lerm.  51.  Bd.,  S.  411),  damals  also  bereits  im  wesentlichen  für  abgeschlossen 

selten  konnte. 


86  Karl  Mras. 

V.  Leo,  Geschichte  d.  röm.  Literatur,   1.  Bd.  (Berlin  1913). 

E.  Lommatzsch ,    Bericht    über  die  Literatur    der  röm.  Satiriker 
von  1908—1917.      „Bursian"   175.  Bd.  (1919  erschienen). 

F.  De    P a 0 1  a ,    Le  origini  della  satira  romana.     Citta   di  Oastello. 
1909. 

B.  L.  Ullmann,  Satura  and  Satire.  Classic.  Philol.  VIII  (1913). 
R.  H.  Webb,  On  the  Origin  of  Roman  Satire.  Ebenda  VII  (1912). 
A.  L.  Wheeler,  Satura  as  a  Generic  Term.    Ebenda  VII    (1912). 

Die  mit  der  Satire  in  Zusammenhang  stehenden  Fragen,  die 
nach  einem  treffenden  Ausspruch  von  Lommatzsch  a.  a.  0.,  S.  91 
besonders  in  Amerika  in  den  letzten  Jahren  fast  sportmäßig  be- 
handelt worden  sind,  sollen  hier  nur  insofern  berlihrt  werden,  als 
ich  auf  die  Untersuchungen  der  Herkunft  und  dos  Alters  der  Be- 
zeichnung Satire  kurz  verweisen  will.  Im  übrigen  diene  Lommatzsch' 
Bericht  zur  Orientierung.  Bezüglich  des  Namens  der  Satire  stehen 
sich  zwei  Auffassungen  gegenüber,  nach  deren  einer  satura  ein  als 
Sing.  fem.  verwendeter  urspr.  Plur.  neutr.  ist  wie  farsum  (statt 
fartum)  —  farsa  (ital.),  farce  (frz.):  Ullmann  S.  174,  Gerhard 
S.  261  f.  (vgl.  auch  Leo  S.  423,  Aumerk.  1).  Der  andern,  von 
Paola  vertretenen  Auffassung  zufolge  (s.  S.  22  f.)  war  satura  ur- 
sprünglich Adjektiv  und  fabula  zu  ergänzen,  wie  (fabula)  togata, 
palliata  u.  dgl. ;  von  Paola  ist  Webb  durchaus  abhängig.  Diese 
Auffassung  ist  wenig  wahrscheinlich,  weil  ^vir,  während  fabula  palliata 
u.  dgl.  mit  dem  alleinstehenden  palliata  u.  dgl.  stets  wechselt,  keinen 
Beleg  für  fabula  satura  anführen  können. 

Die  Bezeichnung  satura  lassen  bereits  für  Ennius  (beziehungs- 
Aveise  Naevius)  gelten  und  Lucilius  wie  Varro  sie  von  diesem 
übernehmen:  Norden,  Einleitung  1910  ^  S.  472  f.  (=  1912  ^ 
S.  338  f.),  Webb,  der  mit  Recht  (gegen  jene,  die  den  Ausdruck 
erst  40 — 30  v.  Chr.  zum  term.  techn.  werden  lassen)  S.  180  auf 
den  Katalog  der  Werke  Varros  hinweist,  in  dem  zweimal  satyra 
vorkommt  (aus  welcher  Verlegenheit  sich  Hendrickson  nur  da- 
durch zu  helfen  weiß ,  daß  er  die  Abfassung  dieses  Kataloges  in 
nachvarroiiische  Zeit  versetzt;  s.  a.  a.  0.^)  S.  842 f.),  Ullmann,  der 
sich  S.  186  f.  außer  auf  den  Katalog  auf  N  o  n  i  u  s'  Zitate  aus  Ennius 
und  Lucilius  beruft,  die  stets  lauten  Ennius  {Lucilms)  satyrarum 
libro  .  .  .,  sowie  auf  Sueton,  De  gramm.  2  (Lucilii  saturas)  und 
Gell  ins  11.18,  7  {saturae  3Ienippeae) ,  Leo  S.  19  f.  u.  422  f., 
Gerhard    S.  261  f.    und  schließlich  Kroll  S.   194,    die   beide  aus 

')  Oben,  Erstes  Kapitel. 


Bericht  über  die  Literatur  zu  Varro  aus  den  Jahren  1909  —  1918.      87 

der  Eigenart  des  Dichters  L  u  c  i  1  i  u  s ,  wenn  dieser  aucli  die  herkömm- 
liche Bezeichnung  tibernahm,  etwas  Neues  hervorgehen  lassen.  In 
der  Tat ,  erst  L  u  c  i  1  i  u  s  hat  die  Satire  zu  dem  gemacht,  was  sie 
seitdem  geblieben  ist;  daß  durch  ihn  to  OA.i07Tiiy.6v  in  die  erste 
Reihe  der  konstitutiven  Merkmale  der  Satire  gerückt  ist,  dessen  ist 
sich  ra.  E.  auch  Horaz  bewußt  gewesen,  s,  Serm.  III  sunt  quibus 
in  satura  vklcor  nimis  acer. 

Hingegen  läßt  im  Anschluß  an  Marx  (s.  Yarrobericht  1909, 
S.  78)  Hendrickson,  Class.  Pbilol.  VI,  8.  130 ff.  satura  als  term. 
techu.,  weil  ihn  Cicero  (De  orat.  H  25  und  De  fin.  I  7)  und  Varro 
(R.  R.  III  2,  17)  nicht  gebrauchen,  erst  zwischen  40  und  30  v.  Chr. 
aufkommen;  bevor  eine  genaue  technische  Bezeichnung  dieses  litera- 
rischen Geniis  aufkam,  sei  die  Satire  des  Lucilius  und  seiner  Nach- 
folger vielleicht  scliedium  genannt  worden,  meint  I  n  g  er  s  o  1 1  S.  59 — 65. 
Daß  aber  aus  der  Seltenheit  des  Gebrauches  der  Bezeichnung  satura 
keine  Schlüsse  auf  das  Aufkommen  desselben  gezogen  werden  dürfen, 
zeigt  Wheeler  in  seinem  interessanten  Aufsatz,  S.  457 — 477,  dessen 
Material  er  zum  Teil  zwei  Linzer  Programmen  von  F.  B ar ta  (1889 
und  1890)  entlehnt  hat.  Wirklich  überraschend  ist  die  Wahrnehmung, 
wie  selten  Varro  in  seinem  grammatischen  Werke  (De  1.  1.),  in  dem 
man  doch  ganz  besondere  philologische  Genauigkeit  erwarten  sollte, 
bei  Anspielungen  auf  Dichterwerke  termiui  techn.  gebraucht;  das- 
selbe gilt  auch  von  seinem  Werke  über  die  Landwirtschaft  (ß.  471  ff.). 
Bei  Cicero  sind  Gattungsbezeichnungen  von  Dichtungen  ebenfalls 
selten  (S.  474). 

Norden  S.  472  f.,  1.  Aufl.  (=  S.  338  f.,  2.  Aufl.)  und  Kroll 
S.  195  charakterisieren  Varros  Satiren  und  heben  au  ihnen  besonders 
den  seltsamen  Wechsel  von  Prosa  und  Poesie  sowie  ihre  Polymetrie 
hervor,  für  die  letzterer  auch  auf  Phoenix  von  Kolophon  und 
Kerkidas  verweist.  Norden  sieht  in  der  Buntheit  ihres  Inhaltes 
und  ihrer  Form  eine  Anlehnung  an  Enuius.  Auch  hier  offenbart 
sich  Varros  widerspi-uchsvoUes  Wesen :  neben  archaischer  Simplizität 
steht  neoterische  Kompliziertheit,  neben  kyklopischer  Periodisierung 
asianische  Raffiniertheit. 

Daß  wir  bei  der  Rekonstruktion  der  menippeischen  Satire 
hauptsächlich  auf  Lukian,  nicht  auf  Varro  angewiesen  sind,  be- 
hauptet ganz  richtig  Geffcken,  S.  482,  Anmerk.  2.  „Man  kann", 
sagt  er,  „mit  aller  Phantasie  diese  Phantastik  (die  der  Satiren  Varros) 
nicht  zurückgewinnen,  vollends  aber  nicht  dahinter  Menippos  .  .  . 
erkennen''. 


88  Kall  Mras. 

2.  Ausgabe. 
Die  Bruchstücke  der  Satiren  Varros  siud  von  W.  Heraeus 
in  der  von  ihm  besorgten  fünften  Auflage  von  Fr,  Büclielers 
Petronii  Saturae  (Berlin  1912)  neuerdings  herausgegeben  worden. 
Neu  ist  die  Praefatio.  Noch  ^ehr  als  sein  Vorgänger  hat  sich  H. 
an  die  Überlieferung  angeschlossen.  Zu  Varros  Satiren  gibt  er 
zahlreiche  eigene  Konjekturen,  ohne  sie  in  den  Text  anfzunehraen. 
Dank  verdient  die  Hinzufügung  eines  Conspectus  Saturarura  und 
die  Erweiterung  der  Indices.  Im  übrigen  verweise  ich  auf  die 
Eezensionen  von  E.  Thomas,  Revue  critique ,  N.  S.,  tome  74 
(1912),  S.  108  f.  und  J.  Tolkiehn,  Berl.  phil.  Wochenschr.  33 
(1913),  426. 

3.    Textkritik. 
W.  B.  Anderson,  Some  ' Vexed  Passages'  in  Latin  Poetry.  Classical 
Quarterly  V  (1911),   S.  181. 

Sat.  Men,  183  B.  (bei  Nonius  314  M.)  ubi  graves  paseaniur 
atque  alantur  pavonum  greges  will  er  grues  für  graves  lesen  (vgl. 
Hör.  Sat.  II  8,  87,  wo  der  Krauich  als  Delikatesse  erwähnt  wird)  — 
sehr  unwahrscheinlich,  weil  Nonius  die  Stelle  gerade  wegen  grave 
zitiert.  Nur  glaube  ich  nicht,  daß  gravis  hier  im  Sinne  von  multos 
gebraucht  ist  (Nonius),  sondern  fasse  es  proleptisch  =  so  dafs  sie 
schwer  tcerden,  also  zur  Mästung. 

4.    Die  Vorbilder  der  Satiren. 
K.  Mras,  Varros  menippeische  Satiren  und  die  Philosophie.    Neue 
Jahrb.  f.  d.  kl.  Altert.,  33.  Bd.  (1914),  S.  390—420. 

Ein  römischer  Optimat  Freund  des  Kynismus  und  Nachahmer 
Menipps?  fragt  man  sich  verwundert.  Ich  habe  zu  zeigen  versucht, 
wie  mau  das  Verhältnis  des  Polyhistor  zu  den  Kynikern  aufzufassen 
hat.  Ihm,  dem  an  Einfachheit  gewöhnten  biederen  Landedelmann, 
sagten  die  ethischen  Grundsätze  des  gemilderten  Kynismus  zu, 
er  wahrte  sich  aber  ihnen  gegenüber  die  Selbständigkeit  seines 
Denkens  und  ging  über  ihre  bloß  negative  Betätigung  (im  leiden- 
schaftlichen Kampfe  gegen  alle  Arten  des  Tvfpog)  hinaus,  indem  er 
positive,  echt  römische  Grundsätze  empfahl.  Auf  den  beiden  andern 
Gebieten  der  Philosophie,  in  der  Logik  und  Physik,  sowie  auf  dem 
der  allgemeinen  Bildung,  der  ey/.v/.?ua  ^ad^rjfxata,  auf  die  die 
Kyniker  gänzlich  verzichtet  hatten,  schloß  ersieh  an  dogmatische 
Philosophen  an,  wobei  der  Einfluß  seines  Lehrers,  des  Neuakademikers 
Antiochos  von  Askalon,  deutlich  zu  erkennen  ist.    Die  Stoa  hat  er 


Berieht  über  die  Literatur  zu  Varro  aus  den  Jahren  1909  —  1918.      89 

vom  Standpunkt  des  Antiochos  aus  betrachten  und  einschätzen  ge- 
lernt. Menipps  Satiren  haben  ihn  durch  ihren  bunten  Inhalt,  ihre 
barocke  Form  und  ihren  moralischen  Gehalt  angezogen,  er  hat  sich 
aber  auch  diesem  Muster    gegenüber  seine  Selbständigkeit  gewahrt. 

5.    Die  Nachwirkung  der  Satiren. 
0.  Wein  reich,   Zur  röm.  Satire.   II.  Die  Anordnung  von  Horazens 

zweitem  Satirenbuch.     Herrn.  51  (1916),  412 — 414. 
J.  Geffcken,  Kynika  und  Verwandtes  (Heidelberg  1909). 

Nach  W.  setzte  sich  Horaz  zwar  nicht  theoretisch,  wohl  aber 
praktisch  mit  der  menippeischen  Satire  auseinander:  Serm.  II  5  sei 
seine  Menippea,  in  der  er  ein  menippeisches  Motiv  mit  aktuell- 
römischem Inhalt  (Erbschleicherei)  und  horazischem  Geist  erfülle. 
Auch  II  3  habe  er  Varro  vor  Augen,  sie  sei  eine  Koukurreuzsatire 
zu  seinen    Eumenides    (Thema    beider :    ozi    rtäg   a  (pQOJV  /Lialvetai). 

Von  G  e  f f c  k  e  n  s  Schrift  kommt  für  Varro  seine  eingehende 
Analyse  der  Abhandlung  TertuUians  De  pallio,  S.  58 — 138  in 
Betracht.  Mit  Rücksicht  auf  die  ebenso  eingehende  als  treffliche 
Kritik  W.  Capelies,  Neue  Jahrb.  f.  d.  kl.  Altert.  27  (1911), 
S.  386 ff.,  kann  ich  mich  hier  kurz  fassen.  Geffckens  Annahme, 
dali  TertuUians  Schrift  eine  menippeische  Satire  Varros  zugrunde 
liege,  bat  Capelle  dahin  eingeschränkt,  daß  sie  nur  für  den  2.  Teil 
(Kap.  3,  2.  Hälfte  —  Kap.  5)  gelten  könne,  während  im  1.  Teil 
(Kap.  2  und  Kap.  3,  1.  Hälfte)  das  Material  allerdings  größtenteils 
aus  Varro  stammt ,  aber  augenscheinlich  nicht  aus  einer  Satire, 
sondern  aus  seinen  Antiquitates ;  das  eigentlich  Satirische  fehlt  ja 
hier  vollständig,  auch  ist  nicht  anzunehmen,  daß  Varro  mit  solcher 
Ausführlichkeit  in  einer  Satire  den  Wechsel  des  Gewandes  begründet 
haben  sollte. 

6.    Sachliches. 
K.  Morawski,  Quaestiones  convivales.   Sonderabdr.  aus  den  Sitzungs- 

ber.  d.  Krakauer  Akad.  Wiss.  philolog.  Kl.  55.  Bd.  (1916),  19  Seiten. 
G.  Schmid,  Die  Fische  in  Ovids  Halieuticon.    Philol.  Suppl.  B.  XI 

(1907—1910),  S.  330. 
W.  W.  Jaeger,  Zum  Philipperbrief.    Herm.  50  (1915),  S.  550. 
G.  Zottoli,  Un   proverbio    varroniano    ed   un    „calembourg"   pom- 

peiano.     BoUett.  di  tilol.  cl.  XVI  (1909/10),  S.  185. 

Morawski  verwertet  in  seiner  in  flüssigem  Latein  geschriebenen 
Abhandlung  Stellen  aus  Varros  Satiren  und  E.  R.  zur  Illustrierung 
von  Gastmahlsitten  und  der  Beliebtheit  gewisser  Leckerbissen  (S.  4, 6  f., 


90  Karl  Mras. 

15,  19),  wobei  er  das  Fortschreiten  des  TaPelluxus  durch  Varro, 
Horaz  und  Plinius  veranschaulicht.  Vgl.  die  liezension  von  J.  Mesk, 
Berl.  ph.  Woch.  1916,  S.  1271  ff.  InVarros Satire  JTe^t  edea^aTcov  (Gell. 
VI  16)  sind  nachSchmid  die  aseUi  Pessiniinüi  [hg.  403  B.]  keine 
Fische  [obwohl  sie  zwischen  der  murcna  Tartesia  und  der  ostrea 
Tarenti  genannt  werden!],  denn  Pessinus  liege  tief  im  Binnenlande, 
auch  nicht  unmittelbar  an  einem  Fluß ;  vielmehr  seien  wirkliche 
junge  Esel  gemeint  (vgl.  Plin.  VIII  43,   170). 

Die  von  Paulus  Phil.  2,  6  gebrauchte  Eedensart  ovyi  a^Tiayf-ibv 
^yi]oaTO  t6  sivai  \'aa  ^£(p  gibt  Jaeger  den  Anlaß,  die  Geschichte 
der  Phrase  zu  erörtern.  Varro  Sat.  Men.  499  B.  (Sexagessis  XV) 
avidiis  iudex  reiim  duccbat  esse  y.oivoy  EQf.it'^v  verwendet  eine  ver- 
wandte Kedcnsart  (Egi-triv  könnte  man  durch  Vqf.iaiov,  aQuayf.ia  er- 
setzen) von  einer  Person ,  desgleichen  Lucian ,  Advers.  indoct.  1 
fQiiaiov  el  und  Josephus  Ant.  lud.  XI,  §  162  ootiog  agriayfia 
yial  Xa(fvQOv  yevoi-isvov  (sc.  xo  td-vog  t^iiiüv).  „Nachdem  also  die 
Phrasö",  sagt  J.,  „aus  den  niederen  Regionen  des  Alltagsjargons 
der  Erotik  und  Kynik  den  Zugang  zur  großen  historischen  und  zur 
wissenschaftlichen  Prosa  gefunden  hat,  ist  sie  literarisch  approbiert 
und  kann  auch  in  einer  so  hochpathetischen ,  feierlichen  Periode 
wie  der  des  Philipperbriefs  nicht  mehr  als  Eriovov  empfunden 
werden". 

Daß  Sat.  Men.  539  B.  (Tacfi)  Mevinjcov)  (homiues)  cum  peius 
formidcoit  quam  fidlo  ulidam  mit  fiülo  nicht  der  Walker,  sondern 
ein  Käfer  gemeint  sei,  der  geradeso  heißt  (Plin.  N.  H.  30,  30  [100]), 
glaube  ich  Zottoli  nicht.  Daß  aber  in  einer  von  einem  Walker 
Cresce(n)s  geschriebenen  pompejau.  AVand Inschrift  (CIL  IV  4118) 
Cresces  fidlonibxis  et  idulae  suae  scd(idem^  eine  erotische  An- 
spielung vorliegt  (auf  den  Cr.  ist  seine  Geliebte  so  erpicht  wie  das 
Käuzchen  auf  den  Käfer),  wäre  immerhin  möglich;  allein  warum 
heilU  es  dann  nicht  Cresce(n)s  fidlo  uhdae  s.  sal.? 

7.     Sprachliches. 

E.  Norden  (Ennius  und  Vergilius,  Leipzig  1915)  faßt  S.  2, 
Anm.  2,  Sat.  Men.  58  B  novo  partu  poeticon  das  letzte  Wort  als 
genet.  plur.  auf  (wonach  er  einen  Abschnitt  seines  Werkes,  I  1, 
Vergilius  in  novo  partu  poeticon  überschreibt)  und  schließt  S.  11, 
Anmerk.  1  aus  Sat.  Men.  223  fcra  .  .  munera  heUi  in  Hinblick  auf 
Lukrez  I  32  belli  fera  moenera.  daß  diese  Phrase  ennianisch  sei. 


Bericht  über  die  Literatur  zu  Varro  aus  tion  Jahren  1909 — 1918.      91 

Viertes  Kapitel. 

Geschichtliche  und  geographische  Werke. 

1.  Ausgabe. 
H.  Peter,  Historicorum  Koman.  reliquiae,  vol.  I,  2.  Auflage 
(Leipzig  1914).  Sie  enthält  zwar  keine  Bruchstücke  der  historischen 
Werke  Vai-ros,  die  vielmehr  im  2.  (von  mir  im  lezten  Varrobericht 
S.  81  f.  rezensierten)  Bande  stehen.  Allein  da  nicht  wenige  Frgg. 
alter  Historiker  aus  Varros  beiden  erhaltenen  Schriften  stammen 
oder  Quellenschriftsteller  sich  auf  nicht  erhaltene  Werke  desselben 
berufen ,  muß  diese  Ausgabe  hier  erwähnt  werden.  Leider  ist  ihr, 
so  reichlich  sie  sonst  mit  Indices  versehen  ist,  kein  Index  der  nicht 
erhaltenen  Schriften  (z.  B.  Varros)  beigegeben,  die  von  den  Quellen- 
schriftstellern angeführt  werden. 

2.    Die  Logistor ici. 
Pliuio    Fraccaro,    lieminiscenze    catoniaue  in  Virgilio.     Bollett. 

di  filol.  cl.  XVn  (1911),  161—163. 
K.  R  e  e  h ,  De  Varrone  et  Suetonio  quaestiones  Ausonianae.    Dissert. 

Halle  1916. 

Fraccaros  kurzer,  aber  gehaltvoller  Aufsatz  gilt  eigentlich  mehr 
Varro  als  Cato.  Servius  bemerkt  zu  Verg.  Aeu.  IX  600:  Italiae 
discipUna  et  vita  landatur:  quam  et  Cato  in  Originibus  et  Varro  in 
Genie  p.  R.  commemorat.  Freilich  ist  uns  kein  Bruchstück  aus  den 
Büchern  De  gente  p.  R.  erhalten,  das  davon  handeln  wüi-de,  aber 
wir  können  uns  aus  Varros  Logistoricus  Catus  de  liberis  educandis 
eine  Vorstellung  davon  machen,  wie  er  über  diese  Dinge  dachte '^). 
Schon  der  Umstand,  daß  Vergils  Schilderung  die  alte  spartanische 
Zucht  im  Auge  hat,  weist  auf  Varro  hin,  der  nach  dem  Vorgange 
des  Posidonius,  welcher  die  röm.  Verfassung  für  eine  i.iif.ir^aig  der 
spartanischen  hielt ,  Beziehungen  zwischen  den  Gebräuchen  beider 
Völker  aufgestellt  hatte  (S.  161,  Anm.  2;  s.  De  gente  p.  R.  frg.  37  F 
und  des  Verfassers  Studi  Varron.  p.  226).  Das  XIX.  Bruchstück 
des  genannten  Logistoricus^)  wird  gewöhnlich  auf  Varros  eigene 
Jugend    bezogen.     Aber    Fr.  nimmt    m.   E.   mit    vollem    Rechte    an. 

1)  Vgl.  auch  W.  Kroll,  Neue  Jahrb.  f.  d.  kl.  Altert.  37  (1916),  S.  10.5, 
Anmerk.  2,  der  darauf  hinweist,  daß  Varro  seiner  Zeit  deu  Spiegel  der 
Vergangenheit  vorzuhalten  pflegte. 

-)  Bei  A.  Riese,  M.  T.  Varr.  Sat.  Men.  reliquiae  S.  250:  Mihi  puero 
modica  una  ßiit  tnnica  et  toga,  sine  faseeis  calceamenta,  uns  sine  ephippio, 
bahieum  non  cottidimmm,  idveus  rctrits. 


92  Karl  Mras. 

daß  in  diesem  Logistoricus  (der  Ciceros  Cato  de  senect.  zum  Muster 
diente)  Cato  die  Hauptrolle  gespielt  hat,  und  weiter,  da  sich  be- 
merkenswerte Ähnlichkeiten  zwischen  jenem  Bruchstück  des  Logistori- 
cus, einem  Frg.  der  Rede  Catos  De  suis  virtutibus  (XI,  1  Jordan) 
und  den  Vergilianischen  Versen  ergeben,  daß  jene  Stelle  des  Logist. 
nicht  auf  Varros ,  sondern  auf  Catos  Jugend  zu  beziehen  ist  und 
Vergil  nicht  aus  Cato,  sondern  aus  Varro  geschöpft  hat. 

Im  2.  Kapitel  (S.  25 ff.)  der  Dissertation  von  Reeh  (auf  die 
ich  im  folgenden  und  außerdem  noch  im  7.  Kapitel  zurückkomme), 
dreht  sich  die  Untersuchung  hauptsächlich  um  das  Verhältnis  von 
Censorin,  Kap.  7  ff.  zu  Varro.  Reeh  leitet  im  Anschluß  an  H.  D  i  e  1  s 
die  Kapitel  7,9,  11  und  14  aus  Vai*ros  Logistoricus  Tubero  de 
origine  humana  ab,  unter  Zustimmung  P.  Wessners,  der  in  der 
Berl.  ph.  Wochensclir.  1917,  S.  67 — 74  eine  vortreffliche  Rezension 
dieser  Dissertation  geliefert  hat. 

3.  Die  Imagines. 
Im  1.  Kapitel  behandelt  Reeh  S.  7 — 21  Auson,  Moseila  298 
bis  320  (Vergleich  der  Bauten  an  den  Ufern  der  Mosel  mit  be- 
rühmten Bauwerken  früherer  Zeiten),  für  welche  Verse  Auson  nach 
seinem  eigenen  Zeugnis  (30G/7)  das  10.  Buch  von  Varros  Heb- 
domaden (Imagines)  herangezogen  hat.  Unstimmigkeiten  ergeben 
sich  aus  der  Verwendung  einer  Nebenquelle. 

4.    De  familiis  Troianis. 
H.  Dessau,  Vergil   und  Karthago.   Herrn.  49  (1914),  S.  508—537. 
W.  A.  Baehrens,    Literarhistorische  Beiträge.     Herm.   50   (1915), 
S.  261-265. 

Dessau  sucht  das  Zeugnis  des  Servius  zu  Verg.  Aen.  V  4 
sane  scienduni  Varronem  dicere  Äeneam  ab  Anna  amatum  und  das 
ausführlichere  des  erweiterten  Servius  zu  Aen.  IV  682  Varro  ait  non 
Didonem,  sed  Annam  amore  Aeneae  impulsam  se  supra  rogum  intereniisse 
S.  519 ff.  zu  beseitigen,  unter  Hinweis  auf  Dionys.  Hai.,  Antiquit.  I 
47 — 55,  wo  nichts  von  einem  Besuche  des  Aeneas  bei  der  karthagi- 
schen Fürstin  steht  (obwohl  Varros  Antiquit,  nach  Dessau  die 
direkte  Quelle  für  Dionysius'  Erzählung  von  den  Irrfahrten  des 
Aeneas  sind),  und  in  Hinblick  auf  andere  Verselien  des  Servius 
(S.  521 — 525),  wobei  er  aber  ziigeben  muß,  daß  deren  größte  Zahl 
im  eigentlichen  Serviuskommentar,  nicht  im  „Servius  Danielis"  zu  , 
finden  sind.  Varro  habe  die  karthagische,  von  ihm  Anna  genannte  i 
Fürstin  den  Selbstmord  infolge  der  Treue  verüben  lassen,  die  sie 
ihrem    heimatlichen  Gemahl    wahren    wollte.     Erst  Vergil   habe  den 


Bericht  über  die  Literatur  zu  Varro  aus  den  Jahren  1909 — 1918.      93 

Stammvater  des  röm.  Volkes  uach  Afrika  und  mit  der  Phönikeriu 
in  Verbindung  gebracht.  Diese  Hypothese ,  die  D.  im  52.  Bande 
des  Herm.  (1917),  S.  470 — i72  aufrechthält,  scheitert  daran,  daß 
bereits  Naevius  nicht  bloß  Dido  mit  ihrer  Schwester  Anna  erwähnt, 
sondei'n  auch  die  Phönikeriu  mit  Aeneas  zusammengebracht  hat, 
vgl.    das    24.    frg.    (Baehrens    F  P  R)    aus    dem   II.  Buch  seines 

B.  Poen.  blande  et  docfe  percontat,  Aenca  quo  pacto  Troxam  urhem 
liquisset,  wo  blande  doch  auf  eine  Frau  hinweist.  Das  nimmt  auch 
Baehrens  an,  obwohl  er  sich  in  der  Erklärung  von  blande  ganz 
seltsam  vergreift.  Seine  eigene  Hypothese,  daß  Servius  an  den  oben 
erwähnten  Stellen  nicht  aus  Varros  Antiquitates,  sondern  aus  seiner 
Schrift  De  familiis  Troianis  schöpfe,  hängt  in  der  Luft.  Als  ihre 
Abfassuugszeit  nimmt  er  die  Zeit  Cäsars  (oder  des  Augustus)  an, 
das  beweise  schon  die  Tendenz  des  Inhaltes ;  daher  sei  sie  auch 
dem  Dionys  bei  der  Ausarbeitung  des  1.  Buches  noch  nicht  bekannt 
gewesen. 

5.    Eine  Schrift  über  die  Zeitrechnung. 

C.  Fr  ick,  Varroniana.  1.  In  welcher  Schrift  hat  VaiTo  über  die 
nach  ihm  benannte  Ära  gehandelt?  Berlin,  phil.  Wochenschr.  30 
(1910),   1023. 

Derselbe,  Varroniana  II.  2.  In  welcher  Schrift  hat  Varro  über  die 
nach  ihm  benannte  Ära  gehandelt?  Ebenda  31  (1911)  1323 — 1326. 

0.  Leuze,  Das  synchronistische  Kapitel  des  Gellius.  lih.  Mus.  66 
(1911). 

Fr  ick  stimmt  Fraccaro  (Studi  Varron.  S.  100  ff.)  bei,  daß 
das  große  Varroexzerpt  über  die  Epochen  der  Geschichte  bei 
Censorin,  Kap.  21,  §  1 — 5  nicht  aus  der  Schrift  De  gente  p.  R. 
stamme.  Aus  AA^elchem  andern  Werke  Varros  also?  Dieses  müsse 
erst  nach  dem  Annalis  des  Atticus  (47/46  verfaßt)  entstanden  sein, 
da  es  auf  demselben  weiter  baute.  Andererseits  aber  kenne  es 
Cicero  im  Jahre  45,  denn  er  meine  es  Acad.  I  3,  9  mit  den  Worten: 
Tu  aetatem  patriae  (sc.  aperuisti).  Diese  Grundlage  der  Beweis- 
führung ist  zu  morsch,  als  daß  sich  auf  ihr  ein  dauerhaftes  Gebäude 
errichten  ließe.  Lesen  wir  nämlich  Ciceros  Worte  im  Zusammen- 
hang von  Tu  bis  apennsti,  so  drängt  sich  uns  die  Überzeugung  auf, 
daß  den  dem  aperuisti  vorangehenden  Worten  tu  omnium  divinarum 
humanarumque  rerum  nomina,  genera,  officla,  causas  die  Bedeutung 
einer  das  Voransteheude  zusammenfassenden  Anspielung  auf  Varros 
Antiquitates  rerum  humanarum  et  divin.  zukommt,  auf  die  Fr  ick 
selber  alles  von  tu  discriptiones  temporum  an  bezieht  (1911,  S.  132E, 


94  Karl  Mras. 

Anmerk.  4).  Damit  erledigt  sich  aiicli  seine  Annahme,  daß  man 
aus  Tu  aetatem  patriae  aperuisti  die  Entstehung  der  Schrift  unmittel- 
bar nach  Cäsars  Kalenderreform,  frühestens  im  Dezember  46,  er- 
schließen müsse,  denn  nur  so  wäre  es  Varro,  wie  Censorin  21,  5 
versichert,  möglich  gewesen,  das  Alter  Boms  bis  auf  den  Tag  genau 
zu  berechnen.  Da  demnach  Atticus'  Annalis  —  meint  Fr.  weiter  — 
für  Varros  Schrift  die  Grundlage  abgegeben  habe,  sei  damit  die 
Frage  entschieden,  ob  Varro  nur  dessen  Arbeit  weitergeführt  habe 
(Mommscu),  oder  ob  die  Begründung  der  röm.  Ära  durchaus  für 
VaiTO  in  Anspruch  zu  nehmen  sei  (L  e  u  z  e ,  Römische  Jahrzählung, 
1909,  S.  240  ff.).  Varro  habe  sich  hierbei  nicht  damit  begnügt,  das 
Alter  Roms  zu  berechnen,  sondern,  ähnlicli  Avie  später  in  den 
Büchern  De  gente  p.  R.  die  römische  Zeitrechnung  in  den  universal- 
historischen Synchronismus  eingereiht.  Führer  sei  ihm  hier  wie 
dort  der  Chronograph  Kastor  gewesen.  Welchen  Titel  diese  Schrift 
gehabt  habe,  weiß  Fr.  nicht  anzugeben  (1911,  S.  1326);  H,  A. 
Sanders'  Annahme  (Annales;  Americ.  Journ.  of  Philol.  23,  1902, 
S.  30 ff.),  der  sich  zAveifelnd  auch  Leuze  a,  a.  0.,  S.  243  an- 
schloß,   lehnt  er  ab  (S.   1325,   Anm.   4). 

Gellius  gibt  Noct.  Att.  XVII  21  eine  kurze  synchronistische 
Übersicht  der  politischen  und  der  Literaturgeschichte  der  Griechen 
und  Römer  von  Roms  Gründung  bis  zum  Beginn  des  2.  punischen 
Krieges.  Gellius  sagt,  er  habe  die  Angaben  exzerpiert  ex  libris 
qui  chronki  appellavtur ,  nennt  aber  bloß  die  Chronica  des  Nepos. 
Leuze  sucht  zu  zeigen,  daß  er  daneben  auch  noch  an  verschiedenen 
Stellen  dieses  Abschnittes  eine  (oder  mehrere)  varronisch  rechnende 
Chronik  benutzt  habe  (Übersicht  S.  269),  deren  Verfasser  unbenannt 
zu  lassen  am  geratensten  sei  (S.  273). 

6.    Geographisches. 
Douglas  W.  Freshfield,  Hannibal  Once  More,  rezens,  Athenaeum 

(London),   1914  (18./7.),   S.  77. 
W.  A.  B.  Coolidge,    The  Alpine   Passes    of  Varro,    ebenda  1914 

(1./8.),  S.  153. 
1).   Detlefsen,   Die  Anordnung  der  geograph.   Bücher  des  Flinius 

und  ilire  Qviellen.    Qiiellcn  und  Forschungen   zur  alten  Geschichte 

u.   Geographie,   herausg.  von  W.  Sieglin,  18.  Heft  (Berlin  1909). 

Freshfield  lenkt  in  seiner  Abliandlung  (von  der  weder  Jahr 

noch  Verlag  angegeben  ist)  nach  den  Mitteilungen  seines  anonymen 

Rezensenten    die    Aufmerksamkeit    auf    eine    von    Servius   zitierte 

Varrostelle  (zu  Aen.  X   13),  wo  der  Polyhistor  fünf  Übergänge  über 


Bericht  über  die  Literatur  zu  Varro  aus  den  Jahren  li)09— 1918      95 

die  Alpen  aufzählt ,  darunter  an  zweiter  .Stelle  den  von  Hannibal 
benutzten  (leider  ohne  die  Route  zu  beschreiben).  Fr.  scliwankt 
bei  der  Indentifikation  des  Haunibahveges  zwischen  dem  Mont 
Genevre  und  dem  Col  de  1'  Argentiere,  wobei  er  aber  doch  eher  an 
letztere  Koute  denkt.  Coolidge  macht  dazu  die  interessante  Be- 
merkung, daß  die  modernen  Identifikationen,  von  den  geographischen 
Verhältnissen  der  Jetztzeit  ausgehend,  die  Tatsache  außer  Betracht 
lassen,  daß  es  neben  den  großen  im  19.  Jahrh.  angelegten  Alpen- 
straßen nicht  wenige  nicbtvergletschevte  Übergänge  über  die  Gebirgs- 
kette gibt ,  die  seit  uralter  Zeit  von  den  Einheimischen  benutzt 
werden.  Als  Route  Hannibals  dünkt  ihm  die  über  den  Mont  Genevre 
i\m  wahrscheinlichsten. 

Plinius  gebraucht  in  seinen  der  Geographie  gewidmeten  Büchern 
neben  griechischen  Fachausdrücken  auch  lateinische,  z.  B.  mare 
Macedonicum  und  mare  Graecieuse  (Detlefseu,  S.  19).  Spricht 
schon  dies  für  eine  lateinische  Quelle,  so  macht  er  anderseits 
außer  griechischen  Gewährsmännern  ausdrücklich  lateinische  nam- 
haft, unter  ihnen  Varro  (D.  S.  19).  Eine  Hauptquelle  für  Plinius 
bildete  ein  Werk  des  Polyhistors,  das  von  den  Meeren,  ihrer  Ge- 
staltung und  ihrem  Zusammenhang  untereinander  handelte  (S.  16  ff.), 
wie  D.  bereits  im  Herm.  21.  B.  (1886),  8.  240  ff.  angenommen 
hatte.  Die  Einteilung  des  Mittelmeeres  in  4  sinus  bei  Plinius,  wo- 
mit dieser  die  Provinzialbeschreibung  verquickt,  hat  offenbar  ihre 
Wurzel  bei  Varro,  S.  150  ff.  [unter  11.  Die  Quellenschriftsteller  des 
Plinius,  zunächst  die  lateinischen,  a)  Varro]  gibt  D.'eine  Zusammen- 
fassung seiner  Ansichten  über  Varros  Verhältnis  zu  Plinius.  Die 
Quellenschrift  des  Reatiners  behandelte  nicht  allein  den  Zusammen- 
hang und  die  Verteilung  der  Binnenmeere  sowie  den  Ozean,  sondern 
enthielt  höchstwahrscheinlich  zugleich  eine ,  wenn  auch  zum  Teil 
nur  kurze ,  Beschreibung  der  Küstenländer ,  einen  vollständigen 
yceQiTilovg  der  Erde.  Ob  dieser  einen  Teil  der  Antiquitates  bildete 
oder  die  Schrift  De  ora  maritima  war,  läßt  D.  unentschieden. 

Zu  dieser  —  trotz  mancher  Mängel  im  einzelnen  —  im  ganzen 
vmtreff liehen  Abhandlung,  die  man  gewissermaßen  als  das  wissen- 
schaftliche Testament  des  alten  Pliniusforschers  bezeichnen  kann, 
hat  A.  Klotz  in  den  Götting.  Gelehrt.  Anzeigen,  172.  Jahrg.  (1910), 
S.  -1:69  —  498  eine  ebenfalls  bedeutende  Rezension  geliefert.  Die 
Quellenschrift  Varros  war  nach  Klotz  (S.  471  f.)  weder  das  Werk 
De  ora  maritima  noch  ein  Teil  der  Autiquitates.  Sie  muß  der 
Schrift  des  Posidouius  Ifeqi  vr/.Eavov  ähnlich  gewesen  sein.  Kl.  be- 
mängelt an  D.,   daß  er  zu  wenig  scharf  das  Kontaminationsverfahren 


96  Karl  Mras. 

des  Piiuiüs  liervorliebt ,  z.  B.  hat  dieser  in  der  Behandlung  Nord- 
europas den  Varro  durch  jüngere  Quellen  ergänzt  (wie  auch  Mela 
verfährt).  D.  geht  einer  wichtigen  Frage  aus  dem  Wege,  nämlich 
wie  Plinius  Varro  und  Agrippa  miteinander  verbunden  hat  (letzterer 
bildet  mit  ersterem  und  einem  statistischen  Werk  des  Augustus  „die 
Hauptbestandteile  des  Gerüstes  der  Erdbeschreibung  des  Plinius'", 
s.  D.  S,  11).  Varro  hatte  Italien  zum  Ausgangspunkt  seiner  Dar- 
stellung genommen,  Plinius  hingegen  mit  Agrippas  Erdkarte  Spanien. 
Aber  sonst  hat  dem  PI.  das  Gerippe  nicht  Agrippa,  sondern  Varro 
geliefert  und  die  Indices  des  Plinius  sind  auf  die  Geographie  Varros, 
nicht  auf  die  Agrippas  zugeschnitten  (Kl.  S.  473  ff.).  S.  auch  Klotz' 
Bemerkungen  über  das  Lob  Kampaniens  (Plin.  3,  60),  S.  481.  Kl. 
führt  S.  485  f.  auch  Plinius'  Darstellung  Griechenlands  in  ihren 
Grundzügen  auf  Varro  zurück  (D.  auf  Isidorus  von  Charax),  wobei 
für  Kl.  auch  das  sprachliche  Moment  eine  Rolle  spielt,  während  es 
D.,  wie  Kl.  wiederholt  mit  vollem  Rechte  rügt,  fast  ganz  vernachlässigt 
(einen  wichtigen  Prüfstein  bildet  die  Verwendung  der  Wörter  amnis 
und  flumen).  Auch  sonst ,  z.  B.  bei  Kleinasien  und  den  Inseln, 
schreibt  D.  dem  Isidor  zuviel  zu ;  zugrunde  liegt  hier  dem  Plinius 
ebenfalls  das  varronische  Schema  (Kl.  S.  489).  Anderseits  weist 
D.  in  der  Beschreibung  der  Gegenden  im  Osten  Kleinasiens  dem 
Varro  zuviel  zu,  nach  Kl.  ist  er  hier  nur  akzessorisch  benutzt  worden 
(S.  491).  Von  den  übrigen  Rezensionen  bietet  die  von  J.  Solch 
(D.  Litei-aturzeit.  32,  1911,  S.  2162  ff.),  der  sich  namentlich  in  allem, 
was  mit  der  Benutzung  Varros  zusammenhängt,  rückhaltlos  an  Klotz 
anschließt,  nichts  Neues;  die  von  B.  A.  Müller  (Berl.  ph.  Wochen- 
schr.  32,  1912,  S.  1159  f.)  macht  Forderungen  in  methodischer  Hin- 
sicht geltend. 

Anhangsweise  will  ich  bemerken,  daß  für  den  letzten  Enzyklo- 
pädisten des  Altertums,  Isidorus  Hispalensis,  Varro  in  den  geo- 
graphischen Partien  ebensowenig  wie  in  den  übrigen  als  direkte 
Quelle  in  Betracht  kommt:  s.  H.  Philipp,  Die  histor.  - geogr. 
Quellen  in  den  Etymologiae  des  Isidorus  von  Sevilla,  1.  Teil,  Quellen 
und  Forschungen  zur  alten  Geschichte  u.  Geographie,  25.  Heft  (1912), 
S.  47  f. 

Fünftes  Kapitel. 
Literarhistorische  Werke. 

In  der  viel  behandelten  Frage  nach  der  Herkunft  der  Satire 
und  ihrer  Entwicklung  haben  zwei  Stellen  eine  wichtige  Rolle  ge- 
spielt,   eine    bei    dem  Grammatiker  Diomedes    und  eine  bei  Livius. 


Bericht  über  die  Literatur  zu  Varro  aus  den  Jahren  1909—1918.     97 

Diese  auch  für  die  VarroforschuDg  in  Betracht  kommenden  Unter- 
suchungen liegen  außer  in  der  zum  1.  Abschnitt  des  3.  Kapitels 
angeführten  Literatur  noch  vor  bei  Weinreich  (s.  oben,  5.  Ab- 
schnitt desselben  Kapitels)  und  ferner  bei 

Ch.    Knapp,    The    Sceptical    Assault    on    the    Roman    Tradition 

Concerning  the  Dramatic  Satura.    American  Journal  of  Philol.  33 

(1912) 
und 
R.  Reitzenstein,  Livius    und    Horaz   über  die  Entwicklung   des 

röm.  Schauspiels.     Nachrichten  von  d.  Gesellschaft    der  Wiss.  zu 

Göttingen,  Philol.-hist.  Kl.  1918. 

Diomedes  sagt  (Gr.  L.  I  485,  34  ff.)  .  .  Satira  autem  dicta 
sive  a  Satyris  ....  sive  satura  a  hnce  .  .  .  sive  a  quodam  genere 
farciminis,  quod  multis  rebus  refertum  saturam  dicit  Varro  vocitatum. 
Est  autem  hoc  positum  in  seaindo  libro  Plautinarum  quaestionum  : 
satura  cd  uva  passa  et  polenta  et  nuclei  pini  ex  mulso  consparsi. 
Varro  kam  also  in  seinen  Quaestiones  Plautinae  auf  die  Satura  zu 
sprechen,  vielleicht,  wie  Hendrickson  S.  136 ff.  meint,  bei  der 
Erklärung  der  Phrase  per  saturam,  die  irgendwo  bei  Plautus  vor- 
gekommen sein  mag.  Webb  glaubt  (S.  180),  daß  bei  Diomedes 
zwei  Varrozitate  vorliegen,  so  daß  also  Varro  in  den  Quaest.  Plaut, 
bloß  das  Rezept  des  farcimen  ^),  andei'swo  aber  (etwa  in  der  Schrift 
De  compositione  saturarum)  die  Ableitung  der  Satire  a  quodam 
genere  farciminis  geboten  hätte.  So  unwahrscheinlich  auch  diese 
Annahme  ist,  so  hat  sie  dennoch  in  Knapp  (S.  137)  und  Uli  mann 
(S.  176)  Anhänger  gefunden.  M.  E.  stammt  das  ganze  Etymo- 
logiennest von  Satira  autem  dicta  bis  consparsi  aus  Varro,  und  zwar 
aus  seinen  Quaestiones  Plautinae,  was  aber,  bei  seiner  Gewohnheit, 
sich  selbst  zu  zitieren,  nicht  ausschließt,  daß  er  auch  anderswo  darauf 
zu  sprechen  kam.  Jedenfalls  hat  Gerhard  unrecht,  wenn  er  die 
Herleitung  der  Satire  von  ^divgoL  für  unvereinbar  mit  Varros 
„prinzipiellem,  überwiegend  patriotisch-etymologischem  Standpunkt" 
erachtet  (S.  268);  in  Wahrheit  folgte  er  der  Meinung,  nach  der  die 
lateinische  Sprache  ein  Ableger  des  äolischen  Dialektes  war,  und 
viele  seiner  falschen  Konstruktionen  und  Etymologien  sind  gerade 
darauf  zurückzuführen  (s.  Teuf  fei,  Gesch.  d.  röm.  Lit.  ^  S.  326). 
Es  ist  auch  methodisch  bedenklich,  daß  Gerhard  eine  Stelle,  an 
der  Varro    genannt   wird,    diesem    abspricht,    während   er  ihm  eine 


^)  Das  Kroll  S.  193  richtig  erklärt:  keine  Wurst,   sondern  etwa  aur 
Füllung  von  Geflügel  dienend. 
Jahresbericht  für  AltertunmwitsenBchaft  Bd.  192  (1922.  II>^  T 


98  Karl  Mras. 

benachbarte  Diomedesßtelle  zuspricht,  an  der  von  diesem  keine  Rede 
ist,  ja  wo  er,  wie  die  Erwähnung  des  Horaz  zeigt,  als  Gewährs- 
mann gar  nicht  in  Frage  kommen  kann:  I  485,  llff. :  iambus  est 
Carmen  mahdicum  ....  cuius  carminis  praecipui  scriptores  apuä 
Graecos  Archihchus  et  Hipponax,  upud  Bomanos  Lucilim  et  Catullus 
et  Horatius  et  Bibaciilus. 

Betreffs  der  Liviusstelle,  die  von  der  dramatischen  Satire  handelt, 
VII  2,  4 — 13,  stimmen  die  Forscher  zwar  darin  überein,  daß  eine 
antiquarische  Quelle  vorliegt  (Webb  S.  182ff.,  Weinreich  S.  408 ff., 
Reitzenstein  S.  2-i7,  Kroll  S.  199),  sehen  aber  davon  ab,  mit 
Bestimmtheit  den  Namen  eines  Gewährsmannes  zu  nennen ;  nur 
Wein  reich,  Gerhard  (S.  263)  und  Kr  oll  halten  die  Ableitung- 
der  Stelle  aus  Varro  für  möglich.  Daß  der  Parallelbericht  des  Horaz 
(Epist.  n  1,  139  ff.)  auf  eine  ganz  anders  orientierte  Quelle  als  der 
des  Livius  zurückgeht,  dieses  Ergebnis  der  Forschungen  Leos^) 
(Livius  und  Horaz  über  die  Vorgeschichte  des  röm.  Dramas,  Herm.  39, 
1904,  S.  63  ff.)  haben  die  eingehenden  Untersuchungen  von  W  e  i  n - 
reich  S.  397 ff.  neu  bestätigt. 

An  beiden  Stellen,  bei  Livius  wie  bei  Horaz,  werden  die  versus 
Fescennini  erwähnt.  Festus  (Paulus)  gibt  zwei  Etymologien,  p,  85, 
18  M. :  Fescennini  versus,  qui  canebantur  in  nupiiis,  ex  urhe  Fescennina 
dicuntur  allati,  sive  ideo  dicti,  quia  fascinum  putdbantur  arcere.  Da 
nun  Lucan  II  368  non  soliti  lusere  sales  nee  more  Sabino  e.  q.  s. 
die  iocatio  Fescennina  als  einen  sabinischen  Brauch  auffaßt, 
möchte  Reitzenstein  S.  256  diese  Auffassung  auf  den  Reatiner 
Varro,  der  ja  Sabiner  war ,  zurückführen ,  eine  Etymologie,  durch 
die  die  Herleitung  des  Namens  von  der  etruskischen  Stadt  aus- 
geschlossen werde.  Darum  könne  von  Festus'  Etymologien  bloß 
die  zweite  von  Varro  herrühren.  Dazu  bemerke  ich:  Varro  wird 
mehrere  Ableituugsversuche  nebeneinander  gestellt  haben  (sive  .  .  . 
sive  .  .  .  sive  .  .  .). 

Auf  Varros  Werk  De  poetis,  dessen  Bedeutung  für  die  Ge- 
schichte der  römischen  Literatur  E.  Norden  in  der  Einleitung  iij 
die  Altertumswissenschaft  I.  Bd.  *  S.  549  =  ^  S.  417  gebührend 
hervorhebt,  kommt  dieser  auch  in  seinem  Buche  Ennius  und  VergiUus 
zu  sprechen.     Gell  ins  zitiert  XII  4  Verse  des  Ennius  (234  ff.  V.  ^), 


*)  Der  seinerseits  auf  einem  ausgezeichneten  Aufsatz  von  G.  L. 
Hendrickson  weiter  gebaut  hat:  A  Pre-Varronian  Chapfer  of  Roma« 
Litcrary  Hißtory,  Amer.  Journ.  of  Philol.  19  (lö98),  S.  285—311.  Bei  Horaz 
liegt  V  0  r varrouische  Tradition  (Accius)  vor:  s.  meinen  Varrobericht  1900, 
S.  91  ff. 


Bericht  über  die  Literatur  zu  Varro  aus  den  Jahren  1909 — 1918.     99 

die  nach  L.  Aeliiis  Stilo  eine  Selbstcharakteristik  des  Dichters 
enthalten.  Norden  läßt  S.  132  im  Anschluß  an  andere  den  Gellius 
hier  Varros  Werk  De  poetis  benutzen  und  bezieht  S.  140  flF.  diese 
Verse  auf  die  Schlacht  bei  Cannae.  Allein  da  erhebt  sich  eine 
große  Schwierigkeit:  Gellius  sagt  in  annali  sej)timo,  obwohl  doch 
diese  Schlacht  von  Ennius  erst  im  8.  Buch  erwähnt  wurde.  Norden 
schafft  die  Schwierigkeit  leicht  aus  dem  Wege,  indem  er  (S.  142) 
nicht  einmal  eine  handschriftliche  Verderbnis  (VII  statt  VIII)  an- 
nimmt, sondern  meint,  Gellius  habe  die  Verse  aus  Varro  genommen, 
aber  da  bei  diesem  —  das  lasse  sich  auf  Grund  der  erhaltenen 
Bücher  De  1.  1.  wohl  sicher  annehmen  —  ein  Buchzitat  zu  den 
Versen  nicht  gestanden  sei,  dürfte  G.  selber  die  Buchnummer  aus 
dem  Gedächtnis  hinzugefügt  und  sich  dabei  geirrt  haben. 


Sechstes  Kapitel. 

Werke  antiquarischen  Inhalts. 

1.    Die  Antiquität e|s  Eer.  Hum. 

a)  Die  Stoffverteilung  in  der  2,  Hexade. 

C.  Fr  ick,  Varroniana  (s.  oben  4.  Kapitel,  5.  Abschnitt).  2.  Die 
Stoffverteilung  in  der  2.  Hexade  von  Varros  Antiquitates  rerum 
Humanarum,  S.   1024. 

Der  Inhalt  von  Buch  IX  und  X  war  bisher  nicht  festzustellen. 
Nun  haben  aber  Goetz-Schoell  in  ihrer  Ausgabe  von  Varros 
Werk  De  I.  1.  (1910),  Proleg.  S.  XLV  Anm.  1  auf  ein  bis  jetzt 
übersehenes  Bruchstück  des  10.  Buches  aufmerksam  gemacht  (Non. 
S.  471,  2  M),  das,  wie  der  Vergleich  mit  L.  L.  VI  87  lehrt,  aus 
den  tabulae  censoriae  stammt.  Daraus  zieht  Fr.  die  richtige  Schluß- 
folgerung, paß  Varro  im  10.  B.  von  den  tabulae  censoriae  gehandelt 
hat.  Das  führt  auf  Rom;  also  wird  Varro  die  im  8.  Buch  begonnene 
Beschreibung  der  städtischen  Altertümer  fortgesetzt  und  an  irgend- 
einer Stelle,  vermutlich  bei  Erwähnung  des  Atrium  Libertatis  (vgl. 
Liv.  XLIII  16,  13),  der  tabulae  censoriae  Erwähnung  getan  haben, 

b)  Yarros  Zeitrechnung  iu  diesem  Werk. 

Derselbe,  Varroniana  II  (s.  oben  a.  a.  0.),  1.     Die  von  Varro  iu 
den  Antiquitates  Humauarum  gebrauchte  Gründungsära,  S.  1322  f. 
Durch  Vergleich  von  Solin  I  16 — 26  mit  beweiskräftigen  Kon- 
kordanzen stellt  Fr.  fest,  daß  hier  tatsächlich  Varro  Solins  Haupt- 
•juelle  ist  (aus  den  A.  R.  H.).    Vavro  veranschlagte  demnach  in  den 

7* 


100  ^^^^  Mras. 

Ä.  R.  H.  die  Königszeit  auf  240  (241)  Jalire,  was  er  offenbar  aus 
Fabius  nahm;  später  hingegen  berechnete  er  die  Königszeit  auf 
244  Jahre.  Folglich  wird  er  sich  in  den  Antiquitates  auch  der 
Gründungsäi-a  des  Fabius  (Ol.  8,  1)  bedient  haben. 

2.    Die  Antiquitates  Rer.  Div. 

G.  W  i  s  s  o  w  a ,  Religion  und  Kultus  der  Römer.  Iw.  Müllersches 
Handb.  V.  B.  4.  Abt.,  2.  Auflage  (München  1912). 

W.  F.  Otto,  Römische  Sondergötter.  Rh  M  64  (1909),  S.  448 
bis  468. 

Über  die  indigitamenta  —  die  in  der  Varroforschung  eine  nicht 
unwichtige  Rolle  spielen  —  hat  W.  in  der  2.  Auflage  seine  Ansicht 
geändert.  Er  erklärt  jetzt  S.  37 ,  Anmerk.  3 ,  daß  sie  alle  An- 
rufungsformeln  (conpi'ecationes  de(or)um  inmortalium:  Gell.  XIII 
23,  1)  umfaßten,  nicht,  wie  man  früher  annahm,  nur  Litaneien^) 
der  einzelnen  Akten  und  Momenten  vorstehenden  sogenannten  Sonder- 
götter ^).  Neu  ist  in  der  2,  Auflage  die  Hervorhebung  des  be- 
sonderen Einflusses,  den  Posidonius  auf  Varros  Religionsphilosophie 
ausgeübt  hat  (S.  69). 

Varros  „Sondergötter"  beruhen,  wenigstens  zum  großen  Teil, 
auf  falschen  Voraussetzungen  und  Etymologien  des  Reatiners:  das 
hat  Otto  a.  a.  0.  unwiderleglich  dargetan.  Wie  Vari-o  einen  Gott 
Caeculus,  der  nichts  anderes  war  als  der  göttliche  Ahnherr  der  gens 
Caecilia,  durch  falsche  Ableitung  zu  einem  Gotte  machte  qui  oculos 
sensu  exanimat,  so  brachte  er  auch  Edula  mit  edere  und  Potina 
mit  potare  in  Beziehung,  obwohl  diese  Namen  damit  nichts  zu  tun 
hatten,  vielmehr  mit  den  Geschlechtsnamen  Edusius  (Etusius)  und 
Potin(i)us  in  Zusammenhang  standen  (S.  453  ff.  •,  daselbst  noch  andere 
Belege). 

Die  Erwähnung  der  sogenannten  UXovTiövia  Italiens  mit  der  * 
richtigen  Etymologie  des  Namens  Ampsancti  bei  Varro  (Servius  zu 
Verg.  Aen.  VU  563 ff.  Ampsancti  valles)  führt  Norden  (Ennius 
und  Vergiliiis  S.  23)  vermutungsweise  auf  das  VII.  Buch  der 
A.  R.  D.,  das  de  locis  religiosis  handelte,  zurück.  Aus  Plin.  N.  H.  II 
207  f.  können  wir  uns  eine  Vorstellung  von  der  varronischen  Auf- 
fassung machen  (ebenda,  Anmerk.  2). 


*)  So  er  selber  in  der  ersten  Auflage  S.  22  (s.  Varrobericht  1909,  S.  104f.). 
')  So  noch  Sam  Wide,  Römische  Religion.    Einleit.  in  die  Alter- 
tumsw.  11.  Bd.  (1910)  S.  257. 


Bericht  über  die  Literatur  zu  Varro  aus  den  Jahren  1909—1918.   101 

3.    Die  Antiquitates  als  Quelle. 

C.  Franke,  De  Ovidii  fastorum  fontibus  capita  tria.  Dissertat. 
Halle  1909. 

M(aria)  Marchetti,  Intorno  alla  nota  dei  Fasti  Prenestini  al 
secondo  giorno  dei  'Carmentalia'.  Bullettino  della  Commissione 
archeolog.    comunale    di    Roma,    Anno  XLI  (1913),    S.  154 — 184. 

Th.  Stangl,  Bobiensia.     Rh.  Mus.  65  (1910). 

B.  Boehm,  De  Cornelii  Labeonis  aetate.    Dissert.  Königsberg  1913. 

Daß  Ovid  Festkalender  für  sein  Werk  eingesehen,  bezeugt  er 
selber  mehrmals  (z.  B.  Fast.  I  289  f.,  II  7).  Einen  kurzen  Über- 
blick über  den  Stand  der  Frage  der  Quellenbenutzung  in  Ovids 
Fasten  habe  ich  im  Varrobericht  1909  S.  100  gegeben.  Franke 
lälJt  Ovid  im  wesentlichen  zwisclien  Verrius  und  Varro  hin-  und  her- 
schwanken, bringt  aber  kein  Material  bei,  das  mit  zwingender  Not- 
wendigkeit die  Benutzung  der  sogenannten  Fasti  Maffeani  (von 
Praeneste-Palestrina)  sichern  würde.  Nur  ganz  singulare  Tatsachen 
könnten,  wenn  sie  diesen  mit  Ovid  gemeinsam  wären,  für  die  Autor- 
frage entscheidend  sein.  Dasselbe  gilt  natürlich  auch  für  Varro, 
wenngleich  hier  von  vornherein  die  Wahrscheinlichkeit,  daß  Ovid 
an  dieser  Autorität  nicht  vorübergegangen  sein  kann,  sehr  groß  ist. 
Freilich  solche  Schlüsse  darf  man  nicht  ziehen,  daß  z.  B.  Ovid  III 
73  ff.  die  Ableitung  des  Namens  des  März  von  dem  Vater  des 
Romulus  oder  von  dem  Kriegsgott  der  Latiner  aus  Varro  haben 
muß  (S.  35);  ebensowenig,  daß  Ovid,  der  IV  721  f.  dieselbe  Ab- 
leitung der  Palilia  von  der  Göttin  Pales  wie  Varro  (L.  L.  VI  15) 
bietet,  während  Verrius  neben  dieser  noch  eine  andere  Etymologie  hat 
(Parilia  a  pariendo,  s.  Paulus  p.  222,  12  M.),  von  den  beiden 
Ableitungen  sich  nicht  die  eine  ausgesucht  hätte,  wenn  sie  ihm 
nicht  als  varronisch  bekannt  gewesen  wäre  (S.  43  f.).  Manchmal  ist 
die  Differenz  zwischen  Verrius  und  Varro  bloß  scheinbar.  Be- 
sonders bemerkenswert  ist  in  dieser  Hinsicht  Ovid  IV  631  f.  Forda 
ferens  hos  est  fctuncluque^  dkta  ferenda^  Jiinc  cüam  felus  nomcn  habere 
puiarit;  Varro  sagt  L.  L.  VI,  15  Fordicidia  a  fordis  huhus]  hos 
forda  quac  fert  in  venire,  Verrius  (Paul.  p.  83,  13)  Fordwidis 
hoves  fordae,  id  e^t  gravidae,  immolahantur,  dictae  a  fetu.  Auf  Grund 
dieses  Materials  nimmt  Fr.  S.  46  an,  Ovid  habe  hier  sich  Varro 
angeschlossen,  dagegen  Verrius  ganz  beiseite  gelassen.  Sieht  man 
jedoch  genau  zu,  so  erkennt  man,  daß  Ovid  beide  Etymologien 
hat:  fecunda  und  fetus  beweisen,  daß  die  Grammatikerquelle  auch 
diese  Wörter    mit    ferre    in  Verbindung   brachte    (der   Grammatiker 


102  Karl  Mra». 

stellte  sich  jedenfalls  die  Entwicklung  so  vor:  fer(e)cundus  <C  /e- 
cundus  und  fertus  <C,  fetus) ;  das  Licht,  das  daraus  auf  die  Paulus- 
stelle fällt,  läßt  uns  sehen,  daß  auch  Festus-Verrius  fetus  von  ferre 
abgeleitet  hat;  dann  sieht  aber  die  Varrostelle  wie  ein  Auszug  aus 
einer  au  anderer  Stelle  ausführlicheren  etymologischen  Darstellung 
aus.  Anderes  führt  Fr.  mit  großer  Wahrscheinlichkeit  auf  V  a  r  r  o 
zurück,  so  I  617 — 636  (2.  Carmentalia),  wo  allerdings  Pinta rch, 
wie  Marchetti  gezeigt  hat,  in  den  Quaestion.  Rom.  56  die  varro- 
nische  Tradition  reiner  wiedergibt  als  Ovid.  Bei  Ovid  wie  bei 
Plutarch  finden  wir  die  Verknüpfung  von  Carmenta  mit  carpenta, 
aber  ein  wesentlicher  Unterschied  liegt  darin,  daß  nach  Ovid  das 
2.  Fest  der  Göttin  durch  einen  Senatsbeschluß  eingesetzt  wird, 
während  Plutarch  die  Matronen  durch  Privatinitiative  nicht  ein 
Fest,  sondern  ein  Heiligtum  der  Carmenta  gründen  läßt.  Die 
Schlüsse ,  die  Marchetti  hieraus  für  die  Fasti  Praenestini  (zum 
18.  Tag  vor  den  Kaleuden  des  Februar)  zieht,  kommen  für  uns 
nur  insofern  in  Betracht,  als  sie  mit  großer  Wahrscheinlichkeit  die 
darin  angedeutete  Version  von  der  Erweiterung  der  Carmentalia 
über  Verrius  auf  Varro  zurückführt  (S.  174).  Unter  Varros 
Werken  kommen  natürlich  die  Antiquitates  in  erster  Linie  in  Be- 
tracht. Wir  dürfen  freilich  nie  die  Tatsache  aus  dem  Auge  ver- 
lieren, daß  Ovid  ein  viel  umfangreicheres  Material  zu  Gebote  stand, 
als  uns  erhalten  geblieben  ist,  ferner  daß  er  auch  ältere,  Verrius 
und  Varro  gemeinsame,  Gewährsmänner  benutzt  haben  kann  (z.  B. 
Aelius  Stilo).  Jedenfalls  bleiben  G.  Wissowas  Worte  zu  Recht 
bestehen :  Ovidium  diversa  diversae  aetatis  hemerologia  inspexisse 
et  in  uuum  consarcinavisse  (Ges.  Abhandl.  z.  röm.  Religions-  und 
Stadtgeschichte  S.  271).  Ergänzend  möchte  ich  zu  Franke  S.  67 
bemerken,  daß  Varro  auch  Sat.  Men.  516  B  von  der  Kugelgestalt  der 
Erde  spricht :  hie  (sc.  Menippus)  liquit  homines  omnes  in  terra(e)  püa. 
Cornelius  Labeo,  dessen  Lebenszeit  B o  e h m  in  das  erste 
nachchristliche  Jahrhundert  setzt  ^),  weist  in  seinen  Lehren  Einflüsse 
der  Stoa  auf;  insbesondere  schöpft  er  aus  Varro  undPosidon^) 
(s.  Boehm  S.  41  f.  und  78). 

^)  Was  nicht  unwidersprochen  geblieben  ist,  s.  W.  A.  Baehreus, 
Über  die  Lebenszeit  des  Cornelius  Labeo,  Herrn.  52  (1917),  S.  396?.; 
vgl.  auch  W.  Kroll,  Die  Zeit  des  Com.  Labeo,  Rh.  M.  71  (1916),  309ff. 

2)  Das  gibt  an  und  für  sich  keine  Gegeninstanz  gegen  die  bisherige 
Ansetzung  seiner  Lebenszeit  in  der  Epoche  der  Neuplatoniker,  da  ja  in 
die  neuplatonische  Philosophie  die  Strömungen  der  andern  Philosopheme 
(mit  Ausnahme  der  Lehren  Epikurs)  wie  in  ein  Sammelbecken  einmünden, 
daher  auch  viel  Stoisches  (bes.  Posidonischer  Färbung). 


Bericht  über  die  Literatur  zu  Varro  auB  den  Jahren  1909 — 1918.  103 

Auch  für  die  Bobiensischen  Ciceroscholien  kommt  Varro  als 
Gewährsmann  in  Betracht.  Methodisch  bezeichnende  Merkmale  der- 
selben sind,  wie  S  tan  gl  a.  a.  0.  S.  110  dartut,  folgende:  sie  ver- 
breiten sich  gelegentlich  über  den  Ttgiotog  evQEtyg,  dann  über  das 
atztov  (eines  Festes  z.  B.) ,  etymologisieren  und  führen  italische 
Sitten  auf  ausländische,  besonders  griechische,  zurück.  Das  alles 
deutet  ofifenbar  auf  Varro  als  Vorlage  hin,  und  zwar  ohne  Zwischen- 
quelle; das  Mittelglied  einer  christlichen  Schrift  ist  ausgeschlossen,  da 
z.  B.  Augustin  die  Varroniana  mit  polemischen  Spitzen  durchsetzt, 
die  in  den  Schollen  gänzlich  fehlen  (Stangl  S.  112). 


Siebentes  Kapitel. 

Varros  wissenschaftliche  Tätigkeit  auf  anderen  Oebieten. 

1.   Die  Disciplinarum  libri. 

K.  Praechter,    Eine    Stelle  Varros  zur  Zahlenthcorie.    Herrn.  46 

(1911),  S.  407—413. 
P.    Maas,    Varro   bei    Gellius,    Noct.  Att.  XVIII    25    [richtig  15]. 

Herm.  48  (1913),  S.  157—159  (und  Berichtigung  S.  636). 

Die  methodisch  einwandfreien  Untersuchungen  von  R  e  e  h  (siehe 
oben  4.  Kapitel,  2.  Abschnitt)  haben  ergeben,  daß  Varros  Disciplinae 
für  Censorins  8.  Kapitel  (über  Astrologie),  10.  (über  Musik)  und 
13.  (über  Geometrie)  Quelle  sind  (s.  S.  50).  Auson  hat  dasselbe 
Werk,  und  zwar  dessen  6.  Buch  (über  Astrologie),  für  seine  8.  und 
wahrscheinlich  auch  für  die  6.  und  7.  Ekloge  herangezogen  (siehe 
S.  53  f.). 

Praechter  knüpft  an  den  Aufsatz  von  K.  Fries  an  (De 
M.  Varrone  a  Favonio  Eulogio  expi-esso,  Rh.  M.  58,  1903,  S.  115 
bis  125  ;  s.  Varrobericht  1909,  S.  110).  Es  handelt  sich  um  zahlen- 
theoretische Erörterungen,  die  besonders  die  Sechszahl  betreffen. 
Pr.  macht  nun  S.  408  auf  Augustin  De  civ.  dei  11,  30  aufmerk- 
sam, eine  Stelle,  die  zu  Favon  stimmt,  aber,  da  sie  mehr  bietet, 
nicht  von  diesem  abhängig  sein  kann.  Da  anderseits  Augustin 
bloß  die  Sechszahl  bespricht,  Favon  hingegen  die  Zahlen  1 — 9  in 
gleicher  Weise  und  offenbar  nach  derselben  Quelle  behandelt,  ist 
umgekehrt  die  Abhängigkeit  des  Favon  von  August  in  ebenfalls 
ausgeschlossen.  Als  gemeinschaftliche  Quelle  nimmt  Pr. S. 409  Varro 
an,  der  über  diese  Fragen  wohl  in  der  Schrift  De  principiis  nu- 
merorum  oder  in  den  Arithmetica  der  Disciplinarum  libri  gehandelt 


104  I^'^'^l  Mras. 

hat.  Im  folgenden  sucht  er  den  Gedankengang  der  Varrostelle  zu 
ermitteln. 

Varro  (der  ausdrücklich  genannt  wird)  betrachtet  an  der 
Gelliusstelle  die  ersten  5  und  die  letzten  7  HalbfülJe  des  Hexa- 
meters als  mathematisch  gleichwertig.  Worauf  beruht  diese  selt- 
same Theorie?  Maas  hat  in  dem  erwähnten  Aufsatz  seine  ur- 
sprüngliche Annahme,  Varro  habe  in  der  Gleichung  3^-j-4^  =  5^ 
(Pythagoreisches  Grunddreieck)  die  Quadratzahl  außer  acht  gelassen, 
zunächst  verworfen  und  durch  eine  andere  ersetzt,  die  sich  auf  eine 
Aristotelesstelle  stützt,  ist  aber  nachträglich  (S.  636)  zu  jener  wieder 
zurückgekehrt,  nachdem  er  aufmerksam  gemacht  worden  war,  daß 
H.  Weil  bereits  auf  Grund  von  Augustin  De  musica  5,  26  (Migue  32, 
1160)  gezeigt  hatte,  daß  jene  Ratio  geometrica  wirklich  auf  der 
Gleichung  3^-}-4^  =  5^  beruht.  Die  Stelle  stand  in  dem  Disci- 
plinarum  libri,  wie  Gell iu.s  ausdrücklich  angibt,  u.  zw.  in  dem 
Abschnitt  De  musica  (7.  Buch). 

Kurz  verweise  ich  auf  den  Bericht  von  H.  Gleditsch  über 
die  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  der  griech.  u.  röm.  Metrik 
1903—1908,  Bursian  144.  Bd.  (1Ö09),  S.  80 f.,  wo  er  eine  in 
tschechischer  Sprache  erschienene  Schrift  von  K.  Wenig  bespricht, 
Über  die  Quellen  der  Schrift  des  Augustinus  de  musica,  Listy  filo- 
logicke  XXXIII  (1906):  Augustin  liat  sich  in  der  Derivations- 
lehre an  Varro  angeschlossen,  daneben  aber  auch  andere  Schriften 
über  Rhythmik  und  Metrik  benutzt. 

Ebenso  kurz  streife  ich  den  in  demselben  Band  des  'Bursiau' 
erschienenen  Bericht  von  H.  Abert  über  die  Literatur  zur  griech. 
Musik  1903 — 1908,  S.  13,  wo  er  über  seinen  eigenen  Aufsatz  {Ztt 
Cassiodor,  Saramelbände  der  Internat.  Musikgesellschaft  III  439  bis 
453)  referiert:  Die  ästhetischen  Anschauungen,  die  Cassiodor  in 
dem  musikalischen  Abschnitt  seiner  Enzyklopädie  vertritt,  stammen 
durchwegs  aus  dem   7.  Buch  von  Varros  Disciplinarum  libri. 

2.    Dielibriiuriscivilis. 
G.  M  e  r  e  a  t  i ,  Aggiunta    zu  seinem  Aufsatz  II  libro  Ttegl  Gtad^niZv 

di   Dardano    tradotto    anticamente    in    latino?      Rendiconti    del  r. 

istit.    lombardo,    Serie  II,    vol.  42  (1909),  S.  316  f.   (der  Aufsatz 

selber  steht  S.  149—156). 
P.    Bonfante,    Sui  „Libri    iuris    civilis"  di   M.  Terenzio  Varrone. 

Ebenda  S.  318—323. 
Max    Conrat  (Cohn),    lustitutiones    civiles   des  Varro  bei  Petrus 

Diaconns.   Zeitschrift  f.  Rechtsjreschichte,  XXX.  Rom.  Abt.  S.  412  f. 


Bericht  über  die  Literatur  zu  Varro  aus  den  Jahren  1909 — 1918.   105 

Mercati  hatte  auf  eine  noch  nicht  vollständig  veröffentlichte 
Epithoma  .  .  .  super  regulam  sancti  Patris  Benedkti  des  Petrus 
diaconus  (12.  Jahrh.)  aufmerksam  gemacht,  aus  der  die  Mönche  von 
Montecassino  einen  kurzen  Auszug  publiziert  haben  (Biblioth.  Casinen- 
sis,  tom.  V  1  [1894],  Fiorilegium  p.  73  -  76).  Auf  S.  74  a  dieses 
Florilegiums  erwähnt  Petrus  Insfitutiones  civiles  des  Marcus  PuUius 
(so !)  Terentius  Varro  und  charakterisiert  ihren  auf  die  Streitigkeiten 
dieser  Welt  gerichteten  Inhalt,  um  ihn  der  auf  das  Jenseits  ge- 
richteten Regula  Benedicti  gegenüberzustellen.  Bonfante  neigte 
ebenso  wie  Mercati  (in  seiner  Antwort  auf  eine  Anfrage  Bon- 
fantes,  s.  S.  322  f.)  dazu  —  mit  aller  Vorsicht  natürlich  — ,  das 
Zitat  als  eine  wirkliche  Reminiszenz  der  bloß  aus  Hieronymus' 
Katalog  bekannten  XV  Bücher  V  a  r  r  o  s  De  iure  civili  anzusehen. 
Woher  sollte  aber  Petrus  seine  Kenntnis  genommen  haben?  Nun 
hat  Conrat  gezeigt,  daß  hier  Petrus,  ein  als  „erfindungsreich" 
bekannter  Autor,  eine  Entlehnung  aus  Laktanz'  Institutiones  divinae 
(I,  1,  12)  verwertet  hat.  Die  Gegenüberstellung  der  beiden  Texte 
läßt  darüber  keinen  Zweifel,  daß  es  sich  um  eine  wörtliche  Ent- 
lehnung handelt;  nur  hat  Petrus  die  Worte  des  Laktanz  et  si 
quidam  prudentes  et  arhitri  acquitatis  institutiones  civiles  iuris  covnpo- 
sltas  edlderunt,  quihus  civium  dissidentium  Utes  contentionesque  sopirent 
durch  et  si  Marcus  Puhlius  Terentius  Varro  Inailtutiones  civiles  com- 
posltas  edldlt,  quihus  Romanoriim  d.  l.  c.  que  sopiret  ersetzt,  wobei 
die  Erwähnung  des  Varro  wohl  damit  in  Zusammenhang  steht,  daß 
er  nach  der  Legende  in  Cassino  eine  Schule  hielt  (s.  Mercati, 
Rendic.  a.  a.  0.  S.  317,  Anm.  3:  Hinweis  auf  eine  Notiz  in  dem 
ebenfalls  von  Petrus  abgefaßten  Catalogus  regum,  consulum  usw., 
Florileg.  p.  40;  in  Wahrheit  besaß  Varro  dort  ein  Landgut,  vgl. 
R.  R.  III  4,  2). 

Anhang. 

Die  sogenannten  Sententiae  Varronis. 

P.  Germann,  Die  sogenannten  Sententiae  Varronis.  Studien  zur 
Geschichte  u.  Kultur  d.  Altert.  Im  Auftrage  u.  mit  Unterstützung 
d.  Görresgesellsch.  herausg.  von  E.  Drerup,  H.  Grimme, 
P.  Kirsch,  IH.  Bd.,  6.  Heft  (Paderborn  1910). 

C.  Weyman,  Miszellen,  Rh.  Mus.   70  (1915),  S.   154,  6. 

Germ  an n  hatte  seine  Ausgabe  bereits   im  A  L  L  XV  (1908J, 

S.  425  f.  angekündigt  (s.  meinen  Varrobericht  1909,  S.  111).      Vor 

ihm  hatte  Ch.  Cliappuis  die  meisten  Hss.  herangezogen  (für  seine 


106  I^arl  Mras. 

Ausgabe,  Sentences  de  M.  T.  Varrou,  Paris  1856).  Das  hs. 
Material,  das  G.  verwertet,  ist  zum  Teil  neu.  Sein  Text  beruht 
auf  einer  dreifachen,  durch  Hss.  des  13. — 15.  Jahrh.  vertretenen 
Überlieferung,  die  auf  einen  gemeinsamen  Archetypus  zurückgeht; 
der  Stammvater  der  besten  Familie  war,  wie  A.  Klotz  in  seiner 
Rezension,  BphW.  31  (1911),  S.  1024  ff.  gezeigt  hat,  recht  jung^). 
Die  Gruppe  a  (Stemma  S.  28)  bietet  die  bemerkenswerte  Über- 
schrift Sententiae  Varronis  ad  Papirianum  Äthenis  audientem]  eine 
Dubliner  Hs.  bezeichnet  den  Papirianus  als  Senator  urhis  Romae 
(Parianus  in  einem  Paduaner  Kodex  ist  offenbar  verderbt  aus 
Papirianus ;  daß  letzteres  selbst  korrumpiert  sei  aus  Papirius  FabianuSf 
dem  Namen  des  Lehrers  Senecas,  war  eine  im  ALL  a.  a.  0.  ge- 
äußerte Vermutung  des  Verfassers,  an  der  er  jetzt  mit  Recht  nicht 
mehr  festhält,  s.  S.  85  f.).  Bedeutungsvoll  ist  m.  E.  auch  die  Tat- 
sache, daß  die  Sentenzen  153 — 156  außerhalb  der  übrigen  Über- 
lieferung stehen  und  bloß  im  „Liber  moralitatum"  des  "Wiener 
Karmelitermönches  Matthias  Farinator  (14.  Jahrh.)  vorhanden 
sind,  dort  aber  die  155.  Sentenz  mit  Varro  in  scntentiis  libro 
septimo  und  die  156.  mit  V.  in  s.  libro  sexto  eingeführt  wird: 
das  erweckt  den  Eindruck,  daß  unsere  Sammlung  einst  viel  um- 
fangreicher gewesen  ist.  Ob  sie  noch  dem  Altertum  oder  erst  der 
Karolingerzeit  angehört,  könnte,  wie  Klotz  a.  a.  0.  bemerkt,  erst 
nach  Untersuchung  der  übrigen  Spruchsammlungen  festgestellt  werden. 
Stammen  diese  Sentenzen  tatsächlich  von  Varro,  d.  h.  aus  jetzt 
verlorenen  Werken  des  Reatiners?  G.  leugnet  es;  aber  schon  die 
früheren  Herausgeber,  der  Paduaner  Professor  V.  Devit  (1843) 
und  C  h  a  p  p  u  i  s ,  haben  auf  bemerkenswerte  Ähnlichkeiten  zwischen 
einigen  dieser  Sentenzen  und  Äußerungen  Varros  hingewiesen.  Mir 
erscheinen  folgende  Parallelen  besonders  auffallend  (die  Nummern 
bezeichnen  die  Sentenzen):  56  f>->  Varro  R.  R.  H  1,  2;  33  rv> 
Varro  bei  Serv.  zu  Aen.  VII  601  (Thilo  II  169);  99f.  c^  Varro 
bei  August.  CD.  IV  27  u.  31;  vgl.  außerdem  noch  die  von 
G  e  r  m  a  n  n  im' Anschluß  an  seine  Vorgänger  aus  Varro  beigebrachten 
Stellen  zu  11,  34f.,  36,  37  und  109.  Vgl.  auch  F.  Härders 
Rezension,  WklPh.  28  (1911),  S.  397  ff.,  der  S.  400  auf  einige 
Stellen   hinweist,    au   denen  Ger  mann   mit   Unrecht  Beziehungen 


*)  Auf  drei  Hss,,  die  Germann  entgangen  waren,  hat  P.  Lejay, 
Revue  de  philol.  35  (1911),  S.  309  aufmerksam  gemacht;  auch  sie  sind 
nicht  älter  als  die  von  G.  verwendeten.  Eine  sekundäre  Überlieferung, 
die  auf  die  Specula  des  Vinceutius  Bellovac.  zurückgeht,  besitzt  für  die 
Textkritik  keine  selbständige  Bedeutung  (s.  G.  S.  22). 


Bericht  über  die  Literatur  zu  Van-o  aus  den  Jahren  1909 — 1918.  107 

zu  Varro  ablehnt.  Wenn  Weyman  a.  a.  0.  sagt,  die  45.  Sentenz 
{.  . .  fides  est  media  opinionis  et  scientiae,  neutram  atiingens)  gemahne  an 
die  Scholastiker,  speziell  an  Hugo  von  St.  Victor  (etwa  1096  bis 
1141 ;  der  Glaube  sei  "certitudo  quaedam  animi  .  .  .  supra  opinioaem 
et  infra  scientiam  constituta")  und  an  Johannes  von  Salisbury  (etwa 
1110 — 1180;  der  Glaube  sei  "media  inter  opiniouem  et  scientiam"), 
so  ist  das  allerdings  richtig,  aber  die  Varrosentenz  ist  sicherlich 
nicht  von  den  beiden  Scholastikern,  vielmehr  sind  diese  von  jener 
abhängig ;  daß  die  Sentenz  mit  der  Religion  nichts  zu  tun  hat,  lehrt 
ihre  1.  Hälfte:  Non  in  disciplinis  fidem,  sed  scientiam  habe.  Ebenso- 
wenig verrät  die  157.  Sentenz:  (.  .  .  melius  enim  senem  uddiscendo 
pati  eruhesccntiam  quam  per  ignorantiam  poenam  promereri  aeternam) 
christliche  Anschauung',  denn  J.  Golling  verweist  in  seiner  Be- 
sprechung dieser  Ausgabe,  Zeitschr.  f.  d.  österr.  Gym.  64  (1913), 
S.  23  ff.,  ganz  richtig  auf  Lukrez  I  111  aeternas  quoniam  poenas 
in  morte  timendum  est.  Unverkennbar  sind  dagegen  in  den  Sentenzen 
Beziehungen  zu  den  Werken  des  Philosophen  Seneca  und  der 
Herausgeber  hat  recht,  ihnen  im  Anschluß  an  seine  Vorgänger 
weiter  nachzugehen.  Den  Beweis  aber,  daß  Senecas  Schriften  den 
Grundstock  für  unsere  Sammlung  bilden,  hat  er,  wie  Härder 
a.  a.  0.  S.  401  richtig  bemerkt,  nicht  erbracht.  Ich  stelle  mir  das 
Verhältnis  zwischen  den  Sentenzen  und  Seneca  gerade  umgekehrt 
vor:  Da  nämlich  Varro  von  August  in  C.  D.  6,  2  als  doctrina 
tarnen  atque  sententiis  refertus  bezeichnet  wird  —  sententiis  heißt 
da  freilich  nicht  Sentenzen,  sondern  Gedanken  — ,  ferner  in  unseren 
Sentenzen  mehrfach  Anschauungen  der  stoischen  Schule  zutage  treten 
(s.  S.  77)  und  endlich  manche  Sentenzen  metrische  Spuren  auf- 
weisen *),  aus  allen  diesen  Gründen  möchte  ich  annehmen,  daß  die 
Sprüche  tatsächlich  aus  Werken  Varros,  auch  poetischen  (daher  die 
Metren),  stammen,  und  die  Anklänge  an  Seneca  so  erklären,  daß 
dieser  Stoiker  zahlreiche  Gedanken  seines  großen  römischen  Vor- 
gängers übernommen  und  neu  geprägt  hat.  Auf  die  Entstehung  der 
Sammlung  wird  vielleicht  einmal  ein  Licht  fallen,  wenn  es  gelingen 
sollte,  die  Persönlichkeit  des  in  der  Überschrift  genannten  Papirianus 
zu  ermitteln.  Ich  denke,  daß  es  sich  um  das  Werk  eines  Gramma- 
tikers  handelt,    das   dieser   zu  Studienzweckeu   ftir    einen   in  Athen 


*)  98  ist  ein  vollständiger  Pentameter.  Wir  finden  Anklänge  an  Hexa- 
meter, z.  B.  10,  und  jambische  Senare;  statt  an  die  Ursprünglichkeit  des 
Metrums  zu  glauben,  anzunehmen,  wie  der  Verfasser  S.  88  tut,  daß  der 
Epitomator  manche  Gedanken  metrisch  umzuformen  bemüht  war,  heißt  die 
Dinge  auf  den  Kopf  steilen. 


108  Karl  Mras,  Bericht  über  d.  Lit.  zu  Vairo  aus  d.  J.  1909—1918. 

studierenden  vornehmen  jungen  Römer  verfaßt  hat,  und  habe  dabei 
ähnliche  Erzeugnisse  der  griechischen  Literatur  im  Auge,  wie  das 
an  einen  vornehmen  Römer  Gaiatianus  gerichtete  Platonische  Lexikon 
des  Sophisten  Timaeus  (im  VI.  Bd.  der  Hermannschen  Plato- 
ausgabe).  Unerläßlich  für  die  Entscheidung  der  Autorschaft  der 
Sentenzen  wäre  deren  sprachliche  Untersuchung,  die  Germann 
merkwürdigerweise  unterlassen  hat,  obwohl  von  ihm  selber  dazu 
durch  seinen  trefflichen  Wortindex  (S.  90 — 98)  eine  tragfähige  Grund- 
lage geschaffen  worden  ist.  Zum  Text  und  zum  Kommentar  macht 
Härder  a.  a.  0.  S.  402 f.  einige  Vorschläge;  Golling  liefert 
wichtige  sprachliche  und  sachliche  Beiträge. 

K.  Mras. 


Bericht 
über  die  Seneca-Literatur  aus  den  Jabren  1915—1921. 

Von 
Professor  Dr.  Karl  Müuscher  in  Münster  (Westf.). 

Bei  Ausarbeitung  meines  Buches  'Senecas  "Werke,  Unter- 
suchungen zur  Abfassiingszeit  und  Echtheit'  (=  Philol.  Suppl.  XVI. 
Heft  1 ,  Leipzig  1922)  habe  ich  mich  in  die  Seneca-Literatur  der 
letzten  Jahre,  welche  die  literarhistorischen  Fragen  betraf,  soweit 
sie  mir  bekannt  und  erreichbar  war,  eingearbeitet.  Deshalb  habe 
ich  mich  nicht  ungern  entschlossen ,  dem  "Wunsche  A.  Körtes  zu 
entsprechen  und  über  die  neuere  Seneca-Literatur  einen  Bericht  zu 
geben.  Es  war  dafür  vor  allem  noch  eine  Durchsicht  der  textkri- 
tischen Arbeiten  meinerseits  erforderlich.  Seneca  ist  im  ganzen  bis- 
her in  den  Jahresberichten  nicht  vertreten  gewesen,  nur  über  seine 
Tragödien  ist  neben  anderer  römischer  Literatur  der  Kaiserzeit  von 
Job.  Tolkiehn  mehrfach,  zuletzt  in  Bd.  171,  1915,  15 — 31  über 
die  Erscheinungen  der  Jahre  1911 — 14  berichtet  worden.  Bei  den 
Tragödien  habe  ich  mich  natürlich  zeitlich  an  diesen  letzten  Bericht 
Tolkiehns  angeschlossen ,  im  übrigen  habe  ich  mich  bei  dem  Ver- 
suche,  über  die  gesamte  Seneca-Literatur  der  letzten  Jahre  zu  orien- 
tieren, nicht  ängstlich  auf  die  Jahre  1915 — 21  beschränkt,  sondern, 
wo  es  angebracht  schien ,  auf  die  vorangehenden  Jahre  zurück- 
gegiüffen.  Im  einzelnen  war  ich  auf  Kürze  bedacht;  sie  ergab  sich 
leider  zum  Teil  von  selbst  aus  der  Tatsache,  daß  die  ausländische 
Literatur  seit  Beginn  des  Weltkrieges  in  Deutschland  ganz  all- 
gemein und  auf  der  Münsteraner  Universitätsbibliothek  im  beson- 
deren fast  völlig  fehlt.  Es  finden  sich  also  viele  *  in  meinem  Be- 
richte ,  um  nur  dem  Titel  nach  mir  Bekanntes  zu  bezeichnen.  — 
Ganz  kurze  Berichte  über  die  Seneca-Literatur  sind  schon  kürzlich 
geboten  worden  von  W.  Kroll,  Lat.  Philologie  ("Wiss.  Forschungs- 
berichte   1914—18,    her.  von  K.  Hönn  II),    Gotha  1919,    67/9  und 


110  K.  Münscher. 

F.  Levy,  Römische  Poesie  der  Kaiserzeit  1913 — 21  in  den  Jahres- 
berichten des  Philol.  Vereins  zu  Berlin  (Sokrates)  XLVII  1921^ 
103—6. 

Da  die  Dialoge  Senecas  sich  über  seine  gesamte  Lebenszeit 
verteilen  und  die  Tragödien  gruppenweise  den  Jahren  vor  und  nach 
Neros  Regierungsantritt  sowie  den  letzten  Lebensjahren  zuzuweisen 
sind,  mußte  von  der  Anordnung  des  Berichtes  nach  der  Ent- 
stehungszeit der  Werke  im  ganzen  abgesehen  werden,  um  die  Kor- 
pora der  Dialoge  und  der  Tragödien  nicht  zu  zerreißen.  Ich  stelle 
als  Teil  I  die  Arbeiten  zusammen,  die  Seneca  selbst  und  seine 
Werke  im  allgemeinen  betreffen,  in  Teil  II  folgen  die  Arbeiten  zu 
den  einzelnen  Werken,  und  zwar  beginne  ich  die  Besprechung  der 
erhaltenen  Prosawerke  mit  der  Literatur  zu  den  Dialogen,  es  folgen 
die  anderen  in  chronologischer  Reihe  (Apokolokyntosis,  de  dementia, 
de  beneficiis,  naturales  quaestiones  und  epistulae  ad  Lucilium),  dar- 
auf die  Literatur  zu  nicht  erhaltenen  und  unechten  Schriften,  end- 
lich die  zu  den  poetischen  Werken,  den  Epigrammen  und  Tragödien. 

Das  Interesse  an  Seneca  und  seinen  Werken  ist  zweifellos  zur- 
zeit im  Zunehmen ,  und  ich  darf  wohl  hoffen ,  daß  mein  Seneca- 
Buch,  wie  dieser  Bericht,  manchem  nicht  unwillkommen  sein  wird. 
Vor  allem  hat  sich  auch  das  Gymnasium  des  Seneca  philosophus 
neuerdings  entsonnen :  je  mehr  der  klassizistische  Bann  durchbrochen 
und  zerbrochen  wird,  um  so  mehr  gewinnen  Seuecas  Werke  in  der 
lateinischen  Primalektüre  an  Boden.  Die  Forderung,  den  Umkreis 
der  in  den  obersten  Gymnasialklassen  zu  lesenden  Autoren  auch  in 
der  lateinischen  Literatur  zu  erweitern ,  ist  mit  Recht  und  Nach- 
druck vielfach  erhoben  worden.  Der  für  das  humanistische  Gym- 
nasium persönlich  ernsthaft  begeisterte  Inhaber  der  Firma  Teubner, 
A.  Giesecke,  hat  in  dem  von  ihm  angeregten  schönen  Sammel- 
buche 'Das  Gymnasium  und  die  Neuzeit,  Fürsprachen  und  Forde- 
rungen für  seine  Erhaltung  und  seine  Zukunft',  Leipzig  1919,  in 
seinem  eigenen  Beitrage  'Gymnasium  und  Leben'  (S.  51  Anm.  2) 
es  ausgesprochen,  daß  neben  Ciceros  philosophische  Schriften  Seneca 
und  Augustin  treten  müßten  wie  'neben  Ciceros  Briefe  die  Zeug- 
nisse des  ersten  Erwaihens  der  Persönlichkeit  in  der  Renaissance'. 
Mehrfach  sind  angesehene  Schulmänner  für  Seneca  als  Primalektüre 
eingetreten:  G.  Rosenthal,  Seneca  als  Schullektüre,  Woch.  f.  kl. 
Philol.  XXVIII  1911,  754/8,  empfiehlt  die  unten  genannte  Hauck- 
sche  Ausgabe  der  epist.  auch  für  das  Realgymnasium.  H.  Bern- 
hardt, Seneca  in  der  Prima,  N.  Jbb.  XV  1912,  Bd.  XXX,  404—15, 
empfiehlt,    auf  Grund    5 jähriger    eigener  Seneca- Lektüre   in  Prima, 


Bericht  über  die  Seneca-Literatur  aus  den  Jahren  1915 — 1921.     111 

nach  den  epist.,  die  in  die  Lehren  der  Stoa  einfiihren ,  einzelne 
Dialogi  zu  lesen ;  als  minder  geeignet  sieht  er  ad  Polyb.  an  und 
die  Apokol.  *P.  Dörwald,  Seneca- Lektüre  in  Prima,  Lehr- 
proben und  Lehrgänge  131,  Halle  1917,  15 — 21.  Auch  in  dem  so 
viel  Treffliches  bietenden  Handbuche  für  Lehrer  Fr.  Cramers, 
Der  lat.  Unterricht  (Berlin  1919),  wird  unter  den  'mehr  seitwäi-ts 
des  Weges  liegenden  Schätzen'  (S.  243)  der  Philosoph  Seneca 
genannt  und  (S.  459  f.)  auf  seine  Briefe  hingewiesen  sowie  (S.  461) 
einige  Literatur  über  seine  schulmäßige  Behandlung  kurz  angeführt. 
Vereinzelt  hat  man  als  Stoff  der  Schnllektüre  einzelne  der  Dialogi 
erprobt,  z.  B.  auch  W.  Kaiser  die  Konsolationen  (Prgr.  Berlin 
1914,  7  ff.,  s.  unten  S.  140).  Im  allgemeinen  pflegt  man  aber  noch 
heute,  wie  ich  es  aus  der  Praxis  mir  bekannter  Schulmänner  weiß, 
die  epist.  zu  wählen.  Dafür  liegen  zAvei  brauchbare  Schulausgaben 
vor:  L.  Annaeus  Seneca,  Ausgew.  moralische  Briefe  als  Einführung 
in  die  Probleme  der  stoischen  Philosophie  von  P.  Hauck,  Berlin 
(Weidmann)  1910,  I  Textband,  II  Kommentar  (Rez.  W.  GemoU, 
Woch.  f.  klass.  Philol.  1911,  323  ff.)  und  handlicher,  weil  nicht  mit 
einer  so  breiten  Einführung  in  die  Philosophie  belastet,  L.  A.  Se- 
neca ad  Lucil.  epist.  mor.  sei.  erkl.  v.  G.  Hess,  2.  Aufl.  v.  R. 
Mücke,  Gotha  (Perthes)  1913  (einige  Einwendungen  gegen  die 
Textgestaltung,  bes.  Überschätzung  des  cod.  Uelcensis,  den  Mücke 
zuerst  näher  untersucht  hat,  und  gegen  die  Erklärungen  macht 
W.  Gemoll,  Woch.  f.  klass.  Philol.  1914,  241  f.).  Das  Ausland 
hat  gleichartige  Ausgaben  geschaffen,  die  zu  nennen  zwecklos  ist. 
Die  Beschränkung  auf  die  Briefe  ist  aber  für  die  Schullektüre 
kaum  zu  empfehlen.  Mehr  bietet  die  Chrestomathie  aus  Schrift- 
stellern der  silbei-nen  Latinität  von  Th.  Opitz  u.  A.  Wein  hold, 
4.  Heft:  Abschnitte  aus  Sen.  und  Celsus.  3.,  unveränderte  Aufl. 
Leipzig  (Teubner)  1920,  worin  Stücke  aus  prov.,  ira  I,  Marc,  brev. 
vit.,  Helv.,  benef.  II  und  IV,  nat.  quaest.  u.  epist.  geboten  werden. 
Daß  man  auch  ganz  anderes  wählen  kann ,  zeigen  die  Selected 
Essays  of  Sen.  and  the  Satire  on  the  deification  of  Claudius  with 
introduction  and  notes  by  Allan  P.  Ball,  New  York  1908,  worin 
Polyb.  ganz  sowie  die  beiden  Bücher  dem.  nebst  einigen  Briefen 
neben  die  Apokol.  gestellt  sind.  Keine  dieser  neueren  Sammlungen 
'ist  so  reichhaltig  wie  die  schon  weit  über  ein  Jahrhundert  zurück- 
liegende Sammlung  auserlesener  Stellen  aixs  den  sämtlichen  philo- 
sophischen Schriften  des  L.  A.  Sen.  für  die  Schüler  der  ersten 
Klassen  an  Gelehrtenschulen  bestimmt  u.  her.  v.  Joh.  Wilh. 
Olshauseu  ,  Altona  1807,  die  recht  wohl  eine  Erneuerung  verdient. 


112  Karl  Münscber. 

I.  Allgemeines. 

Sen.  ist  zweifellos  eine  überaus  problematische  Gestalt.  Er  ist 
nia  die  Mitte  des  1.  Jabrh.  n.  Chr.  der  bedeutendste  Schriftsteller 
Roms,  der  in  einer  Fülle  von  Prosawerken  eine  edle  Humanität 
predigt  und  daneben  seltsame  Dramen  schreibt ,  die  menschliche 
Leidenschaft  fast  widerlich  abstoßend  zeigen;  er  ist  der  wahre  und 
großzügige  Leiter  des  römischen  Reiches  während  der  ersten  Jahre 
der  Regierung  des  Kaisers  Nero ,  nachdem  er  vorlier  durch  dessen 
Mutter  Agrippina  des  Prinzen  Nero  Erzieher  geworden  war,  aber 
er  war  gezwungen ,  wüste  Lasterhaftigkeit  und  blutige  Schandtaten 
im  Kaiserhause  selbst  nicht  bloß  zu  dulden,  auch  zu  entschuldigen, 
ja  zu  rechtfertigen;  er  selbst,  der  Prediger  der  Bedürfnislosigkeit, 
lebte  in  fürstlicher  Pracht;  wie  schon  in  der  Zeit  seiner  Ver- 
bannung nach  Korsika,  wurde  er  am  Schlüsse  seines  Lebens,  nach 
dem  Bruche  mit  Nero,  zu  einem  mit  geistiger  Arbeit  reich  erfüllten 
otium  gezwungen;  schließlich  wird  auch  er  ein  Opfer  der  Rache 
Neros.  Es  ist  kläglich  wenig ,  was  der  Leser  der  Geschichte  der 
römischen  Kaiser  A.  v.  Domaszewskis  (II  Leipzig  1909)  in 
dem  'Senecas  Staatsleitung'  überschriebenen  Kapitel  (47  flP.)  von  Se- 
necas  Persönlichkeit  erfährt.  Zwar  wird  nicht  geleugnet,  daß  Mieser 
feingebildete  Geist  die  Gabe  zu  herrschen  wirklich  besaß,  wenn  er 
auch  den  Tugendmantel  des  Philosophen  nur  als  ein  gefälliges 
Kleid  trug',  im  ganzen  wird  er  aber  mit  dem  Wort  vom  'glatten 
philosophischen  Schwätzer  Sen.'  abgetan,  und  es  ist  ein  wirkliches 
Verdienst  Th.  Birts,  mehrfach  die  grundlegende  Bedeutung  von 
Sen.s  Wirken  betont  und  ihn  als  eine  Hauptfigur  der  römischen 
Kaisergeschichte  des  L  Jahrh.  hingestellt  zu  haben.  Das  hat  B. 
getan  in  seinem  Buche  'Römische  Charakterköpfe,  ein  Wellbild  in 
Biographien',  3.  Aufl.  Leipzig  1918,  in  der  Biographie  des  Kaisers 
Claudius  223  ff.  (4.  Aufl.  1920),  und  danach  den  Versuch  gemacht, 
ein,  wenn  auch  skizzenhaftes  Sonderbild  von  Sen.s  Persönlichkeit 
zu  entwerfen,  die  heterogenen  Züge  im  Wesen  des  Mannes  zu  einen 
und  zu  begreifen,  dessen  Schriftstellerei  stets  im  Dienste  seiner 
ethisch-politischen  Wirksamkeit  gestanden  hat:  Sen.,  ein  Vortrag, 
Preuß.  Jbb.  CXLIV  1911,  282  ff.,  aufgenommen  in  das  Buch:  Aus 
dem  Leben  der  Antike,  2.  Aufl.  Leipzig  1919,  165  ff.  m.  Anm. 
253  ff.  —  Erwähnt  sei  auch  die  kurze  Würdigung  Sen.s,  die  H. 
Bernhardt  gegeben  hat  (Hum.  Gymnasium  u.  modernes  Kultur- 
leben, Dankesgrüße  ehemal.  Schüler  zur  Feier  des  30Ojähr.  Be- 
stehens des  Erfurter  Gymnasiums,   Erfurt  1911,  Nr.  19,  S.  259  bis 


Bericht  über  die  Senccaliteratur  aus  den  Jahren  1915 — 1921.      113 

263  ff.)  unter  dem  Titel :  L.  A.  Sen.,  ein  moderner  Mensch ;  trotz 
der  unverkennbaren  Schwächen  im  Charakter  Sen.s  sieht  B.  in  ihm 
den  Ausläufer  und  Übermittler  einer  großen  wertvollen  vergehenden 
und  den  Propheten  einer  neuen,  unserer  modernen  Kultur.  —  Fol- 
gende   ausländische   Charakteristiken  Sen.s    sind    mir   unzugänglich : 

*Vinc.  Ussani,  Sen.,  Atene  e  Roma  XVI  169/170,  1—14. 
171/2,  84—101. 

*J.  van  Wageningen,  Sen.s  leven  en  moraal,  Voordracht, 
Groningen  1917.    Selbstanzeige  *  Museum  XXVII  1919,  56  ff. 

*  F.  Holland,  Sen.,  bespr.  von  *  R.  M.  Gummer e,  Class. 
Weekly  XIV,  93  ff.  (nach  Philol.  Woch.  1921,  524,  eine  inter- 
essante Biographie  des  sehr  sympathisch  geschilderten  Sen.). 

Eine  Biographie  Sen.s ,  die  den  Mann  allseitig  in  seineu  poli- 
tischen und  schriftstellerischen  Leistungen  würdigt  unJ  zugleich  sein 
wahres  Wesen  ergründet  und  klarstellt ,  besitzen  wir  noch  nicht. 
Wer  sie  zu  schaffen  berufen  ist,  wird  sich  aber  doch  mehr  als  Birt 
davor  zu  hüten  haben ,  vor  dem  blendenden  Lichte  im  Bilde  Sen.s 
allzusehr  die  tiefen  Schatten  zu  übersehen.  Ich  möchte  ein  paar 
schöne  Worte  anführen,  die  mir  U.  v.  Wilamowitz,  als  er  für 
Übersendung  meines  Sen. -Buches  dankte,  über  Sen.  als  Persönlich- 
keit sclirieb :  'Wer  Brudermord ,  vorher  Kaisermord ,  dann  sogar 
Muttermord  entschuldigte  oder  hinnahm,  wer  sich  das  Fett  ansetzen 
ließ,  das  das  Porträt  zeigt,  der  ist  ein  anderer  gewesen,  als  der 
sich  in  den  Briefen  darzustellen  weiß.  Ein  großer  Sünder.  Aber 
daß  eben  der  doch  diese  Briefe  geschrieben  hat,  auch  Dialoge  und 
Dramen,  ist  ein  Beweis  dafür,  daß  hier  kein  geringer  Mensch  steht, 
ein  ewig  denkwürdiger,  aber  ein  Problem.  Den  Menschen  gilt  es 
erst  noch  einmal  zu  fassen.' 

Kein  so  hohes  Ziel  habe  ich  mir  gesteckt  in  meinem  eingangs 
erwähnten  Buche.  Es  leistet  aber  eine  unerläßliche  Vorarbeit  für 
den  kommenden  Sen. -Biographen ,  indem  es  die  Chronologie  der 
Schriften  Sen.s ,  der  prosaischen  wie  der  poetischen ,  aufzubauen 
unternimmt.  Nicht  daß  Versuche  in  dieser  Beziehung  früher  ge- 
fehlt hätten.  Aber  das  Buch ,  welches  diese  Untersuchungen  bisher 
am  meisten  gefördert  hat  und  das  mir  bei  meiner  Arbeit  als  Grund- 
lage dienen  mußte,  A.  Gerckes  Sen.-Studien  (Jbb.  f.  Philol. 
Suppl.  XXII  1895  in  dem  Abschnitt:  Sen.s  Abhandlungen  im 
Rahmen  der  Zeitgeschichte  S.  282  ff.),  ließ  die  poetischen  Werke, 
besonders  die  Tragödien ,  unberücksichtigt.  Auch  der  Franzose  R. 
Waltz  hat  in  seinem  Buche  La  vie  politique  de  S6n.  (bes.  S.  7,  2) 
wie    in    seiner    Sonderausgabe    von    de    otio ,    6d.    accompagn6e    de 

•Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft  Bd.  192  (1922.  II).  8 


114  K.^ri  Münscher. 

notes  critiques  et  d'un  commentaire  explicatif  in  der  Vorrede  (beide 
Schriften  Paris  1909)  zu  einigen  chronologischen  Fragen  Stellung 
genommen.  Seine  Ausätze  hat  R.  Pichon  kritisch  beleuchtet  (Les 
travaux  recents  sur  la  Chronologie  des  oeuvres  de  Sen.,  Journal  des 
Savants,  N.  S.  X  1912,  212 — 225);  auch  zu  den  chronologischen 
Schlüssen  A.  Bourgerys  in  seinem  Aufsatze  Sur  la  prose  m^,- 
trique  de  S6n.  le  philos.  (Rev.  de  philol.  XXXIV  1910,  167-172) 
nimmt  Pichon  Stellung ;  er  findet  in  den  statistischen  Nachweisungen 
über  die  Frequenz  der  rhythmischen  Klauseln  keine  ausreichende 
Grundlage  für  B.s  von  Gercke  teilweise  abweichende  Ansätze. 
Ich  habe  den  Versuch  gemacht,  Sen.s  Prosawerke,  die  erhaltenen 
wie  die  nichterhaltenen ,  auf  die  im  Leben  Sen.s  sich  von  selbst 
durch  seine  Verbannung  und  seinen  Rücktritt  ins  Privatleben  er- 
gebenden vier  Perioden  zu  verteilen;  wichtige  Einschnitte  innerhalb 
dieser  Perioden  bedeuteten  jeweilig  der  Regierungsantritt  eines 
neuen  Kaisers,  des  Caligula  und  Claudius  in  der  ersten,  des  Nero 
in  der  dritten  Periode ,  in  der  ein  dritter  Abschnitt  sich  deutlich 
am  Ende  des  viel  gerühmten  ersten  Quinquennium  Neros  nach  dem 
Muttermorde  abzeichnet.  Meine  Untersuchungen  bestätigen  teils  die 
früheren  Ansätze,  teils  fiibren  sie  zu  neuen  Ergebnissen.  In  einem 
5.  Kap.  erörtere  ich  gesondert  das  chronologische  Problem  der 
Tragödien. 

Falls  meine  Ergebnisse  Anerkennung  finden,  werden  die  Dar- 
stellungen über  Sen.s  Werke  in  den  Literaturgeschichten  in  manchen 
Punkten  Abänderungen  erfahren.  M.  Schanz  behandelt  Sen.  in 
seiner  Gesch.  d.  röm.  Lit.  II,  2^,  München  1913,  in  unglücklicher 
Verteilung  auf  zwei  Stellen,  S.  51-76  den  Dichter  Sen.  {^  368—380) 
und  S.  375 — 423  das  Biographische  und  die  Prosawerke  (§  452 — 472a). 
Teuf  fei -Kr  oll,  Gesch.  d.  röm.  Lit.  II',  Leipzig  1920,  S.  215 
bis  230,  §  287—240. 

Einzelheiten  des  Lebensganges  Sen.s  besprechen: 

*0e.  Hupka,  Seu.  szämuz6se  (Verbannung),  Eygetemes  Philo- 
logiai  Közlöny  XXXV,  799—813. 

W.  L.  Friedrich,  Burrus  und  Sen.,  Reichsverweser  unter 
Nero,  Berl.  philol.  Woch.  1914,  1342/4,  die  Zeugnisse  für  beider 
Männer  gemeinsames  Wirken  darbietend,  die  Verschiedenheit  ihres 
Wesens  und  infolgedessen  auch  ihres  Einflusses  auf  den  Kaiser  ab- 
wägend. 

Wir  pflegen  unsern  L.  A.  Sen.  den  'Philosophen'  zu  nennen 
im  Unterschied  zu  seinem  gleichnamigen  Vater,  dem  Rhetor.  Aber 
■wie  dieser  kein  zünftiger  Rhetor  war,  so  war  der  Sohn  kein  'Philo- 


d 


Bericht  über  die  Senecaliteratur  aus  den  Jahren  1915 — 1921.      115 

Boplx',  kein  philosoplws  cathedrarius ;  aber  auch  kein  verus  et  anti- 
quus  philosophus  (brev.  vit.  10,  1)  wollte  er  sein ;  er  war  sein  Leben 
lang  ein  Vertreter  des  7tQaxTiy.bg  ßiog^  nur  gezwungenermaßen  hat 
er  sich  dem  ^ßw^jjTfxog  ßiog,  dem  otium  ergeben  und  es  gepriesen 
(die  betr.  Stellen  verwendet  F.  Boll,  Vita  contemplativa,  Festrede, 
Sitz.-Ber.  Akad.  Heidelberg  1920,  8.  Abhdlg.;  2.  Aufl.  Heidelberg 
1922,  Anm.  z.  S.  6  f.)  und  auch  in  diesem  noch  für  Mit-  und  Nach- 
welt gearbeitet  (vgl.  Sen.s  Werke  1  f.).  Die  Mehrzahl  seiner 
Schriften  ist  durch  bestimmte  Lebensumstände  veranlaßt  worden, 
und  es  ist  eine  notwendige  Aufgabe ,  jede  einzelne  aus  diesen  be- 
sonderen Umständen  heraus  zu  begreifen.  Diese  historische  Be- 
trachtungsweise wird  leicht  vernachlässigt,  wenn  es  sich  darum  han- 
delt, von  der  Philosophie  Sen.s  zu  sprechen. 

Sen.  gibt  nirgends  eine  systematische  Pädagogik ;  aber  er  äußert 
nicht  selten  treft'liche  Gedanken  über  Erziehung,  und  so  ist  gerade 
seine  'Pädagogik'    mehrfach    in   neuerer  Zeit  behandelt  worden. 

Rob.  Kenner,  Sen.  und  die  Jugend,  Blätter  f.  d.  bayer. 
Gymnasialwesen  XLVI  1910,  333 — 43,  zeigt,  wie  Sen.  mit  Vorliebe 
das  Kind  und  seine  Welt  als  protreptisches  Gleichnismittel  verwendet. 

loan  Marinescu,  Die  stoischen  Elemente  in  der  Pädagogik 
Sen.s,  Diss.  München  1911,  behandelt  sein  Thema  nach  einleitenden 
Kapiteln  über  den  Stoizismus  am  Anfang  des  1.  Jahrh.  n.  Chr.  in 
Rom,    wie   über  Sen.s  Eklektizismus,    seine  Psychologie  und  Ethik. 

*  C  h.  B  u  r  n  i  e  r ,  La  p6dagogie  de  S6n. ;  Le9on  inaug.  h  l'Univ. 
de  Neuchätel,  Lausanne  1914  (95  S.). 

Joh.  Gottfr.  Beringer,  Moderne  und  antike  Willensbildung, 
ein  Beitrag  zum  Vergleich  heutiger  Willenspädagogik  mit  jener 
Sen.s,  Prgr.  Freising  1915,  bespricht  die  Erziehung  des  Willens 
zur  Höhe,  zur  Kraft  (durch  Vermittlung  des  Körpers,  durch  die 
Verstandes-  und  Gefühlswelt  sowie  durch  Beeinflussung  der  Be- 
gehrungen und  Triebe)  und  zur  sozialen  Betätigung,  um  schließlich 
den  Unterschied  zwischen  dem  christlichen  Erziehungsziel  und  den 
heutigen  Mitteln,  es  anzustreben,  und  Sen.s  Anschauung  darzulegen. 

Den  'Philosophen'   Sen.  betreffen  des  weiteren: 

Rud.  Reich,  Quid  c  Sen.  philos.  eius(][ue  patris  scriptis  de 
luxuria  illius  aetatis  colligi  queat  et  quid  las  de  rebus  censuerit 
philosophus,  Prgi'.  Lundenburg  1912,  eine  Stellensammlung  (Luxus 
in  der  Körperpflege,  im  Häuserbau,  im  Essen),  die  natürlich  nichts 
wesentlich  Neues  lehrt  (Rez,  Max.  Adler,  Zeitschr.  f.  d.  österr. 
Gymn.  LXV  1914,  381  f.). 

*Dom.  Bassi,  Sen.  morale:  studi  e  saggi,  Florenz  1914  (205  S.). 

8* 


116  Karl  Münscher. 

*M.  Salomone,  Seu.  e  suoi  pensieri  di  filosofia  e  di  pe- 
dagogia,  Turin  1914. 

Herrn.  Steiner,  Theodizee  bei  Sen.,  Diss.  Erlangen  1914. 
Das  Problem  spitzt  sich  bei  Sen.,  bes.  in  prov.,  allein  auf  die  Frage 
der  praktischen  Ethik  zu:  quare  muUa  bonis  viris  adversa  evenhmi? 
Trotzdem  untersucht  Verf.  das  Theodizeeproblem  bei  Sen.  im  Ver- 
hältnis zu  Metaphysik,  Ethik  und  Religion  (S.  51  Anm.  wird  der 
tiefe  Gegensatz  zwischen  Sen.  und  Paulus  berührt) ;  erst  am  Schluß 
hinkt,  recht  unhistorisch,  ein  Abschnitt  nach  über  die  Theodizee 
bei  den  übrigen  Stoikern. 

Ernst  Howald,  Die  Weltanschauung  Sen.s,  N.  Jbb.  XVIII 
1915,  Bd.  XXXV  353—360;  sie  erscheint  H.  nicht  konsequent, 
und  er  spricht  davon ,  inwiefern  Sen.  von  der  strengen  Stoa  (im 
Verhältnis  zur  großen  Masse,  im  fast  Epikureischen  Grundsatze  des 
onimo  frui,  in  der  Stellung  zum  'Ich',  zum  Weibe,  zu  den  Göttern), 
abweicht. 

Sen.s  und  seiner  Werke  Fortleben. 

Tum  autem  solus  hie  fere  in  manibus  aduhscentium  ftiit  bezeugt 
Quintiliau  (inst.  X  1,  125)  von  Sen.  Als  solcher  überaus  fleißiger 
Sen. -Leser  erscheint  Martial  nach  dem,  was  G.  Friedrich,  Zu 
Sen.  und  Martial,  Hermes  XLV  1910,  583—594,  aufgezeigt  hat. 
Sen.s  eigene  Redeweise  ist  durchaus  epigrammatisch ,  und  so  hat 
der  Epigrammatiker  Martial  seinen  Geist  genährt  durch  Sen. -Lektüre. 
Fr.  vermag  Berührungen  Martials  zu  fast  allen  Prosawerken  wie  zu 
den  Tragödien  und  Epigrammen  Sen.s  nachzuweisen;  noch  mehr 
derartiger  Beobachtungen  gedachte  er  in  einem  Kommentar  zu 
Martial  vorzulegen.  Manche  Martialstelle  findet  nur  aus  Sen.  ihre 
Erklärung,  so  z.  ß.  die  cena  ambulans  VII  48,  5  aus  Sen.  epist. 
78,  23.  Sogar  für  die  Wahl  der  Lesart  ist  bei  Textvarianten  im 
Martial  mitunter  das  Vorbild  Sen.  wertvoll  (XII  82,  4  acceptas  pilas 
wie  bei  Sen.  benef.  II  32 ,  1).  Auch  Lukan  hat  Martial  gelesen 
wie  den  Vater  Sen.;  die  Epigramme  III  66  und  besonders  V  69, 
die  Ciceros  Tod  durch  Antonius  mit  dem  Untergang  des  Pompeius 
parallelisieren,  stammen  nach  Form  und  Inhalt  aus  suas.  6.  Zu  weit 
geht  allerdings  0.  Immisch,  wenn  er  (Hermes  XL  VI  1911,  489 
Anm.)  auf  Grund  dieser  Tatsache  nun  umgekehrt  suas.  6,  6  den 
Namen  des  Eunuchen  Pothiuus  einsetzen  will.  Das  wäre  doch  nur 
dann  annehmbar,  wenn  jener  Pothinus  dem  Martial  aus  keiner 
anderen  Quelle  als  aus  Sen.  rhetor  hätte  bekannt  werden  können. 
Das  ist  aber  keineswegs  der  Fall.    Schon  Cäsar  bell,  civ.  III  108,  1 


Bericht  über  die  Seneca-Literatur  aus  den  Jahren  1915 — 1921.     117 

erwähnt  den  eunuchus  nomine  Pothinus,  ohne  ihn  allerdings  mit 
Pompeius  Tod  in  Verbindung  zu  bringen.  Das  ist  aber,  wie  man 
mit  Sicherheit  sagen  kann,  bei  Livius  zu  lesen  gewesen:  denn 
Florus  erzählt  (II  13,  52),  daß  Porapeius'  Ermordung  imperio  vilissinii 
regiSi  consiliis  spadonum  erfolgt  sei,  und  wer  diese  Eunuchen  waren, 
erfährt  der  Leser  ein  wenig  später  (60),  wo  Florus  den  Tod  des 
Pothinus    und  Gauymedes    berichtet,    der  ne  virilia  quidem  pottenta. 

Als  Sen.s  ^philosophischen  Schriften  'näher  verwandt'  bezeichnet 
0.  Roßbach  des  Florus  Dialogfragment  Vergilius  orator  an  poeta, 
sowohl  bez.  der  sprachlichen  Form  (kurze ,  unverbundene  Sätze, 
Klausel-Rhythmus)  wie  sachlich  in  der  Behandlung  eines  literarischen 
Themas,  wie  solche  auch  von  Sen.,  zumal  in  den  letzten  Briefen, 
gern  besprochen  werden  (Art.  Florus  Nr.  10  P.-W.  VI,  Sp.  2767  f.). 

Vom  Fortleben  Sen.s  in  neuerer  Zeit  handelt  *Th.  Eustachie- 
wicz,  Sen.  in  Polen  (poln.),  Eos  XIX  1913,  177  ff.;  nach  der  In- 
haltsangabe Berl.  philol.  Woch.  1914,  379,  sind  in  Krakau  und  Lem- 
berg  viele  mittelalterliche  handschriftliche  Pseudo-Annaeana  vor- 
handen, alte  Handschriften  der  Dialoge  und  3  Ti-agödienhand- 
schriften  s.  XV,  und  es  sind  in  der  Zeit  der  Renaissanc  wie  in  den 
späteren  Jahrhunderten  in  Polen  viele  Ausgaben ,  Kommentare, 
Übersetzungen  und  Nachahmungen  erschienen.    S.  aiich  unten  S.  161. 

G.  W.  Robinson  hat  Joseph  Scaligers  Estimates  of  Greek 
and  Latin  Authors  aus  seinen  Werken  gesammelt  und  herausgegeben 
(Harvard  Studies  in  class.  Philol.  XXIX,  Cambridge  1918,  133—176) 
und  damit  eine  recht  amüsante  und  interessante  Lektüre  geschaffen. 
Auch  die  Urteile  über  Sen.  sind  beachtenswert  (169  f.):  moralis 
philosophiae  primas  tenet,  dignissimus  qui  semel  atque  iterum  lega- 
tur.  De  remediis  fortuitorum  non  est  Sen.,  sed  Sen.  collectorum. 
Epistolae  Sen.  ad  Paulum  sunt  antiquae ;  citantur  ab  Hieronymo, 
non  sunt  confictae  a  monachis,  quia  tunc  non  erant.  Aber  auch 
der  Dichter  Sen.  ist  ein  bonus  auctor.  Von  den  Tragödien  gelten 
ihm  die  Troades  als  princeps  omnium,  und  Lipsius'  Urteil,  der  sie 
fUr  das  Werk  magistelli  potius  cpam  Sen.  erklärte,  wird  höhnisch 
zurückgewiesen.  Herc.  f.  vergleicht  Sc.  mit  dem  Euripideischen,  von 
der  Thebais  (das  sind  die  Phoenissenszenen)  sagt  er:  Haec  fabula 
est...  totum  scholasticum  drama,  declamatorio  charactere ,  multa 
putida  sunt  et  affectata.  Auch  die  Octavia  weiß  Sc.  zu  schätzen: 
neque  inepta  sei  sie,  wie  Lipsius  geurteilt  habe,  neque  futilis  auc- 
toris aut  sub  Domitiano  viventis;  er  meint:  ego  video  auctorem 
Octaviae  ipsius  Octaviae  domesticum  et  Sen.  amicum  fuisse  et  Op- 
timum  poema    esse.    Abweichend   äußert    er   sich  an  anderer  Stelle 


118  Karl  Münscher, 

(iu  einem  Briefe  an  Salmasius) :  Octaviam  autem  Memoris  fratris 
Turni  esse  non  dubitamus ;  das  ist  der  Scaevus  Memor  tragicus  poeta 
(Vallascholion  zu  Juv.  I  20.  Mart.  XI  9  u.  10),  von  dem  wir  ein 
paar  anapästiscbe  Metra  aus  einer  an  Hecuba,  die  Cisseis,  gerichte- 
ten Klage  eines  Chores  aus  einer  Troades-  oder  Hecubatragödie 
besitzen  (Kibbeck^  TR  F.  269). 

Mit  dem  Abschluß  des  Manuskripts  für  diesen  Bericht  be- 
schäftigt, erhalte  ich  noch  ein  amerikanisches  Buch,  das  in  diesen 
Abschnitt  über  Sen.s  Fortleben  gehört.  Es  ist  das  erste  Stück  einer 
Schriftenreihe,  die  in  Boston,  Massachusetts,  erscheint  unter  dem  Titel 
Our  debt  to  Greece  and  Korne;  die  Herausgeber  sind  zwei  Uni- 
versitätsprofessoren Gr.  D.  Hadzsits  (Pennsylvania)  und  D.  M. 
Robinson  (John  Hopkins).  Der  Plan  des  ganzen  auf  50  Bände 
berechneten  Sammelwerks  wird  am  Schluß  des  Bandes  'Authors  and 
Titles',  S.  149  f.,  mitgeteilt.  Eine  Editors'  Preface  (p.  VH— XI) 
setzt  Ziel  und  Richtung  der  Sammlung  auseinander;  es  sollen  the 
inherited  permanent  factors  in  the  civilization  of  the  twentieth  Cen- 
tury gezeigt  werden,  die  Griechenland  und  Rom  entstammen;  Greece 
has  been  the  source  of  most  of  our  aspirations  and  Rome  the  great 
mediator.  Als  erster  erscheint  dieser  XVI.  Band:  Rieh.  M.  Gum- 
mere,  Sen.  the  philosopher  and  bis  modern  message,  1922.  Nach 
einer  kurzen  Preface ,  die  Sen.s  wesentliche  Bedeutung  darin  er- 
kennen will,  daß  sein  Lebenssystem  einen  Fortschritt  bedeutet  habe 
über  seine  Vorgänger  und  Zeitgenossen,  folgen  8  Kapitel,  deren 
erstes  unter  dem  Titel  The  Cid  and  the  New  Sen.  als  den  Neuerer 
in  Philosojjhie ,  Politik  und  Literatur  im  Gegensatz  zum  früheren 
Römertum  vorführt  i;nd  eine  flott  geschriebene,  mit  Anspielungen 
auf  moderne  Literatur  gewürzte  Skizze  von  Sen.s  Lebensgang  bietet, 
Avobei  die  Einflüsse  der  spanischen  Heimat  und  der  Eltern  besonders 
ins  Licht  gestellt  werden.  Auch  die  Mehrzahl  der  Werke  Sen.s 
wird  erwähnt;  die  Bücher  über  Ägypten  und  Indien  werden  mit 
Recht  der  Frübzeit  zugewiesen  ,  die  Tragödiendichtung  in  der  bis- 
her üblichen  Weise  fälschlich  der  Verbanuungszeit  in  Korsika. 
Diese  wird  recht  gut  in  drei  Epochen  zerlegt:  in  der  ersten  zeige 
Sen.  die  Haltung  of  heroic  and  philosophic  resignation ;  dieser  Zeit- 
spanne weist  H.  drei  Schriften  zu:  brev.  (zu  Unrecht,  s.  unten  S. 
146),  const,  und  Helv. ;  der  zweiten  Epoche  gehört  der  cringing 
letter  an  Polybius;  die  dritte  sei  eine  Epoche  of  quiet  despair; 
dahin  gehört  in  Wahrheit  brev.  Sonst  werden  die  Werke  nicht  ge- 
nauer chronologisch  festgelegt.  Am  Schluß  wird  betont,  wie  schwierig 
bzw.    unmöglich    es    sei,    aus  unseren  Quellen  über  Sen.  und  seine 


Bericht  über  die  Seneca-Literatur  aus  den  Jahren  1915 — 1921.     119 

Zeit  volle  Wahrheit  zu  gewinnen,  denn  the  pictures  of  the  period 
are  bodly  drawn  and  usually  with  prejudice.  In  den  beiden  folgen- 
den Kapiteln  behandelt  G.  zunächst  Sen.s  und  seiner  Werke  Ein- 
fluß und  Bewertung  im  Altertum  selbst,  III:  His  influence  upoa 
pagan  Rorae ,  IV :  How  he  appealed  to  the  church.  Mannigfach 
schwankend  sind  die  antiken  Urteile  über  Sen.,  die  G.  anzuführen 
hat;  besonders  ausführlich  werden  Quintilians,  Gellius  und  Frontos 
Äußerungen  besprochen.  Dabei  wird  Sen.  als  Stilist  gewürdigt,  der 
als  der  Neuerer ,  the  early  advocate  of  a  Silver  Latin  style ,  nach 
dem  Einerlei  der  Tiberianischen  Zeit  sich  erhebt  und  sich  in  der 
Diatribe,  dem  Essay,  sein  geeignetes  Medium  schafft.  Als  high-water 
mark  dieses  subjektiven  Essaystils  erscheinen  die  epist.,  deren  Art, 
vom  Konkreten  zum  Abstrakten  überzugehen,  im  Gegensatz  zu  den 
Ciceronischen  Briefen,  die  from  general  matters  to  objective  affairs 
überspringen,  fein  charakterisiert  wird.  Im  ganzen  huldigt  das 
spätere  Rom  dem  Verstand  und  der  Weisheit  Sen.s;  den  Radikalis- 
mus seines  Denkens  und  seines  Stils  lehnt  man  ab.  Den  Einfluß 
des  Dichters  Sen.  auf  die  zeitgenössischen  und  bald  folgenden  Poeten 
Roms  übergeht  G.  Die  Beurteilung  der  politischen  Tätigkeit  Sen.s 
knüpft  an  Tacitus  an ;  Suillius  erscheint  als  Repräsentant  der  Re- 
aktionäre gegenüber  dem  homo  novus.  Clem.  wird  in  diesem  Zu- 
sammenhang gewürdigt,  wie  schließlich  die  nat.  qu.  im  Anschluß 
au  Plinius  des  Älteren  Urteil  über  Sen.  als  Naturwissenschaftler. 
Das  Kap.  schließt  mit  dem  Gedanken,  sich  selbst  und  seinen  Zeit- 
genossen sei  Sen.  der  gewandte  Stilist  und  der  Mann  der  Tat  ge- 
wesen; uns  erscheine  er  als  Philosoph.  Um  im  III.  Kap.  Sen.s  Ver- 
hältnis zur  christlichen  Kirche  zu  beleuchten,  gibt  G.  zunächst  eine 
Darstellung  des  Stoizismus,  und  wie  dieser,  durch  Poseidonios  ver- 
mittelt, bei  Sen.  erscheint:  seine  moderne  Art  zu  denken,  macht 
Sen.  den  Christen  vertraut  und  lieb ;  möglich  auch ,  so  meint  G. 
(s.  unten  S.  183),  daß  Sen.  mit  Paulus  in  Rom  tatsächlich  in  Ge- 
dankenaustausch getreten  ist,  wie  denn  der  Briefwechsel  zwischen 
Sen.  und  Paulus  frühzeitig  in  frommer  Absicht  gefälscht  wurde.  Als 
Apostel  der  Humanität,  mit  seinem  Protest  gegen  die  Sklaverei,  in 
seiner  Stellung  zum  weiblichen  Geschlecht,  in  seiner  Ablehnung 
des  Alkoholismus  als  lebenslänglicher  Temperenzler  (teetotaller), 
erwarb  sich  Sen.  die  Sympathien  der  Christen.  Recht  knapp  be- 
handelt das  V.  Kap.  How  he  touched  the  Medieval  mind.  Die  Hand- 
schriften des  9./10.  Jahrb.,  die  noch  älteren  Sentenzensammlungen, 
die  Sen.s  Namen  tragen ,  beweisen  seine  Geltung  im  M.-A. ,  und 
G.   führt   eine  Fülle    bekannter   Namen    auf  von  Leuten ,    die  Sen, 


120  Karl  Münscher. 

kannten  und  benutzten.  Besonders  sind  ja  die  nat.  qu.  ein  Stan- 
dard work  für  die  naturwissenschaftliclien  Kenntnisse  des  M.-A.s  als 
das  fortgeschrittenere  Gegenstück  zu  den  Physiologi.  Wie  vereinzelt 
andere  zitiert  Roger  Bacon  dies  Werk  oft  (s.  unten  S.  170).  Außer 
den  Briefen,  nat.  qu.,  benef.  und  den  Tragödien  sind  es  aucli  die 
Deklamationen,  die  man  von  Sen.  kennt;  erst  ßapliael  und  Lipsius 
Laben  den  Irrtum  berichtigt  und  in  ihrem  Verfasser  den  Vater 
Sen.  erkannt.  Im  V.  Kap.  How  the  renaissance  viewed  him  sind 
es  zunächst  drei  große  Männer ,  die  Sen.s  bedeutenden  Einfluß  er- 
kennen lassen :  Dante ,  Chaucer  (hier  stand  G.  eine  neue  Mono- 
graphie zur  Verfügung:  *H.  M.  Ayres,  Chaucer  and  Sen.,  Ro- 
manic  Review  X  1919,  1 — 15)  und  Petrarca,  bei  dem  die  Anfüh- 
rungen aus  Sen.  nur  wenig  geringer  sind  als  die  aus  Vergil,  dessen 
Briefe  sorgfältig  gearbeitete  Essays  sind,  gleich  denen  seines  Musters 
Sen.,  wie  seine  Bibliothek  in  Vaucluse  zwei  Handschriften  der  Lu- 
ciliusbriefe  enthielt.  Dante  zeigt  Bekanntschaft  mit  Sen. ;  Chaucer 
benutzt  ihn  reichlicher,  aber  Petrarca  mad  him  a  very  part  of  his 
mind  and  soul.  Noch  andere  Einzelheiten  führt  G.  an,  Sen.s  Be- 
deutung in  der  Renaissance  zu  erläutern:  Piaceuza  besaß  eine  Seu.- 
Professur,  Thomas  von  Kempen  scheint  Sen.s  7.  Brief  zu  kennen. 
Mit  dem  Ende  des  15.  Jahrh.  beginnen  die  Sen. -Drucke;  der  erste 
erscheint  1475  in  Neapel;  Erasmus  Ausgaben  folgen  1515  und  1529; 
Calvins  Übersetzung  von  dem.  1532  (Pincianus  Castigationes  von 
1530  sind  keine  Ausgabe,  s.  unten  S.  155);  so  wanderten  Sen.s 
Werke  frei  durch  Europa ,  immer  weitere  Wirkung  ausübend.  Bei 
niemand  war  Sen.s  Einfluß  größer  als  bei  Montaigne,  den  Pasquier 
einen  'französischen  Sen."  genannt  hat.  In  England  tut  Sen.  seine 
Wirkung  seit  Thomas  Lodges  Übersetzung  vom  Jahre  1614;  davon 
handelt  G.  im  VI.  Kap.  Montaigne  and  the  Elizabethans,  endend 
mit  Shakespeare.  Im  nächsten  (VII.)  Kap.  behandelt  G.  endlich 
The  modern  view  und  führt  seine  Leser  von  Francis  Bacon,  der 
voll  ist  von  detaillierten  Beziehungen  zu  Sen.,  bis  ins  20.  Jahrh. 
Aus  der  Fülle  der  Einzelheiten  sei  nur  weniges  herausgehoben. 
Die  berühmte  Stelle  Med.  375  ff.  haben  Columbus  (s.  unten  S.  188), 
Roger  Baco  und  Cardinal  d'Ailly  mit  der  Entdeckung  Amerikas  in 
Verbindung  gebracht.  Milton  empfahl  in  seiner  Abhandlung  von  der 
Education  die  Lektüre  der  nat.  qu.  Im  17.  Jahrh.  empfinden  eng- 
lische fromme  Kreise  besonders  lebhaft  die  geistige  Verwandtschaft 
zu  Sen.;  im  18.  aber  macht  zur  Zeit  der  Aufklärung  der  Enthusias- 
mus in  England  und  Frankreich  einer  nüchternen,  beinahe  gehässigen 
Bevirteilung  Sen.s  Platz :    da    singt  man :   I  have  no  further  use  for 


Bericht  über  die  Seneca-Literatur  aus  den  Jahren  1915 — 1921.     121 

you  (Plutarch  und  Sen.),  und  La  Rochefoucauld  porträtiert  Sen.  als 
Schurken  mit  der  Tugendmaske ;  aber  Rousseau  und  Voltaire  lassen 
ihm  seinen  Platz  unter  den  führenden  Denkern,  und  so  fehlen  bis 
in  die  neueste  Zeit  nicht  Stimmen ,  die  für  Sen.  eintreten ,  wie 
Jefferson  und  Emerson:  die  Lehre  vom  retreat,  vom  Leben  mit 
sich  selbst,  das  erscheint  G.  als  Sen.s  greatest  contribution  to  the 
thought  of  the  world.  Auch  die  Deutschen  fehlen  nicht  in  dieser 
Übersicht:  die  Namen  Niebuhr,  Goethe,  Nietzsche  begegnen  dem 
Leser.  Ein  VIII.  Kap,  gibt  Conclusions.  G.  konstatiert,  daß  neuer- 
dings Sen.  seineu  Platz  im  Jugendunterricht  wieder  behauptet;  wie 
hoch  Maeterlinck  Sen.  schätze,  wird  betont.  Ein  Wort  Euckens  wird 
angeführt,  ob  nicht  vielleicht  das  spätere  Altertum  (vertreten  durch 
Lukrez,  Sen.,  Plutarch,  Mark  Aurel)  uns  wieder,  wie  vor  der  Zeit 
des  modernen  Humanismus ,  nähertreten  werde.  Beim  Auftauchen 
neuer  Ideen  habe  Sen.,  so  meint  G.,  immer  Material  geboten  for 
the  Promoter  and  for  the  Interpreter  of  progress,  und  so  sei  es  viel- 
leicht noch  Sen.s  Mission,  eine  Hilfskraft  zu  werden  in  the  world's 
progress  toward  a  deeper  Christianity.  —  G.  selbst  bezeichnet  sein 
Buch  als  Skizze.  Als  solche  ist  es  ausgezeichnet;  den  Stoff  allseitig 
und  tiefgründig  zu  behandeln ,  wäre  eine  gewaltige  Aufgabe  für 
einen  vergleichenden  Literarhistoriker.  Auch  über  Sen.  in  Deutsch- 
land wäre  da  manches  zu  sagen.  So  sah  ich  jüngst,  daß  Grimmeis- 
hausen sich  im  Simplizissimus  zweimal  (I.  Kap.  7  u.  III.  Kap.  18) 
auf  Sen.  beruft  (s.  Nachträge).  Dem  Zweck  der  Sammlung  Cur 
debt  to  Greece  and  Rome  entsprechend,  hat  G.  nur  wenige  Notes 
(S.  141  ff.)  beigegeben,  in  denen  man  viele  Nachweise  schmerzlich 
vermißt,  und  wenig  Bibliography  (S.  145);  daß  darin  deutsche  Lite- 
ratur kaum  vertreten  ist,  darf  nicht  verwundern.  Ein  neues  Buch 
führe  ich  daraus  noch  an:  *  F.  L.  Lucas,  Sen.  and  Elizabethan 
Tragedy ,  Cambridge  1922.  Über  das  Fortwirken  der  Tragödien 
vgl.  auch  unten  S.  192  f. 

n,  Senecas  Werke. 

A.  Prosaische  Schriften. 

Von  neueren  Untersuchungen  über  Sen.s  Prosastil  verdient 
besonderes  Interesse  die  oben  (S.  114)  genannte  Abhandlung 
A.  Bourgerys  Sur  la  prose  metrique.  Zunächst  gibt  B.  eine 
Tabelle  der  Frequenz  der  Klauseln  an  den  Schlüssen  der  Briefe 
und  der  Kapitel  der  Abhandlungen.  Zieht  man  seine  Angabea 
zusammen    auf  die  Hauptklauselu    und    ihre  Variationen,    so   ergibt 


122  Karl  Müuscher. 

sich,  daß  in  36«>/o  der  Fälle  cret.  +  troch.,  22^lo  ditr.,  IS'^lo  dicret. 
sich  finden ;  im  allgemeinen  muß  man  mit  B.  anerkennen,  daß  bei 
Sen.  manche  'gesuchte'  Klausel  nicht  besonders  oft,  mancbe  'ge- 
miedene' nicht  besonders  selten  ist:  ce  qui  prouve  que  des  raisons 
de  style  penvent  pr^valoir  souvent  chez  S6n.  sur  les  consid6rations 
m^triques.  Des  weiteren  untersucht  B.  die  Satzschlüsse  der  einzel- 
nen Schriften  Sen.s  und  gibt  in  °/o  die  Anzahl  der  Klauseln  ins- 
gesamt und  derjenigen  mit  Kretikus  an  vorletzter  Stelle.  Daß  die 
chronologischen  Schlüsse,  die  er  aus  seiner  Tabelle  zieht,  nicht  stich- 
haltig sind,  hat  Pichen  (s.  oben  S.  114)  bereits  gesagt;  Einzel- 
heiten berühre  ich  bei  den  einzelnen  Schriften.  Nur  kurz  geht  B. 
auf  die  Frage  ein,  inwieweit  die  Klauseltechnik  für  die  Textkritik 
wirksam  sein  kann;  so  meint  er  z.  B.  nat,  qu.  IV  2,  18  calicUssimtts 
[cbt]  mit  P  und  Skutsch  streichen  zu  sollen,  um  den  Doppelanapäst 
zu  vermeiden.  Am  Schluß  von  epist.  78  lehnt  B.  Wolters  Konjektur 
(die  noch  Hense  ^  aufnimmt)  lentüs  äccedtt  ab.  Das  überlieferte  Jeviüs 
gibt  zweifelsohne  die  bessere  Klausel  und  ist  doch  auch  im  Sinne 
nicht  unpassend.  Es  folgt  bei  B.  eine  Bemerkung  über  das  Ver- 
hältnis der  Klauseln  zur  Interpunktion  und  schließlich  ein  prozen- 
tualer Vergleich  der  kretischen ,  der  sonstigen  gesuchten  und  der 
gemiedenen  Klauseln  in  der  Apokol.,  dem.  u.  const.  In  den  text- 
kritischeu  Beiträgen  zu  Sen.s  Prosaschriften  ist  noch  von  manchem 
Gelehrten  der  Prosarhythmus  berücksichtigt  und  manche  Beobachtung 
über  Sen.s  Gebrauch  dieses  Kunstmittels  gemacht  worden :  eine  Zu- 
sammenstellung aller  dieser  Beobachtungen  und  ihre  Ausdehnung 
auf  den  ganzen  Sen.  wäre  zu  wünschen. 

Sonst  befassen  sich  mit  Sen.s  Sprache  und  Stil: 
Fr.  Steiner,  Der  'moderne  Stil'  des  Philos.  Sen.,  Prgr, 
Rosenheim  1913;  eine  Zusammenstellung  von  Antithesen  und  Wort- 
spielen aus  Sen,  philos.  u.  trag,  und  dem  Deklamationswerke  seines 
Vaters,  um  zu  zeigen,  daß  der  Sohn  auch  'als  Philosoph  u.  Dichter 
Deklamator  geblieben  ist'. 

Petr.  Brodmuehler,  De  particulis  interrogativis  nonnullorum 
scriptorum  aetatis  argenteae,  Diss.  Bonn  (gedr.  Köln)  1914,  sammelt 
in  Kap.  8  (S.  41 — 51)  auch  das  Material  aus  Sen.  philos.  Schon 
C.  Naegler,  De  particularum  usu  ap.  L.  A.  Sen.  philos.  I., 
Diss.  Halle  1873 ,  hatte  p.  18  ff.  von  den  part.  interrogativae  ge- 
handelt. Da  B.  auch  Phaedrus  (in  Kap.  7)  heranzieht,  sieht  man 
nicht  ein ,  warum  er  Sen.s  Tragödien  unberücksichtigt  läßt.  Ver- 
gleichende Tabellen  am  Schluß  S.  67  ff.  ermöglichen  bequeme  Über- 
sicht   des  Gebrauchs    bei    den  verschiedenen  Autoreu.     Einzelheiten 


Bericht  über  die  Seneca-Literatur  aus  den  Jahren  1915 — 1921.    123 

beanstandet  C.  Stegmann,  Jahresberichte  des  philol.  Vereins  zu 
Berlin  (Sokrates  LVII)  1921,  122. 

Rob.  Fischer,  De  usu  vocabulorum  ap.  Ciceronem  et  Sen. 
Graecae  philosophiae  iaterpretes,  Diss.  Freiburg  i.  Br.,  1914.  Verf. 
beschränkt  sich  auf  die  von  Cicero  und  Sen.  gewählten  Ausdrücke 
zur  Wiedergabe  der  griechischen  Termini  der  Ethik,  weshalb  ein 
volles  Bild  von  der  Bedeutung  Ciceros  als  Übersetzer  nicht  gewonnen 
wird  (vgl.  C.  Atzert,  Berl.  philol.  Wochenschr.  1915,  144/46)  — 
was  aber  auch  nicht  beabsichtigt  war.  Der  Mangel,  dalJ  die  Arbeit 
sonst  ganz  ungegliedert  ist,  wird  einigermaßen  aufgewogen  durch 
einen  Index  der  besprochenen  griech.  und  lat.  Worte  (p.  113  ff.) 
und  eine  tabula,  in  der  die  Übersetzungen  der  beiden  Römer  und 
der  griech.  Ausdruck  in  drei  Rubriken  nebeneinandergestellt  werden 
(p.  105ff.,  vgl.  Fei.  Hartmann,  Glotta  IX  1918,  251).  Die 
Ergebnisse  sind  p.  99  ff.  zusammengefaßt.  Während  Cicero  nur 
weniges  schon  von  Vorgängern  übernehmen  konnte ,  selbst  seine 
lat.  Übersetzungen  griech.  Termini  schuf,  dabei  auch  vor  neuen 
Wortbildungen  sich  nicht  scheute  und  stets  möglichst  sorgfältig  das 
Griechische  in  elegantem  Latein  wiederzugeben  suchte ,  verfährt 
Sen.,  wie  zu  erwarten  war,  viel  sorgloser;  er  neuert  wenig, 
folgt  naturgemäß  meist  Cicero  (nur  zwei  Bezeichnungen  philos. 
Termini  bietet  er ,  die  Cicero  nicht  hat ,  pditio  =  eq'EOig  und  cx- 
pefibilis  =  aigereog),  und  wählt  mit  Vorliebe  recht  hoch  und  schön 
klingende  Ausdrücke :  Der  Rhetorenschüler  wird  auch  hier  deutlich 
erkennbar. 

Edgar  Howind,  De  ratione  citandi  in  Ciceronis  Plutarchi 
Sen.  Novi  Testamenti  scriptis  obvia,  Diss.  Marburg  1921.  Während 
Ciceros  Art,  die  Zitate  aus  anderen  Schriftstellern  einzuführen,  aus- 
reichend behandelt  erscheint,  kommen  Plutarch  und  Sen.,  denen 
Kap.  2  (S.  23 — 37)  gilt,  entschieden  zu  kurz  (vgl.  Rez.  Fr.  Bock, 
Philol.  Woch.  1922,  465/67).  Bei  Sen.  beschränkt  sich  Verf.  auf 
die  epist. ;  also  ist  sein  Material  unvollständig.  Sen.  zitiert  wie 
Plutarch  gern ;  ob  man  das  auf  den  Einfluß  der  sog.  Diatribe  zurück- 
führen darf,  sei  dahingestellt.  Mit  Dichterzitaten,  bes.  solchen  aus 
Vergil,  geht  Sen.,  unabsichtlich  oder  manchmal  auch  bewußt,  recht 
frei  um ;  ob  seine  Abweichungen  für  die  Textkritik  Bedeutung 
haben,  bleibt  unerörtert;  auch  griech.  Anführungen  gibt  Sen.  lateinisch ; 
nur  einmal  läßt  er  (epist.  99,  25)  seiner  lat.  Paraphrase  den  griech. 
Wortlaut  aus  Metrodoros  folgen.  Die  Arbeit  bedarf  der  Ausdehnung 
auf  den  ganzen  Sen. 

Auf    die    Luciliusbriefe    beschränkt    sich    aitch    Walth.    Nie- 


124  ^^^'1  Münscher. 

Schmidt,  Quatenus  in  scriptura  Romani  litteris  Graecis  usi  sint, 
Diss.  Marburg  1913,  in  seinem  Abschnitt  V  (S.  42 — 47)  über  Sen.s 
Art,  die  griech.  Worte  zu  schreiben.  Als  Regel,  die  freilich  keines- 
wegs unverbrüchlich  gilt ,  ergibt  sich ,  daß  Sen.  im  allgemeinen 
griech.  Worte  mit  lat.  Buchstaben  schreibt,  griech,  nur  dann  an- 
wendet, wenn  er  zugleich  durch  ein  paar  Worte  der  Begründung 
hinzufügt,  daß  ein  geeignetes  lat.  Wort  fehle  oder  der  griechisch  an- 
geführte philosophische  Begriff  einem  lat.  Worte  zur  Erläuterung 
beigefügt  werde.  —  S.  Nachträge. 

Jeder  neue  Bearbeiter  eines  Sen. -Textes  wird  sich  die  Frage 
vorlegen  müssen ,  inwieweit  er  glaubt  syntaktische  Besonderheiten 
anerkennen  zu  dürfen,  wie  sie  W.  A.  Baehrens  in  seinen  Bei- 
trägen zur  lat.  Syntax  (Philol.  Suppl.  XII,  2,  1912,  233—556)  unter 
Vorlegen  eines  gewaltigen  Stellenmaterials  für  viele  spätere  römische 
Autoren,  unter  ihnen  auch  für  Sen.,  zu  erweisen  unternommen  hat. 
Hos  ins  undHense  haben  das  bereits  in  ihren  zweiten  Auflagen  4er 
Ausgaben  von  benef.  dem.  und  der  epist.  getan.  W.  Kroll  hat 
in  seinen  Randbemerkungen,  Rhein.  Mus.  LXIX  1913,  95  ff.  zu 
B(aehrens)  Untersuchungen  kritisch  Stellung  genommen.  A.  Bour- 
gery  ist  dadurch  zu  seinen  Notes  sur  le  texte  de  Seu.,  Rev.  de 
philol.  XXXVII  1913,  95 — 109  angeregt  worden,  in  denen  er  B.s 
Aufstellungen  durch  weiteres  Sen. -Material  zu  stützen  sucht.  Bei 
der  prinzipiellen  Bedeutung  der  von  B.  behandelten  Dinge  ist  eine 
ausführlichere  Besprechung  auch  in  diesem  Bericht  unerläßlich. 

Im  ersten  Abschnitt  behandelt  B.  einige  Verbindungen  aito 
V.OLVOV  und  Verwandtes ,  zunächst  das  Fehlen  der  Präposition  in 
zweigliedrigen  Ausdrücken  gerade  im  ersten  Gliede ;  daß  solche  Fälle 
bei  Dichtern  zweifelsohne  sich  finden ,  steht  fest  (sicheres  Beispiel 
Catull  33,  5  cur  non  exilium  malasque  in  oras  itis),  und  Kroll  (95  ff.) 
glaubt  bei  den  römischen  Dichtern  griechischen  Einfluß  annehmen  zu 
dürfen  (vgl.  Homer  fi  27  rj  aXog  i^  snl  y^g  dXyrjOeTe  Tcr^a  naO^ovisg). 
Aber  daß  die  von  B.  (240  f.)  aus  Sen.  angeführten  Beispiele  an- 
zuerkennen seien  (wie  tranqu.  12,  4  cucutrerunt  .  .  .  aut  {ad)  iu- 
d'iciitm  mepe  litigantis  aut  ad  sponsalia  saepe  nubenüs)  wird  kaum 
jemand  glauben.  An  den  vier  aus  den  Briefen  gegebenen  Stellen 
ist  Hense  ^  B.  nicht  gefolgt.  Kroll  hat  gewiß  recht,  wenn  er  sagt : 
*Nun  weiß  jeder,  der  sich  praktisch  mit  Textkritik  abgegeben  hat, 
wie  leicht  diese  unscheinbaren  Wörtchen  ausfallen ,  und  wie  wenig 
man  sich  oft  bedenken  darf,  sie  hinzuzufügen.'  Bou(rgery)  (100) 
fügt  noch  andere  Stellen  hinzu  (wie  vit.  beat.  3 ,  4  nam  {pro)  vo- 
lu^tatihus  et  pro  Ulis  quae  parva  .  .  .  sunt,  ingens  gaudium  subit)  und 


Bericht  über  die  Seneca-Literatur  aus  den  Jahren  1915 — 1921.     125 

Briefstellen,  wo  einzelne  deteriores  die  Präposition  fortlassen  (epist. 
20,  3.  82,  12.  124,  4),  die  ihm  selbst  teilweise  bedenklich  erscheinen. 
Viel  glaubhafter  ist  das  Umgekehrte,  daß  die  Präposition  im  zweiten 
Gliede  fortgelassen  wurde;  dafür  führt  Bou.  an  Helv.  14,  3  in  erepto 
filio  desiclerari  qiiae  incolutni  mcmqiiam  ad  te  pertinere  duxisti  (bei 
Hermes  in  vor  incoluini  wiederholt),  epist.  90,  35  non  de  ca  pliilo- 
sophia  loquor  .  .  .  sed  Hin  (Hense^  noch  {de)  illa).  Wenn  man  auch 
diese  Beispiele  anerkennen  mag,  ist  aber  kein  Grund  deshalb 
benef.  I,  7,  1  das  zweite  in  vor  ipsa  .  .  .  volvntate  mit  RMP  weg- 
zulassen oder  dem.  I,  21,  4  kein  ab  vor  animalihus  einzuschieben.  — 
Daß  epist.  117,  26  der  Zusatz  von  id  unnötig  sei  (B.  264),  kann 
ich  nicht  glauben:  Sic  fit  {nf)  negemur  sapere,  itt  hoc  totum  Studium 
deridcatiir  schreibt  Hense  ^  mit  Recht.  In  anderen  Fällen  wird  man 
B.  (269  f.)  eher  zuzustimmen  geneigt  sein  •,  so  wenn  er  die  von  den 
letzten  Editoren  noch  beliebten  Zusätze  unter  Annahme  einer  dno 
xoivo D-Stellung  ablehnt  ira  II  28 ,  4  non  enim  illoriwi  (sc.  de- 
orum)  {vi),  sed  lege  mortalitatis  patimur.  const.  12,  1.  epist.  81,  8. 
83,  15  folgt  auch  Hense  ^  und  behält  die  Stellung  sed  mersum  et 
vino  madenfem  bei,  ebenso  S4,  61  qui  ante  se  agant  agmina  et  tergis 
hostium  [et]  graves  instent  (ohne  Büchelers  Umstellung  von  hostiwn 
hinter  agmina);  auch  109,  9  würde  ich  mit  B.  (gegen  Hense)  für 
ausreichend  halten  et  qxn  in  summo  est,  opus  est  (überl.  in  summa 
motus  est)  calore  adiecto ,  ut  summum  teneat  (ohne  calore  vor  opus). 
epist.  95,  61  hat  Hense  nunmehr  seine  frühere  glatte  Form  si 
prohationes  necessariae  {sunt^,  s\int  et  decreta  selbst  aufgegeben,  aber 
statt  sunt  in  den  Nebensatz  zu  stellen,  halte  ich  B.s  (283)  Fassung 
für  die  echte:  si  prohationes  necessariae,  sunt  et  decreta  (nach  epist. 
118,  12.  120,  3).  Bou.  (101)  fügt  hinzu:  epist.  85,  2:  qui prudens 
est,  et  temper  ans  est;  qui  temperans ,  est  et  constans  (Hense  ^  qtii 
temperans  est,  et  constans).  Daß  Polyb.  9,  8  iUic  fehlen  darf  (nur 
in  zwei  jlingeren  Handschriften  in  schwankender  Stellung  überliefert), 
wird  man  B.  (291  f.)  zugeben.  Aber  epist.  108,  31  erscheint  selbst 
B.  (302  f.  ira  Abschnitt  über  verwandte  Konstruktionen)  die  Streichung 
des  (a)  vor  regihus  bedenklich,  weil  dadurch  die  Deutlichkeit  leidet. 
Bou.  (101)  fügt  zwei  ebenso  undenkbare  Fälle  hinzu:  const.  7,  2 
iniuria  in  bonos  nisi  {a)  (add.  A^)  malis  non  temptatur.  benef.  V  6,  1. 
Sehr  gewagt  erscheint  es,  schon  bei  Sen.  Marc.  15,  2  bloßes  quam 
statt  tarn  .  .  .  quam  zu  statuieren  (]i.  308);  ein  zweites  Beispiel,  das 
Bou.  (102)  beibringt  (epist.  13,  9  tarn  vor  perniciosi  om.  p),  macht 
die  Sache  nicht  glaublicher.  Benef.  II  6,  1  bat  Hosius  nicht  mehr 
mit  Haase  {itd)  vor  idetn  est  eingesetzt  (B.  310).    Auch  Polyb.  6,  3 


126  Kall  Münscher. 

wird  man  mit  B.  (312)  das  tiberlieferte  autem  beibehalten  und  ein 
quantum  ohne  vorhergehendes  tantum  anerkennen.  Ebenso  dürfte 
die  Streichung  des  von  Gercke  nat.  qu.  VII  30,  1  eingefügten  (si) 
berechtigt  sein  (B.  320).  Die  Beispiele  für  Ellipse  des  Dcmon- 
strativunis  (B.  325  ff.)  wird  man  anerkennen  dürfen;  epist.  109,  9, 
auch  bei  Hense^  ohne  ei  vor  gw?,  ebenso  ira  III  14,  6;  benef.  II  23,  1 
hat  Hosius  nun  schon  evm  vor  ciii  fortgelassen,  wie  V  1,  4  üs  nach 
grat'ms.  Auch  epist.  119,  10  ist  qui  se  ad  quod  exigit  natura  com- 
posuit  ohne  das  id  vor  quod,  welches  Hense^  noch  schreibt,  in 
Ordnung;  Bou.  (104)  führt  eine  bisher  schon  unbeanstandete  Par- 
allele an  ira  I  1,  2  In  quod  coepU  pertinax.  Zweifelhaft  sind  die 
Fälle,  in  denen  B.  (361  f.)  einen  bloßen  abl.  separationis  glaubt  an- 
nehmen zu  dürfen  (z.  B.  Helv.  12,  4  Zenoni  (a)  quo  coepü  Stoicorum 
. . .  sapictiüa),  außer  epist.  90,  20  quam  facUe  ,  .  .  dulcedo  orationis 
abducat  vero,  wo  jetzt  auch  Hense  ^  a  vor  vero  bei  dem  mit  ah  zusammen- 
gesetzten Kompositum  fortläßt.  Eine  Fülle  von  solchen  Ellipsen 
von  Präpositionen  will  Bou.  (103)  halten  (wie  epist.  90,  33  lapides 
(in  Schweighäuser)  Jioc  utiles.  94,  53  nulla  {ad  B)  aures  nostras  vox 
perfertur),  aber  die  Beispiele  sind  durchweg  kaum  annehmbar.  Da- 
gegen sind  unter  denen,  die  Bou.  für  das  Auslassen  einer  Partikel 
an  dritter  oder  vierter  Stelle  bei  mehrfacher  Wiederholung  anführt 
(102),  einige  glaublich  (z.  B.  ira  I  5,  2  braucht  man  das  dritte  quid 
wohl  nicht  einzuschieben);  andere  sind  zweifelhaft,  manche  ganz  ab- 
zulehnen, wie  benef.  III  31,  1  ohne  cum  vor  sentiens,  das  in  N 
steht  und  durch  consevtiens  in  GP  bestätigt  wird,  oder  benef.  VI 
25 ,  2  das  Fortlassen  des  ut  vor  magis  (mit  N  ^).  Das  Fehlen  von 
est  hinter  dem  zweiten  contentus  (epist.  9,  17)  scheint  mir  Bou.  gut 
zu  begründen.  Wie  benef.  II  16,  2  kein  ut  nach  quam  notwendig 
ist  (so  schon  Hosius  ^),  ebensowenig  otio  3,  3  si  res  publica  corruptior 
est  quam  adiuvari  possit  (B.  375).  Bou.  (103)  gibt  ein  weiteres 
Beispiel  für  dies  Fehlen  des  ut  nach  Komparativ  mit  quam  epist.  21, 
8,  wo  es  in  der  besten  Überlieferung  sogar  zweimal  fehlt:  ei  apertior 
i^a  sentcntia  est  quam  interpretanda  sit,  et  disertior  quam  adiuvanda. 
Dagegen  erscheint  es  mir  ausgeschlossen  nach  Bou.s  Vorschlag  (104) 
epist.  90,  45  ut  nach  tantum  aberat  (mit  BA)  fortzulassen.  Bou. 
meint,  besonders  gern  habe  Sen.  Personalprouomina  ausgelassen, 
und  manches  unter  seinen  Beispielen  wird  man  anerkennen,  so  wenn 
er  brev.  vit.  3,  4  tihi^  das  nur  in  A^  zugefügt  ist,  fortläßt,  oder 
epist.  24,  16  (mit  Th.  Stangl,  Berl.  philol.  Woch.  1910,  1071) 
quod  faccre  te  moneo,  scio  certe  fecisse  die  Einschiebung  von  te  hinter 
certe   filr   tiberflüssig    hält.     Aber  für  sehr  bedenklich  halte  ich  das 


Bericht  über  die  Seueca-Literatur  aus  den  Jahren  1915 — 1921.     127 

von  Bou.  für  etliche  andere  Stellen  vorgeschlagene  Fortlassen  des 
Subjektsakkusativs  beim  Infin.,  z.  B.  tranqu.  1,  16  non  est  enm, 
quod  magis  aliena  iudices  adulaiione  {nos)  perire  quam  nostra. 
epist.  1,  4  non  possum  diccre  nihil  perdcre,  wo  ich  lieber,  wie  <^  tut, 
me  hinter  statt  (wie  Hense^)  vor  diccre  stellen  würde.  Daß  benef.  VI 
40,  2  quare  ohligatum  moleste  {te)  fers  die  Klausel  durch  das  zu- 
gefügte te  gestört  würde,  beruht  auf  der  falschen  Vorstellung,  daß 
beim  Klauselrhythmus  Symmetrie  erstrebt  würde  (vorher  geht  mwiils 
meüm  nön  vTs,  dem  soll  entsprechen  ohligatum  möUstc  ßrs).  prov.  4, 
9  glaubt  Bou.  ohne  Zusatz  von  manent,  ira  I  16,  6  ohne  im- 
prdbos^  epist.  100,  5  ohne  ein  drittes  parum  (Hense^  schreibt  mit 
^  non  und  schlägt  im  Apparat  minus  vor)  auskommen  zu  können. 
Nat.  qu.  I  praef.  15  stellt  B.  her  exp>crs  consilii  aut  ferri  (überl. 
aiiferri,  ein  cod.  Genevensis  hat  das  Richtige)  iemeritate  quadam  aut 
natura  nesciente  quid  faciat,  weil,  wie  er  (379  ff.  im  Abschnitt  Einiges 
zur  Wortstellung)  zeigt,  vielfach  ein  Verbum,  das  zu  zwei  Gliedern 
gehört,  nicht  vor  beide  die  Glieder  verbindenden  Partikeln  gestellt 
wird,  sondern  hinter  die  erste.  Ob  aber  Polyb.  18,  1  studia  quae 
optime  et  felicitatcm  extcHlunt  et  facülime  minuunt  calamitatem  nicht 
doch  (gegen  B.  386)  et  optime  herzustellen  ist,  erscheint  zweifelhaft. 
Freie  Stellung  von  quoque  (wie  epist.  60,  1  exaudiant  di  quoque 
nostram  pro  nohis  vocem,  wo  man  mit  Bücheier  bisher  nostrani  quo- 
que liest)  wird  mit  B.  (387  f.)  auch  bei  Sen.  anzuerkennen  sein 
(Hense^  folgt  nicht);  Kroll  (101  f.)  zeigt,  daß  solche  Freiheit  bei 
quoque  schon  in  ältere  Zeit  hinaufreicht.  An  autem  am  Satzanfang 
(B.  387  ff.)  glaubt  man  bei  Sen.  nicht  gern  (epist.  103,  5  autem 
ipsam  seit  Muret  umgestellt).  Dagegen  ist  cnirn  an  erster  Stelle 
doch  vielleicht  anzuerkennen ;  benef.  VII  5,  1  ist  es  überliefert 
(Guelferb.  etenitn),  desgl.  vit.  beat.  17,  4  (wo  Hermes  ego  cnim  stellt); 
die  Korrektur  in  etenim  ist  jedenfalls  ausgeschlossen ,  da  diese 
Partikel  sonst  bei  Sen.  im  Eingang  einer  Parenthese  fehlt  nach 
G.  Reinecke,  De  coniunctionum  usu  apud  Sen.  philos. ,  Diss, 
Münster  1890,  18).  Bou.  (105)  will  auch  vit.  beat.  9 ,  4  in  einer 
viel  geänderten  Stelle  enim  am  Satzanfang  belassen :  nxMl  enim 
habet  (sc.  virtus)  melius,  enim  ipsa  piretium  sui.  Aber  das  zweite 
enim  schwächt  nur  ab ;  offenbar  ist  melius  enim  Korrektur,  an  falscher 
Stelle  in  den  Text  geraten ,  andeutend ,  daß  vor  enim  ein  melius 
einzusetzen  ist ;  also  ist  herzustellen  —  ein  Beispiel  der  von  A.Brink- 
mann (Rhein.  Mus.  LVII  1902,  481  ff.)  behandelten  Korruptelen  — 
nihil  melius  enim  habet,  ipsa  pretium  sui.  Die  von  B.  (396)  ver- 
teidigte Stellung   nos  ita  non  epist.  74,    5  nimmt  auch  Hense*  auf. 


128  Karl  Münscher. 

desgl.  (nacli  B.  397)  et  haec  autem  epist.  92,  1  und  et  hoc  quoque 
71,  1.  Als  familiäre  Ausdrucksweise  will  Bou.  (105)  epist.  60,  2 
qiioiisque  poscemus  dlhiuid  deos  quasi  Ha  nondum  ipsi  alere  nos 
possimris  bestehen  lassen;  bisher  schreibt  man  ifa  quasi.  —  Et  vor 
dem  Relativum  in  steigerndem  Sinne  (=  und  zwar)  beläßt  Hense^ 
epist.  90,  18  im  Text,  obwohl  er  bemerkt:  integrum  esse  'et  quae' 
mihi  non  persuasit  B.  (403  im  Abschnitt  über  einige  Pleonasmen) ; 
man  wird  dann  ebenso  Marc.  26,  1  et  ciii  tantum  mit  B.  halten 
dürfen.  Daß  die  Wiederholung  von  sl  (nat.  qu.  I  3,  13)  und  von 
ut  (brev.  vit.  4,  3)  im  selben  Satze  von  Seu.s  Hand  stammt,  glaube 
ich  nicht  (B.  408),  trotz  der  aus  den  kritischen  Apparaten  des 
Livius  und  Cicero  beigebrachten  Parallelen.  Für  abundierendes  in 
beim  abl.  instrum.  hat  B.  (441)  nur  ein  Sen.-Beispiel  (epist.  90,  20 
telas  [hi\  quibus  vestis  nihil  celatura  conficitur),  das  Heuse  ^  mit  Recht 
nicht  anerkennt,  wie  auch  nicht  instrumentales  pro  epist.  113,  30. 
Bou.  (105  f.)  findet  vielleicht  mit  mehr  Recht  das  in  berechtigt 
benef.  II  18,  7  nemo  in  id  accipiendo  ohligafur,  wo  man  seit  Mutet 
in  gestrichen  hat.  Im  Abschnitt  zur  Constructio  xara  gvveolv  will 
B.  (455)  auch  epist.  90,  32  fornicem,  vt  lap'rdum  curvatnra  md'ma- 
torum  medio  saro  alligaretur  das  in  x\B  überlieferte  alligarerdor  als 
solche  constr.  x.  G.  auffassen ,  was  schwerlich  jemand  anerkennen 
wird  (ablehnend  Hense  ^),  ebensowenig  prov.  4,  6  qnicquid  Ulis  in- 
ciderit  den  in  A^  überlieferten  Plural  inciderint  (B.  463).  Dagegen 
lehnt  B.  (468)  Murets  Konjektur  Marc.  3,  1  ab  und  liest  intraverat 
(Brusus)  peniti^s  Germaniam  et  ibi  signa  Romani  fixerant;  aber  weder 
der  Plural  signa  (den  B.  als  überliefert  ansieht)  noch  das  Plusquam- 
perf.  fixerant  scheint  mir  notwendig  (ebenso  urteilt  Bou.  96  f.).  Ein 
paar  weitere  Beispiele  gibt  Bou.  (105):  otio  5,  5  inveniant  mit  A, 
weil  in  Wahrheit  nicht  die  inquisitio,  sondern  die  inquirentes  finden 
(zu  hart  nach  dem  vorhergehenden  inquisitio  transeat).  epist.  90,  2 
sei  fecisset  (B)  richtig,  weil  dii  für  Sen.  =  deus.  90,  5  horum  pru- 
dentia  .  .  .  suis  providebant  (B,  aber  n  gestrichen):  weil  h.p.  =  hi] 
doch  erscheint  auch  in  diesem  Falle  der  Singular  als  das  Richtige, 
weil  bei  den  folgenden  Substantiven  (fortdiido,  beneficentia)  singu- 
larische Verben  (arcebat ,  augebat  ornabatquc)  stehen.  Auch  91,  15 
ist  es  zu  hart,  itaque  formctur  animvs  .  .  .  et  sciant  diesen  Plural 
sciant  stehen  zu  lassen ,  zu  dem  die  in  animus  steckenden  homines 
Subjekt  sein  sollen.  Auch  104,  15  erscheint  mir  facicnt,  wenn  es 
auch  durch  eine  Reihe  von  Zeilen  von  seinem  Subjekt  peregrinatio 
getrennt  ist,  unerträglich ;  weit  annehmbarer  ist  Henses  ^  Vorschlag 
(im  Apparat)   ceterum   nequc   meliorem  facient  (Jtaec)  neque  saniorcni. 


Beriebt  über  die  Seneca-Literatur  aus  den  Jabreu  1915—1921.     129 

Daß  schon  bei  Sen.  epist.  40 ,  3  eine  Miscbkou^truktiou  von  ut 
mit  dem  Infinitiv  anzuerkennen  sei  (B.  468  im  Abschnitt  über 
einige  sog.  Gräzismen),  erscheint  wieder  ganz  unglaublich  (Heuse  ^ 
tilgt  ui).  Dagegen  sind  die  Fälle  von  Infinitiven  pro  imperative, 
die  B.  (475  f.)  gibt,  zuzugeben:  Polyb.  18,  1  te  studiis  twis  im- 
mergere  acrhis  (im  zweiten  parallelen  Satze  folgt  circumda).  epist. 
20,  3  ohservare  itaque.  87,  38  (hier  von  Hense^  angenommen), 
benef.  VI  42,  1  recipere.  Auch  in  dem  Kapitel  vom  singularischeu 
Prädikate  beim  Neutr.  plural.  (dazu  Kroll  104  fi".)  taucht  ein  Sen.- 
Beispiel  bei  B.  (493)  auf  (epist.  104,  32),  das  man  ablehnen  muß 
(qui  id  slbi  .  .  .  constituerat,  quae  condHuta  esse  .  .  .pofcrant)-^  Heuse  ^ 
behält  sein  qid  ipse  sihi  bei.  Als  'griechischen'  Dativ  will  B.  (497) 
nat.  qu.  IV a  praef.  3  proditioni  si  capieris  halten-,  als  einziges  Bei- 
spiel abzulehnen  (proditione  nötig) ;  benef.  VII  16,  3  pccuniam  .  .  . 
libidini  et  aleae  adsumpsit  (ahsumpsit  P,  insumpsit  Gertz.)  ist  natür- 
lich kein  Instrumental-Dativ  (wie  B.  will),  sondern  ein  Dativ  des 
Zwecks.  In  seinem  Schlußkapitel  zum  Konjunktiv  (vgl.  Kroll  106  £F.) 
schützt  B.  (503)  den  Wechsel  von  Konjunktiv  und  Indikativ  tranqu. 
17,  3  miscenda  tarnen  ista  et  aUernanda  sint  mit  Hinweis  auf  ira  II 
20,  2.  Ebenso  wird  der  Konjunktiv  nach  quotiens  nat.  qu.  I  13,  1 
in  ^  existant  geschützt  durch  epist.  110,  17,  wo  Konjunktiv  und 
Indikativ  nach  quotiens  variiez-en  (B.  509).  Die  gleiche  variatio  im 
Modus  wird  nach  siciit  vit.  beat.  26,  3  spectant-intellegant  anzuerkennen 
sein  (B.  510).  Auch  die  Indikativs  nach  cum  (epist.  77,  3.  83,  26) 
sind  vielleicht  mit  B.  517  (anders  Hense^)  zu  halten,  wie  auch 
benef.  V  9,  3,  nat.  qu.  IVa  2,  30  und  ira  II  14,  2  (B.  519),  eben- 
so die  anderen  von  B.  (520  f.)  vorgelegten  Beispiele  von  Modus- 
variation (wie  ira  II  27,  1  quaedam  sunt,  quae  nocere  non  possint 
nullamque  vim  nisi  heneficam  .  .  .  hahent  u.  a.) ;  zu  Unrecht  hat  wohl 
Hense^  epist.  4,  4  und  30,  12  den  Moduswechsel,  den  der  Parisinus 
bietet,  beseitigt.  Auch  der  Indikativ  nach  quamvis  (benef.  VI  5,  2) 
ist  anzuerkennen  (Hosius  folgt  B.  522  nicht).  Für  den  Indikativ 
in  der  indirekten  Frage  führt  Bon.  (106)  noch  nat.  qu.  III  praef.  9 
quam  multa  .  .  .  fracta  sunt  (Überlieferung  schwankend)  an  und  VII 
25,  1  qualia  sunt  ignoramus  (sint  Muret). 

Seine  Ergänzungen  zu  Baehrens  syntaktischen  Beiträgen  hat 
Bourgery  umrahmt  mit  zwei  weiteren  wertvollen  textkritischen  Ab- 
schnitten. Voran  stellt  er  die  Besprechung  einer  Anzahl  von  Stellen, 
an  denen  er  für  das  Beibehalten  der  besten  Überlieferung  eintritt. 
Ich  kann  ihm  in  fast  allen  Fällen  zustimmen,  ira  I  12,  5  mit 
leichter  Interpunktionsänderung  ipso  officio  ducente  volente,  iudicantem 

Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft  Bd.  192  (1922.  U).  9 


130  Karl  MÜDScher, 

providentem,  non  inipulsum  et  rahiäum;  II  1,  1  kein  non  oder  sonstige 
Änderung  nötig.  II  29,  2  SKspkdX  =  smpiciendi  cupidus.  Marc.  3,  1 
(s.  oben  S.  128).  tranqu.  5,  5  und  14,  4  Text,  wie  Hermes  ihn  bietet, 
verteidigt,  epist.  26,  8  vel  si  commodius  Sit  transire  ad  nos,  mit 
Gedankenstrich  vor  vel.  53,  "10  idem  philosophia  rebus  omnihus  (so 
jetzt  auch  Hense^).  nat.  qu.  III  11,  4  Gerckes  Zusatz  (sucidae,  non) 
unnötig.  III  16,  5  id  stagna  ohsessa  tenehris  etlocis  ampUs  zu  halten 
als  in  Prosa  umgesetzter  Vers  eines  unbekannten  Dichters.  IV  b 
5,  1  etsi  richtig,  da  Haases  Behauptung,  dies  Wort  fehle  Sen., 
unrichtig;  nach  C.  Naegler,  De  particularum  usu  apud  Sen.  I, 
Diss.  Halle  1873,  6  steht  etsi  ira  I  16,  5;  brev.  13,  3;  nat.  qu.  IVa 
praef.  20 ;  deshalb  auch  V  8,  3  aus  d-  aufzunehmen.  Zweifelhaft 
ist  mir,  ob  epist.  109,  7  uno  modo  {=eodem  m.)  gehalten  werden 
darf.  Unmöglich  kann  aber  Marc.  19,  3  der  Inf.  praes.  mori  richtig 
sein,  bei  dem  auch  der  Subjektsakkusativ  fehlen  würde;  nur  die 
Vulgata  gibt  passenden  Sinn  semper  enim  scisti  morituncm.  Daß 
außer  der  Endung  noch  eine  verbindende  Partikel  ausgefallen  sei, 
bezweifelt  Hermes  nicht  ohne  Grund.  —  Am  Schluß  seines  Auf- 
satzes läßt  Bou.  eine  Reihe  korrupter  Stellen  folgen,  die  er  in  mög- 
lichst engem  Anschluß  an  die  Überlieferung  zu  heilen  sucht.  Auch 
darunter  findet  sich  sehr  Beachtenswertes.  Marc.  9,  5  statt  der  un- 
sinnigen Überlieferung  qui  non  e  populo  eri  et,  woraus  Haupt-Hermes 
e  pulpito  exiret  machte,  liest  Bou.  qui  non  e  Publili  ore  exiret;  denn 
der  folgende  Vers  ist  nach  tranqu.  11,  8  wirklich  einer  des  von 
Sen.  hochgeschätzten  (epist.  8,  8)  Publilius  Syrus.  Marc.  16,  7 
agricola  .  .  .  inmissa  eantm  (sc.  arhorum,  überl.  in  missarum,  Schultes- 
Hermes  in  scissuram)  semina  statim  plantasque  disponit.  otio  2,  2 
ad  alios  actos  annos  (überl.  actus  animos)  referre,  jedenfalls  besser 
als  das  von  Marouzeau  (s.  unten  S.  134)  vorgeschlagene  actui  ani- 
mosos\  epist.  19,  6  tcdem  esse  (necesse)  (schon  Brakman  neccsse  est) 
cupidifatum.  Nur  als  möglich  möchte  ich  bezeichnen  tranqu.  9,  1 
nee  uUae  nun{dinae)  satis  patent^  Polyb.  5,  3  (wo  A  fehlt)  inertem 
statt  inhaerentem  mit  ed.  Venet.  1493,  Helv.  11,  6  expers  (oneris) 
(überl.  et),  nat.  qu.  I  16,  5  quemnani  (überl.  quid  non  und  num).  Die 
Vorschläge  zu  benef.  11,1  und  dem.  13,1  hat  Hosius  ^  schon 
als  unsicher  in  den  Apparat  verwiesen.  Ebenso  unsicher  sind  die 
Vorschläge  Marc.  23,  5  nemo  prudens  non  {ante)  dixit  (ante  aus  dem 
Schluß  des  vorhergehenden  Satzes  genommen ,  wo  es  sinnlos)  und 
Helv.  12,  2  transeanms  ad  locupletes:  ea  (sc.  incomnioda  paupertaiis)  ; 
pe,rsaepe  non  ohveniunt  iJs.  const.  11,  3  will  Bou.  das  zweite  et  ut  i 
als   falsche    Wiederholung   des    ersten    streichen;    mich    dünkt,    daß 


Bericht  über  die  Seneca-Literatur  aus  den  Jahren  1915 — 1921.     1^1 

wieder  (s.  oben  S.  127)  eine  durch  et  id  eingeleitete  nachgetragene 
Auslassung  vorliegt,  die  hinter  dem  zweiten  et  ut  stehenden  Worte 
also  hinter  das  erste  gehören  und  der  Text  lauten  muß :  et  vt  htdihrium 
est  quisqne  contemptissumSj  ita  sdlutissimae  Unguae  est. 

Auch  in  den  Abschnitten  des  'Vermischten  über  lat.  Sprach- 
gebrauch', Glotta  lY  1913,  265  ff.;  V  1914,  79  ff.  berührt  W. 
A.  Baehrens  hier  und  da  Seu.  Er  meint  (IV  271  f.),  daß  ge- 
legentlich sich  der  Genitiv  im  Singular  fände,  das  regierende  Wort 
im  Plural,  und  führt  als  Beleg  an  ira  II  2,  5  timor  qui  .  .  .  lectoris 
(ledonim  Gertz-Hermes)  percurrit  animos  (animum  Muret)  und 
Marc.  16 ,  1  naturam  maligne  cum  midieris  (seit  Fickert  geändert 
in  mulierum)  ingeniis  egisse  et  virtutes  illarmn  in  aritcm  retraxisse. 
Im  Abschnitt  'Indicativus  pro  Imperative'  führt  B.  (V  80)  nat.  qu.  VII 
27,  4  an:  vides  (vielfach  geändert,  Gercke  nach  Haase  quid)  enim: 
simillima  est;  für  omnia  =  omnino  (V  85)  nat.  qu.  VII  2,  2  itaque 
si  omnia  (omnino  Gercke)  terrena  sidera  sunt,  Ms  quoqiie  eadem 
sors  erit. 

*A1.  Castiglioni,  Electa  Annaeana ,  Tifernum  1911,  eine 
Hochzeitsgratulationsschrift,  die  Konjekturen  zu  ira  und  anderen 
Dialogen  und  zwei  Luciliusbriefen  enthält;  nach  C.  Hosius,  Berl. 
philol.  Woch.  1912 ,  300  zeigen  die  Vorschläge  alle  'Geschmack 
und  Verständnis  Sen. scher  Denk-  und  Sprechweise  (wie  const.  18, 
3  languido  sono ,  ira  I  19,  4  quam  tandem  iram),  ohne  daß  alle 
als  treffend  zu  bezeichnen   n^ären'. 

Auch  Castiglionis  weitere  Studia  Annaeana  sind  mir  nicht 
zugänglich  *Atheuaeum  VIII  4,  Pavia  1920;.  ebenda  *IX  3,  1921; 
*Rivista  di  filol.  IL  1921,  435—455.  0.  Roßbach  berichtet  dar- 
über Phil.  Woch.  1921,  988  f.,  und  1922,  745—747.  Mit  Beob- 
achtung der  Klauseln  bessert  C.  in  der  ersten  Abhandlung  Stellen 
der  Dialoge ,  von  benef.  und  dem.,  so  const.  8,  2  proxtmusque  dis 
constitit  [—^  —  w-,   st.  consistlt).     Polyb.  18,    6  ut  et  sapientibus  te 

adprohare  possis  et  fratri  (— ^ für  fratribus,  das  doch  —^ ^- 

ergibt).  Schon  an  diesen  Stellen  erscheinen  mir  die  Änderungen 
keineswegs  zwingend;  an  andern  prov.  3,  3,  Polyb.  17,  4  folgt  schon 
Roßbach  nicht,  ira  II  11,  4  bestätigt  auch  die  Klausel ,  daß  C. 
früher  zu  Unrecht  et  hat  streichen  wollen  terret  et  irepidat  —  w  — w\^-^; 
da  A  deterret  bietet,  möchte  Roßbach  daraus  te  terret  machen,  was 
kaum  nötig,  dem.  II  5,  3  bestätigt  die  Klausel  die  Lipsius-Kon- 
jektur  portumque  adversus  fortunam  certissimum  mutui  anxUi  (st.  miduo 

auxilio)    dudit  (-.^ ).     C.s  occludit  lehnt  Roßbach  ab,    da  Sen. 

nadi  Thes.  1.  L.  III  1300    eine  Vorliebe    für    cludere   hat.     An  C.s 

9* 


132  Karl  Münscher. 

zweiter  Abhandlung  rühmt  R.  die  sorgfältigen  sprachlichen  Beob- 
achtungen ,  die  die  Grundlage  der  Kritik  bilden ,  z.  B.  über  Ab- 
wechslung im  Ausdruck  (z.  B.  nat.  qu.  III  27,  6  in  luhrico  [Gercke 
schlecht  lubricä]  et  lutosa  humo),  den  Unterschied  von  quid  ergo  est 
und  quid  ergo  (zu  ira  II  5,  3)  u.  a.  Mehrfach  verteidigt  C.  gut 
die  Überlieferung,  und  auch  unter  seinen  eigenen  Vorschlägen  sind 
sehr  treffliche  (so  ira  II  11,  2  sapienti  ohici,  st.  dici,  überl.  adici. 
vit.  beat.  15,  5  timori  fit  aditus ,  für  timoris  ita  ditus  A^);  auch 
Marc.  11,  2  tot  (st.  et)  caiisis  .  .  .  repetita  rechne  ich  dazu.  Über- 
flüssig erscheint  mir  const.  6,  2  inter  micantis  undique  (st.  ubique) 
gladios.  Andere  Vorschläge  C.s  lehnt  schon  E.  ab,  so  ira  II  20,  4 
sed  inertiora  (st.  maiora)  vitia  metuenda  sunt-^  andere  versuchten 
anderes ,  R.  jetzt  sedatiora.  Marc.  20 ,  3  ist  memhris  sicher  keine 
falsch  aufgenommene  Randnote;  in  der  Textgestaltung  schließe  ich 
mich  aber  Becker  (s.  unten  S.  138),  nicht  R.  an.  Gut  erklärt  R. 
vit.  beat.  25,  4  iura  reges  (Porus  und  Taxiles)  penatiuni  (=  häus- 
liche Angelegenheiten)  petant.  —  S.  Nachträge. 

Mehrfach  hat  der  Holländer  C.  Brakman  anerkannte  cruces 
der  Sen.-Überlieferung  zu  heilen  versucht,  bei  seiner  ziemlich  kind- 
lichen Methode,  wie  sie  besondei-s  A.  Klotz,  Berl.  philol.  Woch. 
1911,  831 — 839  mit  berechtigter  Schärfe  beleuchtet  hat,  meist  mit 
sehr  zweifelhaftem  Erfolge.  In  den  Annaeaea  nova  Velleiana  etc. 
Leiden  1910,  8  f.  ergänzt  B.  ira  II  7,  3  das  im  Schlußsatz  fehlende 
Verbum  gewiß  nicht  richtig  mit  einem  schwächlichen  orat;  was  das 
Richtige  ist,  kann  man  nicht  sagen.  Unnötig  ist  vit.  beat.  15,  4  semovet 
statt  movet.  Gegen  die  Vorschläge  zu  vit.  beat.  25,  2  und  tranqu. 
9,  2  siehe  Klotz  833  f.  Nicht  besser  erscheint  vit.  beat.  12,  5 
adidcscenti  (petulantiae)  für  das  unsinnige  adulescentiae.  Dem  Sinne 
nach  möglich  Polyb.  17,  4  fritillo  pernoctans  für  die  sinnlosen  Worte 
foro  et  pervocatis.  —  Derselbe,  Ad  Sen.  dial.  X,  Mnemos.  XLII 
1914,  389 — 391  macht  den  Vorschlag  brev.  vit.  2,  4  (statt  spatio) 
zu  lesen  usurpatio  (vgl.  Cic.  Brut.  250)  und  sucht  den  Text  durch 
Zusätze  zu  heilen:  9,  1  potestne  quicquam  {vanius  esse)  sensu[s]  hominum 
eorutn  qui-^  17,  6  (patriae)  civiles  scrvatorem  agitahant  seditiones; 
19,  2  vigentihus  {viribus);  20,  2  grandem  natu  {orantem).  Berechtigt 
scheint  mir  B.s  Verteidigung  des  9,  5  überlieferten  sciunt  im  Sinne 
von  sentiunt  (das  man  dafür  eingesetzt  hat)  durch  Parallelstellen.  - 
*Derselbe,  Miscella  tertia,  Leiden  1917,  Konjekturen  außer  zu  Sen. 
(und  zwar  dial.  und  epist)  zu  Celsus  u.  a. ;  darüberhatW.  A.  Baehrens, 
Berl.  philol.  Woch.  1917,  1548 — 52  berichtet.  Baehrens  nimmt 
seinerseits    mehrfach    im  Sen. -Texte  das  Eindringen  von  Glossemen 


Bericht  über  die  Seueca-Literatur  aus  den  Jahren  1915 — 1921.     133 

in  den  Text  au ,  z.  E.  auch  Marc.  11 ,  1  in  morbos  neben  causis 
(s.  unten  S.  136).  Nur  au  zwei  Stellen  erkennt  Baehrens  B.s  Ver- 
suche als  möglich  und  wahrscheinlich  an :  Marc.  25 ,  1  beneficio 
(Jiberae  mortis}  liheros  (wo  mir  der  Vorschlag  von  Gertz  beneficio  (suo) 
ausreichend  erscheint)  und  tranqu.  11,  8  numquam  me  in  bona 
{gnoma)  mali  pudebit  auctoris  (aber  ist  gnoma  sonst  aus  Sen.  belegt?). 

*ß.  Waltz,  Notes  critiques,  Rev.  de  philol.  XXXVIII  1914,  1 
behandelt  zahlreiche  Briefstelleu  und  je  eine  Stelle  aus  otio  und 
tranqu. 

Vor  Vergessenheit  möchte  ich  noch  ein  paar  textkritische  Ver- 
suche bewahren,  die  der  Holländer  L.  A.  J.  Burgersdijk  in  den 
seiner  Dissertation,  De  tribus  Ovidii  heroidum  codicibus  Leidensibus, 
Leiden  1899,  beigefügten  Thesen  vorgelegt  hat  (S.  258  f.\  Nat.  qu.  VII 
25,  3  hat  er,  vor  Skutsch,  qiiare  (sot)  obumbretur  hinzugefügt,  das  auch 
Gercke  aufgenommen  hat.  epist.  121,  15  ergänzt  B.,  wie  Gertz,  von 
Heuse  im  Apparat  gebilligt,  unicuique  aetati  sua  constitutio  est,  alia 
infanti ,  alia  puero ,  {alia  adulescentt),  alia  seni,  entsprechend  dem 
Eingang  von  §  16.  Helv.  10,  3,  wo  Hermes,  Gertz  folgend,  liest 
undique  convehunt  omnia,  nota  {ignota),  fastidienti  gulae,  schlägt  B. 
für  das  überlieferte  nota  ein  recht  passendes  nova  vor. 

a)  Erhaltene  Werke. 

1.    Dialogo r um  libri  XII. 

Im  Jahre  1905  hat  Emil  Hermes  die  dialogorum  11.  XII 
in  der  ßibl.  Teubneriana  neu  herausgegeben ,  fußend  auf  der  von 
Gertz  in  der  Kopenhagener  Auyg.  von  1886  gebotenen  sorgfältigen 
Kollation  des  Mailänder  Ambrosianus  C  90  inf.  s.  X/XI  und  auch 
Gertz  Ansicht  vollständig  sich  anschließend,  daß  die  sog.  deteriores 
der  folgenden  Jhh.  im  wesentlichen  unberücksichtigt  bleiben  dürften. 
Für  die  deteriores  als  notwendige  Textquelle  in  den  Dialogen  wie 
anderen  Schriften  Sen.s  war  seinerzeit  0.  Kossbach  eingetreten 
(De  Sen.  philos.  librorum  recensione  et  emendatione,  Bresl.  philol. 
Abhandlungen  II,  3,  1888),  ohne  allseitig  Zustimmung  zu  finden 
(dagegen  M.  Gl.  Gertz,  Berl.  philol.  Woch.  1889,  372  £F.),  und  doch 
müssen  Gertz  und  Hermes  selbst  zugeben,  daß  es  unmöglich  ist, 
ihrer  in  emendatione  plane  carere ;  Beweis  dafür  z.  B.  ira  III  8,  8, 
wo  die  beiden  unentbehrlichen  Worte  robur  accipiat  in  A  fehlen. 
Mögen  die  deteriores  also  noch  so  sehr  durch  Interpolationen  entstellt 
sein,  sie  bieten  doch  zweifellos  hier  und  da  das  Richtige  nicht  durch 
Konjektur,    sondern  aus  Überlieferung;    darf  man  sie  dann  aber  so 


134  Karl  Münscher. 

ignorieren  und  das  Einquellensystem  als  das  Eichtige  proklamieren, 
wie  es  Gertz  und  Hermes  tun?  Es  mag  ein  opus  plenum  taedii 
atque  aleae  sein,  diese  jüngere  Überlieferung  durchzuarbeiten,  aber 
es  ist  eine  Arbeit,  die  getan  werden  muß  und  in  der  H.schen  Aus- 
gabe nicht  getan  ist ;  vgl.  Kez.  E.  B  i  c  k  e  1 ,  Berl.  philol.  Woch. 
1906,  264 — 7,  der  auch  ungenügende  Benützung  der  indirekten 
Überlieferung,  für  ira  z.  B.  das  Martin  von  Bracara,  rügt. 

Für  Untersuchung  und  Auswertung  der  deteriores  sind  also 
m.  R.  zwei  ausländische  Gelehrte  erneut  eingetreten : 

J.  M  a  r  0  u  z  e  a  u  ,  Ce  que  valent  les  manuscrits  des  Dialogi  de 
Sen.,  Eev.  de  philol.  XXXVII  1913,  47—52.  Auf  Grund  eigner 
Kenntnis  der  wichtigsten  deteriores ,  zweier  Mailänder  Hdschrn.  D 
und  E,  eines  F(lorentiuus),  zweier  Laurentiani,  eines  B(erolinensis) 
und  V(ralislavieusis)  kommt  M.  zu  der  Ansicht ,  daß  das  einzige 
Verdienst  von  A  sein  Alter  sei,  zusammengehörig  mit  B  V  in  einem 
Überlieferungszweig,  wie  D  E  und  einer  der  Laurentiani  (1)  einen 
zweiten  bilden.  B  gäbe  die  unsinnigen  Lesarten  des  Urarchetypus 
der  gesamten  Überlieferung  noch  sorgfältiger  wieder  als  A;  E  biete 
wichtige  Randvarianteu, ,  D  oft  eine  gewiß  richtige  lectio  difficilior, 
V  wichtige  Abweichiingen  in  der  Wortstellung.  M.  gibt  dann  einige 
Beispiele  von  Stellen,  in  denen  nach  seiner  Meinung  die  lectio  de- 
terior  an  Stelle  von  A  zu  setzen  ist  (z.  B.  prov.  6,  8  conedit  D, 
copnedit  VI,  statt  commitit  A)  oder  eine  Konjektxir  dadurch  bestätigt 
wird  (wie  tranqu.  5,  3  Madvigs  inerlia  durch  E)  oder  die  Ver- 
gleichung  der  Varianten  eine  in  A  eingedrungene  Glosse  erkennen 
läßt  (z.  B.  const.  2,  2  ahstradus  in  A  Glosse  für  arreptiis ,  das  in 
A  am  Rand,  in  den  andern  Hdschrn.  neben  ahstradus  im  Texte 
steht)  oder  schließlich  durch  die  Lesarten  der  deteriores  Konjekturen 
nahegelegt  werden  (z.  B.  tranqu.  15,  4  im  Bionwort:  omnia  Jiominum 
ncgotia  simillima  neniis  -  statt  initiis  A,  nutrus  D,  nutiis  E,  viciisy). 

Zu  den  beachtlichen  deteriores  tritt  eine  Handschrift  der  im  J.  1620 
von  Angelo  Rocca  gegründeten  bibliotheca  Augelica  in  Rom,  auf 
die  H.  Wagen  vo  ort  aufmerksam  gemacht  hat:  De  codice  Sen. 
Angelico  (ms.  lat.  1356),  Mnemos.  XLI  1913,  153—163.  Die 
Handschrift  enthält  prov.,  brev.  \it.  und  Polyb.,  und  zweifellos  bietet  sie 
hier  und  da  beachtenswerte  Lesarten :  so  in  dem  Ovidzitat  (aus  met.  II 
63  ff.)  prov.  5,  10  fi.t^  was  Heinsius  konjizierte,  trepidet  und  ima  mit 
den  Ov.-Hdschrn.  ebda  6,  1  removd  (st.  des  Perf.  removit),  brev. 
1,  1  ingemuimt,  3,  2  et  hinter  adice,  nachträglich  getilgt.  7,  1 
licet  vel  iracundos.  Man  wird  also  W.s  Grundsatz  billigen  müssen: 
mea  quidem  opiuione  id  agendum  est,   ut  Codices  deteriores  parcis- 


Bericht  über  die  Seneca-Literatur  aus  den  Jahren  1915 — 1921.     I35 

sime  cautissimeque  adhibeaiuus  ueque  tarnen  desinamus  eorum 
lectiones  inter  se  conferre ,  communes  stirpes  indagare ,  uova  sub- 
sidia  quaerere.  Auch  eine  Anzahl  eigene  Konjekturen  hat  W. 
unter  die  Besprechung  der  handschriftlichen  Varianten  gemischt, 
von  denen  manche  mir  trefiend  scheinen,  z.  B.  prov.  5,  1  lioc  est 
proposHuni  deo,  {ut)  [quod]  sapienÜ  viro  ostenderet.  6,  7  {nori)  tra- 
hitur.  hrev.  7,  5  tota  (sc.  vita)  (st.  ioium)  ipsi  vacavH.  13,  2  niliil 
tacitafmj  conscienüa [m]  iiivant.  19,  1  «  neglegentia  {acdpkniiutvC). 
Polyb.  3,  4  Fragezeichen  hinter  imminuere,  so  daß  tarn  hene  —  vohdsti? 
eine  zweite  selbständige  Frage  bilden. 

L.  Schmidt,  Zu  den  Dialogen  des  Sen.,  Philol.  Woch.  1921, 
92  f.  macht  Mitteilung  von  den  Bruchstücken  einer  Handschr.  (ent- 
haltend dial.  IX  4,  6—9,  3.  X  10,  4—14,  3),  zwei  Pergament- 
blättern, die  vom  Umschlage  eines  Bandes  der  früheren  Schloß- 
bibliothek zu  Öls  (jetzt  in  der  sächsischen  Landesbibl.  zu  Dresden) 
stammen,  von  einer  Hand  s.  XIII  geschrieben,  so  daß  sie  als  älteste 
der  deteriores  erscheint. 

*L.  Castiglioni,  De  quibusdam  codicibus  Sen.  opuscula  de 
ira  continentibus,  Athenaeum  (Studi  periodici  di  letteratura  e  storia), 
I  Pavia  1912,  ein  Vorläufer  einer  von  C.  geplanten  Ausgabe  der 
Bücher  de  ira. 

Im  Gegensatz  zu  der  oben  entwickelten  Anschauung  hat  R.  P  i  - 
c  h  0  n  zweimal  Stellen  zweier  Dialoge  besprochen  in  der  ausgesprochenen 
Absicht,  die  Überlegenheit  des  Ambrosianus  gegenüber  den  deteriores 
und  gegenüber  modernen  Herstellungsversuchen  zu  erweisen :  Ob- 
servations  sur  le  texte  de  la  cons.  ad  Marc,  de  Sen.,  in  Melanges 
offerts  ä  Emile  Chatelain,  Paris  1910,  230  f.  und  Note  sur  quel- 
ques passages  du  de  vita  beata  de  Sen.,  Rev.  de  philol.  XXXVII 
1913,  258 — 61.  In  der  ersten  kleinen  Abhandlung  sind  es  fast 
durchweg  schon  bisher  als  in  A  korrupt  und  in  F  willkürlich  ge- 
ändert angesehene  Stellen,  die  P.  zu  heilen  sucht-,  seine  Vorschläge 
Marc.  3,  4  mala  sua  {suo)  nomine  (überl.  non)  augere.  10,  3  tan- 
(juam  excmpturo  auctore.  21,  1  quas  (aetates)  incredibüi  celeritaie 
{fatuni  oder  natura)  convolvit  erscheinen  mir  annehmbar ;  zu  ge- 
künstelt ist  der  Versuch  12,  1  cep)isti  —  potuisses  zu  schreiben  (cepisses, 
wofür  seit  Erasmus  cepisti  gelesen  wird,  —  potuisti  A)  wie  13,  1 
quam  (cum)  üle  exaudisse  dissimularet  (dissimidavit  et  C,  dissimulare 
et  A).  Falsch  ist  der  Heilungs versuch  11,  1  causis  (in)  morhos  re- 
petita;  causa  wird  oft  allein  für  morbus  gebraucht  (vgl.  Thes.  1.  L. 
III  680,  82  ff.),  und  auch  Sen.  benutzt  das  Wort  in  gleicher  Weise: 
im  selben  Kap.  §  4  temdssimis   causis   atque  offensionihis  worhidum 


\ 


136  Kfii'l  Münscher. 

(animäl).  epist.  58 ,  24  (liomo)  fluvida  materia  et  caduca  et  Om- 
nibus öbnoxia  causis  (Thes.  III  680,  68  ff.);  dem  entsprechend  hat 
V.  d.  Vliet  11,  1  causis  omnibus  repetita  vorgeschlagen;  dabei 
bleibt  aber  morbos  unerklärt ;  entweder  muß  man  es  als  Glossem  zu 
causis  tilgen  oder  mit  Gertz  lesen  causis  7norbo(rum),  oder  —  was 
ich  vorziehen  würde  —  causis  morbo(t'um  omnibus)  repetita  herstellen; 
die  Verbindung  causa  morbi  ist  aus  den  Prosaikern  Cic.  Varro  und 
Quint.  belegt  (Thes.  III  680,  64  ff.).  —  In  vit.  beat.  behandelt  P. 
mehrere  Stellen ,  die  zweifelhaft  bleiben ,  weil  die  von  ihm  ver- 
worfenene  Lesart  der  deteriores  sehr  wohl  auf  Überlieferung  und 
nicht  auf  Konjektur  beruhen  kann;  so  ändert  er  7,  2  iniucunda 
(statt  iucunda),  um  nicht  sed  (noti)  aus  c^  aufzunehmen;  ebenso  13, 
2 :  A  bietet  itaque  non  dicunt  qiiod  plerique  nostroriim  .  .  .,  sed  illud 
dico ;  statt  dicunt  die  deteriores  (denen  Hermes  folgt)  dicam ;  P.  hält 
dicunt  für  richtig ;  nur  stehe  es  an  falscher  Stelle  und  gehöre  hinter 
quod.  Mit  Kecht  hält  er  dagegen  4,  4  lioc  (statt  liunc)  ita  fundatum 
esse  und  ut  quae  suis  gaudeat  (Subj.  laetitia).  Aber  sein  Vorschlag- 
IS,  2/3,  lebhafte  Wechselrede  herzustellen,  at  immerito.  —  lioc  scire 
qui  potes  nisi  interitis  admissus?  ist  mit  zwei  unnötigen  Textände- 
rungen (at  für  et,  potes  für  polest)  erkauft.  25,  2  will  P.,  statt  erit 
und  substernetur  aus  ^  aufzunehmen,  sit,  was  A  hinter  der  Kor- 
ruptel  aminiclu  bietet,  halten  und  substernatur  aus  A  aufnehmen: 
Dabei  muß  aber,  was  ganz  unwahrscheinlich,  das  auch  in  A  stehende 
einwandfreie  erit  gestrichen  werden.  Jenes  sit  gehört  gewiß  zu  dem 
korrupten  Worte ,  für  das  P.  statt  des  bisher  üblichen  amiculum 
bedeutend  passender  amminiculum  vorschlägt.  27,  4  tritt  P.  für 
fera  Scabies  (statt  foeda  c^)  mit  guten  Gründen  ein. 

An  sonstigen  textkritischen  Arbeiten  zu  den  Dialogen  sind  zu 
verzeichnen : 

Jul.  Martha,  Sur  un  passage  de  la  cons.  ad  Marc,  de  Scn., 
M61anges  Chatelain,  Paris  1910,  219  f.  M.  scheidet  2,  3/4  das  Sätzchen 
bene  legerat  nulli  cessura  ponderi  fundamenta  als  Randbemerkung 
eines  Grammatikers  aus,  der  damit  habe  andeuten  wollen,  daß  der 
Verf.  (Sen.)  das  jambische  Hemistichium  nuUi  cessura  ponderi  (funda- 
menta) gekannt  und  danach  seineu  Ausdruck  fqiiantumcunique  im- 
ponere  Uli  [MarcelloJ  avunculus  [Awjustus]  et,  ut  ita  dicam,  inaedi- 
ficare  voluisset  laturum)  geformt  habe.  Wer  soll  das  glauben?  Der 
Subjekts  Wechsel  —  bei  legerat  ist  der  avunculus  Aiigustus  Subjekt, 
sonst  in  der  ganzen  Periode  Octavia  —  vei'liert  allen  Anstoß,  wenn 
man  den  beanstandeten  Satz  als  Parenthese  faßt  (in  Gedanken- 
striche   einzuschließen),    so    daß  das  weit  vornstehende  Subjekt   Oc- 


Bericht  über  die  Seueca-Literatur  aus  den  Jahren  1915 — 1921.     137 

tavia  in  den  Worten  nullum  finem  .  .  .  fecit  sein  richtiges  Objekt 
und  Prädikat  findet. 

*P.  Tliomas,  Notes  critiques  sur  Sen.  etc.,  Bulletin  de 
TAcad^mie  R.  des  sciences  ...  de  Belgique ,  classe  des  lettres, 
Brüssel  1914  (bebandelt  Stellen  aus  otio  und  tranq[u.). 

C.  Weyman,  Rhein.  Mus.  LXX  1915,  152  macht  darauf  auf- 
merksam, daß  Sen.s  Redewendung  vom  med'icamentnm  immortalitotis 
(prov.  3,  12)  dem  auch  bei  gr.  Kirchenvätern  sich  findenden  Aus- 
druck cf>(XQ(.ia'/.ov  dd^avaoiag  entspricht,  der  ursprünglich  ein  medi- 
zinischer terminus  technicus  für  ein  bei  verschiedeneu  Krankheiten 
angewandtes  Heilmittel  war ,  und  W.  meint ,  diese  technische  Be- 
deutung klinge  bei  Sen.  zum  mindesten  als  Nebenton  mit  und  habe 
die  Wahl  des  Ausdrucks  beeinflußt. 

J.  J.  Hartman,  Mnemos.  XLVII  1919,  331  ändert  vit. 
beat.  24,  3  den  Satz  quis  enhn  liheralitatem  iantum  ad  togatos  vocat? 
kaum  richtig  ab  zu  der  allerdings  weniger  geschratibten  Form :  q.  e. 
ad  liberaUtatem  tantum  togatos  vocat? 

Pet.  Becker,  Zu  Sen.  ad  Marc,  de  consol. ,  Philol.  Wocli. 
1922,  548 — 552,  sucht  meist  schon  mit  vielen  Versuchen  bedachte 
Schäden  der  Überlieferung  zu  heilen.  Oft  zeigen  seine  Vorschläge 
nur  geringfügige  und  kaum  bessere  Abänderungen  älterer:  11,  2 
hatte  schon  Hermes  (im  Apparate)  vorgeschlagen  hoc  videlicet  {dicHy 
üla  Pythicis  oraculis  adscripta  (vox):  nosce  te,  nicht  leichter  B.s  Vor- 
schlag hoc  {vult  dicere)  videlicet.  15,  4  Hermes  (im  Apparat) 
privatimque  congesta  (Jionestav)erant,  B.  {extiil)erani.  25,  1  et  henc- 
ficio  {suo}  liberos  Gertz,  B.  (suo)  beneficio.  26,  3  ostendi  tarn  (überl. 
quam)  magno  me  quam  vi{deybar  animo  scripsisse  Haase ,  B.  quam 
moriebar.  Mehrfach  sind  andere ,  neuere  Vorschläge ,  die  B.  un- 
bekannt geblieben  sind,  den  seinigen  vorzuziehen ;  so  ist  3,  4  die 
unverständliche  Überlieferung  et  mala  sua  non  augcrc  von  Pichon 
(s.  oben  S.  135)  gefälliger  geheilt  mit  stia  {suo')  nomine  augere  als 
von  B.  mit  Zusatz  von  cessare  vor  augere.  11,  1  ist  B.s  causis 
morhisque petita  dem  Gertzschen  Vorschlage  causis  morborum  nicht  vorzu- 
ziehen (s.  oben  S.  136).  16,  7  mag  man  zweifeln,  ob  Bourgerys  inmissa 
earum  [sc.  arborum  s.  oben  S.  130)  oder  B.s  inmissarum  (sobolum) 
das  Richtige  ist.  Aber  23,  5  ist  der  von  andern  (auch  Bourgery) 
gemachte  Versuch,  das  sinnlose  ante  am  Schluß  des  einen  Satzes 
im  nächsten  unterzubringen,  B.s  ambulantem,  das  in  den  Zusammen- 
hang gar  nicht  paßt,  weit  vorzuziehen.  Wenig  glücklich  sind  auch 
folgende  Vorschläge  B.s:  11,  4  quem  (so  schon  Lipsius  statt  qua) 
parvus   repentino    (überl.  partim   repentinum)    auditus    (schon  andere 


138  Karl  Münscber. 

st.  audiet)  ex  improviso  sonus  auribus  gravis  exciUit,  wo  mir  repen- 
tinus  neben  ex  improviso  auf  einen  zweigliedrigen  Ausdruck  zu 
führen  scheint;  18,  5  aliae  (sc.  nationes)  ripis  lacu  valUbus  pavidae 
(dies  Wort  übergeht  B.)  circumfunduntiir  ist  unmöglich  richtig. 
Beachtenswert  und  recht  wohl  möglich  dagegen:  11,  4  solii  (==  Sarg, 
überl.  soJli)  semper  sihi  nidrimentum.  22,  2  aut  sera  (eos)  eoque 
foedior  luxuria  invasit  coegitqiie  (F ,  cogitque  A,  Hermes-Schultess 
coepilque)  dehonestare  speciosa  principia.  22,  5  Iwmineni  .  .  .  inte- 
meratum  (überl.  imperiatum).  25,  3  aeternaruni  rerum  per  Jihera 
metu  ista  (überl.  et  vasta)  spatia  dimissi!  .  .  .  omnia  Ulis  (überl. 
omnium)  plana.  Etwas  Richtiges  steckt  m.  E.  auch  in  B.s  Vorschlag 
zu  20,  3,  nämlich  die  Einschiebung  eines  quae,  das  als  Subjekt  zu 
docuerunt  das  macliinamenta  vorwegnimmt;  statt  aber  mit  B.  ?newi&ri5 
singuUs  articulisque  zu  lesen,  nehme  ich  aus  den  deteriores,  die  ja 
auch  Überlieferung  bieten ,  auf  m.  s.  et  a.  und  stelle  das  zu  er- 
gänzende quae  hinter  singula^  also  niemiris  singulis  et  articulis  sin- 
gula  {quaey  docuerunt  macliinamenta.  Zustimme  ich  B.,  wenn  er  am 
Schluß  von  Kap.  11  den  Zusatz  von  est,  20,  5  den  von  si  vor  Uherata 
(so  daß  servator  Apposition  zu  M.   Cicero)  für  überflüssig  hält. 

Recht  viel  Treffendes  enthalten  die  Bemerkungen  Fr.  Walters 
zu  den  Dialogen  Sen.s,  Philol.  LXVIII  1922,  180—3.  Als  Ver- 
schreibung  von  seltenen  oder  ungewöhnlich  gebrauchten  Wörtern  im 
Ambrosianus  heilt  er:  ira  II  11,  4  venena  et  offae  (st.  ossa)  pesti- 
fera(e)  et  morsus.  tranqu.  11,  7  et  uncus  (st.  iunctas)  sodalimn 
manus  cop>ulatas  interscidit.  Sehr  wahrscheinlich  auch  tranqu.  9,  2 
etiam  si  multos  pudcbit  eins  (sc.  fnigalitaiis)  populos  (st.  plus)  und 
brev.  vit.  11  2  niliil  ex  illa  (sc.  vita)  delibatur  (st.  delegatur).  Minder 
sicher  brev.  vit.  2,  4  cotidiana  ostentandi  ingenii  sparsio  (st.  spatio). 
Unrichtig  gestellte  Wörter  oder  Buchstaben  nimmt  W.  an :  vit. 
beat.  10,  3  nee  si  quas  (quasi  A,  quas  vulgo)  (sc.  voluptates  virtus) 
probavit,  magni  pendit.  brev.  vit.  7,  6  putes  nihil  (überl.  hinc  st. 
nichfil],  Hermes  nach  Madvig  non)  illos  aliquando  infellegere  dam- 
num  suum.  Gegen  die  Klausaltechnik  verstößt  aber  W.s  Vorschlag 
vit.  beat.  23,  4  sie  pauper  si  poterit,  dives  esse  volet]  die  überlieferte 
Stellung  esse  dives  ist  offenbar  der  Klausel  wegen  gewählt,  Komma 
hinter  dives  zu  setzen.  Möglich  auch  ein  paar  weitere  Vorschläge :  t 
ira  I  16,  6  quam  {nequam')  florere  quosdam  (improbos  fügten  hinter 
florere  Gemoll-Hermes  hinzu).  Marc.  21,  7  agunt  rite  (agurii  A, 
agtint  Muret)  opus  suum  fata.  tranqu.  16,  1  actum  (ohne  esse).  Un- 
glaubhaft die  Herstellung  Marc.  23,  5  fuisse  statura  ingentifsj,  viri- 
{bus)  anle{luctantes). 


Bericht  übur  dit-  Scncca-Litoratiu-  aus  den  Jahren  1915 — 1921.     139 

Von  erklärenden  Ausgaben  einzelner  Dialoge  sind  außer  der 
oben  (S.  113)  erwähnten  von  R.  Waltz,  de  otio,  Paris  1909,  zu 
nennen : 

*Sen.  dial.  libri  X— XII  by.  J.  D.  Duff,  Cambridge  1915. 
(*P.  Faider,  Mus.  beige  XXV  62  rühmt  daran  klare  Einleitung 
und  reichhaltige  Erklärung). 

*L.  A.  Sen.  dial.  lib.  XII  ad  Helviam  matrem  de  cons.  Texte 
latin  publie  avec  uue  introduction  et  un  commentaire  explicatif  par 
Ch.  Favez,  Lausanne-Paris  1918.  (*P.  Faider,  Mus.  beige 
XXV  84  findet  die  Ausg.  verdienstlich  wegen  der  reichhaltigen 
Erklärung.  C.  Hos  ins,  Berl.  philol.  Woch.  1919,  1064—6  er- 
kennt besonders  die  'weit  ausholende'  Einleitung  au  und  gibt  zur 
sprachlichen  und  sachlichen  Erklärung  einige  ergänzende  Bemer- 
kungen. 

Hier  sei  auch  hingewiesen  aiaf  *Sen.,  Vom  glückseligen  Leben, 
her.  V.  A.  V.  Gl  eichen -Ruß  wurm  (Deutsche  Bibliothek),  Berlin  1912. 

Was  sonst  an  erläuternden  Schriften  zu  den  Dialogen  er- 
schienen ist,  verbinde  ich  mit  der  Betrachtung  der  chronologischen 
Probleme. 

Ich  habe  (Sen.s  Werke.  6  f.),  Gercke  (Sen. -Studien  284) 
folgend,  als  ältesten  der  erhaltenen  Dialoge  VI  ad  Marciam  de 
consolatione  angesehen,  ohne  zu  wissen,  daß  ein  anderer  Zeit- 
ansatz neuerdings  für  diese  Schrift  versucht  worden  ist.  A.  Bourgery 
glaubt  in  der  oben  (S.  114)  angeführten  Abhandlung  über  die  prose 
metrique  Sen.s  festgestellt  zu  haben ,  daß  Marc,  fühlbar  metrischer 
komponiert  sei  als  die  anderen  Schriften  vor  Sen.s  Rückkehr  aus 
dem  Exil,  bes.  Helv.  und  Polyb.  Daß  sie  deshalb  später  als  diese 
beiden,  nach  der  Rückkehr  aus  der  Verbannung  verfaßt  sein  müßte, 
ist  aber  ein  überaus  voreiliger  Schluß.  Wenn  auch  im  allgemeinen 
der  Prosarhythmus  von  Sen.  in  den  Alterswerken  sorgfältiger  be- 
haudelt  zu  sein  scheint,  so  hat  doch  gerade  Marc,  wie  R.  Pichon 
220  ff.  (s.  oben  S.  114)  bemerkt,  eine  besondere  Bestimmung;  c'est 
un  ecrit  destine  (sagt  P.)  ä  une  personne  etrangere,  ä  une  grande 
dame,  et  il  est  tout  naturel  qxxe  Sen.  en  ait  poli  plus  scrupuleuse- 
ment  la  forme  que  celle  de  ses  premiers  essais  philosophiques.  Trotz- 
dem glaubt  P.  die  Abfassung  der  Trostschrift  49/50  ansetzen  zu 
dürfen.  Er  hält  das  für  möglich,  da  Marcia  in  ihrer  Jugend  Livia 
(die  bis  22  lebte)  gekannt  haben  könnte ;  ihr  Sohn  Petilius  könnte 
21/22  geboren,  46/7  gestorben  sein  und  Sen.  die  Mutter  drei  Jahre 
später,  also  49/50,  getröstet  haben.  Demgegenüber  ist  erneut  auf 
Gercke    zu    verweisen ,    der    aus    mehreren    Stellen    der  Konsolation 


140  Karl  Münscher. 

(auch  20,  2,  die  P.  anders  deutet)  einwandfrei  erschlossen  bat,  daß 
die  Zeit  nach  dem  Exil  ausgeschlossen  ist,  also  —  da  sie  nach 
16,  2  in  Eom  geschrieben  ist  —  vor  das  Exil,  und  da  nichts  auf 
Caligulas  Tod  und  Claudius  Regierung  weist,  sicherlich  im  J.  40 
geschrieben  ist.  Es  liegt  auch  nach  P.s  Äußerungen,  die  mir  ent- 
gangen waren,  kein  Grund  vor,  von  diesem  Zeitansatze  abzugehen. 

W.  Kaiser,  Beiträge  zur  Erläuterung  von  Seu.s  Trostschrift 
an  Marcia,  Prgr.  Askan.  Gymu.  Berlin  1914,  hat  den  Dialog  als 
Schullektüre  erprobt  und  empfiehlt  ihn  dafür  wie  andere  Sen.- 
Schrifteu  in  Teil  II,  S.  7  flF.,  der  im  übrigen  Entwürfe  zu  schrift- 
lichen Übersetzungen  im  Anschluß  an  die  Trostschrift  enthält; 
Teil  I  sucht  den  Gedankengang  von  Kap.  17/18,  den  man  neuer- 
dings beanstandet  hat  (z.  B.  R.  Reitzenstein,  Poimandres, 
Leipzig  1904,  253  ff.)  zu  erläutern  und  in  ziemlich  erkünstelter  Weise 
(vgl.  C.  Hosius,  Berl.  philol.  Woch.  1915,  1432 f.)  zu  rechtfertigen. 

Nach  Caligulas  Tode  (2-t.  I.  41)  hat  Sen.  sein  erstes  be- 
deutendes ethisches  Werk  im  J.  41  erscheinen  lassen,  die  zwei 
ersten  Bücher  de  ira  (dial.  III — IV)  (Seu.s  Werke  7 ff.);  später 
folgte  das  dritte  (dial.  V)  nach. 

Die  Frage  nach  den  philosophischen  Quellen  Sen.s  in  diesen 
Büchern  ist  im  letzten  Jahrzehnt  lebhaft  erörtert  worden,  ohne  daß 
ein  sicheres  Ergebnis  erzielt  worden  wäre.  Heiur.  Walt  her 
Müller,  De  L.  A.  Sen.  11.  de  ira  compositione,  Diss.  Leipzig  1912, 
kommt  in  seiner  in  zwei  Teile  gegliederten  Arbeit  (I  behandelt  die 
3  Bücher  Kapitel  für  Kapitel,  II  die  einzelnen  von  Sen.  empfohlenen 
Heilmittel  gegen  den  Zorn)  zu  dem  einfachen  Resultat,  Chrysippos 
d-EQartevTi'/.og  sei  für  Sen.  im  ganzen  die  Hauptquelle;  nur  in  ein- 
zelnen Abschnitten  (II  15 — 21.  UI  9)  habe  er  aus  Poseidonios 
Einlagen  gemacht.  Müllers  Hypothese  hat  P.  Rabbow,  Antike 
Schriften  über  Seelenheilung  und  Seelenleitang,  auf  ihre  Quellen 
untersucht,  I  die  Therapie  des  Zorns,  Leipzig  1914,  Anhang  V, 
S.  190  ff,  aufs  schroffste  abgelehnt.  Nach  Rabbows  eigener  Analyse 
(in  7  Kapitel  geordnet)  soll  ira  I  (wie  Cicero  Tusc.  IV)  im  wesent- 
lichen auf  Antiochos  von  Askalon  beruhen,  II  die  Therapie  des 
Zorns  nach  Poseidonios  tzeqI  ogyr^g  bieten ;  nur  am  Schluß  (Kap.  35) 
und  im  Eingang  des  III.  Buches,  das  im  ganzen  als  eine  besonders 
rhetorisch  ausgestaltete  Bearbeitung  des  II.  sich  darstellt,  seien  Zu- 
taten aus  Sotion,  Sen.s  Lehrer,  tisqI  oqyrjg  (der  auch  von  Plutarch 
TtEQi  aoQyr^olag  und  Galenos  tceqI  ipvx^^S  nad^iov  benutzt  sei)  und 
Philodemos  neQi  ooytjg  zu  finden.  R.  geht  bei  seiner  Analyse  aus 
(S.  2)    von    einer  bei    Lactauz    de    ira  dei   17,    13    als   poseidonisch 


Bericht  über  die  Seueca-Literatur  aus  den  Jahren  1915—1921.     141 

angeführten  Definition  des  Zorns,  und  er  hat  Anhang  I  S.  171  ff. 
sich  bemüht,  M.  Pohlenz  (De  Posidouii  II.  negl  Ttad^iZv,  Jbb.  f.  Philo!. 
Suppl.  XXIV  1898,  585  f.)  Anfechtung  des  Laktanzzeugnisses  zu 
widerlegen.  Aber  weder  Pohlenz  noch  K.  Wilke  erkennen  in 
ihren  Besprechungen  des  Kabbowschen  Buches  diesen  Beweis  an 
(Gott.  gel.  Anz.  178,  1916,  583  ff.  Berl.  philol.  Woch.  1916, 
769  ff.),  und  damit  stürzt  Kabbows  Quellenanalyse  der  Sen. -Bücher 
zusammen.  Auf  Grund  der  Behandlung  der  Laktanzstelle  durch 
K.  Heinhardt,  Poseidonios,  München  1921,  303  f.  gibt  nunmehr 
aber  auch  Pohlenz  (Poseidonios  Affektenlehre  und  Psychologie, 
Götting.  Nachr.  1921,  163  ff.,  bes.  S.  184)  zu,  'daß  für  Poseidonios 
auch  der  Zorn  ein  Begehren  in  sich  schloß'.  Noch  vor  dem  Er- 
scheinen des  Eabbowschen  Buches  hat ,  durch  Pohlenz  angeregt, 
Herrn.  Ringeltaube  in  seinen  Quaestiones  ad  veterum  philo- 
sophoi'um  de  affectibus  doctrinam  pertinentes,  Diss.  Göttingen  1913, 
50  ff.  gleichfalls  die  Quellen  von  Sen.  de  ira  zu  eruieren  gesucht, 
indem  er  teils  chrysippeisches  teils  poseidonianisches  Gut  zu  er- 
kennen meint ,  im  übrigen  Sotion  als  unmittelbare  Vorlage  Sen.s 
ansieht:  in  einer  Besprechung  des  Eabbowschen  Buches  (Dtsch. 
Lit.-Ztg.  1914,  1567—70)  hat  sich  aber  Ringeltaube  fast  ganz 
zu  Rabbows  Anschauungen  bekehrt  (vgl.  auch  W  i  1  k  e  s  Besprechung 
von  Ring.s  Diss.  a.  a.  O.  773  ff.).  Endlich  führt  K.  Reinhardt 
320  ff.  von  Sen.s  Affektenlehre  nur  ira  II  19/20  auf  Poseidonios 
zurück  (vgl.  Pohlenz,  Jbb.  Suppl.  XXIV  594  ff.),  aber  nicht  auf 
Tcegl  coyr^g,  sondern  auf  das  auch  von  Galen  benutzte  Gesamtwerk 
7rEQi  Ttad^itjv.  Das  Verhältnis  dieser  beiden  Werke  zueinander  ist 
aber  auch  keineswegs  geklärt;  Pohlenz  (172)  sagt  vermutungsweise : 
'kann  nicht  z.  B.  tieqI  ogyrjg  mit  einem  der  späteren  Bücher  7t€Ql 
Tccti^iov  identisch  gewesen  sein?'  Vergleicht  mau  diese  neueren 
Versuche  mit  dem  älteren  von  W.  Allers,  De  L.  A.  Sen.  11.  de 
ira  fontibus,  Diss.  Göttingen  1881,  der  neben  stoischen  (bes.  Chry- 
sippos  negl  Tiad^cov)  und  peripatetischen  Quellen  vieles  auf  Philo- 
demos  (bzw.  dessen  Quelle)  und  Sotion  zurückführen  wollte ,  und 
erinnert  sich  dessen,  was  A.  Schlemm  in  seinem  Aufsatze  über 
die  Quellen  der  Plutarchischen  Schrift  tieqI  ccogyr^aiag^  (Hermes 
XXXVIII  1903,  586  ff.)  gesagt  hat,  daß  Sen.  im  IH.  Buche  de  ira 
gewiß  noch  andere  Quellen  als  in  den  vorhergehenden  Büchern 
herangezogen  habe  (S.  589,  was  Rabbow  116  f.  bestreitet),  so 
glaube  ich  nicht  ohne  Berechtigung  das  Problem  der  Quellen  von 
Sen.s  Büchern  de  ira  nicht  bloß  als  ungelöst,  sondern  als  unlösbar 
bezeichnet  zu  haben  (Sen.s  Werke  13  Anm.  2).     S.  Nachträge. 


142  Karl  Münscher. 

Einen  wichtigen  Nachweis  hat  aber  Eabbow  (125  ff.)  geliefert, 
daß  nämlich  Sen.  bei  Abfassung  seiner  Schrift  de  Consta ntia 
sap lentis  (dial.  II)  den  Inhalt  von  ira  II  noch  völlig  im  GedSicht- 
nis  hatte,  unmittelbar  daraus  einzelne  Gedanken  übernahm,  während 
umgekehrt,  als  Sen.  ira  III  schrieb,  const.  sicher  bereits  fertig  vor- 
lag. Das  führt  denn  zur  Frage  nach  der  Abfassungszeit  beider 
Schriften.  Rabbow  glaubt,  ein  Zeitraum  von  mehr  als  20  Jahren 
trenne  ira  III  von  I/II;  Anfang  der  60er  Jahre  sei  es  verfaßt  als 
Neuentwurf  für  II ;  aber  erst  ein  Editor  habe  das  postum  erschienene 
Werk  als  III  den  beiden  ersten  angeschlossen  und  sogar  im  Ein- 
gang von  III  (1  ,  1  iwn  nl  aliquando  —  2  einschließlich)  eine 
Einlage  gemacht ,  die  aber  doch  zugleich  eine  Studie  Sen.s  selbst 
für  den  dritten  Teil  des  Buches  (39  f.)  sein  soll ,  die  der  Editor 
benutzt  habe.  Für  alle  diese  wirren  Behauptungen  ist  kein  Beweis 
erbracht.  Gedankliche  Übereinstimmungen  von  ira  III  mit  beuef. 
oder  tranqu.  beweisen  natürlich  nicht  das  Entstehen  in  gleicher 
Zeit.  Daß  ira  III  und  const.  weit  älter  sein  müssen  als  benef., 
beweisen  die  Äußerungen  über  die  Sklaven  in  beiden  Schriften, 
die  von  dem  wahrhaft  humanen  Standpinikt,  den  Sen.  in  benef.  er- 
reicht hat,  noch  weit  entfernt  sind  (Fr.  Seh  au b,  Studien  zur 
Gesch.  der  Sklaverei  im  Frühmittelalter,  Diss.  Freiburg  i.  B.  1913, 
bemerkt  in  seiner  Einleitung  über  die  Auffassung  der  Sklaverei  im 
Altertum  S.  12  f.,  daß  bei  Sen.  die  Theorie  von  der  Gleichheit 
aller  Menschen  zum  Durchbruch  komme,  dabei  werden  einige  Stellen 
aus  benef.  und  epist.  angeführt;  daß  aber  Sen.  selbst  sich  erst  all- 
mählich zu  diesem  Standpunkt  emporgearbeitet  hat,  ist  unberück- 
sichtigt). Und  natürlich  ist  ira  III  wie  I/II  Sen.s  Bruder  Novatus 
gewidmet,  als  dieser  noch  nicht  vom  Rhetor  Gallio  adoptiert  war 
und  noch  nicht  Gallio  hieß  —  Eabbows  gegenteilige  Annahme  ist 
ganz  hinfällig  — ,  und  jene  Adoption  ist  sicher  vor  der  Statthalter- 
schaft des  Novatus-Gallio  in  Achaia  erfolgt,  denn  die  Provinzialen 
kennen  in  der  Apostelgeschichte  (18,  12  fl^.)  den  höchsten  römischen 
Beamten,  zu  dem  sie  den  Apostel  Paulus  führen,  nur  unter  dem 
Namen  Gallio:  Gallios  Prokonsulat  begann  wahrscheinlich  im 
Sommer  51;  seine  Adoption  muß  also  spätestens  50  erfolgt  sein; 
die  Dedikatiou  von  ira  III  erfolgte  also  vorher,  d.  h.  in  der 
Zeit  von  Sen.s  Verbannung.  Um  nichts  zu  übergehen ,  erwähne 
ich  noch,  daß  B  o  u  r  g  e  r  y  auf  Grund  der  Klauselstatistik  (s.  oben 
S.  114)  die  Bücher  ira  II/III  in  die  Zeit  nach  Sen.s  Verbannung 
verlegen  will. 

Der    Spätansatz    von    ira   III    hat    aber    noch    einen    weiteren 


Bericht  über  die  Seneca-Literatur  aus  den  Jahren  1915 — 1921.     143 

Grund,  daß  nämlich  Rabbow  die  in  ira  III  benutzte  Schrift  const. 
in  die  fünfziger  Jahre,  und  zwar  deren  zweite  Hälfte,  verlegt.  Zwei 
Gelehrte  haben  in  neuerer  Zeit  const.  behandelt :  Wilh.  Friedrich, 
De  Sen.  libro  qui  inscribitur  de  const.  sap.,  Diss.  Gießen  (gedr. 
Darmstadt)  1909.  Schon  W.  Isleib,  Woch.  f.  klass.  Philol.  19.11, 
870 — 2  betonte,  daß  Fr.s  Arbeit  zwar  viel  Anregendes,  aber  meist 
Hypothetisches  enthalte.  Fr.  hat  sich  gegen  diese  Kritik  ebenda 
1Ö98 — 1102  gewehrt  und  Isleib  darauf  noch  einmal  1102  f.  erwidert. 
Schärfer  noch  war  die  Kritik  W.  Capelies,  Berl.  philol.  Woch, 
1912,  489 — 498,  der  nachwies,  daß  die  Fülle  der  Kombinationen 
Fr.s  einer  ausreichenden  oder  teilweise  überhaupt  jeder  Grundlage 
entbehren.  Fr.  hat  sich  gegen  die  Angriffe  seiner  Kritiker,  bes. 
Capelles ,  noch  einmal  in  einer  Sonderschrift  gewandt :  Zu  Cassius 
Dio  61,  10  und  Sen.  de  const.  9,  2.  Ein  Beitrag  zur  Erklärung 
d.  polit.  Schriften  des  Philos.  Sen.,  Darmstadt  1913,  die  aber,  wie 
E.  Bickel,  Dtsch.  Lit.-Ztg.  1915,  2045  f.  in  einer  kurzen  An- 
zeige mit  Recht  sagt,  im  ganzen  nur  eine  wenig  ersprießliche  re- 
tractatio  der  Gedanken  seiner  Dissertation  darstellt.'  Der  Fehler 
Fr.s  liegt  darin,  daß  er  das  an  sich  durchaus  berechtigte  Prinzip, 
in  den  Dialogen  Sen.s  das  Erlebnis  zu  suchen,  übertreibt.  Er  will 
schier  das  Gras  wachsen  hören,  und  so  verführt  ihn  seine  Methode 
(im  1.  Kap.  seiner  Diss.)  zu  ganz  nichtigen  Hypothesen  über  des 
Adressaten  Serenus  Lebensverhältnisse  und  Emporkommen  und  zu 
ebenso  hinfälligen  Hypothesen  über  angeblich  von  Sen.  befehdete 
drei  Gruppen  von  Gegnern  (erneut  in  seiner  zweiten  Schrift  I.  Teil) 
und  (im  II.)  zu  dem  ganz  unbeweisbaren  Ansatz  von  const.  un- 
mittelbar nach  dem  Suilliusprozeß  vom  J.  58.  Daß  bei  Dio  61,  10 
ziemlich  die  gleichen  Vorwürfe  gegen  Sen.  vorgebracht  werden,  wie 
sie  Suillius  gegen  Sen.  geschleudert  hatte,  bestreitet  Capelle  zu 
Unrecht  (vgl.  bes.  Fr.s  zweite  Schrift  II.  Teil  S.  27  S.) ;  Strohmann 
der  senatorisclien  Feinde  Sen.s  war  Suillius  aber  gewißlich  nicht. 
Etwas  Wertvolles  bietet  Fr.s  Kap.  3  in  der  Besprechung  von  Sen.s 
Augenleiden  auf  Grund  der  mit  medizinischer  Hilfe  vorgenommenen 
Untersuchung  der  Berliner  Sen.- Büste  ira  Alten  Museum  Nr.  391, 
wenn  es  auch  keineswegs  sicher  ist,  daß  const.  14,  4  Sen.  von  con- 
tumeliac  redet,  die  man  ihm  selbst  gemacht.  Möglich  ist,  was  Fr. 
in  Exkurs  I  (S.  112  f.)  zu  erweisen  sucht,  daß  Serenus  im  J.  62 
praefectus  vigilum  geworden  ist,  in  welchem  J.  Sen.  ihm  otio  widmet. 
In  die  Irre  geht  Fr.  wieder  im  II.  Exkurs  (S.  113  ff.),  in  dem  er 
beweisen  will,  im  1.  Kap.  von  trauqu.,  in  dem  Sen.  Serenus  selbst 
redend  einführt,    spreche    dieser    andeutungsweise    von    seiner   eben 


144  Karl  Münscher, 

erfolgten  Ernennung  zum  praefectus  vigilum ,  und  tranqu.  sei  von 
Sen.  bald  nach  otio  dem  Serenus  gewidmet. 

Ist  Fr.  durch  Überspannung  einer  richtigen  Methode  zu  falschen 
Resultaten  gelangt ,  so  hat  H.  Dessau,  Über  die  Abfassungszeit 
einiger  Schriften  Sen.s,  Hermes  LIII  1918,  in  völliger  Verkennung 
der  Art  der  Schriftstellerei  Sen.s ,  die  niemals  den  Zusammenhang 
mit  dem  Leben  verleugnet,  die  durch  nichts  begründete  Vermutung 
aufgestellt,  Sen.  habe  die  drei  Serenus-Dialoge  (II  const.,  IX  tranqu., 
VIII  otio)  erst  nach  Serenus  Tode  geschrieben,  als  Ehrendenkmal 
der  Freundschaft  für  den  Verstorbenen,  ihn  auf  drei  Stufen  seiner 
philosophischen  Entwicklung  dem  Leser  vorführend  (S.  193 — 6). 

Gerckes  Versuch  (295  fF.),  die  Abfassung  von  const.  im  J. 
55/6  mit  vermeintlichen  Anspielungen  auf  Nero  zu  begründen,  ist 
hinfällig.  Schon  0.  Hense  hat  in  seinem  Freiburger  Univ.-Progr. 
Sen.  und  Athenodorus,  1893,  6  flp.  klargelegt,  daß  ein  längerer 
Zeitraum  zwischen  tranqu.  (Ende  der  50  er  Jahre)  und  const.  liegt; 
aber  nicht  in  die  Anfangszeit  der  Regierung  Neros  gehört  coust., 
sondern,  wie  ira  III,  das  const.  voraussetzt,  in  die  Zeit  des  Exils. 
Gercke  hat  ira  III  bald  nach  Polyb.  44  angesetzt,  und  L.  Eicke, 
Veterum  philos.  qualia  fuerint  de  Alexandro  M.  iudicia ,  Diss. 
Rostock  19G9,  21  ff.,  meinte  diesen  Ausatz  stützen  zu  können  durch 
Aufdecken  eines  vermeintlichen  Gegensatzes  in  der  Beurteilung 
Alexanders  in  ira  I/II  und  III,  von  dem  in  Wahrheit  keine  Rede  ist. 
Aber  die  Stimmung  Sen.s  in  ira  III  ist  von  der  niedergedrückt 
demütigen  Bittschrift  an  Polybios  unendlich  weit  verschieden.  Im 
Schlußkapitel  (ira  III  43)  ei'klärt  Sen. ,  der  Tod  wäre  ihm  lieber 
gewesen  als  das  ihm  vom  Kaiser  geschenkte  Leben  in  Verbannung. 
Zweifellos  gehört  also  ira  III  mit  seiner  furchtlos-stolzen  Stimmung 
längere  Zeit  vor  Polyb.,  steht  const.  nahe,  das  ja  schon  vorlag,  als 
Sen.  ira  III  schrieb ,  worin  er  das  Bekenntnis  des  ungebeugten 
Stoikers  ablegt,  daß  keine  iniuria,  keine  contunielia  ihn  trefTen 
könne,  vor  allen  Dingen  keine  seitens  eines  Weibes  (Messalina). 
Drum  erscheint  const.  als  die  erste  Schrift,  die  Sen.,  bald  nachdem 
ihn  die  Verbannung  getroffen  hatte ,  von  Corsica  hat  ausgehen 
lassen  —  zum  gleiclieu  Ansatz  kommt  Waltz,  La  vie  politique  7, 
2  u.  101  ff. ;  Pichon  a.  a.  0.  will  von  Waltz  Aufstellungen  nur 
anerkennen,  daß  tranqu.  später  sei  als  const.  — ,  etwa  um  die 
Jahreswende  41/2;  im  Frühjahr  42  folgte  ira  III,  im  Herbst  die 
consol.  ad  Helviam  matrem  (dial.  XII),  worin  schon  eine 
leise  Sehnsucht  nach  Rom  und  den  dortigen  occiipationes  fühlbar 
wird;  43/4  schreibt  Sen.  dann,  tief  niedergedrückt  durch  die  jähre- 


Bericlit  über  die  Seneca-Liteiatur  aus  dea  Jahren  1915 — 1921.     145 

lange  Verbannung,  Polyb.    Das  sind  die  Ergebnisse  meiner  Behand- 
lung dieser  Schriften  (Sen.s  Werke  10  ff.). 

Ad  Polybium  de  consolatioue  (dial.  XI)  zeigt  Sen. 
in  einem  Zustande  der  Schwäche.  Man  hielt  die  Schrift  seit  Justus 
Lipsius  und  Diderot  für  seiner  unwürdig  und  sprach  sie  ihm  ab. 
Das  tut  heute  wohl  niemand  mehr.  Daß  die  Sprache  der  Schrift 
zu  dem  Verdammungsurteil  keinen  Anlaß  bietet,  ist  erwiesen  worden 
von  Paula  Stephanie,  Zur  Frage  der  Echtheit  des  Dialoges 
Sen.s  ad  Polyb.  de  consol.,  Wiener  Stud.  XXXII  1910,  89—96, 
besonders  aus  dem  mit  den  übrigen  Dialogen  übereinstimmenden 
Gebrauch  der  Pronomina  und  Partikeln,  sowie  von  Ant.  Sieg- 
mund  in  drei  Prgr.  De  Sen.  consolationibus,  Böhm. -Leipa  1912  bis 
14.  Im  1.  Kap.  (Prgr.  I  u.  II)  beleuchtet  S.,  von  Kapitel  zu 
Kapitel  fortschreitend,  die  Gleichheit  der  elocutio,  der  Redewendungen 
und  Gedanken  in  Polyb.  mit  den  übrigen  Sen. -Schriften;  daß  dabei 
auch  manche  Belegstelle  angeführt  wird,  die  wohl  nur  eine  äußer- 
liche Ähnlichkeit  ixnd  Gleichheit  stoischer  Terminologie  zeigt,  aber 
nichts  für  Sen.  besonders  Charakteristisches  bietet,  zeigt  Max.  Adler 
an  einigen  Beispielen  in  seiner  Besprechung  des  ersten  Prgr.s, 
Zeitschr.  f.  d.  österr.  Gymu.  LXV  1914,  658 — 660;  aber  im  ganzen 
tritt  aus  S.s  Sammlungen  der  eine  Autor  Sen.  deutlich  hervor 
(vgl.  die  kurzen  Anzeigen  von  C.  Hosius,  Berl.  philol.  Woch. 
1914,  460  f.  u.  1917,  1133  f.).  In  den  Anmerkungen  hat  S.  auch 
vielfach  zu  textkritischen  Fragen  Stellung  genommen  (Index  der 
kritisch  betrachteten  Stellen  II  20)  und  die  Überlieferung  ver- 
teidigt —  z.  B.  verwirft  er  benef.  VI  31 ,  11  Hermes  Konjektur 
iactantem  (Prgr.  13,  3) ,  otio  5 ,  5  Gertz  mista  (14,1)  —  oder 
eine  Lesart  der  deteriores  befürwortet,  z.  B.  Polyb.  3,  4  perturiare, 
Avas  E  bietet  (Prgr.  I  9,  1).  Auch  nicht  wenige  Stellen  der  Tra- 
gödien wei'den  von  ihm  kritisch  erörtert.  Das  2.  Kap.  (Prgr.  III) 
erbringt  den  Beweis  für  Sen.s  Autorschaft  von  Polyb.  durch"  Ver- 
gleich des  Partikelgebrauchs  mit  den  beiden  anderen  Konsolationen, 
ferner  der  Verwendung  der  Parataxe,  des  Asyndetons,  der  Anapher. 
Die  sachlichen  Beanstandungen  von  Polyb.  hat  Th.  Birt  zerstreut 
in  seinem  Aufsatze  Sen.s  Trostschrift  an  Polybius  und  Bittschrift 
an  Messalina,  Neue  Jbb.  für  d.  klass.  Alt.  XXVII  1911,  596—601 ; 
er  zeigt,  daß  Sen.  sich  mit  seiner  Trostschrift,  die  dem'  durch  eines 
geliebten  Bruders  Tod  bekümmerten ,  geistig  hochstehenden ,  ihm 
befreundeten  Freigelassenen  Polybius  gewidmet  ist,  der  die  Ämter 
a  libellis  und  a  studiis  innegehabt  hat,  keineswegs  weggeworfen 
bat — es  ist  formell  keine  Bittschrift — ;  daß  aber  Sen.  durch  seine 

Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft  Bd.  192  (1922.  II).  10 


146  Kaü  Mün scher. 

öffentliche  Huldigung  für  Kaiser  Claudius,  der  damals  die  Unge- 
heuerlichkeiten seiner  letzten  Regierungsjahre  noch  nicht  begangen 
hatte ,  mit  der  anschließend  ausgesprochenen  Hoffnung  auf  Rück- 
berufuug  (in  Kap.  12  ff,),  für  die  Aufhebung  seiner  Verbanming 
zu  wirken  suchte ,  braucht  man  ihm  so  arg  wirklich  nicht  zu  ver- 
denken. Was  bei  Dio  C.  LXI  10  steht,  daß  Sen.  von  Korsika  iu 
einem  ßißliov  des  Claudius  Freigelassene  und  Messalina  selbst  um- 
schmeichelt und  dies  Schandbuch  später  selbst  ausgetilgt  habe,  das 
sieht  B.  mit  vollem  Recht  als  unmöglich  an  (Einwendungen  dagegen, 
die  nichts  besagen,  bei  Friedrich,  Darmstadt  1913,  34,  1);  es 
ist  entweder  Irrtum  oder  bewußte  Fälschung,  die  da  zugrunde  liegt : 
die  einzige  Grundlage  dafür  war  sicherlich  lediglich  das  Vorhanden- 
sein der  cons.  ad  Polyb. ,  in  deren  verlorenem  Eingange  Messalina 
gewiß  nicht  —  wie  Gercke  noch  annahm  —  erwähnt  gewesen  ist 
(vgl.  Sen.s  Werke  80  f.). 

Ende  48 ,  kurz  vor  seiner  Rückberufung ,  hat  Sen. ,  wie  ich 
glaube  (Sen.s  Werke  32  ff.),  dial.  X  de  brevitate  vitae  ge- 
schrieben. H.  Dessau  hat  allerdings  (a.  a.  0.  188  ff.)  behauptet, 
die  Schrift  sei  'ganz  ohne  Rücksicht  auf  sein  eigenes  Tun  und  Trei- 
ben —  zur  Empfehlung  des  Lebens  in  der  Zurückgezogenheit'  ge- 
schrieben in  viel  späteren  Jahren,  nach  Claudius  Tode,  als  'ein 
schönes  Denkmal  seiner  herzlichen  Beziehungen  zu  Paulinus.'  Frag- 
lich kann  in  Wahrheit  nur  sein  ,  ob  brev.  erst  in  Rom  nach  der 
Rückberufung  oder  vor  dieser  noch  in  Korsika  verfaßt  ist.  Ersteres 
nahm  Gercke  an  (289),  und  Birt  hat  (N.  Jbb.  XXVII  355  f.) 
in  einer  langen  Anmerkung  es  zu  beweisen  versucht,  daß  die  Schrift 
nur  in  Rom  geschrieben  sein  könnte;  der  Beweis  ist  ihm  nicht  ge- 
lungen ,  und  der  ganze  resignierte  Ton  der  Schrift  beweist  das 
Gegenteil.  Jegliche  menschliche  occupatio  erklärt  Sen.  darin  für 
nichtig;  er  scheut  sich  nicht,  die  Torheit  antiquarisch-grammatischer 
Studien  an  einem  besonders  charakteristischen ,  ungenannten  Ver- 
treter, dem  von  F.  Münzer,  Beiträge  zur  Quellenkritik  d.  Natur- 
gesch.  d.  Plinius,  Berlin  1897,  370  ff.  erkannten  Cornelius  Valeria- 
nus,  zu  geißeln,  Studien,  die  doch  des  Kaisers  Claudius  eigenste 
Liebhaberei  waren  —  so  unpolitisch  handeln,  so  resigniert  schreiben 
hat  Sen.  nur  können  in  den  letzten ,  anscheinend  völlig  hoffnungs- 
losen Monaten  seines  Exils,  als  ein  Mann  ohne  Amt  und  ohne  jede 
Aussicht  auf  ein  solches,  nicht  nach  der  Rückberufung  in  Rom,  wo 
neue  occupationes  ihm  winkten. 

In  der  Zeit  des  Suilliusprozesses  vom  J.  58  hat  Sen.  seine 
Selbstverteidigung:    seinem    Bruder    Gallio    in    dial.    VII    de   vita 


Bericht  über  die  Seneca-Litoratur  aus  den  Jahren  1915—1921.     147 

beata  gewidmet;  fraglich  ist  nur,  ob,  wie  Gercke  (306)  an- 
nimmt, das  Schriftchen  noch  vor  dem  Urteil  erschienen  ist  oder, 
wie  ich  glaube  (Sen.s  Werke  58  f.),  nach  beendigtem  Prozeß,  durch 
den  wohl  erst  des  Suillius  Vorwürfe  gegen  Sen.  allgemein  bekannt 
und  Sen.  peinlich  Avurden. 

Noch  zweimal  hat.  Sen.  an  Wendepunkten  seines  Lebens  in 
Zuschriften  an  seinen  jüngeren  Freund  Annaeus  Serenus ,  dem  er 
einst  im  Beginne  seines  Exils  const.  gewidmet  hatte,  der  Welt 
mitgeteilt,  wie  er  sein  weiteres  Leben  zu  gestalten  denkt:  nachdem 
Nero  zum  Muttermörder  geworden  war,  schrieb  Sen.  (59)  de  tran- 
quillitate  animi  (dial.  IX),  nach  dem  endgültigen  Bruche  mit 
Nero  (Herbst  62)  de  otio  (dial.  YIII).  Von  Dessaus  Hypothese 
(s.  oben),  auch  diese  zwei  Serenusschriften  seien  nach  des  Adres- 
saten Tode  abgefaßte  Erinnerungsbilder,  kann  man  von  vornherein 
absehen,  tranqu.  hat  Gercke  (315  ff.)  auf  Grund  falsch  gedeu- 
teter, scheinbarer  Anspielungen  auf  Sen.s  Eücktritt  Herbst  62  bis 
Sommer  63  angesetzt,  Waltz  (La  vie  politique  7  Anm.  2)  hinter 
die  Rückkehr  aus  der  Verbannung  ins  J.  49  verlegt,  was  unmöglich 
richtig  sein  kann,  da  damals  nicht  die  Handlungsfreiheit  Sen.s  be- 
schränkt, sondern  neu  ihm  eröffnet  wurde :  aber  gerade  Einschränkung 
der  Möglichkeit  zu  wirken,  das  ist  die  klar  gegebene  Voraussetzung, 
unter  der  Sen.  tranqu.  schreibt  und  gegen  Athenodorus  Lehre  vom 
vollen  Verzicht  auf  Betätigung  im  Staate  polemisiert  und  erklärt, 
auch  unter  erschwerten  Umständen  noch  weiter  wirken  zu  wollen, 
soweit  es  möglich,  und  noch  fehlt  nicht  ganz  die  Möglichkeit  zur  actio 
honesta:  das  weist  m.  E.  deutlich  auf  die  Zeit  der  beginnenden 
Entfremdung  von  Nero,  nach  Agrippinas  Tode,  in  welche  aiich 
Hense  (a.  a.  0.  18)  tranqu.  verlegt  hat  (Sen.s  Werke  59 ff.).  Und 
als  dann  der  Bruch  mit  Nero  wirklich  erfolgt  war ,  schrieb  Sen. 
wieder  an  Serenus  de  otio,  sein  Bekenntnis  zur  vita  contemplativa 
enthaltend,  aber  auch  dies  Leben  der  Muße  denkt  er  auszufüllen 
mit  Arbeit  seiner  Feder  für  Mit-  und  Nachwelt.  Sicher  ist  diese 
programmatische  Erklärung  nicht  von  Sen.  erlassen,  um  seinen  Rück- 
tritt im  voraus  (61  bis  Frühjahr  62)  vorzubereiten  (so  Waltz  a. 
a.  0.),  aber  wohl  auch  nicht  Jahr  und  Tag  nach  Beginn  des  otium 
seiner  letzten  Lebensjahre  (Gercke  317  f.  verlegte  de  otio  ins 
J.  63),  sondern  wahrscheinlich  bald  nach  dem  entscheidenden 
Schritte  der  vollen  Aufgabe  aller  Betätigung  im  Staatsleben ,  also 
in  der  zweiten  Hälfte  des  Jahres  62  selbst  (Sen.s  Werke  69  ff.). 

Und  aus  den  letzten  Lebensjahren  stammt  endlich  dial.  I  De 
Providentia.     Auch  nach  Bourgerys  Klauselstatistik    (s.    oben 

10* 


148  Karl  Münscher. 

S.  114)  gehört  prov.  zu  den  spätesten  Werken  neben  den  epist.  und 
nat.  qu.  Waltz  Versuch  (La  vie  politique  7,  2  u.  101  ff.),  prov. 
derselben  Zeit  wie  const.,  d.  h.  den  ersten  Monaten  von  Sen.s  Ver- 
bannung, zuzuweisen,  ist  grundlos  (s.  Pichon  213  ff.).  Die  An- 
deutung im  Eingang  der  Schrift,  daß  sie  eigentlich  eine  particula 
des  großen  Werkes  der  moralis  phüosopMa  sei,  von  der  auch  epist. 
106  ein  Ableger  ist,  macht  den  Ansatz  auf  die  Jahre  03/64  völlig 
sicher,  und  die  Beziehung  von  prov.  zu  epist.  74,  10,  vom  Ende 
Mai  64 ,  wodurch  Lucilius  zu  der  in  prov,  behandelten  Frage  an- 
geregt wurde ,  weist  auch  diesem  letzten  der  Dialoge  seinen  Platz 
im  J.  64  an  (Sen.s  Werke  75  f.). 

Endlich  noch  ein  Wort  über  die  Sammlung  der  Dialogi 
selbst.  0.  Roß  b  ach  hatte  seinerzeit  (Hermes  XVII  1882,  365  ff.) 
eine  wahrscheinlich  von  Sen.  selbst  besorgte  Gesamtausgabe  seiner 
philosophischen  Schriften  unter  dem  Titel  Dialogi  angenommen. 
Noch  Dessau  (a.  a.  0.  192  Anm.  3)  glaubt,  Titel  und  Sammlung 
der  Dialogi  gingen  auf  Sen.  selbst  zurück,  wie  er  denn  meint,  brev. 
sei  von  Sen.  von  vornherein  zur  Aufnahme  in  diese  Dialogsammlung 
geschrieben  und  bestimmt.  Diese  Annahme  ist  aber  sehr  unwahr- 
scheinlich. Quintilian  benennt  ganz  allgemein  mit  der  Bezeichnung 
dialogi  Sen.s  philos.  Schriftstellerei  (inst.  X  1,  129),  auch  de  super- 
stitione  wird  bei  Diomedes  (G.  L.  I  379,  19)  als  dialogus  an- 
geführt. Die  Bezeichnung  mag  durch  eine  Sammlung  der  kleinen 
Schriften  nach  Sen.s  Tode  aufgekommen  sein.  Daß  nicht  Sen.  selbst 
dieser  Sammler  war,  steht  wohl  sicher.  Er  würde  in  eine  solche 
Sammlung  seiner  eigenen  dialogi  schwerlich  die  cons.  ad  Polyb. 
aufgenommen  haben,  deren  Vorhandensein  in  den  Händen  des  Pu- 
blikums ihm  später  gewiß  nicht  angenehm  war:  daß  diese  uns  er- 
halten ist,  ist  der  beste  Beweis  dafür,  daß  ein  anderer,  nicht  Sen. 
selbst,  es  war,  der  die  Dialogsammlung  ohne  jede  ersichtliche  Ord-  || 
nung,  ohne  Kenntnis  oder  Rücksiclit  auf  die  zeitliche  Entstehung 
der  einzelnen  Schriften  zusammengestellt  hat  (vgl.  Sen.s  Werke  31 
u.  39  f.).  ^ 

2.    Apokolokyn tosis. 

Unbekannt  ist  mir  die  Ausgabe  *  Sen.  Apocol.  with  an  English 
traduction  by  W.  H.  D.  Rouse,  New  York  1913,  verbunden  mit 
einer  Ausgabe  des  Petronius  by  Mich.  Heseltine. 

In  der  5.  Aufl.  des  kleinen  Buecheler sehen  Petron  (Berlin 
1912)  hat  W.  Heraeus  auch  die  Apokol.  (S.  251—263)  wieder 
mit   vorgelegt,    ohne    am    Texte    etwas  abzuändern;    vielleicht  geht  ( 

1 


Bericht  über  die  Seneca-Literatur  aus  den  Jahren  1915—1921.     149 

diese  respektvolle  Konservierung  des  durch  Buechelers  Autorität 
Festgelegten  doch  etwas  zu  weit.  Die  kritischen  Beiträge ,  welche 
neuerdings  veröfiFentlicht  worden  sind ,  haben  allerdings  kaum  viel 
Förderliches  geliefert.     S,  Nachträge. 

Vinc.  Ussani,  Sul  ludus  de  morte  Claudi ,  Riv.  di  filol. 
XL!  1913,  74 — 80,  schlägt  9,  1  für  nee  dispiitare  vor  nee  dis  fas  esse, 
zweifellos  falsch ;  denn  es  muß  eine  für  den  römischen  Senat  gel- 
tende Regel  sein ,  die  erwähnt  wird.  Die  Erwähnung  der  di  ist 
also  nicht  am  Platze.  B.-H.  schieben  senatoribus  non  licere  vor 
sententmm  dicere  ein;  A.  P.  Ball  (in  seiner  erkl.  Ausg.,  New 
York  1902)  läßt  davon  senatoribus  als  l\berflüssig  mit  Recht  fort 
und  stellt  non  Heere  unmittelbar  vor  nee  disputare.  Aber  schwerlich 
war  das  disputare  in  Anwesenheit  von  privati  in  der  Kurie  verpönt 
—  nur  die  Götter  haben  unerhörterweise ,  statt  pflichtgemäß  scn- 
tentias  dieere,  geschwatzt,  was  Jupiter  als  mera  mapalia  facere  rügt,  — 
sondern  natürlich  nur  das  scntentiam  dicere.  So  wird  doch  in  dem 
nee  disputare  die  Korruptel  stecken  und  mit  Haupt  durch  nefas  pu- 
iari  zu  beheben  sein  (dafür  auch  Hartmanu  —  s.  unten  S.  151  — , 
303,  1).  11,  2  will  U.  die  sinnlosen  Worte  tristionias  assarionem 
umwandeln  in  testimoniis  assariorum ,  aber  es  ist  viel  wahrschein- 
licher, daß  darin  ein  Epitheton  zu  den  vorher  genannten  drei  Per- 
sonen steckt,  was  Buecheler  mit  tris  homines  assarios  gewinnen 
wollte ,  Dieterich  unter  Fortlassen  von  tristionias  als  Dittographie 
(nach  Scriboniam)  durch  assarios  quidem^  Heraeus  durch  assarios 
omnes  —  Sicherheit  ist  in  solchem  Falle  nicht  zu  erreichen.  Ganz 
unglücklich  ist  auch  U.s  Versuch  13,  4  einzurenken:  quefn  Claudius 
decoris  causa  miiiorem  (st.  minorem)  fecerat,  cum  (st.  ad)  Messalina[m]  5 
die  Stelle  ist  in  Ordnung,  so  wie  zuerst  Ball  sie  gegeben  hat, 
daß  ad  Messalinam  zum  nächsten  Satze  gehört  mit  dem  Prädikate 
convolant,  der  unterbrochen  wird  durch  die  Parenthese  cito  rumor 
percrcbuit  Claudium  venisse.  Nur  in  einem  Falle  dürfte  U.  vielleicht 
zu  folgen  sein,  wenn  er  9,  2  statt  der  in  den  Ausgaben  stehenden 
Lesart  liortio  quantumvis  vafer  für  Beibehalten  des  Textes  des  San- 
gallensis  eintritt,  quantum  via  sua  fcrt,  so  daß  es  vom  Vater  Jauus 
im  ganzen  heißt:  Jiomo  quantum  via  sua  fert  qui  semper  videt  afia 
n^düoio  y.al  onioGio  \  an  der  Stellung  des  qui  darf  man  sich  wohl 
nicht  stoßen. 

Auch  zu  dem  mit  einer  ganzen  Literatur  überschwemmten 
Janusworte  9 ,  3  iam  famam  mimum  fecistis  macht  U.  einen  un- 
glaublichen Vorschlag:  0-ac/.ia  mimum.  Eine  kleine  Geschichte  der 
Behandlung    dieser  Stelle    hat  J.  H.  Schmalz    gegeben   in   seiner 


150  ^^^^  Münscher. 

Anzeige  des  I.  Bandes  der  Bueclielerscliea  Kleinen  Schriften, 
Berl.  philol.  Woch.  1916,  14  f.  Man  darf  wohl  sagen,  was  Bue- 
cheler  1864  in  der  Symbola  philol.  Bonnensium  über  die  Sen.-  und 
Cicerostelle  (Att.  I  16,  13)  gesagt  hat  (Kl.  Sehr.  I  465  f.),  an  denen 
allein  die  Redensart  fäbam  (so  richtiger  bei  Cic.  überliefert)  mimum 
vorkommt ,  dürfte  noch  immer  das  Glaubwürdigste  sein  (vgl.  0. 
Kibbeck,  Gesch.  d.  röm.  Dichtung  I  226).  Demgegenüber  sind 
andere  Konjekturen  abzulehnen:  0.  Roßbach  schlug  vor  fahulam 
mimum  (Berl.  philol.  Woch.  1913,  1310  f.,  dagegen  A.  M.  Harmon, 
ebd.  1914,  702  f.,  ohne  Roßbach  (ebd.  703  f.)  zu  überzeugen. 
In  etwas  anderer  Weise  erklärte  Th.  Birt,  1915,  669—672,  fada 
mimus  (zurückgreifend  auf  das,  was  er  in  A.  Dieterichs  Pulci- 
nella,  Leipzig  1897,  277  f.,  darüber  gesagt  hatte).  Gegen  F.  Krohu, 
der  1916,  1015,  den  kühnen  Vorschlag  machte,  an  den  beiden  frag- 
lichen Stellen  auf  Grund  von  Vitr.  VII  9,  2  zu  schreiben:  Fabarii 
minium,  wandte  sich  mit  überragender  Gelehrsamkeit  F.  Münz  er, 
ebd.  1316—20. 

Außer  faba  mimus  behandelt  0.  Roßbach,  a.  a.  0.  1309  f., 
noch  ein  paar  Stellen  der  Apokol.  2,  3  hatte  schon  Ball  aus  dem 
überlieferten  adquiesciint  (dafür  B.-H.  inquies,  cum)  am  Schluß  sunt 
gefunden,  wodvxrch  es  möglich  wird,  das  von  Buecheler  gestrichene 
iit  des  nächsten  Satzes  zu  halteu :  sunt  omncs  iJoetae  non  contenti 
ortus  et  occasus  describere,  ut  etiam  medium  diem  inquietent.  Roßbach 
schlägt  nun  sehr  ansprechend  vor :  atqui  sunt,  inqides  fällt  dann 
fort;  aber  inquis  oder  inquit  fehlt,  wie  R.  bemerkt,  auch  sonst  öfter 
bei  Sen.  (epist.  25,  7.  30,  14.  33,  9).  6,  1  erläutert  R.  den  Witz 
vom  Fieber  des  Kaisers  Claudius  richtiger  als  Buecheler,  der  glaubte, 
fehris  sei  als  offizielle  Todesursache  angegeben  worden,  mit  der  An- 
nahme, Claudius  habe  dauernd  am  Fieber  gelitten.  7,  5  will  R. 
lesen  tu  scis ,  quantum  illlc  miseriarum  tecuni  (Claudius  spricht  zu 
Hercules)  tulerim,  cum  causidicos  audirem  diem  et  noctem.  B.-H. 
schreiben  nur  tulerim.  Aber  ist  nicht  das  überlieferte  contulerim 
richtig?  'du  weißt,  wie  viel  Elend  ich  (mir)  dort  zusammengeschleppt 
habe,  als  ich  Prozeßredner  anhörte  Tag  und  Nacht'.  Die  Lücke 
zwischen  Kap.  7  u.  8  sucht  R.  nach  Umfang  und  Inhalt  zu  be- 
stimmen. Endlich  meint  er,  8,  2  stecke  in  ora  per,  wofür  die  Aus- 
gaben praeterea  lesen ,  oro  (was  soll  das  hier  bedeuten '?)  p(atres) 
c{onscripti).  Das  Richtige  hat  wohl  Heraeus  im  Apparat  vorgeschlagen 
mit  einfachem  propter-^  sein  Bedenken,  daß  das  eine  serior  locutio, 
ist  hinfällig;  vgl,  die  oben  (S.  126)  aus  Sen.  angeführten  Beispiele 
für    fehlendes  Demonstrativum   zwischen  Präposition  und  Relativum. 


Bericht  über  die  Seneca-Literatur  aus  den  Jahren  1915 — 1921.     151 

Noch  minderen  Ertrag  für  die  Textkritik  liefert  die  Arbeit  J. 
J.  Hartmanns,  De  ludo  de  morte  Claudii,  Mnemos.  XLIV  1916, 
295 — 314.  Einleitend  sucht  H.  es  begreiflich  zu  machen,  wie  Sen. 
trotz  Polyb.  später  die  Satire  auf  den  toten  Claudius  schreiben 
konnte ,  die ,  wie  H.  richtig  hervorhebt ,  Tacitus  und  Quiutiliau 
wohl  nicht  gekannt  haben.  Des  weiteren  bestreitet  H.,  daß  die  er- 
haltene Satire  die  von  Dio  erwähnte  a7iOA.o}.o%vvt;o}aLQ  sein  könnte; 
den  Witz  vom  Kürbis ,  in  den  Claudius  verwandelt  sei,  habe  Sen. 
wohl  gelegentlich  im  Gespräche  gemacht  —  aber  warum  denn  nicht 
auch  am  Kopfe  seines  Pasquills ,  wenn  dieses  auch  sonst  auf  Aus- 
beutung dieses  Witzes  verzichtet?  Erörterungen  über  die  Titelfrage 
scheinen  mir  nach  Buechelers  klaren  Darlegungen  (Kl.  Sehr.  I 
439  ff.)  überflüssig  (vgl.  Sen.s  Werke  49,  1).  Nachdem  H.  noch 
energisch  sich  zur  Autorschaft  Sen.s  für  die  Apokol.  bekannt  hat, 
deren  lepor  und  venustas  er  durch  Vortrag  einer  Übersetzung  vor 
gebildetem  Hörerkreise  genugsam  erprobt  habe,  geht  er  an  die  Be- 
handlung einzelner  Stellen  heran.  Ein  Hauptheilmittel,  das  H.  zur 
Verschönerung  des  Textes  anzuwenden  beliebt,  ist  das  Streichen 
von  Worten,  die  ihm  überflüssig  dünken.  So  streicht  er  ohne  allen 
Grund  1,  3  quod  viderit.  3,  4  uno  anno.  4,  2  liaec  Apollo.  5,  3 
den  Satz  iit  qui  etiam  non  omnia  monstra  timuerit.  11,  6  ad  inferos, 
a  caelo.  13,  3  facile  descenditur.  14,  3  quid  illum  pati  operieret. 
Und  mit  den  übrigen  Vorschlägen  H.s  steht  es  nicht  viel  besser. 
1,  1  will  er  die  in  jüngeren  Haudschrn.  interpolierte  Kousulangabe 
Asinio  Marcello  Acilio  Äviola  consulibus  in  den  Text  setzen  —  diese 
Angabe  war  beim  Erscheinen  der  Satire  wahrlich  nicht  nötig!  1,  1 
macht  er  aus  dem  markanten  Sätzchen  haec  iia  vera  ein  kümmer- 
liches haec,  vero.  3,  4  ist  Wehles  ne  (st.  nec)^  das  H.  billigt, 
keineswegs  eine  Verbesserung.  Unnötig  4,  2  hibet  homines  (st.  iu- 
bent  omnes),  desgl.  10,  1  suo  (st.  suae)-^  10,  3  excidit  (st.  adsidit): 
14,  3  succederetur  (st.  siiccurreretur).  In  einigen  Fällen  tritt  H., 
wohl  mit  Recht,  für  Aufnahme  Buechelerscher  Konjekturen  in  den 
Text  ein,  die  bisher  im  Apparat  stehen,  so  11,  2  für  ires  homines 
assarios  (s.  oben);  12,  1  Mercuriwn  (st.  des  Nominativs);  12,  3  V.  11 
vlda  (st.  scuta)\  14,  2  {Claudius)  advocatum  non  invenit.  Von  H.s 
eigenen  Versuchen  erscheint  mir  beachtenswert  nur  folgendes :  3,  1 
ist  die  Versetzung  von  tani  diu  in  die  vorhergehende  Frage  quid... 
hominem  miserum  {(am  diu)  torqueri  pateris  recht  glaublich,  da  die 
Worte  an  der  überlieferten  Stelle  kaum  verständlich  sind :  nee  un- 
quam  [tarn  diu]  cruciatus  cesset?  In  dem  heftigen  Disput  der  Götter 
8,    3    stellt   H.    (S.    302    m.    Anm.)    als    eines  Gottes  Worte    her: 


152  Karl  Mün scher. 

stultc,  stude.  Äihenis  dimidium  licet,  Älexandriae  totum,  quia  Romae 
inquit  (st.  inquis)  mures  molas  lingunt.  10,  4  plädiert  H.  gut  für 
Beibehalten  des  Graece.  Ob  man  11,  1  das  von  Buecheler  vor- 
geschlagene nescii  mit  H.  als  notwendig  ansehen  muß,  erscheint  mir 
nicht  sicher :  Claudius,  der  volle  Tor,  sagt  einfach :  nescio,  ich  weiß 
nichts.    Auch  11,  4  ist  H.s  diirius  für  clarius  vielleicht  richtig. 

Als  Editor  der  Apokol.  würde  ich  mich  an  einigen  Stellen  der 
von  Ball  in  der  obengenannten  Ausgabe  gegebenen  Textgestaltung 
anschließen,  so  6,  1  tu  aiitem  .  . .  Lugudunenses  scire  debes  {et)  (in 
jüngeren  Handschrn.)  niuUa  milia  inter  Xanthum  et  lihodanum  Interesse, 
wo  bei  B.-H.  Lugudunenses  gestrichen  wird.  9,  1  et  videhatur 
Claudius  sententiam  vincere  ist  kein  Grund  zur  Streichung  von  sen- 
tentiam,  15,  1  keiner,  fusuro  für  lusuro  einzusetzen.  Balls  Konjektur 
spem  (14,  4)  st.  speciem  verdient  mindestens  Aufnahme  in  den  Appa- 
rat, und  sein  Text  15,  2  qui  illum  viderant  ah  ipso  (st.  iUo)  vapulan- 
tem  ist  sicherlich  dem  bei  B.-H.  vorzuziehen,  wo  iUo ,  das  wenig 
passend ,  gehalten  und  illum  eingeklammert  ist.  Auch  14,  3  hat 
Ball  m.  E.  in  dem  korrupten  sium  diu,  woraus  Buecheler  Sisyphum 
(satis')  diu  machte,  mit  nimiwn  diu  das  Richtige  gefunden  und  den 
überlieferten  Plural  fecissent  mit  Recht  beibehalten;  aber  der  Nach- 
satz Tantalum  siti  pcriturum  paßt  unbedingt  nicht  dazu ;  überdies 
hat  er  noch  seinen  besonderen  Nachsatz  nisi  Uli  succurreretur  neben 
sich.  Und  laturam  ist  gewiß  nicht  im  allgemeinen  Sinne  von  'enduring' 
gebraucht,  sondern  laturam  facere  heißt,  was  es  immer  heißt,  eine  Last 
schleppen,  und  Subjekt  ist  natürlich  nicht  Sisyphus  oder  Tantalus, 
sondern  die  Danaides,  die  in  dem  hinter  fecissent  offenbar  aus- 
gefallenen Nachsatze  genannt  waren.  Und  weil  ich  nun  einmal 
eine  eigene  Vermutung  vorgetragen  habe,  seien  noch  zwei,  die  sich 
mir  bei  seminaristischer  Behandlung  der  Apokol.  ergeben  haben,  an- 
gefügt. 9,  2  liest  man  mit  Buecheler :  is  (Janus)  mtdta  diserte,  quod 
in  foro  vivebat,  dixit;  überliefert  ist  vioat,  und  ist  das  nicht  einzig 
richtig?  Gott  Janus  lebt  doch  tatsächlich  noch  am  Forum,  an  dem 
sein  sog.  Temj^cl  steht,  wie  Sen.  vorher  auch  im  Präsens  den  Witz 
macht,  Janus  quantum  via  sua  fcrt  (s.  oben)  semper  videt  a(.ia  ttqoogio 
Kai  07tioo(j}'^  der  Konjunktiv  vivat  gibt  die  Begründung  als  sub- 
jektive Auffassung  des  Schriftstellers.  Und  8 ,  3  sagt  einer  der 
zornigen  Götter  über  Claudius:  hie  nöbis  curva  corriget?  quid  in  cnhi- 
culo  suo  faciat  nescit,  et  iam  eaeli  scrutatur  piagas?  Au  sich  sehr 
witzig ,  daß  der  Kaiser  nicht  weiß ,  was  er  in  seinem  ehelichen 
Schlafgemache  soll.  Aber  geschlechtliche  Impotenz  konnte  ihm,  dem 
ewig    sinnlichen ,    der    ohne  Frau   nicht  leben  konnte ,    wohl  keiner 


Bericht  über  die  Seneca-Literatur  aus  den  Jahren  1915 — 1921.     153 

auch  im  Scherz  nicht,  nachsagen.  Aber  er  wußte  bis  zum  Schluß 
nichts  von  Messaliuas  wüstem  Treiben ;  er  wußte  —  Tacitus  sagt 
es  uns  audrücklich  ann.  XI  27  —  als  einziger  nichts  von  der  Hoch- 
zeitsfeier, die  sein  Weib  Messalina  in  breitester  Öffentlichkeit  mit 
Silius  beging,  und  die  mit  oscula ,  comjjlcxvs  und  der  nox  acta  li- 
centia  coniugaU  schloß.  Also  nicht  quid  in  cubiculo  suo  faciat  wußte 
Claudius  nicht,  sondern  quid  in  cubiado  suo  fiat  nescit.  Das  faciat 
ist  dann  von  einem  Leser  hineinkorrigiert,  der  fiat  nicht  verstand 
und  dadurch  den  anderen,  zu  Claudius  Wesen  unpassenden  Witz 
hineinbrachte. 

M.  0.  B.  Caspari,  On  the  Apotheosis  of  Claudius,  eh.  6, 
11.  5/6,  Class.  Review  XXV  1911,  11  f.  tritt  für  die  meines  Er- 
achtens  richtige  Erklärung  des  Wortes  der  Febris  über  Claudius^ 
das  sie  zu  Hercules  spricht,  ein :  Lvgvduni  natus  est,  Marci  muni- 
cipem  vides,  Lyon  war  ein  von  Marens  Antonius  während  seiner  im 
Jahre  43  beginnenden  2 — 3  jährigen  Verwaltung  Galliens  geschaflfenes 
municipium,  und  so  ist  Claudius  ein  Bürger  'seines',  des  Hercules, 
Marcus ;  denn  M.  Antonius  sah  wie  Herakles  aus ;  die  Antouier  galten 
von  Alters  her  als  'Herakleidai'  (Plut.  Anton.  4),  und  M.  Antons 
Verhältnis  zu  Kleopatra  verglich  man  mit  dem  des  Herakles  zu 
Omphale  (Plut.  Dem.  et  Anton,  comp.  3). 

In  dem  Streite  zwischen  Birt  und  Norden  um  die  Herleitung- 
des  Namens  'Germanen'  spielt  auch  der  Witz  der  Apocol.  6,  1 
eine  Rolle,  daß  Claudius,  weil  aus  Lugudunum  stammend,  als  Galhfs 
germanus  bezeichnet  wird.  Doch  ist  es,  was  das  Verständnis  der 
Stelle  angeht,  ein  Streit  um  Kaisers  Bart :  beide  Forscher  sind  einig 
(E.  Norden,  Korrespondenzblatt  der  Röm.-German.  Kommission  d. 
Kaiser!.  Archäol.  Inst.s  1917,  164;  Th.  Birt,  Berl.  philol.  Woch. 
1920,  664  m.  Anm.  2),  daß  es  ein  Witz  Sen.s  ist,  den  Kaiser  aus 
Lyon  als  'echten  Gallier'  zu  bezeichnen ,  natürlich  weil  er  ein 
Zerstörer  Roms  gleich  Brennus  —  für  die  Ableitung  des  Germanen- 
namens hat  die  Stelle  natürlich  gar  keine  Bedeutung. 

*The  classical  papers  of  M  0  r  t.  L  a  m  s  o  n  E  a  r  1  e ,  New  York 
1912;  darin  ist  außer  vielen  anderen  griech.  und  lat.  Autoren  auch 
Sen.s  Apocol.  vertreten. 

Nicht  mit  Textkritik  befassen  sich  die  beiden  folgenden  Auf- 
sätze: Jos.  Mesk,  Sen.s  Apocol.  und  Hercules  furens,  Philol.  LXXI 
1912,  361 — 375.  Was  M.  an  Übereinstimmungen  der  Apocol.  mit 
dem  Herc.  f.  aus  Kap.  5 — 7  zusammenstellt,  ist  kaum  so  klar 
auf  der  Hand  liegend,  daß  es  nicht  aus  der  Verwandtschaft  des 
Stoflfes  —  in  jenen  Kapiteln   der  Apocol.  fungiert  Hercules  als  der 


154  Karl  Müiischer. 

polternde  Diener  Jupiters,  der  Claudius  au  der  Himmelstür  emp- 
fängt —  erklärbar  wäre ,  wenn  auch  mancher  wörtliche  Anklang 
sich  findet.  Wirklich  beabsichtigte  Anlehnungen  zeigt  aber  die  der 
sonstigen  Vorliebe  Sen.s  für  Anapäste  entsprechend  gebaute  uenia 
(Hartman  305  führte  sie  auch  unter  den  echten  Sen. -Zügen  der 
Apocol.  auf)  in  12,  3,  Anlehnungen  an  Troades  130  f.  und  besonders 
an  das  Klagelied  des  Chores  im  Herc.  f.  1054  flP.;  nur  ist,  wie  ich 
gezeigt  habe  (Sen.s  Werke  98  ff.),  das  Verhältnis  gerade  umgekehrt, 
als  M.  annahm :  Die  uenia  ist  eine  Parodie  der  Tragödienstellen 
und  dient  deshalb  mit  zur  chronologischen  Fixierung  jener  beiden 
Dramen  auf  die  Jahre  vor  54 ,  in  welchem  Jahre  sicherlich  noch 
die  Apocol.  während  der  ersten  Wochen  der  Regierung  Neros  in  der 
römischen  Hofgesellschaft  verbreitet  worden  ist. 

Diese  frühe  Entstehungszeit  der  Apocol.  bestreitet  allerdings 
E.  Bickel  in  seinem  Aufsatze:  Der  Schluß  der  Apokol.,  Philol. 
LXXVII  1921,  219—227;  doch  ist  seine  Begründung,  wie  ich  Sen.s 
Werke  51,  Anm.  1  kurz  erläutert  habe,  nicht  stichhaltig.  Fein- 
sinnig macht  aber  B,  den  immerhin  seltsamen  Schluß  der  Satire  ver- 
ständlich. Da  erhält  C.  Caesar  den  Claudius  zugesprochen,  nachdem 
er  mit  Zeugen  bewiesen  hat,  daß  er  ihn  früher  verprügelt  hat,  und 
er  schenkt  ihn  dann  an  Aeacus  weiter ;  der  übergibt  ihn  seinem  Frei- 
gelassenen Menander,  damit  er  als  Sklave  a  cognilionibus  fürder 
amtiere.  Von  der  possenhaften  Art,  wie  Claudius  als  Richter  auf- 
trat und  verhöhnt  wurde,  erzählt  Sueton.  Claud.  13  Geschichten 
genug.  Auch  über  Sen.  hatte  Claudius  'als  elender  Spielball  frei- 
gelassener Sklaven  über  ihn  den  Senator  entschieden',  und  die 
Stunde  der  Verurteilung,  so  sagt  B.,  hat  Sen.  gerächt,  wenn  der 
Kaiser  als  Sklave  a  cognitionihus  für  die  Nachwelt  weiterlebt. 

3.    De  dementia.     Debeneficiis. 

C.  Hos  ins  hat  1914  beide  Werke  in  zweiter  Auflage  in  der 
Bibl.  Teubneriuna  ediert,  nach  den  Handschriften  benef.  vor  dem. 
stellend.  Auf  0.  Roßbachs  Mahnung  hat  H.  außer  den  in  der 
ersten  Auflage  benutzten  Handschriften  einen  Vratislaviensis  heran- 
gezogen, der,  obwohl  erst  dem  XIV.  Jahrhundert  entstammend  (der 
berühmte  Laureshameusis  S.  Nazarii  N  ist  eine  Handschrift  des 
VIII.  oder  IX.  Jahrhunderts),  doch  nicht  ganz  selten  allein  die 
richtige  Lesart  erhalten  hat  (H.  praef.  p.  XX),  und  K.  Busche 
plädiert  im  Eingang  seines  Aufsatzes  zu  Sen.s  Büchern  de  benef. 
und  de  dem.,  Rhein.  Mus.  LXXII  1917/18,  464—472  an  noch  einigen 


Bericht  über  die  Seneca-Literatur  aus  den  Jahren  1915 — 1921.     I55 

Stellen  für  die  Aufnahme  der  Lesart  V  (benef.  III  4,  1  Perfekt 
percepimus.  VI  29,  2  deliberarc  st.  des  Passivs.  VII  26,  4  tran- 
süientem  loquar  mit  guter  doppelkretischer  Klausel).  Noch  eine  gute 
und  wichtige  Vorarbeit  konnte  H.  benutzen :  die  von  ihm  selbst 
angeregte  Greifswalder  Diss.  Wilh.  Kiekebusch ,  De  Pinciani  iu 
Sen.  phil.  de  benef.  et  de  dem.  11.  castigationibus  (1912).  Des  Spaniers 
Fernandus  Pincianus ,  Professors  der  griech.  und  lat.  Sprache  in 
Salamauca ,  in  omnia  Sen.  scripta  ex  vetustissimorum  exemplarium 
collatioue  castigationes  utilissimae  sind  1536  bei  Jo.  Augustinus  de 
Burgo  in  Venedig  gedruckt  worden ,  eine  überaus  verdienstvolle 
Arbeit;  denn  Pincianus  hat  tatsächlich  15  Sen.-Handschriften  ver- 
glichen bzw.  eingesehen ,  deren  keine  bisher  wiedergefunden  ist. 
K.  untersucht  eingehend  den  Wert  dieser  castigationes  (er  benutzte 
das  Exemplar  der  Göttinger  Bibliothek)  zu  benef.  (im  ganzen  709) 
und  dem. ;  er  scheidet  sie  in  drei  Gruppen :  die  erste  umfaßt  die 
Lesarten,  die  Pincianus  ausdrücklich  aus  namentlich  genannten  Hand- 
schriften anführt  (darunter  nennt  er  ein  exemplar  eines  Franciscus 
in  Salamauca  antiquissimum  et  emendatissimum  ac  plane  venerandae 
fidei ;  ein  anderes  bezeichnet  er  als  correctissimum),  die  zweite  die- 
jenigen, die  Pincianus  aus  nicht  näher  bezeichneten  Handschriften 
anführt  (sie  stehen  zum  Teil  den  Lesarten  des  G[uelferbytanus]  und 
P[arisinus]  nahe),  die  dritte  Pincianus  eigene  Besscrungsversuche, 
bei  denen  dieser  teilweise  vielleicht  auch  handschriftliche  Lesarten, 
ohne  das  ausdrücklich  zu  sagen,  benutzt  hat.  Gruppe  I  umfaßt  in 
benef.  74,  II  175,  III  die  übrigen  460  castigationes,  dazu  27  der 
Gruppe  II  zu  dem.  Am  Schluß  gibt  K.  ein  Verzeichnis  sämtlicher 
Pincianuslesungen ,  der  handschriftlichen  (4  4  ff.)  wie  der  Konjek- 
turen (57  ff.).  —  Sehr  sorgfältig  ist  bei  Hosius  die  Sammlung  (praef. 
p.  XXIV  sqq.)  und  Verwertung  der  neueren  textkritischen  Arbeiten, 
und  so  erscheint  seine  zweite  Ausgabe  zweifellos  als  fortgeschritten 
gegenüber  der  ersten ;  aber  als  abschließend  wird  man  sie  nicht  be- 
zeichnen dürfen.  0.  Eoßbach  hat  durchaus  recht  (ßez.  Berl.  philol. 
Woch.  1915,  678 — 682),  daß  es  keineswegs  aussichtslos  erscheint, 
die  kritische  Grundlage  des  Textes  durch  Untersuchung  und  Auf- 
findung weiterer  Handschriften  zu  verbreitern  und  zu  verbessern. 
Denn  daß  der  Nazarianus  nicht,  wie  Gertz  einst  wollte  (Ausgabe 
Berlin  1876)  und  Jak.  Bück,  Sen.  de  benef.  und  de  dem.  in 
der  Überlieferung,  Diss.  Tübingen  1908,  noch  einmal  zu  beweisen 
versuchte,  die  einzige  Textquelle  ist,  sondern  eine  zweite  selbständige 
Handschriftenklasse  danebensteht ,  dürfte  sicher  sein ,  und  es  liegt 
durchaus   im    Bereiche    der  Möglichkeit,    in  Spanien   eine   der   von 


j^56  ^'^^■'^  Münscher. 

Pincianus  benutzten  Handschriften  mit  ihrer  selbständigen  Über- 
lieferung aufzufinden.  Nach  H.  Geist  (s.  unten  S.  161)  8  enthalten 
zwei  Escurialenses  neben  den  nat.  qu.  der  eine  alia  scripta  Annaeana, 
der  andere  benef.  —  Als  eine  Notwendigkeit  erscheint  auch  die 
sorgfältige  Nachprüfung  der  Pincianus-castigationes  zu  den  übrigen 
Sen. -Schriften,  zu  denen  auch  die  damals  noch  von  den  Werken 
des  Sohnes  nicht  gesonderten  Deklamationen  des  Vaters  Sen.  ge- 
hören. 

Textkritische  Beiträge  zu  dem.  und  benef.  haben  meines  Wissens 
nur  Rossbaoh  u^^d  Busche  an  den  genannten  Stelleu  gegeben.  Rossbach 
tritt  mehrfach  für  Beibehalten  handschriftlicher  Lesarten  gegen 
Änderungen,  die  Hosius  aufnimmt,  ein  •■,  so  will  er  benef.  III  23,  5 
den  sonst  als  Vettius  bekannten  praetor  Marsorum  mit  dem  in  den 
Sen. -Handschriften  stehenden  Namen  Vettenus  im  Texte  belassen 
wegen  des  Schwankens  der  Formen  der  lat.  Eigennamen;  wahr- 
scheinlich dünkt  mir  das  in  diesem  Falle  nicht,  ebensowenig,  daß 
V  24,  2  3Iilitio  ein  Soldatenname  sein  soll.  An  das  archaistische 
pos  tot  V  16,  6,  das  R.  empfiehlt,  wird  man  auch  schwerlich  glauben. 
IV  22 ,  3  will  R.  das  via  hinter  ad'itur  fortlassen ,  das  aber  in  G 
steht;  sonst  ist  nur  datiirus  überliefert  und  in  N  ^  schon  in  aditur 
emendiert.  Zu  VII  30 ,  2  erneuert  R.  seinen  früheren  Vorschlag 
nee  desit  (war);  Hosius  schreibt  mit  Madvig  nee  dieere;  dann  wäre 
die  Lektio  q  nee  desit  {qui  dicat)  wohl  noch  vorzuziehen.  III  29,  5 
mag  das  von  Hosius  eingesetzte  execlsa  nicht  sicher  sein,  aber  die 
Überlieferung  ist  zweifellos  nicht  in  Ordnung :  innitantur  fundamentis 
suis  templa  et  illa  urhis.  R.  hat  früher  (Berl.  philol.  Woch.  1907, 
1488)  selbst  einen  Heilungsversuch  gemacht  templa  et  saceUa ,  der 
nicht  besser  als  andere ;  man  wird  G  P  folgen  müssen  und  lesen : 
et  illa  urhis  moenia.  Ich  kann  R.  nur  darin  zustimmen,  daß  er 
IV  35 ,  2  promisi  me  pcregre  exiturum  für  Beibehalten  des  vor 
exiturum  in  allen  Handschriften  außer  iV  stehenden  una  eintritt, 
und  selbst  in  N  steht  es  von  zweiter  Hand.  Eine  recht  glückliche  Hand 
zeigt  R.  in  Behandlung  von  Stellen  aus  dem.  Allerdings  II,  1 
das  seit  Pincianus  zugefügte  et  fortzulassen,  scheint  mir  unmöglich, 
wenn  auch  das  dahinter  folgende  Jo^ui  nicht  mit  den  vorhergehenden 
Infinitiven  auf  einer  Stufe  steht,  und  I  10,  1  die  alten  Formen 
abavos  und  tuos  in  ihrer  Vereinzelung  beizubehalten,  sehe  ich  auch 
keinen  Grund.  Aber  16,  1  ist  eaveae  st.  viae  wohl  wirklich  un- 
nötig, 7,  2  moderatique  (T  wie  ein  Parisinus)  besser  als  moratique, 
11,  2  Agricolas  Herstellung  incomprc[he^nsihilis  einfacher  als  com- 
prendens  ut  sui,  ebenso  26,  4  Gertz  se  cxercitat  eo  ineiiatior  passender 


Bericht  über  die  Seneca-Literatur  aus  den  Jahren  1915—1921.    I57 

als  Hosius  se  exercitat  ira.  19,  3  ist  mit  Madvigs  cui  .  ,  .  dktarat 
wohl  die  Heilung  noch  nicht  gefunden.  II  5,  3  will  R.  wie  andere 
quidni  halten  (Hosius  schreibt  dafür  kaum  richtig  quidnam),  aber 
seine  Ergänzung  quid/tii  liaec  (scaeva")  scientia  ist  nicht  einleuchtender 
als  andere.  I  22,  3  darf  man  doch  sicher  nicht,  statt  das  korrupte 
eius  zu  emendieren  {ehiit  Gertz,  eruit  Gronov),  dies  überflügsige 
Pronomen  beibehalten  und  vindicat  oder  vincit  mit  ß.  vor  vitia  er- 
gänzen. Unmöglich  richtig  ist  auch  R.s  Versuch,  II  7,  1  das  un- 
sinnige vacuani  constitiiamus  nunc  quoque  durch  Vorsatz  von  (rem)  ver- 
ständlich zu  macheu;  ein  solches  substantivisches  Objekt  zu  co^Jsf/fMßmws 
erscheint  neben  dem  quid  sit  venia  kaum  möglich.  Eine  Emendation 
ist  freilich  noch  nicht  gefunden. 

Recht  feinsinnig  begründet  sind  die  kritischen  Vorschläge 
Busches.  Mehrfach  verteidigt  er  die  Überlieferung  mit  Recht,  so 
benef.  VI  31,  11  mutantem  und  35,  5  metum  (beides  auch  bei 
Hosius  im  Text);  I  10,  1  hält  er  das  in  N'  stehende  et  omne  fas 
als  zweites  Subjekt  neben  dem  vorangehenden  res  humanas  für 
passender  als  et  omne  nefas,  wodurch  das  in  detcrius  fortgeführt 
werden  soll.  Sehr  gefällig  erscheint  mir  I  3,  3  alii  quidem  dividere 
(st.  videri,  was  schon  Häberlin  beanstandet  hatte)  volunt  (sc.  Grutiam), 
ebenso  V  3,  1  tardare  (st.  tradere)  iuhentis,  aber  daneben  ist  sicher- 
lich nicht  cadentis  (wie  B.  mit  Gertz- schreiben  will)  das  Richtige, 
sondern  die  Vulgata  cedentis  (N  caedentis):  vox  cedentis  et  tardare 
(sc.  impefmn)  iubentis.  Auch  IV  8 ,  1  hat  B.  mit  consolatura  (st. 
consxdtura)  vielleicht  das  Rechte  getroffen;  vitis  aber  statt  vis  er- 
scheint unnötig;  Hosius  hat  vis  im  Text  behalten  und  auch  schon 
das  notwendige  quoi  (für  quod)  aufgenommen.  Unnötig  finde  ich 
B.s  Änderungen  II  34 ,  3 ,  wo  ich  pericuJa  iusta  als  wirkliche  Ge- 
fahren durchaus  verständlich  und  passend  finde,  desgl.  IV  20,  3,  wo 
au  den  zusammengehörenden  Sätzchen  qui  sperat  cum  reddit  keines- 
falls geändert  werden  darf  und  ich  den  Anstoß,  den  B.  mit  Madvig  an 
secundiim  datum  nimmt,  nicht  verstehe,  wie  auch  nicht  IV  24,  1  den 
Anstoß  an  generdque.  Aber  von  den  Versuchen  U.s  durch  Zusätze 
einzelner  Worte  vermeintliche  Schäden  der  Überlieferung  zu  heilen, 
vermag  ich  nur  weniges  als  annehmbar  zu  betrachten.  Diese  sind 
VII  2,  1,  wo  B.  {animo)  vor  affigere  einfügt,  dem  sonstigen  Brauche 
Sen.s  (nat.  qu.  VI  32,  12.  epist.  11,  8;  sonst  mit  pronominalem 
Dativ  epist.  75,  7;  111,  32)  entsprechend.  II  14,  2  sie  omnium, 
qitae  nocitura  sunt  .  .  .  perseverabimus  non  dare  (usum).  Dagegen 
ist  II  8,  2  auxilium  est,  principale  tributum  est  der  Zusatz  von  {aulae) 
vor  auxilium  ganz  überflüssig ;  nur  würde  ich  das  Komma  statt  hinter 


158  Karl  Münscher. 

est  erst  hinter  principale  setzen ,  so  dal6  das  Adjektiv  zum  ersten 
Substantiv  avxiUum  gehört.  IV  5,  1  ist  der  Zusatz  von  quae  quaeris 
(das  B.  dem  cod.  M  entnimmt,  der  es  statt  quae  rapis  bietet)  Will- 
kür ;  gewiß  entsprechen  einander  paarweise  qttae  das ,  quae  negas, 
quae  servas,  quae  rapis,  aber  diese  vier  Sätzchen  bilden  zusammen 
die  epexegetische  Erläuterung  zum  voranstehenden  quae  possides. 
Unbedingt  falsch  ist  B.s  Zusatz  dem.  I  12,  3  iderqiie  licet  non  minus 
(^arce)  armis  valletur:  nicht  zwei  Arten  des  Schutzes  werden  mit- 
einander verglichen,  sondern  die  Größe  der  Schutzmaßnahmen  beim 
rex  und  beim  tyrannus :  also  könnte  nur  Wesenbergs  non  minus 
(altero)  in  Betracht  kommen,  wenn  nicht  der  Sinn  auch  ohne  diese 
Beifügung  klar  wäre. 

Zu  beiden  Werken  liegen  Quelleniintersuchungen  vor: 
Arth.  Elias,  De  uotione  vocis  dementia  apud  philosophos 
veteres  et  de  fontibus  Sen.  11.  de  dem.,  Diss.  Königsberg  1912. 
Die  Arbeit,  in  einem  jammervollen,  mit  bösartigen  Fehlern  durch- 
setzten Latein  geschrieben ,  wie  es  eine  deutsche  philosophische 
Fakultät  nicht  zulassen  sollte,  überdies  auch  durch  viele  Druckfehler 
entstellt,  zerfällt  ihrem  Titel  gemäß  in  zwei  Teile.  Teil  I  will  eine 
Geschichte  des  Begriffs  dementia  geben,  für  den  die  Griechen 
mannigfach  wechselnde  Ausdrücke  verwenden  (Trpaorryg,  Erciei/.eia, 
Evyviofioovvt] ,  q^ilaiO^QLüTtia).  Von  Apophthegmen  der  7  Weisen, 
besonders  des  Pittakos,  führt  Verf.  seine  recht  oberflächliche  Be- 
trachtung über  Gorgias,  Piaton,  Aristoteles  zu  den  Stoikern,  als 
deren  jüngere  Vertreter  Cicero,  Sen.,  Epiktet,  M.  Aurel  und  Musonius 
Rufus  aufgeführt  werden;  angereiht  werden  schließlich  noch  Plutarch, 
Dion  von  Prusa,  Aelius  Aristides  und  Themistios.  Dabei  unterläßt 
E.  es  auf  der  einen  Seite,  nach  den  Quellen  der  einzelnen  Autoren, 
die  er  bespricht,  zu  fragen,  wie  z.  B.  bei  Cicero  jeder  Hinweis  auf 
Panaitios  fehlt;  auf  der  anderen  Seite  nimmt  E.  unmittelbare  Ab- 
hängigkeit an ,  wo  von  solcher  schwerlich  die  Rede  sein  kann ;  so 
meint  er,  Themistios,  in  dessen  Reden,  besonders  in  Tcegl  cpiXav-  I 
^QiOTttag,  sich  viele  Berührungen  mit  Sen.  finden,  habe  Sen.s  clem.- 
Bücher  gekannt;  viel  richtiger  urteilte  W.  Pohlschmidt,  Quaestiones 
Themistianae,  Diss.  Münster  1908,  80  ff.,  der  die  Übereinstimmungen 
von  Themistios  nnd  Sen.  auf  die  Benutzung  der  gleichen  hellenistischen 
höfischen  Philosophen  zurückführte.  Auch  in  dem  II.  Teile  de  fontibus 
Sen.  11.  de  dem.  (53  ff.)  ist  des  Verfs  Urteil  teilweise  voreilig.  Als 
erste  Quelle  Sen.s  will  er  Xenophons  Kvqov  naideia  ansehen  wegen 
einiger  ganz  vagen  Anklänge,  die  sich  aus  dem  Stoff  ergeben  und 
selbstverständlich    keine    Xen. -Lektüre   Sen.s    beweisen    (in   meinem 


Bericht  über  die  f    icca- Literatur  aus  den  Jahren  1915-1921.     I59 

Buche  Xen.  in  der  gnech.-röm.  Lit.  ==  Philol.  Suppl.  XIII  2, 
1920,  88  fehlt  ein  Verweis  auf  Elias);  auch  das  Bild  von  der 
Bienenkönigin  (Xen.  Cyrop.  V  1,  24;  dem.  I  19)  beweist  nichts 
(vgl.  Plato  Polit.  VII  520  b).  Ebenso  voreilig  ist  es,  wenn  E.  un- 
mittelbare Kenntnis  von  Ps. -Aristoteles  nregl  ßaaiXeiag  für  Sen,  an- 
nimmt ;  auch  darüber  richtig  Pohlschmidt  a.  a.  0.  Reine  Vermutung 
ist  es  auch,  daß  Sen.  Theophrast  tteqI  ßaaiXsiag  benutzt  haben 
könnte.  Übereinstimmungen  Sen.s  mit  Cic.  de  virtutibus,  Plutarch 
und  Cassius  Dio  führt  E.  m.  R.  selbst  auf  Benutzung  gemeinsamer 
Quellen  zurück.  Höchstens  für  Isokrates'  Nikoklesschriften  kann 
man  wohl  an  unmittelbare  Kenntnis  und  Benutzung  seitens  Sen.s 
glauben:  sonst  aber  hat  Sen.  gewiß  jüngere,  hellenistische  Literatur 
nEQl  ßaaiXsiag  gekannt  und  für  dem.  benutzt. 

Daß  Sen.s  Bücher  de  benef.  im  wesentlichen  Hekatons,  des 
Panaitiosschülers,  Pflichtenlehre  zugrunde  liege  (über  ihn.  ein  recht 
knapper  Art.  von  H.  v.  Arnim,  P.-W.  VII  2797)  hatte  bereits 
Har.  N.  Fowler  erkannt  (Panaetii  et  Hecatonis  11.  frgta,  Diss.  Bonn 
1885;  ders.,  *The  sources  of  Sen.  de  benef.,  Proceedings  of  the 
Amer.  philol.  Association  XVII  1886 ,  24  ff.).  Erneut  ist  das  Ab- 
hängigkeitsverhältnis Sen.s  von  Hekaton  jTEqI  YMd-Tq'/,ovTog  geprüft 
von  Mart.  Sonntag,  L.  A.  Sen.  de  benef.  libri  explanantur, 
Diss.  Leipzig  1913.  Von  Buch  zu  Buch  fortschreitend,  erweist 
S.  Hekaton  als  Quelle  Sen.s  zunächst  in  den  ersten  vier  Büchern, 
die  eine  geschlossene  Einheit  bilden ,  dann  in  den  drei  übrigen 
additameutorum  volumina.  Daß  auch  Hekaton  solche  additamenta  ge- 
boten habe,  ist  mindestens  unerweislich.  Potest  Annaeus  eas  (con- 
tinuationes)  ex  genuino  sententiarum  contextu  ...  in  additameutorum 
Volumina  ab  ipso  constituta  transtulisse  (S.  38). 

Endlich  die  Abfassungszeit  beider  Sen.-Werke!  Über  dem. 
besteht  kein  Zweifel.  Sen.  schrieb  diese  dem  Kaiser  Nero  ge- 
widmete Erziehungsschrift  bald  nach  Neros  18.  Geburtstage  (15. XII.  55), 
also  im  Beginn  des  Jahres  56  (Gercke  292  ff.,  Sen.s  Werke  52  f.). 
Über  die  Zeit  von  benef.  hat  Sonntag  auch  eine  unglaubhafte  Hypo- 
these in  unklaren  Sätzen  aixsgesprocl>en  (S.  46  f.) :  daß  benef.  vor 
Brief  81  in  den  Jahren  63/64  geschrieben  sei,  davon  kann  keine  Rede 
sein.  Gercke  (306  ff.)  hat  im  allgemeinen  die  Zeit  von  60  bis 
Frühjahr  64  als  die  des  allmählichen  Entstehens  der  benef.-Bücher 
bezeichnet;  er  meinte  des  weiteren,  I — VI  seien  vor  62,  vor  dem 
Bruche  mit  Nero ,  VII  allein  danach  geschrieben.  Nun  hat  W. 
L.  Friedrich  durch  Aufdecken  versteckter  Beziehungen  zur  Zeit- 
geschichte für  die  Chronologie  der  Bücher  von  den  Wohltaten  eine 


150  I^^'^l  Münscher. 

sichere  Grundlage  geschaffen:  Zur  Abfassungszeit  von  Sen.s  Werk 
dehenef.,  Berl.  philo).  Woch.  1914,  1406-1408,  1501—1503,  1533 
bis  1536,  1629—1632.  Ich  habe  in  meinem  Buche  (Sen.s  Werke 
63  ff.)  die  beiden  mittleren  Stücke  von  Fr.s  Darlegungen  un- 
berücksichtigt gelassen ;  sie  behaupten  in  der  Tat  allzu  Zweifelhaftes. 
Fr.  ist  der  Meinung,  in  den  Kapiteln  beuef.  I  9 — 10,  die  den  Ab- 
schnitt, der  mit  Kap.  5  beginnt,  beschließen  (an  die  Lücken,  die 
Hosius  vor  und  nach  §  2  in  Kap.  9  annimmt,  glaubt  Fr.  nicht), 
worin  Sen.  heftig  gegen  die  Sittenlosigkeit  der  Zeit,  besonders  auch 
gegen  schamlosen  Ehebruch,  deklamiert,  Beziehungen  auf  Otho  er- 
kennen zu  können,  der  seit  dem  Jahre  55,  anfangs  mit  Sen.s  und 
Burrus  Zustimmung ,  mit  Nero  im  engem  Verkehr  stand,  und  dem 
Rufrius  Crispinus  seine  Gattin  Poppaea  Sabina  entführte  und  heiratete 
und  dadurch  Nero  den  Verkehr  mit  ihr  erleichterte.  Es  ist  zwar 
chronologisch  möglich ,  da  die  Abfassung  der  ersten  Bücher  de 
benef.,  wie  sogleich  darzulegen,  in  der  Zeit  nach  58  feststeht,  daß 
Sen.  bei  seinen  Äußerungen  auch  an  Otho  mit  dachte,  angedeutet 
ist  es  aber  in  keiner  Art  und  Weise  im  Text,  und  daß  gar  im 
10.  Kap.  mit  dem  Undankbaren,  der  schlimmer  sei  als  alle  anderen 
Frevler ,  Otho  gemeint  sei  und  bereits  seine  Verbannung  als  ein- 
getreten anzunehmen  sei,  das  ist  völlig  unglaublich;  war  es  doch 
Sen.  selbst,  der  für  Otho,  als  Nero  ihm  nach  dem  Leben  trachtete, 
die  rettende  Verbannung  nach  Lusitanien  im  J.  59  erwirkte  (Plut. 
Oalba  19  und  20).  Aber  völlig  sicher  ist  Fr.s  Feststellung  (1629  ff.), 
daß  Sen.  benef.  II  7  8  die  von  Tiberius  beliebte  Art,  den  Fabius 
Verrucosus  seiner  Schulden  erst  nach  eingehender  Prüfung  zu  ent- 
ledigen, tadelt,  um  die  im  Jahre  58  mehreren  Senatoren  von  Nero 
gewährten  Geldspenden  (Tac.  ann.  XIII  34.  Suet.  Nero  10,  1) 
nachträglich  zu  rechtfertigen.  Am  II.  Buche  beuef.  schrieb  Sen. 
also  nach  58,  frühestens  Anfang  59,  wahrscheinlich  nach  der  im 
März  59  erfolgten  Ermordung  Agrippinas ;  59 — 61  werden  demnach 
-die  ersten  vier  Bücher  benef.,  die  eine  Einheit  bilden  und  gewiß 
zusammen  publiziert  wurden,  von  Sen.  verfaßt  sein.  Er  ließ  noch 
drei  weitere  folgen ,  obwohl  nach  seinem  eigenen  Bekenntnis  der  i 
Stoff  eigentlich  erschöpft  war,  Einzelfragen  herausgreifend  und  be- 
handelnd. Er  schrieb  weiter  an  dem  einmal  gewählten  Stoff  in 
jenen  Jahren  61/62,  als  er  die  schlimme  Wendung,  die  völlige  Ab- 
kehr Neros,  immer  näherkommen  sah.  Das  hat  Fr.  (1406  ff.)  treff- 
lich dargelegt,  und  auch  im  VII.  Buche  ist  nichts  zu  finden  vom 
*  Geist  des  Umsturzes',  den  Gercke  darin  zu  spüren  meinte.  Wie 
VI    16    zweifellos    eine    Mahnung   für    Nero    ist    und    sein    soll    zur 


Bericht  über  die  Seneca-Literatur  aus  den  Jahren  1915 — 1921.     161 

schuldigen  Dankbarkeit,  so  erörtern  die  Schlußkapitel  des  letzten 
Buches  das  Verhalten  gegenüber  dem  dauernd  Undankbaren  — 
und  dabei  denkt  San.  gewiß  an  niemand  anders  als  an  Nero.  So 
erscheinen  die  Bücher  benef.  als  das  Hauptwerk  der  Jahre  59 — 62. 
Von  einer  polnischen  Bearbeitung  von  benef.  durch  L.  Gormicki 
vom  J.  1593  berichtet  *Th.  Eustachiewicz,  Eos  XX  19U,  30. 


4.    Naturales  quaestiones. 

A.  Gercke  hat  nach  langen  Vorbereitungen  (Sen. -Studien 
7  flf.  *die  Überlieferung  der  nat.  qu.'  und  Studia  Annaeana,  Prgr. 
Univ.  Greifswald  1900)  1907  in  der  Bibl.  Teubneriana  die  nat,  qu. 
herausgegeben.  Das  handschriftliche  Material  ist  bei  diesem  Werke 
überaus  zersplittert;  nur  junge  Handschru.  vom  12.  Jahrh.  ab  liegen 
vor,  alle  letzten  Endes  auf  zwei  Abschriften  (0  u.  z/  bei  Gercke) 
eines  einzigen,  schon  stark  verstümmelten  und  schwer  lesbaren  codex 
zurückgehend,  der  aus  dem  Altertum  in  die  Karolingerzeit  hinüber- 
gerettet war.  Das  von  Gercke  beschaffte  und  klassifizierte  Material 
hat  zu  ei'weitern  gesucht  Hier.  Geist,  De  L.  A.  Sen.  nat.  qu. 
codicibus,  Diss-  Erlangen  (gedr.  Bamberg)  1914.  G.  hat  sich  von 
der  Mehrzahl  der  Haudschrn.  photographische  "Wiedergaben  verschafft 
und  auch  von  einer  ganzen  Anzahl  von  bisher  unbenutzten  Haudschrn. 
Kenntnis  bekommen,  die  er  im  I.  Teil  seiuer  Diss.  bespricht  und 
in  die  von  Gercke  unterschiedenen  Handschrn. -Gruppen  einordnet. 
Dabei  weicht  er  auch  gelegentlich  von  G.s  Urteil  ab  (S.  18  u.  25). 
Was  für  einen  neiien  Editor  von  den  Lesarten  der  neuverglichenen 
Handschrn.  von  Nutzen  sein  könnte,  stellt  G.  im  IH.  Teil  (S.  51  ff.) 
in  einem  Apparatus  criticus  zusammen.  Allzu  groß  ist  der  Gewinn 
für  den  Text  nicht,  wie  der  11.  Teil  der  Arbeit  lehrt,  adnotationes 
criticae  bietend  (S.  32  ff.).  Nach  den  Bemerkungen  zum  I.  Buche, 
die  ich  durchgesehen  habe,  werden  zweimal  moderne  Konjekturen 
durch  handschriftl.  Lesungen  bestätigt;  so  steht  I  3,  4  (ut)  qiiod  a 
simiUimo  coeplt  in  dissbyiillimo  desmat  (sonst  überl.  desinit) ,  wie 
Gercke  im  Apparat  konjiziert  hatte,  in  einem  Parisinus,  und  das 
wird  man  in  den  Text  setzen  dürfen.  I  13,  2  wird  Larischs  Kon- 
jektur naiurae  soUdae  durch  zwei  junge  Handschrn.  bestätigt;  mir 
erscheint  das  überlieferte  naturae  solis  (=^  von  der  Art  der  Sonne)  auch 
ohne  Leos  Zusatz  similes  verständlich  (s.  unten  S.  166).  Von  G.s  eigenen 
Versuchen,  den  Text  zu  bessern,  sind  die  meisten  nicht  einleuchtend 
oder  wenigstens  nicht  notwendig,  so  I  praef.  6  sein  Vorschlag,  spar- 
gcns  statt  perdcns  (CD,  amittens,  admittens,  ardens  andere  Handschrn.) 

Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft  Bd.  192  (1922.  II).  11 


1(33  Karl  Müuscher. 

zu  lesen,  ebd.  12  altius  crescU  aus  einem  Basler  cod.  für  alUur 
crescit  aufzunehmen,  u.  a.  Glaublicher  der  Vorschlag  15,  7  nee  innu- 
merahües  modo  intervrent  modo  exprimereniur  formae  (im  Spiegel, 
vgl.  epist.  88,  27;  überl.  exciperenfur ,  eriperentur^  erumperentur). 
Recht  gut  aber  heilt  G.  im  letzten  Kap.  des  I.  Buches  17,  9  felix 
pcmpertas  (der  Scipiotöchter),  quae  tanto  tuiori  (dem  Senate,  überl. 
titulo ,  vgl.  Helv.  12,  6)  locum  facit!  Dadurch  kann  im  nächsten 
Satze  die  Überlieferung  beibehalten  werden  non  fecisset  illa{m)  dotem, 
si  habuissent.  Und  schließlich  am  Ende  des  §  dos  quam  dedit  e 
P{ppidi)  E(omani)  aerario  (überl.  pro  aio)  se{natus)  (letzteres  Wort 
bereits  die  Itali,  vgl.  Helv.  12,  6.  Nep.  Arist.  3,  3.  Amm.  XIV  6,  11). 

*P.  Oltramare,  Le  Codex  Genevensis  des  Questions  nat. 
de  Sen.,  Eev.  de  philol.  XV  1921 ,  1  ff.,  gibt  (nach  Philol.  Woch. 
1922,  18)  eine  Nachprüfung  und  ein  Stemma. 

Der  Text  der  nat.  qu. ,  furchtbar  entstellt  in  den  jungen 
Handschrn.,  die  ihn  uns  erhalten  haben,  schreit  sozusagen  nach  Emen- 
dation.  Gerade  in  dieser  Beziehung  bedeutete  Gerckes  Ausgabe 
einen  wesentlichen  Fortschritt  über  die  frühereu.  Er  hatte  sich  der 
Hilfe  von  Fr.  Leo,  Fr.  Skutsch,  W.  Kroll  und  0.  Eoßbach  zu  er- 
freuen und  hat  auch  nicht  wenige  eigene  Besserungsversuche  im 
Text  und  Apparat,  nicht  immer  mit  glücklicher  Hand,  vorgelegt. 
Am  Schluß  der  praef,  (p.  XLVI)  bekennt  G.  selbst,  wie  viel  noch 
zu  tun  sei,  und  so  hat  es  an  mutigen  Helfern  während  des  folgenden 
Jahrzehnts  wahrlich  nicht  gefehlt.  Ich  kann  nicht  alle  vorgeschla- 
genen Besserungsversuche  anführen  oder  kritisch  würdigen,  sondern 
beschränke  mich  im  allgemeinen  auf  das  I.  Buch.  Schon  aus  diesen 
Proben  ist  ersichtlich ,  daß  natürlich  bei  jedem  einzelnen  der  Kri- 
tiker vortreff'liche  Vorschläge  neben  minder  Einleuchtendem  oder 
Falschem  und  Überflüssigem  stehen ;  mitunter  treö'en  auch  mehrere 
Forscher  an  ein  und  derselben  Stelle  mit  ihren  Versuchen  zusammen ; 
im  ganzen  darf  man  sagen ,  daß  viel  geleistet  worden  ist,  und  die 
Emendation  des  Textes  der  nat.  qu.  unleugbar  Fortschritte  gemacht  hat. 

Einiges  bot  sogleich  0.  Roßbach  in  seiner  Rezension  der 
G.schen  Ausgabe,  Berl.  philol.  Woch.  1907,  1478  ff".,  bes.  1481  ff". 
Aber  von  der  Mahnung  abgesehen,  daß  es  wohl  richtiger  sei,  I  praef. 
4  tanti  vor  nasci  statt  nach  non  einzuschieben,  sind  seine  Vorschläge, 
wenigstens  die  zum  I.  Buche,  sämtlich  kaum  mehr  als  willkürliche 
Einfälle;  so  wenn  er  2,  7  die  'ungenaue  und  pleonastische^  Über- 
lieferung einrenken  will  mit  lapillus  in  piscina[m]  aul  lacu\i)i\  [et] 
alUgatam  aquam,  missus  oder  2,  8  quies  aeris  et  omnium  ((5,  sonst 
otium   et   überl.)    {ventorttm)   tranqmllitas   schreiben   will,    weil  Sen. 


Bericht  über  die  Seueca-Literatur  aus  den  Jahren  1915 — 1921,     IG3 

nielit  dreimal  dasselbe  sage  u.  a.  5,  12  wird  teneat,  durch  das 
vorangehende  teneas  hervorgerufen ,  gewiß  nicht  richtig  sein ,  aber 
leichter  als  K.s  retegat  ist  ostendat^  das  ^  bietet,  herzustellen,  ent- 
sprechend dem  ostendit  am  Schluß  des  Ucächsten  Satzes.  Die  Her- 
stellung 13,  2  plane  maturae  soJi  verstehe  ich  nicht  (s.  oben  S.  161). 
"Wegen  ihrer  Trefflichkeit  und  wegen  des  versteckten  Publika- 
tionsortes glaube  ich  alles  anführen  zu  sollen,  was  ,3.  Bdar]  in 
seinen  JiOQd^ioiiy.u  /.cd  €Qur^v€iTr/M  au  Verbesserungen  zu  Gerckes 
Ausgabe  vorgeschlagen  hat,  mir  vorliegend  als  avaTiTicoGig  ex  Trjg 
s:tETt-Qldog  toc  sdy.  naveTiioiruiov.  Athen  1909,  101 — 9  (es  folgen 
110 — 122  Konjekturen    zu   R.  "^Vünsch  Ausg.    des  Lydus   de  mag.). 

I  15 ,  3  aOTQa7T67th]y.TCi  statt  ctGieooTthyATa^  in  der  Tat  sind 
fidgura  identisch  mit  uOToarcai  ,i;nd  nicht  mit  aOTtQEg.  II  5,  1  wÄ 
neque  (st.  aeque)  mit  Leo-Kroll,  dann  quia  scüicet  non  magis  sine 
hoc  quam  sine  illa  Universum  (non)  polest  esse.  II  50,  1  id  quod  ad 
nos  pertinet  zu  streichen.  III  18,  1  nihil  est,  inquis,  mullo  expirante 
(in")  olla  (überl.  ilJis,  illic)  formosius.  18,  3  mi\lii)  credam  (st.  me 
credas),  einen  Vorschlag  Krolls  (s.  unten  S.  164)  vorwegnehmend. 
18,  4  da  mihi  (Druckfehler  ad  mihi).  19,  4  Gerckes  Zusatz  alii  ali- 
quatenus  aperie  fluunt  falsch ;  mit  Kroll  zu  lesen  nam  (st.  tarn)  quis 
ignorat.  IV  2,  18  Interpunktion  zu  ändern:  nulhim  ex  his  animalihits 
quae  laicyit  hruma,  umquam  reconditur.  2,  20  et  illic  (st.  Ulis)  altis- 
siniae.  11,  5  tarnen  minima  invetiiuntur  (st.  vincuntur).  13,  5  re- 
mediis  incitato  vitio  (überl.  incitat  Vitium).  V  17,  5  in{tra)  proximiim 
furunt  (st,  ferunf) ,  nötig?  18,  5  vulgo  dici(it)nti(m  und  adeo  quic- 
quid  ex  Ulis  utile  et  necessarium  est,  [non]  polest  his  repensari.    VI  1, 

I I  Zusatz  von  non  nach  an  unnötig.  2,  8/4  sine  dubio  ,  .  .  crevimus 
nicht  Worte  eines  Interlocutors,  sondern  ironisch  vom  Schriftsteller 
selbst  gesagt.  5,  3  in  omni  {eliam)  alio  negotio  oder  besser  alio 
zu  streichen  (nötig?).  16,  3  in  (jh)alitum  (überl.  aliud)  alia  sol- 
vcrentur.  18,  4  Spiritus  als  Subjekt  zu  vindicat  zu  ziehen;  vero 
zu  streichen  (nötig?).  27,  2  gravis  haiirientibus  est  streichen.  31,  2 
{rixa}  Gercke,  unnötig.  31,  7  istud  levc  est.  quid  timemus?  grave 
est?  potius  semel  incidat  quam  semper  impcndeat  mit  richtiger  Inter- 
punktion des  Überlieferten.  VII  1,  3  quot  dies  habet  annus  (st.  et 
anmim).  11 ,  3  eadem  fiant  ratione  necesse  est  cometae  streichen 
(richtig?).  16,  3  cum  äliqua{e)  ex  qtdnque  stellis  esse  dcbueri{n)t 
(oder  aliqua  zu  streichen). 

C.  Brakraan,  Ad  Sen.  uat.  qu.,  Hermes  XLV  1910,  37—42, 
Konjekturen  zu  allen  7  Büchern,  teils  ansprechend,  so  I  1,  10  (ac) 
(statt  et)  magnitudo,    wie    Sen.    Variation    der    Konjunktionen    liebe 

11* 


1(54  Karl  Münsclier. 

(z.  B.  III  16,  4  u.  a.),  teils  schwerlich  richtig,  so  I  16,  5  in  der 
auf  vielerlei  Weise  mit  Konjekturen  bedachten  Stelle  (s.  oben  S.  130) 
quid,  eum  non  ])utes. 

W.  Kroll  bessert  in  seinen  Randbemerkungen,  Ehein.  Mus. 
LXVI  1911,  174  ff.,  ein  paar  Stellen  im  III.  Buch,  evident  praef.  4 
oxms  nescio  an  (in)superal)ile -^  wohl  unnötig  praef.  18  magnove  (st. 
magnoque);  möglich  15,  3  numerus  für  G-erckes  ortus  (überl.  humus) 
uud  18,  3  (wo  Base  mi  crcdam  vorweggenommen  hat,  s.  oben  S.  163) 
liixuriae  serpentis  (st.  unsinnigem  pereunthis). 

H.  W.  Garrod,  Notes  on  the  nat.  qu.  of  Sen.,  Class.  Quarterly 
VIII  1914,  272 — 281.  Voran  stehen  allgemeine  Betrachtungen 
über  Gerckes  Ausgabe ,  der  Ga.  als  guter  Kritiker,  aber  nicht  als 
guter  Editor  erscheint,  weil  er  seinen  Apparat  mit  Varianten  inter- 
polierter Handschriften  überladen  und  in  den  Text  wie  in  die  Noten 
nicht  notwendige,  verwirrende,  irritierende  Konjekturen  aufgenommen 
habe.  Des  weiteren  bezweifelt  Ga.  den  selbständigen  Wert  der  Hand- 
Bchriftenklasse  ^,  trotzdem  er  selbst  auf  mehrere  Stellen  hinweist,  an 
denen  ^plausibel  Lücken  füllt  (wie  II  12,  5  nee  exilire,  II  18  idiis 
inaequalis,  VI  32,  9  feres).  Dann  folgen  eine  Masse  Konjekturen  zu 
den  ersten  beiden  Büchern  (die  Fortsetzung  im  *IX.  Bande  der 
Class.  Quarterly  ist  mir  nicht  zugänglich),  darunter  sehr  viel  über- 
flüssige wie  I  praef.  3  secedut  (st.  in  se  tendat),  9  ut  vor  idfra  ein- 
gefügt, dann  exerceat  imperium,  Haemo  Thrace  se  indudat,  wo  exeat 
nicht  zu  ändern  und  mit  Madvig  imperium  Haemo  Thrax  (traces 
überl.)  includat  zu  lesen  sein  wird.  I  1,  7  Veneria  (st.  Martis)  re- 
missior  u.  a.  wie  5,  2  sed  quoi{quoi')modi ,  wo  am  einfachsten  ge- 
lesen wird,  mit  starker  Interpunktion  hinter  videatmis:  qiiodcumque 
videmus  et  (st.  sed  Madvig)  quomodo  imago  similis  reddi  debet  e 
speculo.  7,  3  si  aperta  fahrica  (st.  apta  fäbricata)  foret,  totidem  red- 
deret  soles,  quot  aperulsset  (st.  hahuisset)  inspectui  toros;  das  Richtige 
fand  Leo  mit  hahüsset  in  se  toros.  11,  1  {solesne  an)  imagines  soUs, 
wo  Leos  imagines?  soles?  ausreicht  (solis  überl.).  17,  7  comatorii 
(überl.  alteri)  in  vicem,  r.  Gertz  alterius.  Möglich  und  vielleicht  an- 
zunehmen sind  Ga.s  Vorschläge  5,  9  non  enim  idem  facit,  si  unde- 
cumque  (überl.  undique)  effulsit,  sed  (überl.  et)  ad  Jioc  opus  est  radi- 
orum  idoneus  ictus.  5,  12  eo  latius  (st.  altiiis)  oportet  teneas  (pur- 
puram).  Das  von  Gercke  17,  7  eingeschobene  parva  beseitigt  Ga.  | 
mit  Recht,  desgl.  7,  3  Gerckes  vix-,  davor  ist  das  überl.  qui  richtig, 
weil  auf  toros  zu  beziehen.  Als  Emendationen  betrachte  ich  die 
Vorschläge  1,  6  tanto  leviora  lumina  (st.  fulmina)  emittunt,  ent- 
sprechend §  5   minora   lumina   excutiuntur,    dagegen    ist   Ga.s   Her- 


Bericht  über  die  Seueca-Literatur  aus  den  Jahren  1915 — 1921.     165 

Stellung  des  vorhergehenden  Satzes  quanto  üla[sj  minus  pressi  aercs 
(überl.  presseris)  winoresve  schwerlich  annehmbar.  14,  1  sunt  ctite 
(=  AVTt],  überl.  tit  ei,  ebenso  Muller,  unten  S.  167),  um  den  andern 
Ausdrücken  entsprechend  eine  griechische  Bezeichnung  zu  haben 
(Gercke  putei) ;  ob  man  ohenda,  pithiae  schreibt  oder  ^jif/tme  {rcid-siag), 
macht  kaum  etwas  aus.  Au  zwei  Stellen  schlage  ich,  durch  Ga.s 
Versuche  angeregt,  eine  neue  Lösung  vor :  5,  5  ist  überl.  unaquaeque 
in  se  similitiidinem  in  se  rei  claiidet;  Gercke  streicht  das  erste  i«  se, 
Ga.  behält  es  bei  und  schlägt  vor  similitudinuni  seriem;  offenbar 
liegt  wieder  (s.  oben  S.  127)  eine  an  falsche  Stelle  geratene  Kor- 
rektur vor  in  dem  in  se  rei,  die  an  Stelle  des  ersten  in  se  zu  setzen 
ist,  also  unaquaeque  in  se  rei  similitudinem  claudet.  6,  6  will  Ga. 
den  ganzen  Schlußsatz  id  est  —  vertatur  als  Glosse  streichen,  nach- 
dem er  ihn  durch  essentiam  eins  nactura  (st.  iam  eins  natura)  ge- 
bessert hat.  Ein  Glossem  ist  der  Satz  gewiß  nicht;  ich  würde  in 
Anlehnung  au  Ga.  lesen :  id  est  iam  eins  natura{m  nactura)  est, 
wenn  nicht  Muller  (s.  unten)  die  noch  einfachere  Ergänzung  id  est 
iam  eins  naturae  est  vorgeschlagen  hätte. 

Sorgfältig  begründet  K.  Busche  seine  Kritischen  Beiträge  zu 
Sen.s  nat.  qu. ,  Ehein.  Mus.  LXX  1915,  568 — 583;  Zustimmung 
wird  auch  er  aber  wenig  finden,  nach  den  Vorschlägen  zum  I.  Buche 
zu  urteilen.  Er  erörtert  eingehend  den  Gebrauch  des  zweigliedrigen 
Asyndetons  und  kommt  zu  dem  Schluß,  I  praef.  3  nee  oh  hoc  minus 
est  Vlber  et  potens  sei  das  et  zwischen  beiden  Adjektiven  notwendig, 
nur  die  in  der  Überlieferung  schwankende  Stellung  des  est  bleibe 
zweifelhaft;  mir  scheint  der  Geneveusis  Z  mit  minus  liher  est  ac 
potens  das  einzig  Mögliche  zu  bieten.  5,  12  niteat  st.  teneat  (s. 
oben  S.  163).  16,  7  ist  sein  schwächlicher  Vorschlag  alicu'ms  con- 
iumeliae  amorem  exerceo  in  keiner  Weise  einleuchtend ,  das  kühne 
marem  exerceo  gewiß  nicht  zu  beanstanden,  Heilung  bei  der  Unklar- 
heit des  Sinnes  schwer.  Leos  alienaque  a  (st.  alicuius)  contumelia 
scheint  mir  den  Sinn  zu  verfehlen;  ich  schlage  vor  aliciiius  (cirv;«) 
contumelia.  Eecht  unglücklich  endlich  der  Versuch,  17,  9  mit  Hilfe 
des  in  0  aus  pro  aio  sicher  falsch  konjizierteü  pro  aninio  den  Text 
zu   heilen    durch   dedit  pro   {grato")  animo  senatus  (s.  oben  S.,  162). 

F.  Muller,  Ad  Sen.  nat.  qu.  observatiunculae,  Mnemos.  XLV 
1917,  319 — 387,  gibt  seineu  kritischen  Vorschlägen  vielfach  dadurch 
eine  besondere  Begründung,  daß  er  sie  an  der  Klauseltechnik  prüft 
(s.  Bourgery  oben  S.  114).  In  einigen  Kegeln  faßt  er  am  Schluß 
(336  f.)  zusammen,  was  er  glaubt  beobachtet  zu  haben;  besonders 
interessant  ist,  daß  Sen.  die  heroische  Klausel  (ebenso  -^^ ^) 


166  Karl  Münscher. 

sorgfältig  vermeidet  (doch  s.  unten  Z.  11  u.  24),  gewöhulicli  auch  nicht 
den  einfachen  Ditrochäus  anwendet,  sondern  vor  diesen  einen  dritten 
Trochäus  oder  einen  Kretikus  stellt,  im  allgemeinen  die  Wieder- 
holung desselben  Fußes  meidet  und  den  Wortakzent  möglichst  bei- 
behält; interessant  auch  die  Beobachtung,  daß  Sen.  je  nach  Bedarf 
in  den  Klauseln  videre  und  visere  (324  ff.),  limpiclus  und  liquidus 
(327)  wechseln  läßt.  Mehrfach  macht  M.  mit  Recht  auch  die  Güte 
der  sich  ergebenden  Klausel  bei  der  Entscheidung  zugunsten  einer 
Lesart  geltend,  so  I  jiraef.  3  liher  est  et  (].  ac,  s.  oben  S.  IGh)  poiens 
(-  ^  -  -  w  -).  5  ,  1  videmus  et  quomodo  -  ^  -  -  ^  -  (vorher  allerdings 
qiiomodo  videamus  (-  ^^  ^  -  ■^).  17,  4  sucht  M.  in  ut  liomo  ipse  se  nosset 
(-0  —  -~)  einen  Klauselschluß,  hinter  dem  stärker  zu  interpungieren. 
Deshalb  glaubt  er  consequuntur  im  nächsten  Satz  halten  zu  dürfen  (Gercke 
consecuturus)]  ebenda  quicquid  corpori  desset  (st.  deesset  der  Klausel  wegen 
-  Ky  —  •*).  17,  9  empfiehlt  er  seine  Herstellung  pro  popido  Romano 
senatus  wegen  der  guten  Klausel ^-'^;  eine  gleich  gute  er- 
gibt Geists  mir  besser  erscheinende  Herstellung  (s.  oben  S.  162) 
popidi  Romani  aerario  senatus  -<^'-^-^.  Konjekturen  aber  ledig- 
lich aus  dem  Grunde  zu  macheu,  um  eine  gute  Klausel  zu  gewinnen, 
bleibt    immer    bedenklich ;    so  möchte  ich  M.  nicht  folgen,  wenn  er 

8,  4  aspici  solem  -^ statt  a.  pilam  -w-w~  konjiziert,    denn 

gegen  pila  ist  an  sich  nichts  einzuwenden,  oder  17,  8  non  zwar 
als  mit  Kecht   gestrichen    ansieht,    der  Klausel    zuliebe    dann    aber 

doch   statt  dos  fuit  illa  (-  ^  w  -  ~)  dos  fuit  nuUa  -  ^ schreiben 

will.    Mehrfach  verteidigt  M.  die  Überlieferung,  so  mit  Recht  13,  2 

naturae  solis  (s.  oben  S.  161),  und  durch  den  gleichen  Genitiv  stellt 

er  6,  6  iam  eins  naturae  est  her  (s.  oben  S.  165);  16,  6  in  quaedam 

(Gercke  im  Apparat  in  vidgando)\    17,    2    in   nulla  re   illa  luxuriae 

(Dat.  causae)  negotium  conccssit  (Gercke  nach  Madvig  gessit).    17,  3 

interpolari    (auch  Gercke).     Nicht   folgen    kann  ich,  wenn  M.   1,   10 

et  (Brakman    ac,    s.  oben  S.  163)    glaubt  konstruieren    zu  können; 

ebensowenig  glaube  ich,  daß  17,   7  alteri  inviccm  neben  sihi  quisque 

stehen  kann:    auf  das    comcre  cainUum  und  prominentem  harham  de- 

pectere   legten    die    Primitiven    doch    gewiß    nur  bei  sich,    nicht  bei 

andern  Wert;    also    muß  es  schon  älterius  invicem  (s.  oben  S.  164) 

heißen.    Ebenso  ziehe  ich  17,  9  Geists  Herstellung  (s.  oben  S.  162) 

dem  Versuche  M.s  vor,  titiüo  zu  behalten  und  den  nächsten  Satz  so 

zu  lesen :  non  fccisset  illa  {sc.  paupertas)  dotem  si  Jiahuissent.    Nicht 

zu  billigen  sind  andere  Vorschläge  wie    2,    9  temp)crantis  (für  temp- 

tantis).  3,  2  (schon  von  G.  Vollgraff  ebda.  366  die  Überlieferung   I 

?(  m    OS    aqua    impJcvit  verteidigt).     5 ,    14    (st.    ostcndant)    extendant 


Bericht  über  die  Seneca-Literatur  aus  deu  Jahren  1915—1921.     167 

(dagegen  spricht  das  uächste  Glied  sunt  qiiae  detorqueant  et  vertont). 
Den  Sinn,  den  M.  16,  7  mit  parta  alicukis  contumelia  erreicht,  glaube 
ich  einfacher  noch  mit  al.  cum  cont.  (s.  oben  S.  165)  zu  gewinnen. 
Als  zweifelhaft  möchte  ich  bezeichnen :  9,  1  Streichung  von  aegue. 
14,  3  mogis  isse  qnia  perit  (oder  pereat,  beides  überl,,  Gercke  qua 
krit)  Stella  quam  qua  eat.  16 ,  5  quem  nonne  (s.  oben  S,  180). 
17,  3  nisi  lioerius  {lumine)  hiimido  (überl.  humi)  solis  lunaeque 
■imagines  videremus.  14,  1  st.  ^;i<^iae  ein  Neutr.  pitliia  zu  fordern, 
scheint  mir  unbegründet;  bei  Plin.  nat.  II  90  steht  auch  die  Mas- 
kulinform pitheus  (die  Garrod  ändern  möchte,  s.  oben  S.  165);  gr. 
liegt  nur  die  Form  7Ci&eiag  vor.  Aber  nicht  wenige  Vorschläge 
M.s  sind  sehr  beachtenswert  und  erscheinen  als  Emeudationen : 
14,  5  inclinatio  ocius  (st.  eius)  in  alteram  partem  facta  est,  aber  das 
weitere  et  aestuat :  non  cessat,  sed  intra  se  pugndbit  stellt  M.  zu  ge- 
waltsam her.  1,  6  quanto  illa  minus  presserit  vis  minorve  (überl. 
prcsseris  minoresve)  mit  guter  Klausel  - w  —  w-— .  3,  1  aenm{JT), 
scd  rcsidit  (-w  —  v^--).  4,  3  talem  solis  (nur  B^)  imaginem  reddit. 
6,  3  nisi  orhi{s)  redditur.  6,  d  cum  omnes  fulgores  (crescani  paulatim^ 
et  paulatim  discutiantur.  13,  2  quin  (st.  quia)  apuä  nos  quoque 
spectda.  14,  1  cute  (wie  Garrod,  s.  oben  S.  165),  ebda,  igneus  (mit 
STZ  st.  ingens).  17,  6  et  mox  huic  proprio  (mit  J^  sonst  proprie) 
ministerio  praeparatus  est  orbis  (Genet.)  nonduni  argentei  [E,  sonst 
argenti)  nitor,  sed  fragilis  vilisqtic  materia  (Nomin.). 

W.  L.  Friedrich,  Zu  Seu.s  nat.  qu.  IV  praef.  7  u.  8,  Berl. 
philol.  Woch.  1914,  1213 — 6,  will  in  den  beiden  Paragraphen,  in 
denen  Sen.  seinen  kynischen  Freund  Demetrius  einem  Freigelasseneu 
höhnische  Ratschläge  zur  rechten  Gewinnung  von  Reichtümern  er- 
teilen läßt,  Beziehungen  zu  const.  16,  4  sehen  —  welche  Schrift 
Fr.  bekanntlich  (s.  oben  S.  143)  zu  Unrecht  in  die  Zeit  des  Suillivis- 
prozesses  verlegt  —  und  meint,  in  dem  libertinus  den  Doryphorus 
erkennen  zu  können ,  der  wie  Pallas  im  J.  62  durch  Gift  wegen 
seiner  Gegnerschaft  gegen  Poppaeas  Ehe  mit  Nero  beseitigt  wurde 
(Tac.  ann.  XIV  65).  Ein  Beweis  für  diese  Annahme  fehlt  völlig. 
Mit  Recht  tritt  aber  Fr.  wohl  für  die  Lipsius-Konjektur  Thraecis 
cum  Thraece  in  §  8  ein. 

Die  auch  mit  der  Überlieferung  zusammenhängende,  früher  viel 
umstrittene  Fi-age  nach  der  ursprünglichen  Buchfolge  der  nat.  qn. 
kann  seit  A.  Rehms  Aufsatze  über  Anlage  und  Buchfolge  von  Sen.s 
mit.  qu. ,  Philol.  LXVI  1907,  374—395,  als  erledigt  gelten 
(Sen.s  Werke  71  ff.).  Danach  hat  noch  *Jos.  Meuer  die  Buch- 
folge  in  Sen.s  nat.  qu.  behandelt,  Prgr.  Rumburg  1011,   nach  Max. 


168  Karl  Münscher, 

Adler,  Zeitschr.  f.  d.  österr.  Gymnas.  LXVII  1916,  235  eine 
ganz  oberflächliclie  Arbeit,  deren  Verf.  weder  Gerckes  Sen.-Studien 
noch  seine  Ausg.  kennt  und  im  wesentlichen  Gundermanns 
1890  in  Fleckeisens  Jbb.  vertretener  Anschauung  folgt.  Buch  VI 
der  nat.  qu.  ist  durch  das  1,  2  erwähnte  Erdbeben  vom  5.  Febr.  63^ 
das  Campanien  und  besonders  Pompei  verheerte,  auf  Sommer  oder 
Herbst  63  festgelegt.  Gemäß  seiner  Anschauung  von  der  ur- 
sprünglichen Reihenfolge  der  Bücher  (III  IVa  IVb  II  V  VI  VII  I) 
mußte  Gercke  den  größten  Teil  der  Bücher  vor  VI,  d.  h.  vor 
Frühling  63,  entstanden  denken  und  ihre  Abfassung  bis  zum  Herbst 
62  zurückreichen  lassen.  Durch  ßehm  steht  fest,  daß  die  Bücher 
in  der  Abfolge  IVb — VII.  I — IVa  entstanden  sind:  die  Mehrzahl 
der  Bücher  der  nat.  qu.  ist  also  nicht  vor ,  sondern  nach  VI,  also 
erst  nach  Sommer-Herbst  63  in  der  allerletzten  Lebenszeit  Sen.s, 
völlig  zu  gleicher  Zeit  mit  den  Luciliusbriefen  und  der  moralis 
philosophia,  entstanden.  Diese  chronologische  Schlußfolgerung,  die 
Rehm  noch  nicht  gezogen  hatte  (s.  Sen.s  Werke  73  f.),  macht  auch 
die  Tatsache  leicht  verständlich,  daß  zwischen  den  Luciliusbriefen 
und  den  nat.  c[u.  so  zahlreiche  wörtliche  Übereinstimmungen  be- 
stehen. Sen.  arbeitete  eben  an  beiden  Werken  gleichzeitig  in  den 
Jahren  63/4.  Auch  Bourgerys  Feststellung  (170  f.,  s.  oben  S.  114) 
stimmt  zu  diesem  Zeitansatz,  daß,  nach  den  Klauseln  zu  schließen, 
die  Briefe,  prov.  und  nat.  qu.  III  die  letzten  Prosawerke  Sen.s  seien. 
Daß  Poseidonios  es  im  wesentlichen  gewesen  ist,  der  Sen.  den 
Stoff  zu  seinen  nat.  qu.  geliefert  hat,  kann  heute  als  ausgemacht 
gelten.  Für  das  VII.  Buch  de  cometis  hat  es  Rud.  Hartmann, 
De  Sen.  nat.  qu.  1.  VII.,  Diss.  Münster  1911  zu  erweisen  unter- 
nommen, daß  der  von  Sen.  mehrfach  genannte  Poseidoniosschüler 
Asklepiodotos  mit  seinen  alriai  cpvarA.al  der  Autor  gewesen  sei, 
aus  dem  Sen.  seine  Kenntnisse  auch  über  Poseidonios  Anschauungen 
entnommen  habe.  Das  gleiche  suchte  ein  zweiter  Schüler  W.  Krolls 
für  das  I.  Buch  de  ignibus  caelestibus  zu  erweisen,  Joh.  Hem- 
sing,  De  Sen.  nat.  qu.  1.  L,  Diss.  Münster  1913.  Daß  Asklepio- 
dotos für  Sen.s  nat.  qu.  im  ganzen  das  Matarial  geboten  habe, 
bestreitet  Aug.  Brenn  ecke,  Animadversiones  ad  fontes  nat,  qu. 
Sen.,  Diss.  Greifswald  1913,  in  Kap.  I  De  Asclepiodoto.  Nur  über 
Erdbeben  führe  Sen.  Asklepiodotos  als  Zeugen  an,  und  diese  An- 
führungen habe  Sen.  wahrscheinlich  seinem  eigenen  Werke  de 
motu  terrarum,  das  er  in  jüngeren  Jahren  eben  nach  Asklepiodotos 
ausgearbeitet  hatte,  entnommen,  wie  er  wahrscheinlich  nat.  qu.  IVa 
de  Nilo  auf  Grund    seines  Jugendwerkes    de  situ    et  sacris  Aegyp- 


Bericht  über  die  Seneca-Literatur  aus  den  Jahren  1915 — 1921.     169 

tiorum  rasch  verfassen  konnte.  In  Kap.  II  De  Aristotele  behandelt 
B.  Sen.s  Stellung  zu  Aristoteles  Meteorologie :  Sen.  zitiert  sie  zwar 
öfters,  kennt  sie  aber  wahrscheinlich  nur  durch  Poseidonios  Ver- 
mittlung. Die  Quellenfrage  von  Sen.  nat.  qu.  II  de  fulminibus  et 
tonitribus  behandelt  A.  Schmekel,  Isidorus  von  Sevilla,  sein 
System  und  seine  Quellen  (Bd.  II  von  Sch.s  Forschungen  über  die 
positive  Philosophie  in  ihrer  gesch.  Entwicklung),  Berlin  1914,  245  ff., 
ohne  die  genannten  Dissertationen  zu  kennen ;  Asklepiodotos  und 
Poseidonios  seien  die  Quellen ,  besonders  sei ,  was  Sen.  als  eigne 
Ansicht  entwickelt,  in  Wahrheit  die  des  Poseidonios. 

Endlich  hat  C.  Reinhardt  in  seinem  großzügigen  Buche 
über  Poseidonios,  München  1921,  die  Frage  nach  dem  Verhältnis 
Sen.s  in  den  nat.  qu.  zu  Poseidonios  jüngst  erörtert  im  Kap.  über 
die  Meteorologie  (135  ff.).  Nur  aus  Sen.  ist  nach  R.s  Meinung  eine 
Vorstellung  von  Poseidonios  meteorologischen  Lehren  zu  gewinnen,, 
da  bei  ihm  allein  größere  Massen  in  lebendigerer  Aneignung  er- 
halten seien.  Aber  nicht  die  eigentlich  zetematischen  Partien,  in 
denen  allein  der  Name  Asklepiodotos  bei  Sen.  auftaucht,  dessen 
Schrift  also  eine  Art  Zwischenstadium  zwischen  Sen.  und  Posei- 
donios darzustellen  scheint,  bieten  den  reinen  Poseidonios,  sondern 
die  anders  gearteten,  aus  dem  Rahmen  der  quaestiones  sich  lösenden^ 
systematischen  Abschnitte.  In  jenen ,  den  zetematischen,  tritt  eine 
schulmäßig  gleichartige  Grundform  zutage  nach  dem  Schema :  Be- 
hauptung, Einwürfe,  Widerlegung.  Dies  Formelement  sei  wohl  aus 
Asklepiodotos  von  Sen.  übernommen.  Als  systematische  Partie  echt 
poseidonischen  Gepräges  erscheint  R.,  trotz  mancher  Kürzung  und 
Verwirrung  bei  Sen.,  jener  einleitende  Abschnitt  des  II.  Buches, 
den  Sen.  der  Erörterung  über  Blitz  und  Donner  als  quaedam  in 
commune  dicenda  (2,  1)  voranstellte  {haec  necessarimn  fuit  praeloqui 
11,  3),  als  er,  nachdem  schon  fünf  Einzelbücher  über  Meteorologie 
von  ihm  verfaßt  und  publiziert  waren  (IVb — VII.  I),  den  Entschluß 
faßte ,  das  Gesamtgebiet  der  Physik  zu  bearbeiten  (wie  Rehm  — 
s.  oben  S.  167  —  erkannt  hat)  :  da  hat  Sen.,  Poseidonios  folgend, 
eine  allgemeine  Charakteristik  und  Physik  desjenigen  Elements, 
das  an  den  meteorologischen  Erscheinungen  den  größten  Anteil  hat, 
der  Luft,  zu  geben  versucht:  'Nach  Gutdünken,  soweit  als  Einleitung- 
für Fragen  über  Blitz  und  Donner  dienlich ,  ist  ein  Stück  der  all- 
gemeinen Elementenlehre  {voi)  tcbqI  otoixsicov  X6yot>)  für  einen 
beschränkten  Zweck  gemodelt  worden'  (R.  147).  Poseidonios  System 
liegt  also  letzten  Endes  bei  Sen.  überhaupt  zugrunde;  aber  in  den 
Quellen,  die  Sen.  benutzte,  überwog  die  'zetematische,  schulfiichsige 


170  Karl  Müiiseher. 

Behandlungsart  der  physikalischen  Probleme'.  Das  zeigt  R.  im  ein- 
zelnen an  der  Physik  der  Winde  im  V.  Buche,  das  im  wesentlichen 
disponiert  ist  nach  der  Poseidonischen  Einteilung  der  Winde  nach 
den  Ortsschichten  ihrer  Entstehung  in  Kap.  4,  das  daneben  aber  auch 
'Spuren  einer  sachlichen ,  jedoch  im  Negativen  stecken  bleibenden 
Kritik'  zeigt.  Ähnlich  liegt's  in  der  Darstellung  des  Vulkanismus 
(de  terrae  motu)  im  VI.  Buche:  neben  Gedanken  des  Poseidonios 
(besonders  auch  in  Kap.  16/7)  steht  Asklepiodots  von  Poseidonios  Zwei- 
gliederuug  abweichende  Lehre  (Kap.  22 — 24)  von  der  Dreigliederung 
der  Erdbeben.  Auch  im  I.  Buche  liegt  nach  R.  Poseidonios,  wenn 
auch  arg  entstellt,  in  der  Theorie  über  den  Regenbogen  zugrunde 
(vgl.  I  5,  13;  von  Artemidoros  von  Parion  I  4,  3  glaubt  R.  nicht, 
daß  er  iSen.  durch  Poseidonios  vermittelt  sei,  sondern  daß  Sen.  ihn 
selbst  zur  Hand  hat;  S.  104,  1).  Auch  im  III.  Buche  findet  R. 
systematische ,  also  speziell  Poseidonianische  Stücke ,  bes.  in  den 
Kap.  2  und  3,  aber  nicht  in  dem  Schlußgemälde  von  der  zukünf- 
tigen, die  Menschheit  austilgenden  großen  Flut.  Das  Gesamtergebnis 
der  Reinhardtschen  Untersuchungen  darf  man  für  die  Quellenfrage 
der  nat.  qu.  so  formulieren :  in  den  systematischen  Abschnitten  folgt 
Sen,  Poseidonios  unmittelbar,  ihn  kürzend  und  seinen  Zwecken 
entsprechend  abändernd,  aber  auch  in  den  zetematischen  Abschnitten, 
den  eigentlichen  quaestiones,  liegt  durchgängig  Poseidonisches  Tat- 
sachen- und  Gedankenmaterial  zugrunde ,  aber  vermittelt  durch 
einen  Mittelsmann:  dieser  war  wahrscheinlich  Asklepiodotos ,  den 
R.  (162)  unwillig  charakterisiert  als  *^einen  ziemlich  elenden  Skri- 
benten, wahrscheinlich  Schöngeist,  Modephilosoph  und  ein  Gewimmele 
tauber  Einfälle !'  —  Endlich  ist  noch  zu  erwähnen ,  daß  bei  R. 
in  den  Anmerkungen  auch  ein  paar  Bemerkungen  zum  Sen. -Text 
abfallen:  II  2,  3  Zusatz  aut  compactione  überflüssig  (141,  2).  V  5,  1 
deinde  solri  {solis)  hnpdu  (152,  1).  VI  14,  2  größere  Lücke  nach 
jglacct  esse  terram  (160,  1).  III  2,  2  das  überl.  lucidae  richtig 
(167,   1).    S.  Nachträge. 

Wie  stark  Sen.s  Werke,  besonders  auch  seine  nat.  qu,,  im  Mittel- 
alter gewirkt  haben,  ist  bekannt  genug  (s.  oben  S.  120).  Einen  inter- 
essanten neuen  Beweis  für  diese  Tatsache  liefert  Hier.  Geist,  Sen. 
nat.  qu.  und  Roger  Bacos  Opus  malus,  Blatt,  f.  d.  bayer.  Gymn.-Wes. 
LH  1916,  178—184.  G.  hat  nicht  weniger  als  27  Zitate  bei  Baco 
aus  den  nat.  qu.  gezählt ,  darunter  allerdings  einige  gedächtnis- 
mäßig ungenaue,  andere  mit  kleineren  oder  größeren  absichtlichen, 
zweckdienlichen  Abänderungen :  im  ganzen  zitiert  aber  Baco  die  nat. 
qu.    nach    einer  Handschr.  (einmal  verbunden  mit  benef.  VII  1,  5), 


Bericlit  über  die  Seneca-Literatur  aus  den  Jahren  1915 — 1921.     171 

oft  mit  genauer  Bucbangabe,  so  daß  man  erkennt,  sie  gehörte  zur 
Klasse  0  und  bot  wie  diese  die  Bücher  in  der  ursprünglicheu 
Reihenfolge  IV  b — VII.  I — IV  a.  Möglich,  daß  sie  IV  a,  daä  letzte 
Buch  de  Nilo,  noch  vollständig  oder  vollständiger  als  unsere  Hand- 
schriften enthielt.  Keine  unserer  Handschriften  ist  älter  als  s.  XII; 
Baco  schreibt  im  13.  Jahrb.,  seine  Handschrift  kann  sehr  viel  älter 
gewesen  sein ;  jedenfalls  sind  seine  Lesarten  im  Sen.-Text  durchaus 
der  Beachtung  wert.  K.  führt  die  Varianten  auf  und  glaubt  an 
einigen  Stellen  nach  Baco  unsern  Text  bessern  zu  müssen.  IV a 
2,  5  scheint  mir  aber  Bacos  convenientiora  für  quietiora  (in  einigen 
Handschrn.  equietiora)  doch  nicht  ganz  sicher.  VI  8,  3'4  wird  Mad- 
vigs  Konjektur  tandem  (st.  quklem)  bestätigt,  das  man  in  den 
Text  aufnehmen  wird.  VII  30,  1  ist  Bacos  de  divinis  dem  liand- 
schriftl.  de  das  vorzuziehen ;  aber  sein  Text  si  in  oratione  argumento 
modestiae  fungimur  (die  letzten  drei  Worte  ebenso  in  d)  scheint 
mir  eine  christliche  Interpolation  zu  enthalten  mit  in  oratione.  Was 
aber  Gercke  im  Texte  bietet,  mit  der  Mehrzahl  der  Handschriften  : 
si  in  onine  argumentum  modestiae  fingimur  verstehe  ich  offengestanden 
nicht  recht,  und  der  Begriff  des  Sichversteilens,  der  in  dem  fmglmur 
steckt,  scheint  mir  wenig  passend;  fungimur,  das  Baco  und  ÖT 
bieten,  wird  also  richtig  sein,  dazu  ist  aber  modestia[e]  erforderlich, 
in  . .  .  argumento  bietet  Baco  und  ebenso  (5,  dessen  in  omni  argumento 
wohl  anzunehmen  sein  wird,  im  ganzen  also :  si  in  omni  argumento 
modestia  fungimur. 

5.  Ad  Lucil  ium  ep  istulae  m  oral  es. 
Der  ersten  Ausgabe  der  Luciliusbriefe  durch  0.  H  e  n  s  e  in 
der  Bibl.  Teubneriana  im  Jahre  1899  blieb  trotz  großer  Fortschritte 
gegenüber  Fickert  und  Haase  doch  der  Vorwurf  nicht  erspart,  daß 
sie  nicht  auf  genügend  breiter  handschriftlicher  Grundlage  ruhe 
(0.  Roßbach,  Berl.  philol.  Woch.  1899,  614—626,  647—652). 
Die  zweite  Ausgabe,  1914  erschienen,  hat  in  mancher  Beziehung 
dem  früheren  Mangel  abgeholfen*,  z.  B.  ist  der  Parisinus  8539  jetzt 
vollständig  verglichen ;  auch  ist  Henses  Urteil  über  die  jüngeren 
Handschrn.  nicht  mehr  so  ablehnend  wie  früher  (praef.  p.  XXVI; 
vgl.  Roßbach,  Berl.  philol.  Woch.  1914,  490—8),  aber  ein  Un- 
stern schwebte  auch  über  dieser  zweiten  Ausgabe :  H.  muß  im  Ein- 
gang seiner  praef.  bekennen,  daß  er  die  Entdeckung  des  Italieners 
Achilles  Beltrami  noch  nicht  verwenden  konnte,  daß  nämlich 
der  in  der  Bibl.  Quiriniana  in  Brcscia  liegende  codex  B  II  6  nicht 
eine  Handschr.  des  14.  Jahrh.  ist,  sondern  dem  9. — 10.  Jahrh.  ent- 


172  Karl  Münscher. 

stammt  und  für  die  Textlierstellung  von  großer,  umgestaltender  Be- 
deutung ist.  Zu  Beltramis  Veröffentlichungen  (Un  nuovo  codice 
delle  epistole  morali  di  Seu.,  Rivist.  di  filol.  XLI  1913,  549-578. 
XLII  1914,  1—32,  dazu  C.  Cipolla,  ebd.  93—95  u.  Beltrami 
455  f.)  nahm  Hense  selbst  Stellung:  Eine  Sen.-Handschr.  der 
Quiriniana  in  Brescia,  Berl.  philol.  Woch.  1914,  125  —  7,  604 — 8, 
Ü35 — 9,  und  stellte  in  der  praef.  seiner  Ausgabe  p.  VI,  falls  nötige 
ein  Supplementum  in  Aussicht.  Nachdem  nun  inzwischen  eine  Aus- 
gabe der  *Epistularum  11.  I — XIII  ad  codicem  praecipue  Quirinia- 
num  von  Beltrami  selbst,  Brescia  1916,  erschienen  und  nach 
Kriegsende  auch  Hense  bekannt  geworden  ist,  hat  dieser  nunmehr 
sein  Versprechen  eingelöst  und  sein  Supplementum  Quirinianum 
1921  im  Umfange  von  12  Seiten  erscheinen  lassen  —  in  der  Tat 
ein  kümmerlicher  Notbehelf,  mit  dem  wir  Deutschen  uns  vielleicht 
noch  auf  Jahre  hinaus  werden  begnügen  müssen ;  wann  wird  eine 
neue  Textrezension  der  Briefe  für  uns  möglich  sein?  Mag  Henses 
Hoffnung,  die  er  am  Schluß  seines  Praemonitum  ausspricht,  nicht 
zuschanden  werden :  sed  vita  si  suppetet,  alias  spero  mihi  dabitur  occasio 
etiam  de  eis,  (juae  in  praesentia  reposui  magis  quam  exposui,  dispu- 
tandi  paulo  uberius.  Auch  zu  den  ihm  bekannt  gewordenen  Emen- 
dationsversuchen  nimmt  H.  im  Supplementum  Stellung;  es  sind, 
soweit  ich  sehe,  die  folgenden:  Roßbachs  Rezension,  in  der 
493  ff.  einzelne  Stellen  besprochen  sind.  *Einar  Löfstedt, 
Eranos  XIV  1915,  142—164,  Stellen  der  Briefe  mit  Berücksichti- 
gung der  Klauseltechnik  behandelnd.  K.Busche,  Zu  Sen.s  Briefen 
an  Lucilius,  Sokrates  VII  1919,  42  ff.  Natürlich  gehen  die  Urteile 
über  den  Wert  der  Q-Lesarten  im  einzelnen  noch  auseinander; 
vgl.  die  Anzeige  des  Suppl.  von  K.  Busche,  Philol.  Woch.  1922, 
651 — 5,  der  noch  ein  paar  Bemerkungen  zu  einzelnen  Stellen 
beifügt. 

Unbekannt  ist  mir  (wie  wohl  auch  Hense)  die  neue  amerikanische 
Ausgabe  *  Sen.  ad  Lucil.  epist.  mor.  with  an  English  Translation 
by  Rieh.  Mott  Gummere  I  u.  II,  New  York  1917  u.  1920; 
Rezensionen  von  *  W.  P.  Mustard,  Amer.  Journal  of  Philol. 
XXXVIII  1917,  446  und  *R.  M.  Jones,  Class.  Philology  XIII 
1918,  416—8. 

*D.  Bassi,  Sen.  a  Lucilio,  studi  e  saggi.  Florenz  1912  (160  S.). 

*R.  M.  Gummere,    The  moderne   note   in  Sen.    letters,    Class. 
Philology  X  1915. 

*Seneca,    Brieven    aan  Lucilius.     Eene    bloemlezing  van  inlei- 
diug    en    aanteekeningeu    voorzien,    door    H.    Wagenvoort,    von 


Bericht  über  die  Seneca-Literatur  aus  den  Jaliren  1915 — 1921.     173 

*P.  Faider,  Mus.  Beige  18,  9,  183 f.,  als  gutes  Hilfsmittel  an- 
erkannt. 

An  kritischen  Beiträgen,  die  ich  weder  in  Henses  Ausgabe  noch 
in  seinem  Supplementum  berücksichtigt  finde,  nenne  ich  folgendes: 
J.  van  Wageningen,  Varia,  Mnemos.  XXXIX  1911,  137—9, 
beachtensAverte  Vorschläge :  2,  d  in  quo  (niulta)  medicamenta  temptan- 
tur  (schon  Forbiger  übersetzte  in  Langenscheidts  Bibliothek:  'ander 
(viele)  Heilmittel  versucht  werden').  4,  3  qtiia  ultimum  (st.  multum) 
metus  adferunt.  15,  4  quodlibd  ex  his  cliije  (soweit  zweifellos  r.) : 
%i.sus  {usum  überl.)  reddet  (überl.  rudern  oder  rüde)  facile.  In  §  7 
Umstellung  des  Satzes  nee  tu  intentionem  —  deprimere  hinter  pro- 
duxeris,  zur  besseren  Ordnung  der  Gedanken  (notwendig?). 

T.  G.  T ucker,  Notes  and  suggestions  on  Latin  Authors, 
Class.  Quarterly  VII  1913,  55—7.  Hält  15,  9  ei  unutn  für  korrupt 
und  das  folgende  Graecum  für  Schreibernotiz,  dgl.  das  idem  quid 
(Is.  quod)  supra\  das  betr.  gr.  Wort  soll  snojviov  sein,  das  für  et 
unum  einzusetzen  wäre;  ich  halte  den  überl.  Text  für  richtig  mit 
der  von  Hense  (suppl.)  vorgeschlagenen  Streichung  des  Kommas  vor 
eece.  Dagegen  sehr  ansprechend  T.s  Vorschlag  21,  10  portulis  (st. 
hortulis).  Möglich :  80 ,  1  licehit  uno  (fono)  (Summers  adu)  vadere 
(Henses  tuto  st.  uno  jedenfalls  nicht  richtig).  107,  l'  iam  pusiUa 
te  angit  (c,  überl.  tangit)  (^res)  (ausgelassen  vor  folgendem  servi-^ 
besser  als  Henses  Herstellung  i.  p.  {te  res)  tangit?).  107,  3  sclat  se 
venisse,  ubi  tovat,  (fulgurat,  cadit)  fulmen  (nötig?).  107,  10  nee  desbnus 
huic  (überl.  Intnc)  operis  pulclierrimi  cursii  (Dat;  überl.  cursum,  des- 
halb Hense  mit  g  deseramus).  Schwerlich  anzunehmen  40,  10  die, 
numquid  manducas?  Löfstedt  will  (nach  Hense)  dafür  lesen  die, 
nnmquidnam  dicas-^  überliefert  ist  numquam^  also  am  einfachsten  die! 
numquam  dices  (st.  dicas)?,  wie  Muller  (s.  unten  S.  175)  schreiben  will. 

W.  G  e  m  0 1 1 ,  Rez.  der  Henseschen  Ausg. ,  Woch.  f.  klass. 
Philol.  1914,  713 — 5,  verbessert  ein  paar  Druckfehler,  beanstandet 
üngleichmäßigkeit  der  Orthographie  (z.  B.  104,  21  sacvos  neben 
avarus,  fraudulentus),  wünscht  mehrfach  andere  Interpunktion  (z. 
B.  95 ,  53  vor  in  commune  nati  sitmus  zu  interpungieren ,  davor 
mit  Koch  (i7o)  liabeamus) ,  lehnt  einige  Konjekturen  Henses  ab  (so 
mit  Eecht  3,  1  itaque  si  st.  sie),  tritt  für  Konjekturen  anderer  Ge- 
lehrter ein  (teilweise  zu  Unrecht,  wie  22,  11  für  Schweighäusers 
tuta  st.  tua,  27,  1  für  Volkmanns  adco  st.  idco)  oder  für  Lesarten 
der  deteriores  (z.  B.  8,  7  comptlamus  c  für  kaum  verständliches 
complicamiis)  oder  auch  der  vetustiores  (wie  73,  8  ea  [V  P,  et  g] 
tarn   omnium    tota    quam    singulorwn  sunt).    Wenig  glaublich  ist  G.s 


l  74  Karl  Münseher. 

Annahme  von  Glossemen  81,  14  quod  praestabaf,  90,  8  ante  iec- 
tores.  Sen.s  Sprachgebrauch  entsprechend  schreibt  G.  39,  5  qm(s) 
liostis  (vgl.  14,  8  quis  aestus.  40,  5.  92,  2.  94,  44).  Auch  sein 
Vorschlag  97,  9  qiii  damndbatur  uno  (st.  uni)  adulterio,  ahsohttKS  est 
multis  scheint  berechtigt,  da  der  Dativ  unerklärbar.  Endlich  weist 
G.  noch  unter  den  testimonia  bei  Hense  fehlende  Horazstellen  und 
bei  Otto  fehlende  sprichwörtliche  Redensarten  nach. 

Ders.  zu  Sen.s  epist.  mor. ,  Hermes  XLIX  1914,  621 — 3, 
mehrere  beachtliche  Vorschläge :  23,  3  si  modus  (überl.  modo)  intra 
te  ipsum  sit.  92,  7  excedat  ex  hoc  animalium  numero  pulcherrimo,  a 
(fit.  ac)  dis  secundo  {=  nahestehend).  93,  6  quam  diu  ero,  (vere)  ui 
sim.  98,  10  aequo  animo  perde,  {quo)  pereundum  est.  Vielleicht  un- 
nötig 94,  23  Sti-eichung  des  aut  vor  pauperem.  Falsch  ist  der  Ver- 
such 103,  4  non  tc  noceant,  sed  ne  fallant,  das  te  durch  scilicet  zu 
ersetzen,  da  nocere  c.  accus,  vulgär  und  erst  seit  Hadrians  Zeit  be- 
legt ist.  W.  A.  Baehreus,  ßerl.  philol.  Woch.  1918,  503  f.,  hat 
gezeigt,  daß  te  zu  halten  ist,  aber  nicht  als  abhängig  von  noceant, 
sondern  von  dem  zwar  zweiten,  aber  positiven  Gliede  sed  ne  fallant. 
Ähnlich  wird  91,  6  quidquid  longa  series  multis  laborihus,  midta  de- 
um  indiügentia  struxit,  id  imiis  dies  spargit  ac  dissipat,  nicht  mit  G. 
ein  annorum  neben  series  zu  stellen ,  sondern  ein  dierimi  aus  dem 
nachfolgenden  unus  dies  herauszuhören  sein. 

H.  Wagenvoort,  Quaestiunculae  Annaeanae ,  Mnemos. 
XLIV  1916,  149—162.  XLVI  1918,  216—224.  7,  5  stellt  W., 
ohne  die  von  Hense  vorgenommene  Umstellung,  gut  her  sed  latro- 
cinium  fecit  aliquis.  quid  ergo?  oecidet  (nur  L^,  sonst  occidit)  homi- 
nem  quia  occidit?  ille  meruit,  ut  hoc  piaterelnr.  Beachtenswert  auch 
die  Vorschläge  zur  Heilung  bisher  als  unheilbar  betrachteter  Stellen: 
20,  11  nee  ego ,  Epicure,  (sc.  scio),  an  gloriosus  (überl.  angulus  si) 
iste  pauper  contempturus  sit  divitias.  22,  17  inanes  omnium  bonorum 
(in)  summa  (überl.  sumus)  vitae  laboramus.  26,  3  ist  auch  W.s 
Heilungsversuch  der  verzweifelten  Stelle  zu  gewaltsam,  als  daß  er 
glaublich  erschiene.  Unnötig  erscheint  mir  12,  5  in  extremo  arti- 
culo  St.  in  exfrema  tegula.  Dgl.  33,  7  {tibi)  impera  et  die.  In  brei- 
terer Darlegung  erörtert  W.  den  Gebrauch  von  non  tantum  .  .  .  sed 
bei  Sen.,  und  für  jede  der  dreifachen  Gebrauchsweisen  (adversativ, 
korrigierend,  kopulativ)  gewinnt  er  noch  ein  Beispiel  durch  Emen- 
dation:  adversativ  124,  1  non  est  elegantiae  tuae  tantum  (Pincianus, 
sonst  überl.  tarn)  magna  sectari,  sed  utilia  (st.  sicuti)\  korrigierend 
123,  5  si  non  tantum  aequus  {g,  sonst  fum  aecus)  molestias,  sed  placi- 


Bericht  über  die  Seueca-Literatur  aus  den  Jabren  1915 — 1921.     175 

dus  aspexit;  kopulativ  121,  24  nee  tantuni  (überl.  twn)  per  se  pro- 
futurum  erat,  sed  sine  lioc  mala  res  profuisset. 

In  der  zweiten  kleinen  Abhandlung  '■xpöyog  yt]QCog  ap.  Sen.' 
macht  W.  auf  die  engen  Berührungen  aufmerksam ,  die  zwischen 
Sen.s  zwei  Briefen  über  das  Greisenalter  (12  u.  26)  und  Ciceros 
Cato  maior  sowie  den  Resten  des  Dialoges  des  Juncus  nsQi  yt^QCog 
bestehen;  die  nahe  Verwandtschaft  der  beiden  letzten  Autoren,  auf 
Benutzung  entweder  derselben  oder  nahe  verwandter  Vorlagen  be- 
ruhend, hat  Fr.  Wilhelm  klargelegt  in  seinem  Prgr.  Wilhelms- 
gymn.  Breslau  1911  (vgl.  Rez.  Th.  Bö  gel,  Dtsch.  Lit.-Ztg.  1913, 
2010—2).  Mit  Recht  betont  W.,  daß  beide  Sen.-Briefe  offenbar 
bald  hintereinander  geschrieben  sind  (26  weist  mit  seinem  ersten 
Worte  modo  auf  12  unmittelbar  zurück).  Aber  nach  Sen.s  Angaben 
(epist.  12  im  Herbst,  18  im  Dezember,  23  im  Frühling  geschrieben) 
müßten  beide  etwa  ein  halbes  Jahr  auseiuanderliegen.  W.  schließt 
daraus,  daß  Sen.  zur  Edition  eine  Umordnung  der  Briefe  vor- 
genommen habe  —  jedenfalls  ein  Beweis,  daß  man  aus  den  zeit- 
lichen Angaben  Sen.s  keine  festen  Schlüsse  ziehen  kann.  In  einem 
letzten  Abschnitte  handelt  W.  De  interpolationibus  quibusdam.  Nach 
einigen  Bemerkungen  gegen  die  wenig  günstige  Beurteilung  Sen.s 
als  Philosoph  durch  Howald  (s.  oben  S.  116)  verteidigt  er  77,  2 
die  Überlieferung  sipanim  Alcxandrinarum  inshjne  indicmm  est,  wo 
insigne  Adjektiv  im  Sinne  von  peculiare  sei  (Hense  streicht  nach 
Murets  Vorgange  indicium).  Dagegen  will  W.  die  Schlußsätze  der 
Briefe  46,  3  nisi  qnod — causa  und  120,  22  de  aliqiio — mutatio  est 
als  Zusätze ,  die  die  pointierten  Schlußmahnungen  abschwächen, 
streichen ;  zwingend  erscheinen  mir  die  sachlichen  Bedenken ,  die 
diese  Interpolationen  erweisen  sollen,  nicht,  und  sprachliche  Anstöße 
treten  doch  wohl  nicht  dazu. 

Im  selben  Mnemos.-Bd.  XLVI  1918,  53—72,  veröffentlicht  F. 
Muller  Bemerkungen  Ad  Sen.  epistulas,  und  zwar  zu  den  Briefen 
40 — 70 ;  vielfach  berücksichtigt  er  dabei  wieder,  wie  bei  seiner  Be- 
sprechung von  Stellen  der  uat.  qu.,  den  Klausel-Rhythmus  •,  aber  er 
hat ,  wie  mir  scheint ,  in  den  Briefen  keine  glückliche  Hand  So- 
wohl unter  den  mit  dem  Rhythmus  begründeten  Änderungen  Avie 
unter  den  anderen  finden  sich  recht  viel  willkürliche  und  ganz  un- 
nötige. So  ist  von  den  Vorschlägen  zu  Br.  40  nur  der  eine  plau- 
sibel (s.  oben  S.  173)  §  10  die!  numqnani  diccs,  besser  als  Madvigs 
num  iam  dicas.  In  §  2  ist  kein  Grund  ve{he)mentiori  an  Stelle  von 
iuveniori  oder  iuveni  zu  setzen ;  Odysseus  ist  der  orator,  Nestor  der 
senex  und    überhaupt   kein  Zusatz   zu   oratori  notwendig  (so  richtig 


176  Ksly)  Münscher, 

O.  H.  Müller,  s.  unten  S.  177,  p.  20/3).  In  §  8  sind  Mullers 
zwei  Änderungen  an  der  Überlieferung  efßctus  (überl.  tff'cdus)  Im- 
petus stä  (mit  Buecheler  halte  ich  keine  Änderung  für  nötig  —  so 
auch  Müller  p.  31  — ;  Hense  nimmt  Murets  Konjektur  affedus  im- 
potens  sui  auf)  und  ingruat  (st.  ingerat)  reine  AVillkür,  ebenso  in 
9  si  non  comnxeris  istis  (st.  videris  istos;  vgl.  Müller  p.  31).  Gegen 
M.s  ita  maligne  (st.  tarn  longe)  46,  3  hat  bereits  Wagenvo ort  (s. 
oben  S.  174)  p.  223,  1  Einspruch  erhoben.  Und  z.  B.  auch  die 
Vorschläge  zu  Br.  48,  in  denen  M.  jedesmal  die  Klausel  mit  ent- 
scheiden lassen  will ,  sind  abzulehnen ;  z.  B.  schreibt  er  §  9  quam 
facies  simplices  posuerit,  wo  die  Vulgata  mit  faciles  leges  posuerit 
doch    auch    eine    genügende  Klausel  -v^::^-^  liefert  (M.  mißt  '=^^^^'^). 

J.  B  erläge.  Ad  Sen.  epist.  27  ebd.  327/8  macht  den  recht  ein- 
leuchtenden Vorschlag,  §  5  nicht  noverat  mit  Gronov  zu  streichen, 
sondern  novimus  am  Schluß  und  davor  den  Nominativ  herzustellen, 
also  quos  tarn  hene  noverat  quam  paedagogi  nostri  (st.  Akkus.)  [no- 
f'imus]. 

W.  B.  Anderson,  Notes  on  Seu.s  Lettres,  Class.  Quartei-ly  XI 
1917,  102  f.,  nach  Berl.  philol.  Woch.  1918,  1190,  folgende  Vor- 
schlcäge:  12,  7  dixit  enim  {umis}  (GemoU  schon  a?ms)  . . .,  alius  ait. 
107,  10  nee  desimus  Imic .  . .  cursui  (wie  Tucker,  s.  oben  S.  173, 
der  aber  den  Dat.  cursu  annimmt).  12^,  1  ofßciosior  meliorque,  si 
quis  illum  (se.  diem)  {non)  exspectat  et  (ante')  luccm  primam  exsilit 
(übei-l.  exult). 

R.  L.  Dunbab  in,  Notes  on  Sen.  epist.  mor.  ebd.  179  if.,  auf- 
geführt Berl.  philol.  Woch.  1919,  111.  15,  9  Tuckers  Vorschlag  (s. 
oben  S.  173)  abändernd  et  xenium  ad  haec  beneficia  accedet.  29,  2 
spargenda  manu  semina  (überl.  manus  est).  33,  9  actarü  (st.  actuarii, 
Verleser  der  acta)  vice  fungitur^  dasselbe  Wort  Petr.  53,  1  u.  Suet. 
Jul.  55,  1  herzustellen.  40,  1  absentiae  zu  streichen  (schon  GemoU- 
Hense),  2  ima  nach  eßundit  streichen  (richtig  g  una),  9  größere 
Lücke  nach  P.  Yinicium ,  endend  mit  {lo)qui.  itaque  cum  quaerere- 
tnr,  aber  dicere  nach  dem  Eigennamen  kann  nicht  gestrichen  werden, 
nur  der  Nominativ  P.  Yinicius  (Madvig  -  Lipsius)  ist  also  erforder- 
lich. 10  die.  nmnquam  dictas?  (richtiger  dices,  s.  oben  S.  173). 
42,  4  da  passe,  quantum  volunt,  vor  eadem  veJIe  [si  subaudis]  cogno- 
sces  gestellt  (zu  gewaltsam).  47,  10  Variana  clade  (st.  Mariana,  mit 
Lipsius).  76,  5  p^opera  [tibi]  nee  tibi  accidat  quod  mihi  (Hense  tibi 
me  et  ipsi  accidat,  das  Richtige  g  ne  tibi  ohne  tibi  vor  ne)  •,  ebd.  gut : 
■quoniam  id  (Buecheler-Hense  diu)  [no7i]  adgressxs  es,  quod  perdiscere 
9>ix  senex  ptossis.    78,    21    si   nihil   te  cocgcrit,  si  nihil  exoraveris  (st. 


I 


Bericht  über  die  8eaeca-Litera.tur  aus  den  Jahren  1915  —  1921.     I77 

exoraverit,  unnötig).  80,  1  licehit  uno  (tenore)  {tono  Tucker,  oben 
S.  173)  vaderei  82,  24  pilis  (Erasmus  pilo)  st.  Pythio.  86,  10  quam 
iuvuret  (st.  kivat)  illa  balinea  Inf  rare  . .  .  quae  scires  (nötig?)  87,  9 
ad  cultrum  (sc.  venatorium  der  Arena).  88,  9  fac  potius  (discam)  oder 
{doceas)  (nnnötig). 

Job.  Stroux,  Handschriftliche  Studien  zu  Cic.  de  orat., 
Leipzig  1921 ,  beanstandet  S.  156,  2  die  von  Hense  epist.  95,  12 
aufgenommene  Erg<änzung  in  rem  pracsentem  und  schlägt  dafür  etwa 
aliqitam  vor,  aber  was  zu  ergänzen,  bleibt  unsicher. 

Erklärung  und  Auffassung  der  Luciliusbriefe  suchen  zu  fördern : 
G.  H.  Müller,  Aniraadversiones  ad  L.  A.  Sen.  epistulas  quae  sunt 
de  oratione  spectantes,  Diss.  Leipzig  (gedr.  Weida)  1910.  Verf. 
gibt  eine  Erläuterung  der  Literaturbriefe  Sen.s  in  drei  Kapiteln : 
I.  De  pronuntiatione ,  zugleich  die  Gesten  umfassend,  H.  De  pliilo- 
sophi  oratione ,  HL  De  oratione  con-upta  eiusque  causis  quid  Sen. 
censuerit.  Manchmal  etwas  weitschweifig,  in  nicht  immer  geschicktem 
Latein  —  auch  recht  viele  Druckfehler  entstellen  die  Arbeit  (vgl. 
Kez.  C.  Hosius,  Berl.  philol.  Woch.  1912,  626  f.)  —  unter  An- 
führung zahlreicher  Parallelen  aus  griech.  und  lat.  rhetorischer  Lite- 
ratur kommentiert  M.  die  einschlägigen  Briefe  und  Briefabschnitte, 
in  L  besonders  Br.  40,  in  IL  Br.  100  und  115,  1—2.  18.  75,  1—7. 
59,  4 — 7,  in  HL  Br.  114.  Verständigerweise  geht  M.  vom 
grammatisch-sprachlichen  Verständnis  aus  und  behandelt  auch ,  so- 
weit nötig,  textkritische  Fragen;  einige  seiner  Bemerkungen  zum 
40.  Briefe  wurden  schon  oben  erwähnt.  §  3  schlägt  er  noch  vor 
habeas  (st.  habe  vi)  istam  vim  dicendi.  Die  von  Sen.  erwähnten  Per- 
sönlichkeiten, wie  im  40.  Br.  besonders  Serapion,  im  100.  Papirius 
Fabianus,  Maecenas  und  Arruntius  im  114.  werden  ausreichend  be- 
handelt, auch  die  Stellung  Sen.s  zu  Cicero  und  anderen  der  älteren 
römischen  Schriftsteller  wie  Pollio  und  Livius  wird  beleuchtet,  vom 
Einfluß  des  Vaters  Sen.  auf  den  Sohn  gehandelt;  M.  schlägt  ihn 
nicht  allzu  hoch  an ,  höher  den  seines  Lehrers  Fabianus.  Die 
Quellen  für  Sen.s  rhetorische  Anschauungen  sucht  M.  im  allgemeinen 
bei  der  Stoa  und  bei  Epikur.  Gelegentlich  (S.  56  fg.)  wird  auch 
von  den  Klauseln  und  ihrer  Beliebtheit  bei  Sen.  gesprochen.  In 
einer  Conclusio  (S.  126  ff.)  faßt  Verf.  seine  Ergebnisse  zusammen. 
Die  Sorgfalt  Sen.s  in  der  Verwendung  rhetorischer  Termini  hebt 
er  darin  noch  besonders  hervor,  auch  daß  Sen.  im  Urteil  über  die 
corrupta  eloquentia  sich  einerseits  mit  Quintilian  nahe  berührt  und 
andererseits  in  seiner  eigenen  Stil-Kichtung  so  stark  von  ihm  abweicht, 

Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft  Bd.  192  (1922.  II).  12 


178  Karl  Münscher. 

mit  der  ei",  als  Gegner  der  sopListae  philosophantes,  eine  mittlere, 
von  jedem  Extrem  abgewandte  Linie  innehält. 

Zu  der  Frage,  welches  das  Verhältnis  des  114.  Sen. -Briefes 
mit  seiner  gehässigen  Beurteilung  des  Maecenas  zu  den  Maecenas 
verteidigenden  und  rühmenden  Maecenaselegien  sei ,  nimmt  M. 
(S.  110)  keine  klare  Stellung.  Jul.  Middendorf,  Elegiae  in 
Maecenatem  commentario  grammatico  iustructae  adiuncta  quaestione 
chronologica,  Diss.  Marburg  1912,  14  ff.,  hat  nach  andern  die  An- 
sicht zu  begründen  versucht,  Sen.s  Brief  sei  für  den  Dichter  die 
acpoQf.iij  zur  Abfassung  seiner  Verse  gewesen.  Daß  das  sehr  wenig 
wahrscheinlich,  habe  ich  (Sen.s  Werke  56  Anm.  3)  dargelegt;  schon 
deshalb  ist  das  Verhältnis  wohl  sicher  das  umgekehrte,  weil  der 
Dichterling  Maecenas  nur  wegen  seiner  saloppen  Kleidung  in  Schutz 
nimmtj  aber  alle  andern  Vorwürfe  Sen.s  gegen  Maecenas  gesamten 
Charakter  in  den  Elegien  nicht  berührt  Averden. 

A.  Bourgery,  Les  lettres  k  Lucilius  sont-elles  de  vi"aies 
lettres?  Rev.  de  philol.  XXXV  1911,  40 — 55,  kommt  in  seiner 
Nachprüfung  der  Literatur  über  die  moralischen  Briefe  (zuletzt  0. 
Binder,  Die  Abfassungszeit  von  Sen.s  Briefen,  Diss.  Tübingen 
1905)  zu  dem  Resultat,  daß  die  Briefsammlung  presque  totalem ent, 
totalement  peut-etre  artificiel  sei,  daß  Lucilius,  der  jüngere  Freund^ 
von  Rom  abwesend ,  Sen.  besonders  geeignet  schien  als  Adressat 
fast  aller  seiner  Schriften  in  den  letzten  Lebensjahren,  der  als  mo- 
deste  fonctionnaire  imperial  et  obscur  Chevalier  romain  mit  der  be- 
scheidenen Rolle,  die  ihm  Sen.  in  seinen  Werken  zuwies,  recht  zu- 
frieden sein  konnte,  die  ihm  ja  doch  die  Unsterblichkeit  eintrug, 
aber  le  vrai  correspondent  de  S6n.  c'est  lui-meme.  Was  die  Pu- 
blikation der  Briefe  anbelangt,  so  betont  B.  mit  Recht,  daß  man 
nur  das  eine  mit  Sicherheit  sagen  könne ,  daß  Br.  1 — 88  vor 
den  übrigen  veröffentlicht  seien;  als  eine  einheitliche  Gruppe  heben 
sich  davon  1 — 29  ab  mit  ihrer  Epikurbegeisterung  und  ihren  gleich- 
mäßigen Schlüssen  mit  einem  besonders  wohlgeprägten  philosophischen 
Satze  als  portorium  oder  ultima  pensio  am  Briefende",  sie  denkt  sich 
B.  im  Zeitraum  weniger  Tage,  etwa  Dezember  62  oder  63  verfaßt, 
wenig  später  die  zweite  Gruppe  (30 — 48)  von  sorgfältig  eingehal- 
tenem, mäßigem  Umfange,  dann  die  Briefe  (von  48  ab)  von  der 
Campanischen  Reise ,  darunter  schon  einige  umfänglichere,  endlich 
die  letzte  erhaltene  Gruppe  88 — 124,  in  Rom  und  seiner  Umgebung 
geschrieben,  kürzere  Briefe  unter  wirkliche  umfänglichere  Abhand- 
lungen mischend.  Bis  zu  seinem  Tode  hat  Sen.  vom  J.  63 ,  viel- 
leicht schon  von  62  ab,  an  den  Briefen  geschrieben ;  Gellius  zitiert 


Bericht  über  die  Seneca-Literatur  aus  den  Jahren  1915—1921.     179 

bekanntlich  (XII  2 ,  3  ff.)  ein  uns  nicht  erhaltenes  XXII.  Buch ; 
einen  Editor  der  hinterlasseuen  unpublizierten  Teile  müssen  wir 
also  annehmen  (Sen.s  Werke  76  f.). 

H.  Mutschmaun  ,  Sen.  u.  Epikur,  Hermes  L  1915,  321 — 356, 
beweist  im  Gegensatz  zu  Usener  (Epicurea  p.  LV  sqq.),  daß  Sen. 
nicht  nur  eine  Epitome  der  Epikurbriefe  in  Händen  hatte,  sondern 
'die  Briefe  Epikurs  und  seiner  großen  Schüler  wirklich  in  extenso 
gelesen  hat.'  Wenn  freilich  M.  in  Lucilius  mehr  sehen  will  als 
eine  Personifikation  des  Lesers  und  gla\ibt,  daß  Sen.  dem  Freunde 
tatsächlich  Epikurbriefe  übersandt  habe ,  so  kann  ich  ihm  dariu, 
wie  Kroll,   Lat.  Philol.  67  f.,  nicht  folgen.     S.  Nachträge. 

Über  den  epist.  87,  38  u.  40.  92,  5  genannten  Antipatros  von 
Tarsos  vgl.  0.  Hense,  Rhein.  Mus.  LXXIII  1920,  290—305. 

b)   Nicht  erhaltene  Werke. 

Ich  habe  in  meinem  Buche  über  Sen.s  Werke  den  Versuch  ge- 
macht, auch  die  nicht  erhaltenen  Werke  chronologisch  einzuordnen. 
Natürlich  ist  Festlegung  auf  bestimmte  Jahre  unmöglich,  nur  Ein- 
fügung in  einen  zeitlich  umschriebenen  Lebensabschnitt  bestenfalls 
erreichbar,  und  daß  dabei  vieles  zweifelhaft  bleibt,  dessen  bin  ich 
mir  durchaus  bewußt.  Die  Fragmente  sind  noch  zu  benutzen  in  der 
Ausg.  Fr.  Haas  es  III,  urspr.  1852,  418  ff.  Die  Firma  Teubner 
hat  diese  Fragmentsammlung  nebst  den  augehängten  Excerpta  et 
supposita  mit  dem  ludus  de  morte  Claudii  sowie  den  epigrammata 
super  exilio  aus  Haases  Bd.  I  vereint  und  im  J.  1902  als  beson- 
deres Supplementum  erscheinen  lassen  —  ein  sehr  kümmerlicher 
Notbehelf. 

Es  ist  eine  immerhin  wahrscheinliche  Vermutung,  daß  Seu. 
nicht  lange  nach  seiner  Rückkehr  aus  Ägypten  (im  J.  31/2),  also 
Avohl  noch  zu  Tiberius  Lebzeiten  seine  Schrift  de  situ  et  sacris 
Aegyptiorum  als  'Ausbeute  des  ägyptischen  Aufenthaltes'  ver- 
faßt hat  und  vielleicht  die  verwandte  de  situ  Indiae  bald  hat 
folgen  lassen  (so  auch  Gummere,  s.  oben  S.  118).  Er  wird,  als  er 
am  Ende  seines  Lebens  sein  letztes  Buch  nat.  qu.  IV  a  De  Nilo 
schrieb,  jene  Jugendschrift  über  Ägypten  selbst  wieder  benutzt 
haben.  Freilich  hat  Sen.,  wie  ich  (Sen.s  Werke  4  f.)  hervorgehoben 
habe,  sein  Interesse  für  Ägypten  in  seinem  ganzen  Leben  sich  be- 
wahrt —  in  meinen  Nachweisungen  über  Sen.s  Grundbesitz  in 
Ägypten  fehlt  ein  Hinweis  auf  A.  Stein,  Untersuchungen  zur 
Geschichte  und  Verwaltung  Ägyptens  unter  römischer  Herrschaft, 
Stuttgart  1915,  110,  wo  auch  Papyrusstellen  über  die  oiola  ^SfSmav/j 

12* 


180  Karl  Münscher. 

angeflilirt  sind  — ,  ""trotzalledem  wird  mau  aber  doch  geneigt  sein, 
die  beiden  ethnographischen  Monographien,  besonders  die  über 
Ägypten,  unter  dem  frischen  Eindruck  eigner  Kenntnis  und  Beob- 
achtung im  Osten,  also  in  den  nächsten  Jahren  nach  dem  Ver- 
lassen Ägyptens,  bald  nach  32,  verftißt  zu  denken.' 

De  vita  jjatris  wird  in  den  letzten  Jahren  des  vierten  Jahr- 
zehnts gefolgt  sein;  der  alte  Sen.  starb  nach  Tiberius  Tode  und 
erlebte  andrerseits  nicht  mehr  des  Sohnes  Verbannung  (Sen.s 
Werke  5).  Derselben  Zeit  etwa  muß  de  matr im  onio  entstammen, 
Sen.s  erster  Gattin  gewidmet,  vor  const.  (aus  den  ersten  Zeiten  der 
Verbannung)  verfaßt  (Sen.s  Werke  5  f.).  Nachdem  bereits  Walth. 
Großgerge,  De  Sen.  et  Theophrasti  libris  de  matrimonio,  Diss. 
Königsberg  1911  ,  sich  mit  dem  Verhältnis  des  Hieronymus  adv. 
Jovinianum  I  zu  Sen.s  Schrift  über  die  Ehe  und  deren  Verhältnis 
zu  Theophrasts  aureolus  liber  de  nuptiis,  wie  Sen,  es  nannte,  befaßt 
hatte,  hat  E.  Bickel,  in  dem  wir  den  zukünftigen  Bearbeiter  der 
Sen. -Fragmente  sehen  dürfen,  diese  Fragen  erneut  in  seinem  eben- 
so gelehrten  wie  scharfsinnigen  Buche:  Diatribe  in  Sen.  philop. 
fragmenta,  vol.  I  Fgta  de  matrimonio,  Leipzig  1915,  behandelt. 
Eine  Capitum  tabula  (p.  VIII — XII)  und  reiche  Indices  am 
Schluß  (421  ff.)  erleichtern  das  Ausschöpfen  des  wertvollen,  in  ele- 
gantem ,  wenn  auch  nicht  ganz  klassischem  Latein  geschriebenen 
Werkes  (vgl.  Rez.  A.  Philip  pson,  Berl.  philol.  Woch.  1916, 
590—3.  W.  Kroll,  Lat.  Philol.  68).  Den  Ausgangspunkt  für 
B.s  Untersuchung  bilden  die  Hieronymuskapitel  adv.  Jovin.  I  41 — 49. 
II  5 — 14,  die  anhangsweise  (S.  373  ff.)  zur  Bequemlichkeit  des 
Benutzers  in  sorgfältiger  recensio  vorgelegt  werden.  Als  Haupt- 
quellen für  Hieronymus  Darlegungen  über  die  Keuschheit  der  Frauen 
glaubt  B.  Plutarchs  ya^iiv-o.  TtaQayyeXuara ,  eine  zu  erschließende 
Schrift  des  Porphyrios,  etwa  des  Titels  negl  ayveiag,  Tertullians 
verlorene  Schrift  ad  amicum  philosophum  und  Sen.  de  matrimonio 
feststellen  zu  können.  Völlig  gesichert  sind  diese  Ergebnisse  aller- 
dings nicht.  Schon  Philippson  betonte,  daß  Hieronymus  auch  eine 
Beispielsammlung  benutzt  haben  könnte,  so  daß  die  Verteilung  der 
einzelnen  Stellen  auf  die  verschiedenen  Quellen ,  wie  B.  sie  wahr- 
scheinlich zu  machen  sucht,  doch  unsicher  bleibt.  Zu  einer  ein- 
facheren Lösung  des  Quellenproblems  bei  Hier.  adv.  Jovin.  kommt 
Jac.  van  Wageningen,  Sen.  et  Juvenalis,  Mnemos.  XLV  1917, 
417 — 429;  aus  Übereinstimmungen  zwischen  Hieronymus  und  Ju- 
veuals  VI.  Frauensatire  glaubt  er  auf  ein  und  denselben  Quellautor 
schließen    zu    müssen ,    und    das    sei    eben    der  von  Hieronymus  auf 


Bericht  über  die  Seueca-Literatur  aus  deu  Jahreu  1915—1921.    181 

eugem  Eaume  mehrfach  erwähnte  Sen.:  das  wäre  einleuchtend, 
wenn  nur  die  Benutzung  Sen.s  seitens  Juvenals  sicher  erwiesen  wäre. 
Der  Zeit  der  Verbannung  habe  ich  vermutungsweise  (Sen.s 
Werke  23)  einige  naturwissenschaftliche  Schriften  Sen.s  zugewiesen : 
das  Volumen  de  motu  ierrarum ,  auf  das  er  in  nat.  qu.  VI  zurück- 
greifen konnte;  er  sagt  dort  (4,  2),  er  habe  es  aliquando  iuven'is 
verfaßt,  und  er  Avar  ein  angehender  Vierziger,  als  er  verbannt  wurde, 
ferner  de  lapidum  und  de  piscium  natura  und  vor  allem  d  e 
forma  mundi:  sagt  er  doch  selbst  (Helv.  20,  1)  über  seine  occu- 
pationes  in  Korsika:  animus  .  ,  .  ad  considerandam  suam  wiiversique 
naturam  veri  avidus  insurgit.  Von  prosaischen  Werken ,  die  Sen. 
nach  der  RUckberufung  aus  der  Verbannung  noch  bei  Lebzeiten 
des  Claudius  verfaßt  hätte,  wissen  wir  nichts  (Sen.s  Werke  48),  erst 
als  Nero  regiert,  nimmt  er  seine  Tätigkeit  als  Lehrer  der  Humani- 
tät wieder  auf;  da  schreibt  er  55/6  de  dementia,  59 — 62  de  bene- 
ficiis.  So  mögen  im  Neronischen  quiuquennium  etwa  seine  Werke 
de  officiis  und  de  amicitia  entstanden  sein  (Sen.s  Werke  51  f.), 
in  den  Jahren  nach  Agrippinas  Tode  etwa  de  remediis  fortui- 
torum  und  die  exhortationes  (Sen.s  Werke  62  f.);  die  Arbeit 
*Gaetano  D'Amicos,  SuU'  autenticita  del  de  rem.  fort,  di  L. 
A.  Sen,,  in  den  Studi  critici  offerti  a  Carlo  Pascal ,  Catania  1913, 
kenne  ich  nicht.  In  den  letzten  Lebensjahren  verfaßte  Sen.  gleich- 
zeitig mit  nat.  qu.  und  Luciliusbriefen  die  moralis  philoso- 
phiae  libri  (Sen.s  Werke  74 f.),  und  denselben  Jahren  63/5 
glaube  ich  mit  guten  Gründen  wegen  der  Reinheit  der  religiösen 
Vorstellungen  und  der  Abkehr  von  den  herkömmlichen  Riten  der 
Staatsreligion,  also  dem  Abweichen  von  einem  Augusteischen  Grund- 
sätze,  den  dialogus  de  superstitione  zugewiesen  zu  haben 
(Sen.s  Werke  80  ff.).  De  immaturamorte,  das  wir  durch 
Laktanzanführungen  kennen  (Haase  III  423 f.,  in  meinem  Buche 
versehentlich  übergangen),  läßt  sich  einer  bestimmten  Lebensperiodo 
Sen.s  kaum  mit  einiger  Sicherheit  zuweisen. 


c)   Zweifelhaftes  und  Unechtes. 

Von  Sen.s  Anteil  an  der  Entwicklung  der  antiken  Kurzschrift  habe 
ich  ganz  kurz  Sen.s  Werke  83,  1  gehandelt.  Es  ist  nicht  angängig, 
sich  den  antiken  Nachrichten  gegenüber  so  skeptisch  und  mißtrauisch 
zu  verhalten,  wie  es  in  den  Lit.-Geschichten  bisher  geschieht.  Seine 
Äußerung  (epist.  90,  25)  von  den  vcrhorum  notae  als  den  vilissi- 
m  oruni  mancipiontm  commcnta  schließt  es  doch  keineswegs  aus,  'daß 


182  Karl  Münächer. 

auf  seiu  Gelieiß  die  iu  der  Praxis  schon  längere  Zeit  üblichen  Ab- 
kürzungen gesammelt  und  geordnet  wurden.'  Die  Isidorstelle  (orig, 
I  21),  TTclche  Sen.s  Anteil  an  der  Geschichte  der  notae  bezeugt, 
hat  A.  Mentz,  Beiträge  zur  Gesch.  d.  röm.  Stenographie,  Hermes 
LI  1916,  189 £F.,  emendiert;  sie  lautet  nach  seiner  Herstellung: 
denique  Sen.  contractu  omnium  digestoque  et  aucto  numero  opus  effecil 
imum  (st.  in  quinque  niilia  =  INVM).  Auch  den  Inhalt  der  4 
Kommentare  der  Sen.-Noten  glaubt  Mentz  feststellen  zu  können 
(Beiträge  zur  Gesch.  d.  ant.  Schrift,  Rhein.  Mus.  LXVIII  1913, 
619 ff.  die  Notensammlung  Sen.s);  er  beobachtet  dabei,  daß  in  der 
Liste  der  Kaisernoteu  (CNT  38,  73 — 39,  21)  auch  sonstige  An- 
gehörige des  Kaiserhauses  genannt  werden,  als  letzter  der  von  Nero 
55  ermordete  Claudiussohn  Britanniens,  danach  bis  zu  Antoninus 
hin  nur  noch  die  regierenden  Herrscher  selbst;  jene  Sammlung  von 
Sigeln  der  Kaiserfamilie  mag  also  aus  Sen.s  Noten  stammen,  wenn 
auch  Mentz  Schluß  zu  weit  geht,  Sen.s  Notensammlung  müsse  also 
vor  jenem  Morde,  vor  54/5,  herausgegeben  sein,  'da  ein  Hofmanu 
wie  Sen,  sich  wohl  gehütet  hätte,  ihn  später  zu  erwähnen'.  Über 
die  Art  der  Noten  Tiros  und  Sen.s  denkt  anders  als  Mentz  (Bei- 
träge zur  Gesch.  d.  tironischen  Noten,  Archiv  f.  Urkundenforschung 
IV  1912,  1  ff.,  bes.  S.  16)  Ferd.  Ruess,  Die  Hilfszeichen  in  den 
tironischen  Noten,  Festgabe  für  M.  Schanz,  Würzburg  1912,  185  ff. ; 
während  Mentz  die  Eudungszeicheu  schon  zu  den  ältesten  Bestand- 
teilen der  Kurzsclirift  rechnet,  glaubt  R.,  'daß  in  der  Zeit  eines 
Tiro  und  wohl  auch  noch  eines  Sen.  in  der  Notenschrift  Endungen 
nicht  mitgeschrieben  wurden'.  Im  allgemeinen  ist  über  die  Ent- 
wicklung der  antiken  Stenographie  jetzt  zu  vergleichen  A.  M  e  n  t  z  , 
Gesch.  d.  gr.-röm.  Schrift,  Leipzig  1920,   77  ff.,  über  Sen.  79  f. 

Recht  frühzeitig  hat  das  Christentum  Sen.  zum  Christen  ge- 
macht. Beweis  dafür  der  uns  erhaltene  Briefwechsel  zwischen  Sen. 
und  Paulus  (bei  Haase  III  476  ff. ;  auf  handschr.  Grundlage  bei 
E.  Wester  bürg,  D.  Ursprung  d.  Sage,  daß  Sen.  Christ  gewesen 
sei,  Berlin  1881,  41  ff.).  Carlo  Pascal  hat  Rivist.  di  filol.  XXXV 
1907,  33 — 42,  La  falsa  corrispondenza  tra  Sen.  e  Paolo  neu  unter- 
sucht; er  kommt  zu  dem  Schluß,  der  erhaltene  Briefwechsel  sei  ein 
Auszug  aus  einem  älteren ,  griechisch  geschriebenen ,  der  Hierony- 
mus  bekannt  war,  composta  da  tale  che  oltre  ad  essere  amante  delle 
eleganze  stilistiche  era  pure  studioso  delle  opere  di  Sen.  e  di  Paolo. 
Weil  Sen.  als  Christ  galt,  hat  dann  auch  ein  Christ  das  epitaphium 
Sen.  (Anth.  Lat.  667)  gedichtet  (als  spätchristlich  erwiesen  von  E. 
Bickel,  Rhein.  Mus.  LXIII  1908,  392 ff.;  weiteres  Bewcismatcrial 


Bericht  über  die  Seneca-Literatur  aus  den  Jahren  1915—1921.    IgS 

beigebracht  von  E.  Posselt  in  der  Rez.  der  gleich  zu  nennenden 
Ai-beit  Deißners,  Berl.  philol.  Woch.  1917,  1262  —  8).  Unleugbar 
berühren  sich  nicht  wenige  Gedanken  des  Moralisten  Sen.  mit  denen 
des  Paulus ,  und  die  Vorstellung ,  die  dem  Briefwechsel  zugrunde 
liegt,  daß  Paulus  Sen.  bekehrt  habe,  fand  auch  in  äußerlichen  Er- 
eignissen Anhaltspunkte :  der  Statthalter,  zu  dem  die  korinthischen 
Juden  den  Apostel  führten ,  war  Sen.s  leiblicher  Bruder  Novatus- 
Gallio ;  der  Prätorianerpräfekt,  der  in  Rom  Paulus  in  militärischer 
Haft  hielt,  war  Sen.s  Freund  Burrus.  Diese  Dinge  hat  W.  Enßlin 
recht  übersichtlich  in  einem  kleinen  Aufsatze  'Sen.  und  Paulus', 
Evangel.  Kirchenzeitung  88 ,  1914 ,  39  f.,  vorgeführt.  Aber  daß 
Sen.  wirklich  Kenntnis  vom  Christentum  besessen  und  Beziehungen 
zu  seinen  Vertretern  unterhalten  habe,  hat  J  o  h.  K  r  e  y  h  e  r  ,  L.  A.  Sen. 
und  seine  Beziehungen  zum  Urchristentum,  Berlin  1887,  vergeblich 
zu  beweisen  unternommen  (s,  oben  S.  119),  Neuerdings  hat  der  Theologe 
Kurt  Deißner,  Paulus  u.  Sen.  (Beiträge  zur  Förderung  christl. 
Theologie,  her.  v.  Schlatter  u.  Lütgert,  Bd.  XXI,  2.  Heft), 
Gütersloh  1917,  gezeigt,  daß  in  Sen.s  ethisch-theologischem  System 
christliche  Einflüsse  nirgends  greifbar,  nirgends  zur  Erklärung  not- 
wendig sind;  er  behandelt  nach  einer  Einführung  in  das  Problem 
folgende  einzelne  Gedankenkomplexe  bei  Paulus  und  Sen. :  der 
Gedanke  der  Ewigkeit ,  die  Lehre  von  Gott ,  die  Beurteilung  des 
Menschen ,  die  Ethik ,  um  schließlich  die  Frage  der  Abhängigkeit 
zu  erörtern,  mit  dem  Ergebnis,  'daß  in  den  Zentraldogmen  sowie 
im  Gesamtaufriß  der  Weltanschauung  von  keinerlei  Abhängigkeit 
gesprochen  werden  darf;  durchweg  lassen  sich  'an  den  fraglichen 
Punkten  die  Zusammenhänge  des  Sen.  mit  dem  Stoizismus  sowie 
bei  Paulus  die  spezifisch-christliche  Begründung  der  betreffenden 
Lehren'  feststellen.  So  richtig  und  methodisch  das  alles  von  D. 
dargelegt  wird,  so  vermißt  man  iu  seinen  Ausführungen  doch  eine 
wichtige  Tatsache,  die  die  gedanklichen  Berührungen  zwischen  Paii- 
lus  und  Sen.  mit  zu  erklären  vermag:  die  Tatsache,  daß  bei  Sen., 
durch  Poseidouios  ihm  übermittelt  (vgl.  W.  Kroll,  Die  religions- 
geschichtliche Bedeutung  des  Poseidonios,  Neue  Jbb.  f.  d.  klass. 
Alt.  IL  1917,  145  ff.),  ein  mystisch-religiöses  Element  nicht  fehlt 
und  Paulus  gleichfalls  von  der  hellenistischen  Mystik  nicht  uner- 
heblich berührt  war  (Posselt  iu  d.  angef.  Rez.  1266fg.,  W.  Kroll, 
Lat.  Philol.  69).  Freilich  hat  Deißner  in  einer  besonderen  Schrift 
Paulus  und  die  Mystik  seiner  Zeit,  Leipzig  1918,  jede  Beeinflussung 
der  Anschauungen  des  Paulus  durch  die  Mystik  bestritten;  so  be- 
rechtigt aber  auch  sein  Betonen  der  Selbständigkeit  der  Paulinischen 


184.  Karl  Münscher. 

Gedanken  sein  mag,  so  ist  doch  jenes  Ableugnen  jeden  Einflusses 
der  hellenistischen  mystischen  Lehren  auf  Paulus  sicherlich  ein  Irr- 
tum (vgl.  die  tiefgreifende  Rez.  E.  Posselts,  Berl.  philol.  Woch. 
1918,  865—893). 

T.  0.  Achelis,  Aus  einer  alten  Ausgabe  von  Sen.  de  mori- 
bus,  Rhein,  Mus.  LXXI  1916,  155 — 9,  macht  auf  eine  von  dem 
Arzte  Magnus  Hundt  1499  in  Leipzig  gemachte  Ausg.  von  Sen.  de 
moribus  aufmerksam ;  die  Ausgabe,  sicherlich,  da  der  Herausgeber 
sich  dessen  nicht  rühmt,  nicht  nach  einer  Handschrift,  sondern  nach 
einem  anderen  Druck  besorgt,  enthält  mit  geringen  Abweichungen 
und  Zusätzen,  was  bei  Haase  IH  462 — 7  gedruckt  ist  und  un- 
getrennt anschließend  noch  weitere  Sätze  146 — 175,  von  denen 
146 — 153  eine  Übersetzung  der  pythagoreischen  Symbola  und  von 
Ed.  Wölfflin  in  den  Sen.-Monita,  Prgr.  Erlangen  1878,  heraus- 
gegeben ist,  wie  der  ganze  Hündische  Traktat  de  moribus  aus  dem 
Paris,  lat.  16  590  von  M.  B.  Haureau,  Notices  et  extraits  des 
manuscrits  de  la  bibl.  nationale  XXXIH  1,  Paris  1890,  p.  227/8 
gedruckt  ist. 

B.   Poetische  Werke, 
a)   Epigramme. 

T  h.  B  i  r  t  hat  seit  langen  Jahren  und  bis  in  die  neueste  Zeit 
(Ad  historiam  hexametri  Lat.  symbola,  Bonn  1876,  65,  Aum.  2. 
Sen.  S.  258,  Anm.  44.  Kritik  und  Hermeneutik,  München  1913, 
235),  die  Unechtheit  der  unter  Sen.s  Namen  in  der  Anth.  Lat. 
überlieferten  Epigramme  verfochten.  Zwei  neuere  Dissertationen 
sind  für  die  Echtheit  eingetreten. 

Em.  Her  für  th.  De  Sen.  epigrammatis  quae  feruutur  p.  I. 
Diss.  Jena  (gedr.  Weimar)  1910.  Auf  ein  Prooemium  mit  der 
Geschichte  der  Echtheitsfrage,  worin  auch  Birts  metrische  Bedenken 
abgewiesen  werden,  folgt  ein  I.  Kap.,  in  dem  Verf.  die  in  Betracht 
kommenden  Gedichte  —  es  sind  Nr.  232,  236  u.  237  der  Anth. 
Lat.  und  von  der  Sylloge  des  Vossianus  86,  die  Nr.  396 — 479  um- 
faßt, der  vox'dere  Hauptteil  396 — 463  (der  hintere  enthält  Petron- 
Gedichte)  — ,  sie  in  carmina  severa  und  non  severa  teilend,  nach 
Form  und  Inhalt  als  Werke  eines  Verfs.  zu  erweisen  sucht,  der 
der  Tradition  nach  Sen.  sein  müßte.  Im  IL  Kap.  sammelt  Verf. 
die  similitudines  zu  älterer  poetischer  römischer  Literatur,  die  die 
Epigramme  aufweisen;  beachtenswert  ist  dabei  die  starke  Ovid- 
benutzung,  und  zwar  besonders  des  Ovidius  exul  in  den  auf  Sen.s 
Exil  Bezug    nehmenden  Epigrammen;    das  Material,  das  die  Imita- 


Bericht  über  die  Seneca-Literatiir  aus  den  Jahren  1915  —  1921.     185 

tion    der  Sen.-Epigramme  der  Späteren  zeigen  sollte,    hat  H.  nicht 
veröffentlicht. 

Für  die  Echtlieitsfrage  von  entscheidenderer  Wichtigkeit  ist 
die  Würzburger  Diss.  von  Gust.  Staub  er,  De  L.  A.  Sen.  philos. 
epigramraatum  auctore  (gedr.  München)  1920,  der  von  Gedicht  zu 
Gedicht  fortschreitend  —  auch  Nr.  238  u.  804  zieht  er  mit  hei-an^ 
deren  Zuweisung  an  Sen.  sehr  unsicher  ist  —  die  Parallelen 
aus  Sen.s  Tragödien  und  Prosawerken  und  aus  Lukan  sammelt  r 
die  philosophische  Anschauung  des  Epigrammatikers  ist  die  stoisch- 
epikureische Sen.s,  zu  Vergilversen  verhalten  sich  die  Epigramme 
wie  Sen.  in  seinen  freien  Vergilzitateu :  der  Verf.  ist  ein  überaus 
feiner  Sou. -Kenner,  wenn  nicht  Sen.  selbst.  Das  Erotikou  430  auf 
Nero  (St.  41  ff.)  und  441  mit  Feod.  Gloeckner  (ßhein.  Mus. 
XXXIV  1879,  140  ff.)  auf  Sen.s  Neffen  Lukan  statt  auf  Sen.s 
eigenen  Sohn  zu  beziehen  (St.  50)  erscheint  mir  als  Irrweg  (vgl. 
Sen.s  Werke  25,  3  u.  28,  1) ;  gegen  erstere  Annahme  spricht  auch 
0.  Rossbach  Bedenken  aus  in  der  Rez.  Berl.  philol.  Woch.  1920, 
1109  fg.]  über  Nr.  441  urteilte  richtig  *R.  Waltz,  Le  mariage  de 
Sen.,  Rev.  des  etudes  aucieunes  VII  1905,  223  u.  229.  Zweifellos 
ist  durch  St.s  tüchtige  Arbeit  Sen.  als  Verfasser  der  Epigramme 
noch  wahrscheinlicher  geworden,  so  sagt  Rossbach,  als  früher.  Ich 
habe  deshalb  (Sen.s  Werke  25  ff.)  keinen  Anstand  genommen,  die 
Epigramme,  die  von  Sen.  sein  wollen,  und  in  denen  so  vieles  nicht 
bloß  zum  Leben  Sen.s  stimmt,  sondern  sogar  unsere  Kenntnis  be- 
reichert wird ,  als  echt  zu  betrachten.  Sie  verteilen  sich  auf  die 
gesamte  Zeit  der  Verbannung  Sen.s,  aber  es  können  auch  Stücke 
seiner  jüngeren  oder  späteren  Jahre  darunter  sein.  Birts  Behaup- 
tung, die  Epigramme  seien  unecht,  weil  sie  im  Gegensatz  zu  Sen.s 
sonstiger  Praxis,  der  keine  Synalöphe  im  Hexameter  kenne,  solche 
in  Fülle  aufweisen,  habe  ich  erneut  widerlegt. 

b)   Tragödien. 

Joh.  Tolkiehn  hat  (Bursians  Jahresbericht  171,  1915,  19  ff.) 
über  die  neueren  Forschungen  zur  Überlieferung  der  Tragödien 
berichtet,  durch  die  zwei  selbständige  Abschriften  des  Urarchetypus 
der  interpolierten  Recension  entdeckt  worden  sind.  Zu  Dürings 
Prgr.  zur  Überlieferung  von  Sen.s  Tragödien,  Lingen  1913,  vgl. 
E.  Bickel,  Dtsche  Lit.-Ztg.  1915,  1597  f.  (vgl.  auch  Sen.s 
Werke  85,  3).  *E.  Harrison,  The  Mss.  of  Sen.s  Tragedies. 
Class.  Quarterly  XII  1918,  161.  Wahrscheinlich  ist  diese  Er- 
kenntnis   verwertet    in    der    neuen    engl.    Ausg.       *Son.    trag.    ed. 


186  Karl  Münsclier. 

Frank  Just us  Miller,  2  Bde.,  London  1916  (Rez.  von  *A.D.G., 
Class.  Review  XXXI  1917,  201). 

K.  Preisendanz,  Zu  Sen.  Herc.  f.,  Woch.  f.  klass.  Pliilol. 
1916,  686  f.  u.  1917,  429—431  veröffentlicht  die  wertlosen  Les- 
arten zweier  Pergamentfetzen  der  Karlsrulier  Bibliothek  saee.  XIV, 
die  V.  1108—1130  bieten. 

Unbekannt  ist  mir  auch  die  Sonderausgabe  *Sen.  Thyestes, 
Phaedra,  reo.,  praefatus  est,  appendicem  eriticam  add.  Huraber  tus 
Moricca,  Turin  1917,  sowie  die  erklärende  Ausg. 

*Sen.  Phaedra  met  inleiding  en  aantekeningen  voorzien  door 
J.  van  Wageningen  I,  Groningen  1918;  F.  Levy  (Jahresber.  Rom. 
Poesie  d.  Kaiserzeit  104)  vermißt  darin  'eine  eingehende  Charak- 
terisierung des  bestimmten  Kunstwillens  Sen.s,  dem  diese  Dich- 
tungen entsprungen  sind.' 

Soeben  erscheint  in  Lietzmanus  Kleinen  Texten  als  Nr.  147 
Octavia  praetexta  cum  elementis  commentarii  ed.  C.  Hosius, 
Bonn  1922.  Eine  bequeme  Handausgabe,  die  man  gern  zu  Seminar- 
übungen benutzen  wird  (trotz  des  von  vornherein  auf  30  M  gesetzten 
hohen  Preises ;  auch  daran  werden  sich  unsere  Studenten  leider  ge- 
wöhnen müssen),  die  allerdings  die  neue  Handschrnforschung  nicht  be- 
rücksichtigt, sondern,  ohne  überhaupt  irgendwelche  Handschrn.  zu 
nennen,  lediglich  mit  zwei  Siglen  (€i»  =  consensus  codicum,  5"  =  codicum 
deteriorum  aut  unus  aut  aliquot)  arbeitet.  Einige  Literatur  ist  vor 
und  nach  der  Ausgabe  zusammengestellt ,  S.  2  und  S.  69,  hier  an 
der  Spitze  eines  Index  metricus,  der  einem  Index  nominum  (68/9) 
folgt.  Zur  Verfasserfrage  ist  nicht  Stellung  genommen.  Die  Stärke 
der  Ausgabe  liegt  in  den  clementa  commentarii ,  in  dem  zweiten 
Apparate,  der  Parallelstellen  mit  H.  bekannter  großer  Belesenheit 
aus  älterer  und  späterer  Litei'atur,  vor  allem  aber  aus  Sen.  selbst, 
weit  über  Ladek  und  Fiinck  (s.  unten  S.  198)  hinausgehend, 
sammelt.      S.  Nachträge. 

Ein  vorzügliches  Hilfsraitlel  für  die  Erforschung  der  Tragödien 
hat  Amerika  uns  beschert  in  dem  Index  verborum  quae  in  Sen. 
fabulis  necnon  in  Octavia  praetexta  reperiuntur  a  Guil.  Abbott 
Oldfather,  Arth.  Stanley  Pease,  How.  Vernon  Canter, 
in  3  Heften  der  University  of  Illinois  Studies  in  Language  and 
Literature  IV  2 — 4,  1918.  Nicht  bloß  die  bei  Peiper-Richter  ver- 
zeichneten Varianten  sind  berücksichtigt,  sondern  auch  sonst  ver- 
öffentlichte, handschriftliche  Lesarten  und  moderne  Konjekturen. 
Im  ganzen  macht  die  Leistung,  soAveit  ich  bei  der  Benutzung  fest- 
stellen konnte,  den  Eindruck  großer  Sorgfalt  (vgl.  Rez.  Joh.  Toi- 


Bericht  über  die  Seneca-Literatur  aus  den  Jahren  1915—1921.     187 

kiehn,  Philol.  Wocb.  1921,  321  f.  *Kimpery,  Class.  Journal  XV 
508  ff.  berichtigt  eine  kleine  Anzahl  von  Versehen) ,  freilich  wäre 
dem  Benutzer  die  Arbeit  sehr  erleichtert  worden,  wenn  der  jeweilige 
Textzusammenhang  mit  abgedruckt  worden  wäi-e  (Rez.  K.  Preisen- 
danz,  Liter.  Zentralbl.  1921,  480  f.).     S.  Nachträge. 

Ich  verzeichne  in  Kürze  die  Versuche,  den  Text  der  Tragödien 
zu  bessern ;  meist  haben  sie  wenig  Erfolg ,  soweit  sie  nicht  mit 
gesundem,  konservativem  Sinne  die  Richtigkeit  der  Überlieferung 
zu  erweisen  suchen. 

K.  Busche,  Zur  Octavia  praet.,  Woch.  f.  klass.  Philol.  1915, 
1192 — 4,  ergänzt  die  Lücke  411/2  sinngemäß  extrahere  pisces  rete 
vel  calamo  levi  decipere,  volucres  {fronde  disposito  vafre}.  Gegen 
seinen  Vorschlag  696  adpatus  odio  s.  Sen.s  Werke  130,  1,  besser 
Birt  (s.  unten  S.  189)  et  culta  sande.     Unnötig  824  feros  st.  viros. 

Ders.,  Zu  Sen.s  Tragödien,  Berl.  philol.  Woch.  1917,  254/6, 
schlägt  vor  Tro.  844  pergam  st.  des  korrupten  vere  (vgl.  Herc.  0. 
1030  pergam  et  A  st.  verum^  andere  anderes).  Phaedr.  965  agitare 
vices  (st.  vias)  aetheris  alti  (nötig?).  Vor  victrice  felix  Kerc.  0.  1652 
will  B.  xiusfall  eines  Verses ,  M'orin  das  erste ,  jetzt  fehlende  sive 
stand,  annehmen;  als  Beleg  für  einfaches  sive  führt  aber  0.  Eossbach 
ebda  479/80  Herc.  0.  1260  an  und  kehrt  zu  seinem  schon  früher 
gemachten  Vorschlage  zurück:  et  quidquid  aliud  eminus  vici  manu, 
(st.  mahim)  victrice  (vgl.  Herc.  f.  1103),  so  daß  fdix  allein  zum 
folgenden  iuvenis  zu  ziehen  ist.  Herc.  0,  1322  fg.  schlägt  B.  vor: 
nunc  mihi  ira  atque  impetu  {Irata  pater  £,  irata  quidem  A)  ojms  est 
noverca{e).  1858  ff.  at  (mit  Koetschau  st.  et)  una  funeri  tanlo  sat  est 
(es  Peiper,  Leo)  grandaeva  anus  defeda,  quod  (quam  E)  toius  hrevi 
querettir  (tarn  quaeret  überl.)  orhis. 

Vorzüglich  verteidigt  W.  Bannier,  Rhein.  Mus.  LXXII 
1917/18,  237,  die  viel  angefochtene  Überlieferung  Phaedr.  558  taceo 
novercas:  mitius  7iil  est  feris  (auch  Herc.  0.  460 — 3  stellt  er  still- 
schweigend die  von  den  Herausgebern  geänderte  Versfolge  her), 
desgl.  Rhein.  Mus.  LXXHI  1920,  79—83  Tro.  8  ff.,  301  ff,  988  ff. 
gegen  die  von  Leo  und  Richter  genommenen  Anstöße. 

C.  Robert  wollte  Hermes  LUX  1918,  446,  Herc.  f.  563  vor 
562  stellen,  weil  nicht  Pluto,  sondern  nur  Herakles  einen  Dreizack 
bzw.  einen  Pfeil  mit  dreifacher  Spitze  führe;  dagegen  H.  Blümner, 
Hermes  LIV  1919,  328  f.,  der  zeigt,  daß  eine  tergemina  cuspis  eine 
Waffe  mit  dreikantiger  Spitze  bedeutet  und  eine  solche  führe  Pluto 
tatsächlich  auf  einem  Wandgemälde  von  Orvieto. 

Der     Holländer    P.     H.     Damst6     hat    Mnemos.    XL  VI     u. 


188  Karl  Münscber. 

XLVII  1918/9  eine  Fülle  von  Stellen  sämtlicher  Tragödien 
besprochen  und  mit  Konjekturen  bedacht.  XLVI  126  'Crepusculi 
uotio'  vergleicht  er  die  Bezeichnung  des  Abendsternes  Med.  71  als 
gem'mi  praevia  ietnporis  .  .  Stella  mit  dem  Englischen  twilight,  vgl. 
deutsches  'Zwielicht'.  —  134  'Sen.  fatidicus' :  Fcrdinandus  Columbus 
schrieb  in  sein  Sen. -Exemplar  zu  Med.  375  ff.:  Haec  prophetia 
expleta  est  per  patrem  meum  Christoforum  Colon  almirantem  anno  1492 
(s.  oben  S.  1 20).  184—200  Ad  Sen.  Phaedr.,  281—301  Herc.  0.,  368—73 
Thy.,  403—414  Med.,  428—434  Herc.  f.  XLVII  55—65  Tro., 
73—6  Phoeu.,  111—115  Ag.,  138—145  Oed.,  271—281  Oct.  praer. 
Schon  W.  Gern  oll  hat  Woch.  f.  klass.  Philol.  1919,  248  f.  über  die 
Vorschläge  zu  Tro.  u,  Phoen.  gesagt,  (1920,  359  über  die  zur  Oct.),  gegen 
eine  ganze  Anzahl  müsse  man  sich  mit  Entschiedenheit  erklären.  Levy 
(104)  findet  dies  Urteil  viel  zu  milde.  Auch  ich  muß  sagen,  nach- 
dem ich  die  Vorschläge  wenigstens  zu  einer  der  Tragödien  nach- 
geprüft habe ,  soweit  D.  nicht  gelegentlich  auch  einmal  die  Über- 
lieferung verteidigt,  sind  seine  Konjekturen  fast  nichts  als  über- 
flüssige, oft  haltlose  Einfälle,  wie  man  sie  in  sein  Privatexemplar 
bei  der  Lektüre  eintragen  mag,  aber  nicht  publizieren  darf;  aber 
Holland  beansprucht  in  dieser  Beziehung  nach  wie  vor  eine  aller- 
dings wenig  rühmliche  Ausnahmestellung.  Ich  wählte  beliebig,  ehe 
ich  Gemolls  Anzeige  gelesen  hatte ,  die  Tro.  zur  Prüfung.  Wie 
Bannier  tritt  D.  für  die  Überlieferung  ein  8  ff.  214  streicht  er 
wohl  richtig  das  Komma  hinter  vestes.  V.  587  (von  Leo  gestrichen) 
will  D.  als  Wort  des  Ulixes  vor  575  stellen,  was  denkbar.  770  ver- 
teidigt er  annos  avi  medios  precabar  und  wendet  sich  gegen  die 
Umstellung  von  967/8  hinter  978.  Von  seinen  eigenen  Vorschlägen 
mag  als  möglich  bezeichnet  werden  1031  tabulaque  tutus  {st.  vectus) 
naufraga.  Aber  alles  andere  ist  Willkür.  15  cum  celsis  (st.  con- 
gestis  E,  congesti  A).  79  itera  (st.  ite  ad)  plandus.  100  solvimus  omnes 
lacerum  niuUo  pulvere  (st.  funere)  crinem.  251  actatis  alios  fervor 
imprimis  (hie  primae  A,  lue  primus  E).  289  et  facinus  atrox  caedis 
ut  ihalamos  vocent  für  caedis  (Subst.)  quaeris  oder  tendis,  wie  leicht- 
fertig! Und  so  geht's  weiter  mit  unnützen  Abänderungen  in  V.  304. 
434.  543.  578.  633.  648.  788.  796.  1098. 

Fr.  Levy,  Zu  Sen.s  Tragödien,  Berl.  philo!.  Woch.  1919, 
909—912,  tritt  Phoen.  98—102  für  die  Überlieferung  ein  (Leo 
hatte  V.  100  getilgt),  desgl.  Med.  768,  wo  Leo  die  reducto  konji- 
zierte  und  mit  dem  vorhergehenden  Satze  verband,  für  das  Über- 
lieferte als  selbständiger  Satz:  die  relicto  PJioebus  in  medio  stetit. 

Th.  Birt,  Zur  Octavia  des  vermeintlichen  Sen.,  Philo).  Woch. 


Bericht  über  die  Seneca-Literatur  aus  den  Jahren  1915 — 1921.     189 

1921,  333 — 6,  erklärt  519  superatus  acie  als  substantiviertes  Parti- 
zipium, 'der  in  der  Schlacht  Besiegte',  nämlich  Antonius,  und  bringt 
die  vorangehenden  Verse  515  fF.  durch  starke  Interpunktion  hinter 
517  sowie  Ersatz  von  cedentcs  517  durch  cacdentes  in  gute  Ord- 
nung; der  Hiatus  an  der  Caesurstelle  in  516  Phüi'pin  liausH  ist 
durch  Parallelen  (Thy.  302.  Herc.  f.  1284.  Herc.  0.  1202)  aus- 
reichend geschützt  (vgl.  Em.  Ackermann,  De  Sen.  Herc.  0., 
Diss.  Marburg  1905,  32).  V.  36  verteidigt  B.  die  Lesart  des  Lau- 
rentianus  L  siih'do  {sub  iino  IT  O ,  uno  c)  latentes  ccce  Fortunae 
impetxi  (als  Adjektivattribut  zu  impetti).  295  das  fast  einhellig  über- 
lieferte exptderant  (nur  R  eccpulerunt)  zu  halten,  weil  anderwärts  in 
entsprechenden  Perfektformen  (746.  776  f.  869)  die  vorletzte  Silbe 
nicht  verkürzt  wird;  also  freier  Gebrauch  des  Plusqupf.  wie  etwa 
bei  Properz,  wie  Oct.  68  u.  604  fuerat  st.  fuit,  in  der  Schilderung 
des  Saturnischen  Zeitalters  das  Perf.  {ftfit  403)  neben  dem  Plus- 
qupf. [assuerant  401)  steht.  In  den  heftigen  avitXaßai  zwischen 
Sen.  und  Nero  sagt  461  Nero:  despcdiis  (so  überl.)  ensis  fociet; 
v.  Wilamowitz  konjizierte  kühn  und  wenig  glücklich  despectum  ut 
ensis  fer'iat,  Buecheler  höchst  einfach,  aber  schwächlichen  Sinn  er- 
gebend respectxis  ensis  facict.  Birt  will  das  Überlieferte  halten  mit 
Teilung  in  zwei  Worte  des  pectiis ,  aber  was  soll  das  hier :  'reiche 
mir  deine  Brust  dar  (zum  Durchstechen) :  das  Schwert  wird's 
macben'.  Auch  die  von  B.  angeführte  Parallelstelle  Ov.  met.  IV 
424  maclit  mir  das  nicht  verständlicher.  Man  könnte  an  aspectus 
denken,  aber  'der  Anblick  des  Schwertes  wird  es  machen',  das  ist 
ebenso  farblos  wie  Buechelers  respectits.  Vielleicht  gibt  destrictus  ensis, 
das  gezückte  Schwert,  dem  Gedanken  Kraft  genug,  und  die  Änderung 
wäre  jedenfalls  leicht  (s.  Nachträge).  360  zieht  B.  die  Variante  am 
Rande  des  Ambrosianus  M  tardaque  dem  sonst  überlieferten  tarde 
vor,  kaum  m.  R.  Mag  sein,  daß  bei  Dichtern  'den  Adverbien  gegen- 
über immer  eine  gewisse  Zurückhaltung  herrscbt',  aber  Sen.  braucht 
iarde  auch  sonst  in  den  Tragödien  (z.  B.  Herc.  f.  1310),  und  das 
Asyndeton,  das  tardaque  beseitigt,  ist  die  viel  kraftvollere,  oflFenbar 
vom  Dichter  beabsichtigte  Ausdrucksweise :  cuius  facinus  (Neros 
Muttermord)  rix  posteritas,  tarde  semper  saecula  credeni.  Von  B.s 
eigenen  Konjekturen  ist  wohl  annehmbar  696  et  cidta  sancte  (nach 
M  et  cidpa  senecte,  sonst  falsch  Senecae)  tradidit  vinctum  tibi  .  .  .  Vemts 
(s.  oben  S.  187).  Unbedingt  abzulehnen  aber  ist  seine  Auffassung  der 
Verse  590 — 3  :  590  soll  richtig  überliefert  sein :  et  ipse  popuU  vota  iam 
pridem  moror,  indem  B,  ein  posisitives  moror  'ich  bekümmere  mich 
um  etwas'    aus    negativem  nihil    oder    band  moror  erschließen  will, 


190  ^*i^l  Münscher. 

aber  moror  heißt  ein  für  allemal  'ich  halte  zurück,  hindere,  ver- 
zögere'. Und  den  kräftigen,  einhellig  überlieferten  schließenden 
Fragesatz  quin  destinanius  proximum  thalamis  diem?  verwandelt  B. 
durch  zwei  Konjekturen  in  einen  kümmerlichen  Relativsatz:  cui 
d,  p.  tlialami  diem.  Das  Richtige  hat  Buecheler  längst  erkannt: 
poptili  ist  Korruptel  aus  Poppaeae ,  aber  die  vier  langen  Silben 
Poppaeae  vota  können  im  Trimeter  nicht  nebeneinander  stehen,  darum 
schrieb  Buecheler  iam pridem  et  ipse  vota  Poppaeae  moror,  nur  das  letzte 
Wort  des  Verses  an  seinem  Platze  lassend^  vielleicht  genügt  es, 
Poppaeae  an  den  Versanfang  zu  rücken:  Poppaeae  et  ipse  v.  i.  pr, 
>n.,  an  der  Synalöphe  ist  wohl  kein  Anstoß  zu  nehmen.  —  Vgl. 
zur  Kritik  der  Tragödien  Siegmund    oben  S.  145. 

Mit  Sen.s  dramatischer  Technik  befassen  sich  —  anderes  kommt 
bei  den  chronologischen  Fragen  zur  Sprache  —  folgende  Arbeiten : 

Hub.  M  e n d  e ,  De  animarum  in  poesi  epica  et  dramatica  as- 
censu,  Diss.  Breslau  1913,  gibt  in  Kap.  I  eine  ganz  nützliche  Zu- 
sammenstellung Quomodo  animarum  ascensus  apud  poetas  epicos, 
tragicos,  comicos  tractentur;  Sen.  nimmt  darin  (S.  40 — 50)  mit 
seiner  rhetorisch  ausgestalteten  Kunst  einen  recht  erheblichen  Raum 
ein :  teils  läßt  er  larvae  als  Prologfiguren  auftreten ,  die  Thyestis 
umbra  im  Ag.  (dabei  an  den  Eingang  der  Troerinnen  des  Euripides 
oder  des  Accius  sich  anlehnend),  die  Tantali  umbra  neben  der 
Furie  im  Thy.,  ihnen  gleich  Agrippinas  Erscheinen  im  mittleren 
Teile  der  Octavia.  Anders  geartet  das  Erscheinen  des  Hercules 
im  Schluß  des  Herc.  0.,  das  auf  die  klagenden  Rufe  Alcmenes  er- 
folgt, die  Mutter  durch  die  Mitteilung  von  seinem  Aufstieg  zum 
Himmel  zu  trösten,  ein  deus  ex  machina,  wie  er  bei  Euripides 
und  Sophokles  (Trach.)  üblich  ist.  Teils  wird  von  Gespenster- 
erscheinungen erzählt:  Creon  berichtet  vom  Erscheinen  der  Laii 
umbra  (Oed.  530  ff.),  Talthybius  vom  Erscheinen  Achills,  um 
Polyxeua  für  sich  zu  fordern  (Tro.  170  ff.)  mit  Anklängen  an  Ovid. 
Met.  Xin  440  ff.,  Andromacha  (Tro.  437  ff.)  von  der  Traum- 
erscheinung Hektors  im  Anschlüsse  an  Vergil  Aen.  II  268  ff.  End- 
lich visionäre  Erscheinungen  Abgeschiedener,  die  Lebende  zu  sehen 
meinen,  so  Andromacha  den  toten  Hector  (Tro.  681  ff.),  Medea 
(965  ff.)  des  Bruders  Schatten  mit  zerrissenen  Gliedern,  Cassandra 
(Ag.  741  ff.)  die  Schatten  ihres  Hauses ,  das  Agrippinagespenst 
(Oct.  614  ff.)  den  gemordeten  Gatten.  Im  II.  Kap.  handelt  M.  De 
animarum  ascensuum  generibus  und  verteilt  das  im  I.  Kap.  zu- 
sammengetragene Material  auf  verschiedene  Rubriken. 

Fr,  Frenz  el,  Die  Prologe  der  Tragödien  Sen.s,  Diss.  Leipzig 


Bericht  über  die  Seneca-Literatur  aus  den  Jahren  1915—1921.     191 

(gedr.    Weida)    1914.     In    etwas    weitscbweifiger    Form    (vgl.    Rez. 
W.  Gern  oll,    Woch.  f.  klass.  Philol.  1914,    1253  f.),    wie  sie  sich 
leicht   in    deutsch    geschriebenen  Dissertationen    einstellt,   behandelt 
F.  das  ^igog  oXov  TQayo)diag  to  tcqo  xoqov  nagodov  mit  Aristoteles  zu 
reden,    bei  Sen.    nach  Form    und    Inhalt.     In   der  Besprechung  der 
szenischen  Gliederung    der  Prologe    verfährt  F.    aber    zu  äußerlich- 
mechanisch,    indem    er    im    Herc.    f.    den   Prolog    in    zwei  Szenen, 
1.  Juno  allein,  2.  Juno  und  Furien  zerlegt:    die  Furien,    die  Juno 
von  100  ab  ruft,  antworten  nicht  und  brauchen  keineswegs  leiblich 
anwesend    gedacht    zu    sein.      Auch    im    Thy.    besteht    der    Prolog 
keineswegs  aus  drei  Szenen,  sondern  nur  aus  einer,  denn  die  Furia 
erscheint    und    verschwindet    zusammen    mit    der    Thyestis    umbra, 
ebensowenig  der  Oed. -Prolog  aus  zwei,   da,  wie  Leo,   Der  Monolog 
im  Drama,  Berlin  1908,  91   annimmt,  Jocasta  natürlich  von  Anfang 
an  Oedipus  Monolog   mit   anhört:    Diese    Dinge  hat   Th.   Düring 
in  seiner  Rez.,  Berl.  philol.  Woch.  1915,   621 — 4,  richtig  dargelegt. 
Einzig    die    Phaedra    weicht  also  ab  mit  dem  ^eigenartigen  Experi- 
ment', dem  Eingangsmonolog  eine  fröhlich  gestimmte  lyrische  Partie 
voranzustellen  (Rez.  P.  E.  Sonnenburg,    Jahrbuch    d.  deutschen 
Shakespeare-Gesellschaft   LV    1919,    185  f.).      Der    zweite    umfäng- 
lichere, dem  Inhalt  der  Prologe  geltende  Teil  der  Arbeit  stellt  zu- 
nächst Euripides  Prologmanier  ausführlich  dar,  um  dann  die  Unter- 
schiede bei  Sen.  zu    erfassen.    Das  Ziel  der  Sen. -Prologe  ist  nicht, 
wie  bei  Euripides,  Einführung  und  Vorbereitung  der  Handlung  des 
Dramas :  wie  Leo  sagte  (Monolog  91) :  zwar  werden  die  VTCOV^eiiAEva. 
mitgeteilt,  aber  durchaus  im  Affekt.    Wenn  aber  F.  Sen.s  dichterische 
Absichten  damit  zu  umgrenzen  meint ,    daß  Sen.    bereits  im  Prolog 
in  einer  bestimmten  Charaktereigenschaft    der  Hauptpersonen  ent- 
'.yeder    ihr  Handeln    und  Leiden  begründen   oder  durch  eine  solche 
die  Ursache    ihrer  Schicksale  erkennen  lasse,  so  ist  das  mindestens 
viel    zu    eng    und    einseitig.      Sounenburg    sieht    eine    wesentliche 
Wirkung    der    Sen. -Prologe    sehr    mit  Recht   'in  der  Stimmung  des 
Zuschauers    auf   das  Grausige  und  Gräßliche,    auf  das  Rechnen  mit 
unerwarteten  Schicksalsfügungen  und  Entschlüssen' ,  und  C 1.  L  i  n  d  s  k  o  g, 
*  Studien    zum    antiken    Drama,    Lund    1897,    II,    17  ff.,  glaubte  den 
Zweck    der  Sau. -Prologe    darin    erkennen    zu  dürfen ,    daß    sie    den 
eigentlichen  Wendepunkt  des  Dramas,  die  'AaiaazQoq^ij,  vorbereiten. 
Und  wenn  nun  von  F.  jene  eine  Charaktereigenschaft,  für  die  das 
folgende  Stück  gewissermaßen  nur    das  ausgeführte  Exemplum  sein 
soll,    in    Med.   Phaedra   Ag.    Thy.    als    verbrecherische    Anlage,    im 
Herc.  f.    als    Selbstüberhebung    des   Helden,    in  Tro.    und  Oed.  als 


;[92  Karl  Münscher. 

Walten  eines  unabänderlichen  Schicksals  bestimmt  wird,  so  hat 
auch  das  seine  großen  Bedenken :  daß  der  Wahnsinn  im  Herc.  f.  mit 
Hercules  Selbstüberhebung  motiviert  werde,  bestreitet  Düring  mit 
guten  Gründen,  und  verbrecherische  Anlage  von  unentrinnbarem 
Schicksal  zu  scheiden,  geht  auch  kaum  an.  So  sind  beide  Teile  der 
F.schen  Arbeit  nicht  als  völlig  gelungen  und  abschließend  zu  be- 
zeichnen, und  namentlich  fehlt  eins  bei  F.  ganz  und  gar:  ein  Ver- 
such, etwa  eine  Entwicklung  im  Prologbau  und  damit  ein  chrono- 
logisch verwertbares  Moment  zu  finden.  Da  rächt  es  sich,  daß  er 
nicht  bloß  die  Phoen.,  sondern  auch  Herc.  0.  und  Oct.  von  seiner 
Untersuchung  ausgeschlossen  hat. 

Vom  Einfluß  des  tragischen  Pantomimus  auf  die  Tragödien- 
dichtung macht  sich  wohl  übertriebene  Vorstellungen  H.  Wagen - 
voort,  Pantomimus  und  Tragödie  im  Augusteischen  Zeitalter,  N. 
Jbb.  XLV  1920,  101  ff.;  im  besondern  109—113. 

Die  Einwirkung  der  Tragödien  Sen.s  auf  die  Dichter  der 
folgenden  Zeiten  war  groß.  Material,  diese  Einwirkung  zvi  erfassen, 
bieten : 

Fr.  Streich,  De  exemplis  atque  comparationibus  quae  ex- 
stant  ap.  Sen.  Lucanum  Valerium  Flaccum  Statium  Silium  Italicum, 
Diss.  Breslau  1913.  Verf.  will  einen  Index  der  Vergleiche  aus  der 
Dichtersprache  des  I.  Jhhs.  schaffen  und  ordnet  das  Material  aus 
den  gewählten  Dichtern  nach  Sachkategorien  (Götter  und  Heroen, 
Geschichte,  Geographie,  Tiere,  Pflanzen  uud  andere  natürliche 
Dinge ,  alia  exempla).  Viele  Vergleiche  finden  sich  gleichmäßig 
bei  mehreren  Dichtern,  uud  das  hat,  wie  Verf.  p.  3  bemerkt,  nicht 
bloß  in  der  gleichen  Schulung  durch  den  rhetorischen  Unterricht 
seinen  Grund,  sondern  es  beruht  stark  auf  Entlehnung  seitens  der 
Jüngeren  aus  dem  großen   Muster  Sen. 

Schon  ß.  Helm,  De  P.  Papinii  Statu  Thebaide,  Diss.  Berlin 
1892,  35  ff.  (vgl.  L.  Legras,  llitude  sur  la  Th6baide  de  Stace, 
Paris  1905,  174  ff.)  hat  auf  Statins  Kenntnis  der  Sen. -Tragödien 
hingewiesen.  Darüber  jetzt  einige  weitere  Bemerkungen  bei  AI  fr. 
ßeußner,  De  Statio  et  Euripide,  Diss.  Halle  1921,  S.  3.  15  fg. 
18.  23.  27.  Sen.s  Oed.  und  Phoen.  kommen  für  Statins  Epos  als 
Vorlagen  bei  Einzelheiten  in  Betracht. 

V.  Ussani,  Le  tragedie  di  Sen.,  Egesippo  e  lo  Pseudo- 
Quintiliauo,  Eivist.  di  filol.  XLIII 1915,  293 — 8,  glaubt  für  Hegesippus 
V  40/1  in  der  Schilderung  einer  jüdischen  Mutter,  die  ihr  eigenes 
Kind  geschlachtet  und  verzehrt  hat,  aus  einzelnen  Wortanklängen 
Kenntnis  des  Thy.  u.  Ag.  Sen.s  erschließen  zu  dürfen  •,  ich  glaube, 


Bericht  über  die  Seneca-Literatur  aus  den  Jahren  1915—1921.    193 

die  Gleichheiten  im  Ausdruck  beruhen  auf  der  Ähnlichkeit  des 
Stoffes,  der  QveGTEia  deiTtva,  die  ja  schon  dem  Flavius  Josephus 
(201 — 209)  für  seine  Schilderung  des  monstrum  Motive  geliefert 
haben  können.  Auf  Übereinstimmungen  der  Ps.-Quintilianischen 
Deklamationen  mit  Sen.s  Tragödien  hatte  bereits  C.  Morawski, 
Woch.  f.  klass.  Philol.  1905,  874  f.  bei  Besprechung  von  Alb. 
Beckers  Pseudo-Quintilianea,  Prgr.  Ludwigshafen  1904,  aufmerk- 
sam gemacht.  U.  stellt  nun  besonders  Stellen  des  Thy.  mit  solchen 
der  Decl.  12  zusammen,  die  von  den  cadaveres  pasti  handelt;  auch 
hier  beruht  die  Übereinstimmung  m.  E.  auf  der  gleichartigen  rhe- 
torischen Behandlung  eines  verwandten  Stoffs.  Und  ob  man  aus 
einer  vereinzelten  wörtlichen  Gleichheit  wie  decl.  13,  28  caeleites 
auras  contaminato  spiritu  polliiimus  und  Oct.  235  f.  en  ipse  diro  spiritu 
saevi  ducis  poUuitur  aether  auf  Reminiszenz  des  Deklamators  aus 
Lektüre  der  Oct.  schließen  darf,  bleibt  auch  mindestens  zweifelhaft. 
Bedenken  gegen  die  Beweiskraft  der  Parallelen  äußert  auch 
W.  Gemoll,  Woch.  f.  klass.  Philol.  1915,  871  f. 

Was  das  Fortleben  der  Tragödien  Sen.s  im  Mittelalter  und  in 
der  Neuzeit  betrifft,  so  ist  außer  auf  Gummerys'  Buch  (s.  oben 
S.  118  ff.)  auf  die  Arbeit  über  Sen.  in  Polen  und  Scaligers  Urteile  zu 
verweisen  (s.  oben  S.  117 f.).  Zur  Ergänzung  der  von  Tolkiehn 
(Bursian  171,  28  f.)  angeführten  Arbeiten  über  Sen.  in  der  eng- 
lischen Literatur  des  Elisabethanischen  Zeitalters  weise  ich  hin  auf 
Fr.  Wilhelm,  Zu  Sen.  u.  Shakespeare  (Richard  IlL),  Archiv  f. 
d.  Studivim  der  neueren  Sprachen  u.  Literaturen  CXXIX  1912, 
69 — 7-3.  Fr.  Levy,  Rom.  Poesie  der  Kaiserzeit  105,  weist  auf 
eine  treffende  Charakterisierung  von  Sen.s  dramatischem  Stil  bei 
G.  Landauer  hin,  Shakespeare,  dargestellt  in  Vorträgen,  I  Frank- 
furt a./M.  1920,  162.  Land,  stellt  Sen.  'auf  eine  sehr  ansehnliche 
Stufe  zwischen  Euripides  und  Marlowe,  und  wenn  man  Belegstellen 
aus  Werken  sammeln  wollte,  die  auf  Shakespeare  Einfluß  geübt 
haben  können,  so  wäre  Sen.  ein  recht  umfangreiches  Kapitel  zu 
widmen'. 

Zwei  ausländische  Arbeiten  behandeln  dasselbe  Thema,  Muster 
und  Nachdichtuügen  eines  Sen. -Stückes  zugleich  betreffend. 

*Luigi  Caudotti,  Fedra  neue  tragedie  di  Euripide  Sen. 
Racine  e  Gabriele  d'Annunzio,  Prgr.  Mädchenlyzeum  Triest  1914. 
Nach  AI  fr.  Nathanskys  Bericht  (Ztschr.  f.  österr.  Gymn.  LXVII 
1916,  376/7,  werden  in  dieser,  seltsamerweise  vor  allem  für  die 
Absolventinnen  der  Anstalt  bestimmten  Abhandlung  die  drei  älteren 
Stücke     kürzer     analysiert,      d'Annunzios    Drama    überschwenglich 

-Tahresbericht  für  Altertumswissenschaft  Bd.  192.  (1922.  U).  13 


194  Karl  Münscher. 

wegen  seiner  Selbständigkeit  gepriesen,  der  die  antike  Heroine  zur 
unverstandenen  Frau  in  völlig  unantiker  Weise,  wie  Nathansky  mit 
Recht  sagt,  gemacht  hat.  Verständiger  scheint  auch  über  d'An- 
nunzio  zu  urteilen.  *A  n  t.  K  o  1  a  r ,  Vier  Phaedratragödien,  in  der 
Festschr.  f.  Jos.  Kral,  Prag  1913  (tschechisch),  nach  dem  Bericht 
von  Fr.  Groh,  Berl.  phil.  Woch.  1916,  111  f. 

Rob.  Petsch,  'Die  Troerinnen'  einst  und  jetzt,  N.  Jbb.  f. 
d.  klass.  Alt.  XXXIX  1917,  522—550,  gibt  schöne  Ausführungen 
über  Euripides  und  Sen.s  Troerinnen ,  in  denen  die  ganze  Euripi- 
deische  Handlung  in  einzelne  Bilder  aufgelöst  ist,  die  nur  durch 
die  traurige  Grundstimmung  notdürftig  zusammengehalten  werden, 
schildert  Schätzung  und  Fortwirken  des  Sen. -Stückes  in  der  Re- 
naissance bei  Engländern ,  Franzosen  und  Deutschen ,  würdigt 
Opitzens  ehrwürdige  Trojanerinnen  von  1636,  die  erste  deutsche  Über- 
setzung einer  antiken  Tragödie,  beleuchtet  Lessings  Stellung  zu 
Sen.,  Goethes  und  Schillers  Verwertung  der  Euripideischen  Ti'oe- 
rinnen ,  um  nach  einer  Würdigung  der  Wilamowitzischen  Über- 
setzung im  ni.  Bande  der  Griechischen  Tragödien  mit  Franz  Werfeis 
deutscher  Bearbeitung  der  Troerinnen  des  Euripides  zu  enden,  die 
1916  in  Leipzig  erschien  und  Ostern  1916  im  Lessingtheater  auf- 
geführt und  jubelnd  begrüßt  wurde. 

Quellenforschung  treiben  des  weiteren: 

*ümb.  Moricca,  Le  fonti  della  Fedra,  Studi  italiani  XXI 
1915,  154  fF. 

C.  Brakmann,  De  Sen.  Ag.,  Mnemos.  XLII  1914,  392—8. 
B.  vergleicht  Sen.s  Ag.  mit  dem  des  Aischylos  und  führt  die 
Abweichungen  teils  auf  Einfluß  des  Euripides ,  teils  auf  die  ratio 
Stoica  Sen.s  und  auf  seine  rhetorische  Schulung  zurück,  ohne  zu 
wissen ,  daß  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  Sen.  überhaupt  nicht 
Aischylos  Ag.,  sondern  eine  jüngere,  nachaischyleische  Tragödie 
bearbeitet  hat,  dieselbe,  die  Livius  Andronicus  zu  seinem  Aegisthus 
benutzte  (vgl.  F.  Leo,  Gesch.  d.  röm.  Lit.  I  70  m.  Anm.  5. 
Fr,  Strauß,  De  ratione  inter  Sen.  et  antiquas  fab.  Romanas 
intercedente,  Diss.  Rostock  1887,  44 ff.).  Schon  Jos.  Hillebrand, 
Aeschylus  Ag.  u.  d.  gleichnamige  Trag,  des  Tragikers  Sen.,  Prgr. 
Hermanstadt  1859,  stellte  durch  eingehende  Vergleichung  fest,  daß 
Aischylos  nicht  Sen.s  Vorbild  sei ,  und  erinnerte  an  den  Ag.  des 
Jon  von  Chios  (Reste  bei  Nauck  FTG.  p.  732  f),  den  Sen.  be- 
arbeitet haben  könnte  (vgl.  Sen.s  Werke  47,  2).  So  ist  auch 
gauz  hinfällig,  was  B.  zur  Stütze  des  Leoschen  Ansatzes  des  Ag. 
auf  Sen.s  jüngere  Jahre  vorbringt:    Sen.,  quo    tempore  scripsit  Ag. 


Bericht  über  die  Seueca-Literatur  aus  den  Jahren  1915 — 1921.     I95 

nondum  multum  profecerat  in  arte  scaenica.  Mit  Rücksicht  auf 
die  Ermordung  des  Claudius  durch  Agrippina,  des  Britannicus 
durch  Nero  will  B.  den  Ag.  in  die  Jahre  50  —  54  setzen.  Der 
einzig  richtige  in  seinen  Gedanken  ist  der,  daß  Sen.  in  Korsika 
gewiß  keine  Tragödien  gedichtet  habe,  cum  neminem  haberet,  cui 
recitaret  temporaque  parum  laeta  essent. 

Das  führt  denn  zur  Frage  nach  der  Abfassungszeit  der  Tragödien 
Sen.s,  die  ich  im  V.  Kap.  meines  Buches  (Sen.s  Werke  840".)  zu  lösen 
unternommen  habe  (s.  Nachträge).  Auszugehen  war  von  der  durch 
Th.  Birt  (Was  hat  Sen.  mit  seinen  Tragödien  gewollt?  N.  Jbb. 
f.  d.  klass.  Alt.  XXVII  1911,  336  ff.,  im  besondern  352)  erst  richtig 
gewerteten  Stelle  in  Tac.  ann.  XIV  52,  wonach  einige  Tragödien 
vor  54,  die  meisten  nach  54  abgefaßt  sein  müssen.  Daß  Sen. 
während  seines  Exils  in  Korsika  ans  Dichten  von  Tragödien  über- 
haupt noch  nicht  dachte,  lehrt  brev.  16,  5  (aus  der  allerletzten 
Verbannungszeit)  mit  dem  Spott  über  Dichter,  die  humanos  errores 
nähren,  quihus  visus  est  Juppiter  voluptate  concubitus  delenitus  dupli- 
casse  nodem:  später  hat  er  selbst  oft  genug  der  vih,  iiayiga  in 
seinen  Tragödien  Erwähnung  getan.  Damit  schon  erweist  sich  als 
unmöglich  Leos  Annahme,  Sen.  habe  Oed.  und  Ag.  als  adulescen- 
tulus  gedichtet.  Und  das  war  auch  nur  so  lange  denkbar,  als  man 
(wie  Leo)  glauben  konnte  und  durfte ,  die  Derivatentheorie ,  auf 
Grund  deren  Sen.  seine  seltsamen  Lieder  in  jenen  beiden  Dramen 
schuf,  sei  schon  seit  Varro  den  Römern  ganz  vertraut  gewesen. 
Das  hat  R.  H  e  i  n  z  e  (Die  lyrischen  Verse  des  Horaz,  Ber.  Sachs. 
Ges.  d.  Wiss.  70,  1918,  4.  Heft,  Einwendungen,  die  v.  Wilamo- 
witz  Gr.  Verskunst  68  und  75  macht,  sind  belanglos;  vgl.  Sen.s 
Werke  86,  2)  als  Irrtum  erwiesen.  'Varro  hat  kein  reines  Deri- 
vationssjstem  vertreten,  Horaz  nach  ihm  seine  Verse  nicht  gebaut, 
erst  nach  Horaz  hat  man  in  Rom  die  Maße  der  lesbischen  Lyrik 
der  Derivation  unterworfen ,  und  zwar  tat  es  zuerst  in  rigoroser 
Weise  ein  Metriker,  den  der  Grammatiker  Diomedes  in  seinem 
Abschnitt    de    metris    mit   verarbeitet   hat,    und    denselben  Metriker 

—  vielleicht  war  es  Remmius  Palaemon  —  kannte  und  befehdete 
teilweise  Caesius  Bassus  von  einem  freieren  Standpunkte  aus,  ohne 
aber  die  derivierende  Erklärung  der  horazischen  Metra  aufzugeben'. 
Es  ist  also  überaus  wahrscheinlich,  daß  Sen.    durch  Caesius  Bassus 

—  er  widmete  sein  erhaltenes  kleines  Lehrbuch  dem  Kaiser  Nero  — 
in  die  Derivationstheorie  eingeführt  wurde  und  dadurch  den  Anreiz 
erhielt,  als  kühnster  der  Neoteriker  jene  wunderlichen  Versgebilde 
in  zwei  Chorliedern  des   Oed.  und  Ag.,    die  durch  Verkürzung  und 

13* 


196  Karl  Münsclier. 

Zerscbneidung  liorazischer  Verse  hergestellt  sind,  zu  wagen.  Dann 
gehören  diese  beiden  Stücke  aber  nicht  in  den  Anfang  von  Sen.s 
tragischer  Produktion ,  sondern  eher  an  ihr  Ende ,  und  das  führte 
mich  zu  dem  Gedanken,  ob  nicht  eine  Entwicklung,  ein  Fort- 
schreiten von  einfacheren  zu  komplizierteren  Formen  bei  Sen. 
glaublich  und  nachweisbar  sei.  Meine  Untersuchung  sämtlicher 
Chorlieder  zeigt  nun,  daß  Sen.  neben  dem  anapästischen 
Maße  zunächst  sich  damit  begnügt  hat,  mit  einzelnen  stichisch 
verwendeten  Horazversen  seine  Lieder  zu  bauen,  allmählich, 
unter  dem  zunehmenden  Einfluß  der  Derivationstheorie,  von  ein- 
facheren Liedern  zur  polyschematischen  Komposition  fortschreitet 
und  schließlich  in  umfänglicheren,  geschlossenen  Partien  jene  kühn- 
sten ,  auf  Grund  der  Theorie  geschaffenen  Verse  anwendet.  So 
lassen  sich  drei  Gruppen  von  Tragödien  auf  Grund  des  metrischen 
Baues  der  Lieder  scheiden :  die  einfachsten ,  im  wesentlichen  aus 
einer  Versgattung  bestehend,  finden  sich  in  den  drei  Stücken  Thy., 
Herc.  f.  und  Tro.,  die  großen  polyschematischen  Kompositionen  in 
Phaedra  und  Medea,  die  kühnsten  Versgebilde  und  kunstvollsten 
Liedkompositionen  im  Ag.  und  Oed.  Auch  die  Chorteclmik,  an  der 
P.  Friedläuder  in  einem  Vortrage  über  die  Entwicklung  des 
Chors  in  der  nacheuripideischen  Tragödie  (Zeitschr.  f.  Gymu. -Wesen 
LXVI  1912,  806  ff.)  ein  merkwürdiges  Schwanken  festgestellt  hat, 
daß  nämlich  einerseits ,  der  alten  gr.  Tragödie  entsprechend ,  der 
Chor  als  dauernd  auf  der  Szene  anwesend  und  au  der  Handlung 
teilnehmend  gedacht  ist ,  andererseits  in  hellenistischer  Weise  der 
Chor  nach  jedem  Akte  neu  öinzieht,  sein  s/.tßo?uov  singt  und  wieder 
abzieht,  bestätigt  die  an  dem  Bau  der  Lieder  aufgezeigte  Entwick- 
lung (Sen.s  Werke  107  ff.).  Die  Entwicklung  in  der  künstlerischen 
Form  darf  man  auf  Entstehen  der  Tragödien  in  verschiedenen  Zeit- 
abschnitten zurückführen,  die  erste  einfachste  Gruppe  wird  die  älteste, 
die  dritte,  künstlichste  die  jüngste  sein.  Durch  Prüfung  der 
sonstigen  bisher  vorgebrachten  Indizien  komme  ich  zu  dem  Schluß, 
daß  die  Stücke  der  ersten  Gruppe  (Thy.  Herc.  f.  Tro.)  vor  Neros 
Regierungsantritt,  etwa  52 — 54  —  entscheidend  für  die  Chronologie 
ist  die  Parodie  in  der  Neuie  auf  Claudius  Tod  iu  der  Apokolokyntosis, 
siehe  t>ben  S.  153  f. — ,  die  übrigen  Stücke  nach  Neros  Regierungsantritt, 
etwa  54/5  Phaedra  und  Medea,  56/7  Ag.  und  Oed.,  gedichtet  sind. 
An  der  Echtheit  des  Herc.  0.  kann  nach  den  eingehenden  Unter- 
suchungen Ackermanns  (s.  Tolkiehn,  Bursiau  171,  17  fg.)  und 
A.  St.  Peases,  On  the  Authenticity  of  the  Herc.  0.,  Trans- 
actions  of  the  Americ.  Philol.  Association  XLIX  1918,  3 — 26  (dazu 


Bericht  über  die  Seneca-Literatur  aus  den  Jahren  1915 — 1921.     197 

Fr.  Levy,  Berl.  philol.  Woch.  1920,  705—7)  kein  Zweifel  mehr 
aufkommen.  Die  Chortechuik  läßt  es  (Sen.s  Werke  110  ff.)  am 
wahrscheinlichsten  erscheinen,  daß  dies  Drama  nach  den  anderen 
7  Seu. -Stücken  verfaßt  ist,  und  in  die  letzte  Lebenszeit  Sen.s  wird 
es  durch  die  80  ff.  vorliegende  Anspielung  auf  den  Durchstich 
des  Korinthischen  Isthmos,  den  Nero  bei  seinem  Aufenthalt  in 
Griechenland  tatsächlich  durchzuführen  unternahm ,  mit  Sicherheit 
verwiesen.  Und  da  die  Unklarheiten  in  den  Lokalangaben  in  den 
vorderen  Teilen  des  Stückes  es  zweifellos  als  nicht  völlig  aus- 
geglichenen, nicht  vom  Dichter  zur  Publikation  fertig  gemachten 
Entwurf  erkennen  lassen ,  müssen  wir  annehmen ,  daß  Seu.  sein 
großes  stoisches  Glaubensbekenntnis  im  Herc.  0.  zwar  im  Freundes- 
kreise mag  stückweise  vorgelesen  haben  —  denn  Lukan  kannte  es 
anscheinend  — ,  es  aber  nicht  mehr  selbst  nach  letzter  Feile  hat 
publizieren  können.  Wie  bei  Sophokles  nachgelassenem  Werke, 
dem  Oidipus  auf  Kolonos ,  mag  sich  die  übermäßige  Länge  und 
manche  Unausgeglichenheit  auch  beim  Herc.  0.  eben  aus  der  Tat- 
sache erklären,  daß  er  postum  aus  Sen.s  Nachlaß  von  einem  Editor 
herausgegeben  wurde. 

Die  Einheit  der  3  bzw.  -i  Phoenissenbruchstücke  hat  zuletzt 
Jos.  Mesk,  Sens.s  Phoen.,  Wiener  Stud.  XXXVII  1915  289—322 
aus  ihx-em  Aufbau,  der  Art  der  Sagenbehandlung  und  dem  Verhält- 
nis zu  den  Vorbildern  zii  erweisen  gesucht,  und  trotz  der  Gegen- 
bemerkungen Fr.  Levys,  Berl.  philol.  Woch.  1920,  382—84,  er- 
scheint es  mir  sicher,  daß  es  Szenen  sind,  aus  denen  Sen.  eine 
Tragödie  zu  gestalten  gedachte :  man  sieht,  die  großen  Redestücke 
waren  es,  die  Sen.  von  einer  Tragödie  zuerst  entwarf,  und  so  ge- 
währen gerade  diese  Fragmente  einen  lehrreichen  Einblick  in  Sen.s 
Dichterwerkstatt,  mehr  als  die  vollendeten  Dramen,  und  Th.  Birt 
(N.  Jbb.  XXVII  361  ff.)  hat  sie  in  dieser  Beziehung  besonders  ge- 
würdigt. Diese  Szenen,  die  also  auch  sicherlich  aus  Sen.s  Nachlaß 
herausgegeben  sind,  wollte  Birt  mit  Thy.  und  Phaedra  vor  Neros 
Regierungsantritt  entstanden  denken :  nach  der  Ermordung  des  Bri- 
tanniens habe  Sen.  das  Stück  vom  Bruderzwist  nicht  zu  Ende  ge- 
dichtet, Mesk  hat  schon  bemerkt,  daß  doch  die  Umstände  beider 
Untaten  völlig  verschieden  waren  und  Sen.  durch  solche  Bedenken 
gewiß  nicht  an  der  Vollendung  seines  Dramas  gehindert  worden 
sei,  aber  Mesks  eigene  Annahme,  wegen  des  wiederholten  Orts- 
wechsels in  den  entworfenen  Szenen  habe  Sen.  sie  unvollendet 
liegen  gelassen,  ist  erst  recht  unglaubhaft:  solche  Diskrepanzen 
konnte  doch  der  Dichter  ausgleichen,  wenn  sie  ihm  störend   waren. 


198  Karl  Münscher. 

Da  kein  innerer,  sacliliclier  Grund  erkennbar  ist,  weswegen  die 
Plioen.  ein  Torso  geblieben  sind,  komme  ich  (Sen.s  Werke  119  jff.) 
zu  dem  Schluß,  daß  Sen.  über  der  Arbeit  an  den  Phoen.  gestorben 
sei,  und  zu  den  letzten  Zeiten  des  Lebens  des  Dichters  paßt  durch- 
aus der  Gedankengehalt  der  entworfeneu  Szenen :  Sen.  hat  darin 
die  Frage  nach  der  Berechtigung  des  Selbstmordes  und  der  Be- 
deutung des  Besitzes  der  Herrschaft  für  den  Menschen  poetisch  ge- 
staltet, als  er  selbst  nach  dem  Bruche  mit  Xero,  täglich  den  eigenen 
Untergang  vor  Augen,  mit  diesen  Problemen  rang.  Zum  Tode  be- 
reit sein,  das  hat  Sen.  sonst  in  dieser  Zeit  als  das  Höchste  gelehrt 
und  angesehen ;  Antigone  aber  läßt  der  Dichter  ihren  Vater  noch 
Höheres  lehren  :  den  Entschluß,  unschuldig  leidend  zu  leben !  Das 
Werk,  das  der  Welt  diese  letzte,  erhabenste  Anschauung  predigen 
sollte,  sollte  die  Phoen, -Tragödie  werden  —  sie  zu  vollenden,  war 
dem  Dichter  nicht  vergönnt. 

So  hat  Sen.  am  Ende  seines  Lebens  nach  jahrelanger  Pause, 
sich  selbst  zu  Trost  und  Freude,  die  Tragödiendichtung  wieder 
aufgenommen.  Veröffentlicht  hat  er  selbst  davon  nichts  mehr.  Ein 
Freund  als  Editor  gab  gewiß  nach  Sen.s  Tode  den  prosaischen  und 
poetischen  Nachlaß,  Herc.  0.  u.  Phoen.,  heraus,  und  ein  paar  Jahre 
später,  als  Nero  tot  war,  auch  noch  als  letztes  postumes  Sen.-Werk 
die  Octavia  praetexta,   falls  sie  ein  Werk  Sen.s  ist. 

Nachdem  Ant.  Siegmund  in  zsvei  Progr.  'Zur  Kritik  der 
Tragödie  Oct.',  Böhm.-Leipa  1910/11,  für  die  Echtheit  eingetreten 
war  (dazu  Tolkiehn,  Bursian  CLVHI  1912,  19)  sind  zwei  aus- 
ländische Gelehrte  fast  gleichzeitig  zum  gleichen  Ergebnis  gekommen: 
Edwin  Flinck,  De  Oct.  praet.  auctore,  Diss.  Helsingfors  1920 
(dazu  Tolkiehn,  Philol.  Woch.  1921,  198—201,  K.  Preisen- 
danz,  Liter.  Zentralbl.  1921,  480)  und  *A.  St.  Pease,  Is  the 
Oct.  a  plaj  of  Sen.?,  Class.  Journal  XV  1920,  388  flf.  (mir  bekannt 
aus  Fr.  Levys  Anzeige  Berl.  philol.  Woch.  1920,  1134/6,  vgl.  1921, 
951).  Anders  urteilen  *L.  Lucas,  The  Oct.,  Class.  Review.  XXXV 
91  £F.  (nach  Philol.  Woch.  1921,  1165),  *Fr.  Ageno,  Ottavia. 
Tragedia  lat.  d'  iucerto  autore  recata  in  versi  italiani.  Firenze  1920 
(Rez.  *L.  Valmaggi,  Bollettino  di  filol.  class.  XXVIII 1921,  29 fg.). 
Ich  habe  mich  (Sen.s  Werke  126  ff.)  auch  zum  Glauben  an  Sen.s 
Autorschaft  bekannt. 

Der  Verf.  der  Oct.  ist  zweifellos  ein  Mann ,  der  die  Dinge, 
von  denen  er  dichtet,  aus  nächster  Nähe  miterlebt  hat,  und  er 
schreibt,  da  sein  Stück,  wie  es  scheint,  bereits  im  Aetnaepyllion 
benutzt    ist    (0.    Groß,    De    metonymiis    sermonis   Lat.  a    deorura 


Bericht  über  die  Seneca-Literatur  aus  den  Jahren  1915—1921.     199 

uominibus  petitis,  Diss.  Halle  1911  =  Diss.  philo!.  Hai.  XIX  4, 
327  ff.),  spätestens  Anfang  der  70  er  Jahre.  Die  Frage,  ob  das  Stück 
noch  bei  Neros  Lebzeiten  gedichtet  sein  kann ,  hängt  im  wesent- 
lichen davon  ab,  ob  die  Worte  des  Schattens  der  Agrippina  über 
Neros  Untergang  ein  vaticinium  ex  eventii  sind  oder  nicht.  Sieg- 
niund  (1911,  20  ff.)  sah  die  Stelle  als  Verfluchung  nach  alexan- 
drinischem  Muster  an  (vgl.  Ov.  Ibis  159  ff.);  von  wörtlichem  Über- 
einstimmen der  Todesankündigung  in  Agrippinas  Worten  mit 
Suetons  (Nero  49,  3)  Darstellung  vom  wirklichen  Ende  Neros  ist 
nur  insofern  die  Rede,  als  an  beiden  Stellen  vom  durchschnittenen 
iugulum  gesprochen  wird,  und  das  ist  eine  bei  Dichtern  und  Pro- 
saikern allgemein  beliebte  Redewendung.  Wirkliche  Kenntnis  vom 
Tode  Neros  brauche  der  Oct. -Dichter  nicht  gehabt  zu  haben,  somit 
sei  Sen.,  so  urteilte  ich,  als  Verf.  möglich.  Der  Einwand  (z.  B. 
bei  Th.  Birt,  Kritik  und  Hermeneutik  226),  Sen.  könne  sich  nicht 
selbst  als  agierende  Theaterfigur  eingeführt  haben,  beiTiht  lediglich 
auf  einem  unbehaglichen  ästhetischen  Gefühl.  Sen.  konnte  das  tun, 
zumal  er  an  Veröffentlichung  dieser  Dichtung  bei  Neros  Lebzeiten 
doch  nicht  denken  konnte.  Gerade  das  Zwiegespräch  zwischen  Sen. 
und  Nero  wie  der  davorstehende  Monolog  Sen.s  sind  voll  von 
echten  Sen.-Gedanken,  und  das  ganze  Stück  weist  eine  solche  Fülle 
von  Übereinstimmungen  mit  den  übrigen  echten  Sen. -Stücken  auf 
(außer  bei  Flinck  besonders  nachgewiesen  von  Fr.  Ladek  Diss. 
pbilol.  Vindob.  III  52  ff,  und  jetzt  in  Hosius  Ausgabe  oben  S.  186), 
daß  man  diesen  intimen  Sen.-Kenner  am  liebsten  für  Sen.  selbst 
hält.  Sprache  und  Stil  hat  Flinck  eingehend  untersucht :  sie  schließen 
Sen.  nicht  aus.  Im  Kapitel  de  rebus  metricis  hat  Flinck  (gegen 
Leo)  völlige  Übereinstimmung  der  Oct.  mit  dem  Sen.  trag,  fest- 
gestellt. Abweichend  von  den  übrigen  Tragödien  enthält  die  Oct. 
allerdings  nur  anapästische  Lieder :  ich  glaube  gezeigt  zu  haben 
(134  ff.),  daß  es  aus  der  Entwicklung  Sen.s  zu  immer  reicherer 
und  freierer  Verwendung  der  Anapäste  völlig  verständlich  ist,  falls 
er  schließlich  ein  Stück  ohne  andere  Liedmaße  gedichtet  hat,  ab- 
gesehen davon,  daß  wir  nicht  wissen,  welche  Entwicklung  die  fabula 
praetexta  in  dieser  Beziehung  genommen  hatte.  Auffallend  fand  man 
des  Dichters  freies  Schalten  mit  Zeit  und  Ort.  Das  ganze  Stück 
ist  nicht  (wie  Flinck  und  Leo,  Der  Monolog  im  Drama  93,  wollten) 
in  fünf  Akte  zu  zerlegen,  sondern  besteht  aus  drei  Teilen.  Teil  I 
1 — 592  spielt  am  Tage  vor  der  Hochzeit  Neros  mit  Poppaea,  II  593 
bis  689  am  Morgen  des  Hochzeitstages  selbst,  HI  690—983  am 
Tage  nach  der  Hochzeit.    Solche  Dreiteilung  des  dramatischen  Spiels 


200  Karl  Münscher. 

war  offenbar  in  hellenistischer  Zeit  üblich  geworden:  Lukians  Tra- 
godopodagra  zeigt  die  gleiche  dreiteilige  Form.  Weil  der  Dichter 
der  Oct.  seine  drei  Teile  an  drei  verschiedenen  Tagen  spielen  läßt, 
muß  natürlich  Verbindung  oder  Trennung  dieser  drei  Teile  durch 
Chorlieder  fehlen.  Seltsam  verhält  es  sich  mit  dem  Schauplatze. 
Das  Stück  spielt  im  ganzen  vor  dem  kaiserlichen  Palaste  in  Kom : 
nur  im  Schlußteil  sehen  wir  Octavia  sozusagen  auf  dem  Wege  zum 
Schiffe,  das  sie  fortführen  soll.  Das  erinnert  an  das  Schwanken  des 
Schauplatzes  im  Eingang  des  Herc.  0. :  wie  dort,  glaubte  ich  auch 
hier  diese  Inkonzinnität  als  etwas  Unausgeglichenes,  als  ein  Zeichen 
der  Unvollendetheit  ansprechen  zu  dürfen.  Und  als  unvollendet 
erschien  mir  die  ganze  Dichtung  auch  durch  jenen  seltsamen  Mittel- 
teil ,  der  sich  wie  ein  Prolog  ausnimmt.  Flüche  spricht  darin 
Agrippinas  Schatten  aus  über  Neros  neue  Ehe,  sie  wünscht  dem 
inipius  tyrannus  den  Tod  —  aber  Nero  und  Poppaea  triumphieren 
im  ganzen  übrigen  Stücke,  das  Mittelstück  mit  seinen  Verwünschungen 
fällt  einigermaßen  heraus,  und  ich  meinte,  der  Dichter  habe  diesen 
Verwünschungen  deshalb  keine  Erfüllung  in  seinem  Stücke  zuteil 
werden  lassen  können ,  'weil  sie  im  Ablauf  der  geschichtlichen 
Ereignisse  noch  nicht  zur  Erfüllung  gekommen  waren'.  Auch 
die  Oct.  sei  also  ein  unfertiges  Drama,  auch  sie  eine  Nachlaß- 
publikation, erschienen  erst  nach  Neros  Tode.  Nichts  spreche  gegen 
Sen.  als  Autor.  Die  Oct.  sei  von  ihm  gewiß  bald  nach  Octavias 
Ende  (Juli  62)  entworfen  und  später,  als  sie  als  letztes  Stück  des 
Sen.-Nachlasses  publiziert  war,  auch  den  Ausgaben  der  Sen.-Dramen 
angeschlossen  worden,  wie  sie  in  der  sogenannten  interpolierten  A- 
Klasse  erhalten  ist. 

Gerade  meine  Behandlung  des  Oct.-Problems  hat  bei  manchem 
bedeutenden  Gelehrten  vollste,  ja  freudigste  Zustimmung  gefunden, 
andere  schwanken,  andere  halten  fest  an  Leos  Unechtheitserklärung. 
Ein  sachlicher  Einwand  ist  mir  alsbald  von  meinem  Kollegen  Schöne 
entgegengehalten  worden.  Er  meinte,  ich  hätte  die  sprachlichen 
Abweichungen  der  Oct.  von  den  übrigen  Sen.-Trgödien  unterschätzt. 
Was  ich  zur  Erklärung  des  Fehlens  der  auf  -fwus  und  -fer  gebildeten 
Komposita  in  der  Oct.,  die  Sen.  trag,  sehr  liebt,  vorgebracht  habe, 
genüge  nicht.  Ich  hatte  gesagt,  zur  Anwendung  solcher  Komposita 
sei  Sen.  durch  kühne  Wortbildungen  seiner  gr.  Vorbilder  angeregt 
worden.  Manche  dieser  Bildungen  sind  Neuschöpfungen  Sen.s ;  solche 
sind:  castiftcus  Phoen.  169.  inccstificus  Phoen,  223.  läificus  M«d. 
577  (E;  luctificus  Ä).  nidificus  Med.  714.  svperbificus  Herc.  f.  58. 
luäifcr  Herc.  f.  687.    montifcr  Herc.  0.  1212.    solifer  Herc.  0.  159. 


Bericht  über  die  Seneca-Literatur  aus  den  Jahren  1915 — 1921.     201 

Das  meiste  entstammt  älterer  Dichtersprache,  nicht  weniges  dem 
alten  Drama:  frondifer  (Oed.  276)  Naev.  trag.  22  (Lucr.).  flam- 
mifer  (Herc.  f.  593.  982.  Thy.  855)  Eun.  scen.  29  (Ov.).  frugifcr 
(Phoen.  219.  603)  Enn.  ann.  489.  Trag.  ine.  164  (Oe.,  in  Prosa 
Cic.  11.  Liv.).  lactificus  (Tro.  596)  Enn.  scen.  152.  ann.  574  (Lucr.). 
mäleficus  (Tro.  752)  Plaut.  Gas.  783  (u.  Prosa),  magnificus  (Tro. 
575.  Med.  223)  Plaut.  Ter.  (u.  sonstige  Poesie  u.  Prosa),  horrifer 
(Phae.  934)  Pacuv.  trag  82.  Acc.  trag.  566  (Lucr.  Verg.  Ov.). 
lucifcr  (Med.  842  u.  a.)  Acc.  trag.  331  (Ov.  Cic.  pros.).  terrificus 
(Herc.  f.  82.  Oed.  384)  Trag.  ine.  96  (Lucr.  Verg.  Ov.),  und  noch 
mehr  würden  wir  vielleicht  auf  die  alte  Tragödie  zurückführen 
können,  wenn  wir  von  ihr  nicht  bloß  klägliche  Trümmer  besäßen 
(sie  bieten  noch  folgende  Adj.  dieser  Bildung:  regificus  Enn.  scen. 
96.  largificus  Pacuv.  trag.  414.  hostißcus  Acc.  trag.  80  u.  82.  in- 
gratificus  u.  heneficus  Acc.  trag.  364.  mirificus  Acc.  praet.  27).  Aus 
älteren  Epikern  sind  zu  belegen :  aus  Lucil. :  signifer  90  (Phoen. 
390.  Thy.  846,  desgl.  Lucr.,  in  Prosa  Cic.  Caes.  Liv.  Vitr.).  mor- 
tifer  802  (Med.  688  u.  a.,  desgl.  Cic.  poet.  u.  pros.  Verg.) ;  aus 
Cic.  poet.:  aestifer  Arat.  111.  320.  (Oed.  39,  desgl.  Lucr.  Verg.). 
aurifer  Tusc.  II  22  =  Soph.  Trach.  1099  fg.  cöv  xe.  XQVöicuv  dgccKOvra 
IxijXcüV  (pvlaAU  (Herc.  f.  240,  desgl.  Catull.  Tib.  Ov. ;  in  der  Her- 
cules-^ijatg,  die  Cic.  aus  den  Trach.  übersetzt,  bringt  er  noch  zwei 
solche  Adj.  an,  anxifer  u.  vastifiaus,  denen  im  Gr.  nichts  entspricht). 
squamifer  Arat.  328  =  lyßvEg  aozegoevTeg  (Med.  685).  hidificus  Tusc. 
n  25  (Herc.  f.  102.  Phae.  995.  Oed.  3.  Phoen.  152.  Med.  577  in  A, 
desgl.  Verg.);  aus  Lucr.:  florifer  III  11  (Oed.  649).  ignifer  II  25 
u.  a.  (Med.  34.  Phae.  960.  Herc.  0.  1362.  1748,  desgl.  Ov.).  rorifer 
VI  864  (Phae.  11)..  tabificus  VI  737  (Oed.  79,  desgl.  Cic.  pros.); 
aus  Catull  64,  394  letifer  (Herc.  0.  208,  desgl.  Verg.  Ov.);  aus 
augusteischen  Dichtern :  mehrere  aus  Verg. :  caelifer  Aen.  VI  796 
(Herc.  f.  528,  desgl.  Ov.).  imhrifer  Georg.  I  313  (Phae.  Hol.  Oed. 
815,  desgl.  Ov.).  pestifer  Aen.  VII  570  (Herc.  f.  562.  976.  Phoen. 
38.  220,  desgl.  Ov.,  in  Prosa  Cic.  u.  Liv.).  pinifer  ecl.  10,  14. 
Aen.  IV  249  (Ag.  346).  vulnificus  Aen.  VIII  446  (Phae.  345, 
desgl.  Ov.);  ein  vereinzeltes  aus  Hör.:  pomifer  carm.  IH  23,  8. 
IV  7,  11  (Herc.  f.  700);  mehrere  aus  Prop. :  anguifer  II  2,  8 
(Herc.  f.  812,  desgl.  Ov.).  gemmifer  III  4,  2  (Med.  725.  Herc.  0. 
622.  661).  velifcr  III  9,  35  (Thy.  129,  desgl.  Ov.) ;  zahlreichere 
aus  Ov.:  armifer  am.  II  6,  35  u.  a.  (Med.  468.  980.  Phae.  909). 
lacifer  am.  II  16,  8  (Oed.  415).  scejjtrifer  fast.  VI  480  (Med.  59). 
sacrificus  met.  XV  483  u.  a.  (Herc.  f.  893.  Med.  38.  Ag.  106.  584, 


202  Karl  Münscher. 

desgl.  Liv.).  saxificus  von  der  Medusa  met.  217.  Jb.  553  (Herc.  f. 
902);  eines  aus  Manil.  II  442  spicifer  (Herc.  0.  598).  Nur  eine 
der  bei  Sen.  trag,  zu  findenden  Bildungen  ist  vor  ihm  anscheinend 
nur  in  Prosa  nachweisbar :  stellifer  (Phae.  785)  bei  Cic.  rep.  VI  18 
in  der  gehobenen  Sprache  des  somnium  Scipionis.  Doch  wie  und 
woher  auch  Sen.  zu  seiner  Vorliebe  für  diese  Art  von  Adjektiv- 
bildungen gekommen  sein  mag  —  in  der  Oct.  fehlen  sie ,  und  das 
ist  auffallig  und  schwer  erklärbar,  wenn  die  Oct.  ein  Werk  Sen.s 
ist,  aber  es  ist  nicht  minder  schwer  erklärbar,  wenn  die  Oct. 
nicht  von  Sen.  ist:  wie  konnte  deren  Verf.,  der  so  völlig  vom  Geist 
und  Wort  Sen.s  erfüllt  ist  —  Hosius  schrieb  mir:  'Gedanken  und 
Sprache  sind  so  sehr  des  Philosophen,  daß  wir  entweder  die  Identi- 
tät der  Verfasser  annehröen  müssen ,  oder  wir  müssen  überhaupt 
darauf  verzichten ,  aus  solchen  Gründen  auf  einen  Verfasser  zu 
schließen'  — ,  wie  konnte  dem  Sen. -Nachdichter  die  Liebhaberei 
seines  Vorbildes  entgehen ,  wie  konnte  er  auf  den  Gedanken 
kommen ,  sie  zu  meiden  ?  So  ,  bleibt  zur  Erklärung  des  Fehlens 
jener  beiden  Adjektivbildungen  in  der  Oct.  doch  nur  der  Hinweis 
auf  die  Verschiedenheit  der  genera  des  dramatischen  Spiels,  der 
Crepidata  und  der  Praetexta,  übrig:  jene  bevorzugte  sie,  doch  wohl, 
um  die  hochklingenden  Wortbildungen  der  griechischen  Tragiker  nach- 
zuahmen (nicht  zu  übersetzen),  diese  vermied  sie,  weil  sie  der  Sprache 
des  Lebens  näher  stand.  Wenigstens  ist  in  dem  oben  vorgelegten 
Wortmaterial  aus  den  römischen  Dramatiker-Fragmenten  nur  ein 
Wort,  und  zwar  das  auch  im  gewöhnlichen  Leben  übliche  mirißcus 
(Ter.  Cic.  Caes.  Catull.  Ov.  Val.  Max.)  aus  einer  Praetexta  des 
Accius  (27)  belegt,  wie  die  gleichfalls  prosaischen  maleficus  und 
magnificus  bei  Plautus  und  Terenz.  Aber  für  die  Entscheidung  der 
Echtheitsfrage  scheidet  das  Nichtvorhandensein  jener  Adjektiv- 
bildungen in  der  Oct.  aus ,  wenn  es  auf  der  Vex-schiedenheit  der 
dramatischen  Gattung  beruht. 

Seinen  oben  angeführten  Worten  über  die  Fülle  der  Überein- 
stimmungen zwischen  Oct.  und  den  andern  Sen. -Tragödien  fügte 
Hosius  folgendes  hinzu:  'Je  mehr  ich  über  das  Problem  nachsinne, 
desto  mehr  neige  ich  zur  Autorschaft  Sen.s  .  .  .  Wenn  ich  nur  über 
die  Agrippinaszene  hinwegkäme !  Die  ist  für  mich  als  Sen.-isch 
doch  noch  etwas  unverdaulich.  'Daß  Nero  einmal  eines  gewalt- 
samen Todes  sterben  würde,  das  konnte  wohl  ein  jeder  in  Rom 
prophezeien',  sagen  Sie  S.  129;  aber  jeder  solchen  Prophezeiung 
konnte  eine  Influenza  die  Wahrheit  rauben;  das  ist  doch  eine  be- 
denkliche Sache.     Und  geht  V.  627  der  flehende  Parther  nicht  auf 


Bericlit  über  die  Seneca-Literatur  aus  den  Jahren  1915—1921.     203 

<ii€  Tiridatesepisode  in  Italien  im  J.  66,  ein  Jabr  nach  Sen.s  Tode? 
^Y^uu  man  es  auch  auf  den  Sieg  Corbulos  beziehen  kann.  Also 
etSras  schwanke  ich  noch.  Auf  jeden  Fall  wird,  die  Frage  noch 
nicht  zur  Ruhe  kommen,  auch  dank  Ihrer  besonnenen  Ausführung'. 
Das  war  mir  Anlaß,  das  Problem,  welches  uns  die  Agrippinaszene 
stellt,  erneut  zu  prüfen  —  und  ich  bin  dadurch  zu  der  Überzeugung 
gelangt,  daß  sie  einen  ganzen  Komplex  von  historischen  Tatsachen 
erithält,  die  Sen.s  Autorschaft  ausschließen.  Meine  folgenden  Aus- 
führungen hierüber  beruhen  aber  zum  großen  Teil  auf  Darlegungen, 
für  die  ich  meinem  Kollegen  Münzer  herzlich  zu  danken  habe. 
Ich  beginne  mit  einer  Stelle,  die  nicht  zur  Agrippinaszene  ge- 
hört. Poppaea  erzählt  im  dritten  Teile  des  Stückes  ihrer  Amme 
den  schreckensvollen  Traum,  den  sie  in  der  Hochzeitsnacht  gesehen 
hat.     728  ff.  heißt  es:  venientem  intuor 

comitante  turha  coniugem  quondam  meum 
natumque;  proper at  petere  complexus  meos 
Crispinus,  intermissa  libare  oscida, 
irrupit  intra  tecta  cum  trepidus  mea 
ensemque  iugulo  condidit  saevum  Nero. 

In  wessen  iugulum  stößt  Nero  sein  Schwert,  in  seins  oder  das 
des  Crispinus?  Ich  habe  mich  (Sen.s  Werke  128,  1)  der  Auf- 
fassung angeschlossen  (von  Flinck  6  f.  u.  a.  vertreten),  daß  damit 
Nero  als  Crispinus  Mörder  bezeichnet  werde  und  zu  iugulo  also  eins 
(des  Crispinus)  hinzuzudenken  sei.  Grammatisch  ist  das  natürlich 
möglich,  aber  scharfe  Interpretation  der  Stelle  beweist  das  Gegen- 
teil, Die  Amme  deutet,  Poppaea  zu  beruhigen,  das  Traumgesicht 
in  günstigem  Sinne  aus  und  sagt  (752  f.):  iugulo  quod  ensem  con- 
didit princeps  tuus,  bellum  haitd  movebit,  pace  sed  ferrmn  leget.  Da 
Crispinus  unmittelbar  vorher  nicht  genannt  ist,  kann  es  doch  hier 
nur  das  eigene  iugulum  sein ,  in  das  Nero  das  Schwert  versenkt. 
Undenkbar,  daß  der  Dichter  dem  Leser  zumuten  sollte,  auch  in 
diesem  Verse  zu  itigiilo  ein  eius  oder  Crispini  hinzuzudenken. 
Und  es  wäre  ja  auch  eine  zu  seltsame  Deutung  der  nutrix,  daß  die 
Ermordung  eines  Gegners ,  des  Crispinus ,  ein  Zeichen  zukünftiger 
friedlicher  Regierung  Neros  sein  sollte.  In  den  eigenen  Leib,  so 
meint  die  Amme ,  hat  Nero  sein  Schwert  wie  in  eine  Scheide  ver- 
senkt, um  es  nimmer  zu  brauchen.  Aber  warum  ließ  der  Dichter 
den  Nero  das  Schwert  in  dieser  Traumerzählung  nicht  einfach  in 
die  Scheide  stecken?  Nur  um  das  Grausige  zu  steigern?  Nein, 
weil  er  wußte,  daß  Nero  sich  tatsächlich  das  Schwert  in  die  Kehle 


204  Karl  Münscher. 

gestoßen  hat!  Und  auch  in  Poppaeas  eigener  Erzählung  steht  em 
Wort,  das  die  Auffassung,  Nero  habe  in  dem  Traumgesichte  Pop- 
paeas früheren  Gatten,  nicht  sich  selbst  erstochen,  ausschließt:  beide, 
Crispinus  und  Nero,  erscheinen  in  Poppaeas  Gemache,  jener  sinkt  in 
ihre  Arme  und  küßt  sie,  dieser  stürzt  ins  Zimmer  trepidus,  zitteriid 
vor  Angst,  also  vor  irgendwelchen  Verfolgern,  und  stößt  sein 
Schwert  doch  natürlich  nicht  in  Crispinus,  sondern  in  die  eigene 
Kehle.  Daß  dies  die  einzig  mögliche  Auffassung  dieser  Stelle  ist, 
geht  auch  klar  hervor  aus  dem  Gegenstück  zu  Poppaeas  Traum,, 
den  Träumen  Octavias,  von  denen  die  Kaiserin  im  ersten  Teile  des 
Dramas  ihrer  Amme  erzählt.  Oft  erscheine  ihr,  so  sagt  sie,  ihr  toter 
Bruder  Britanniens,  118  ff. : 

modo  facibus  atris  armat  infirmas  manus 
oculosgue  et  ora  fratris  (Neros)  infestus  petit, 
modo  trepidtis  idem  refugit  in  thalamos  meos; 
persequitur  liostis  (Nero)  atque  inhaerenti  mihi 
violentiis  ensem  per  latus  nostrum  rapit. 

Es  ist  klar,  ein  als  trepidus  Fliehender  tötet  keinen  andern, 
sondern  entweder  wird  er  von  seinem  Verfolger  getötet  —  so 
Britanniens  von  Nero  in  Octavias  Traum  — ,  oder  er  tötet  sich  selbst, 
seinen  Verfolgern  zu  entrinnen  —  so  Nero  in  Poppaeas  Traum. 
Und  was  ergibt  also  die  Interpretation  dieses  Traumes  der  Pop- 
paea  für  den  Dichter  des  Oct.  ?  Daß  er  wußte ,  daß  Nero  sich 
selbst,  vor  Verfolgern  fliehend,  mit  einem  Schwertstoß  in  die  Kehle 
entleibt  hatte,  wie  Sueton  erzählt  (49,  3):  iamque  equites  appropin- 
quäbant,  quibus  praeceptum  erat,  ut  vivum  cum  adtraherent.  Quod 
ut  sensit,  trepidanier  effatus  'injtoiv  [.i  wycvnodiov  a/.iq'i  '/.tvnog 
Ovar«  z^aAAft  (K  535)  ferrum  iugiilo  adegit  iuvante  Epaphrodito 
a  lihellis.  (Kichtig  urteilte  F.  Ladek,  Diss.  Vindob.  III  1891,  6. 
Zeitschr.  f.  d.  österr.  Gymn.  LVI  1905,  863,  1). 

Demnach  muß  also  die  Agrippinaszene  doch  ein  vaticinium  ex 
eventu  sein.  Gewiß  ist  die  Ankündigung  des  Todes  Neros  mit 
typischen  Zügen,  wie  den  Hinweisen  auf  die  Büßer  der  Unterwelt 
durchsetzt,  aber  verbera  und  iurpis  fuga,  von  denen  die  Rede  ist  (620), 
veniet  dies  tempusque  —  anklingend  an  das  homerische  aaoexat 
itj/iag  /l  164,  das  einst  Scipio  Aemilianus  beim  Untergang  Karthagos 
zitierte,  Appian.  VIII  82  nach  Polybios  —  quo  reddat  .  .  .  iugulum 
hostibus  desertus  ac  destructus  et  cunctis  egens  (629/31),  das  sind  doch 
Züge,  die  der  Dichter  aus  den  tatsächlichen  Vorgängen  bei  Neros 
Tode    den  Worten  Agrippinas  eingefügt  hat.     Denn  diese  beweisen 


Bericht  über  die  Seneca-Literatur  aus  den  Jahren  1915—1921.     205 

auch  sonst  noch,  daß  Neros  Tod  wie  andere  Ereignisse  nach  Sen.s 
Tode  dem  Dichter  bekannt  waren.  —  Nachdem  schon  gesagt  ist, 
daß  die  ultrix  Erinys  impio  dignum  parat  letum  tyranno  —  was  dann 
mit  den  Strafen  der  bekannten  Unterweltsbüßer  näher  ausgeführt 
wird  — ,  fährt  Agrippina  fort  (624  ff.) : 

licet  extruat  marmoribus  atque  anro  tegat 
superbus  aülatn,  Urnen  armatae  ducis 
servent  cohortes,  mittat  immensas  opes 
exhaustits  orbis,  supplices  dextram  petant 
Parthi  crueniam,  regna  divitias  ferant: 

trotzdem  wird  Nero  (veniet  dies  etc.  629  ff.)  seinem  Verhängnis  nicht 
entgehen.  Es  ist  von  vornherein  wahrscheinlich,  ja  notwendig,  daß 
diese  zwischen  der  doppelten  Todesankündigung  stehenden  Zeilen 
von  Dingen  sprechen ,  die  den  letzten  Jahren  vor  Neros  Tode  an- 
gehören. Das  erste  (624  f.)  ist  die  auJa,  die  Nero  mit  Marmor 
erbaut' und  mit  Gold  deckt.  Gewiß  ist  von  goldgeschmückten  tecta 
auch  sonst  nicht  selten  bei  den  Römern  die  Eede  (Stellen  im  Thes. 
1.  L.  II  1530,  4  ff.),  aber  es  kann  doch  wohl  nicht  zweifelhaft  sein, 
daß  hier  an  die  domus  aurea  Neros  im  besonderen  gedacht  ist, 
deren  Erbauung  nach  Tac.  ann.  XV  42  (sonstige  Stellen  Suet. 
Nero  31,  1.  Plin.  nat.  XXXIII  54,  vereint  bei  Hosius  zu  624) 
ins  Jahr  64,  also  ins  letzte  Lebensjahr  Sen.s  fällt;  das  hätte  dieser 
also  gei'ade  noch  zur  Not  erwähnen  können.  —  Es  folgt  625  f. 
Urnen  armatae  ducis  servent  cohortes.  Das  wird  nicht  auf  die  dtiae 
praetoriae  cohortes  armatae  gehen,  mit  denen  Nero  im  Jahre  66  das 
Sitzungslokal  des  Senats,  den  Tempel  der  Venus  Genetrix,  besetzen 
ließ  (Tac.  ann.  XVT  27,  von  Hosius  z.  d.  St.  angeführt),  weit  eher 
darf  man  an  Tacitus  Schilderung  bei  der  Pisonischen  Verschwörung 
denken,  XV  58 :  magis  magisque  pavido  Kerone,  quamquam  muUi- 
plicatis  excifbiis  —  dies  der  technische  Ausdruck  für  die  Palast- 
wache (Mommsen,  Eöm.  Staatsrecht  11^  864,  4)  —  semet  saejjsisset, 
quia  et  urbem  per  manipulos  occupatis  moenibus^  insesso  eiiam  mari  et 
amne,  velut  in  custodiam  dedit.  Münzers  Vei-mutung  ist  sehr  an- 
sprechend, daß  Nero  dabei  die  sonst  befolgte  Kegel  durchbrochen 
habe ,  daß  die  wachthabende  Prätorianerkohorte  im  Schloß  ohne 
Rüstung  —  drum  die  armatae  .  .  .  cohortes  in  der  Oct.- Stelle  — 
und  sagum,  sondern  in  der  toga  auf  Wache  zog  (Tac.  bist.  I  18. 
Mommsen  I^  431).  Das  sind  Vorgänge  aus  Sen.s  allerletzten 
Lebenstagen !  —  Dann  heißt  es  (626  f.) :  mittat  immensas  opes 
exhaustus    orbis    (nur     im    Wortlaut    klingt    Sen.s    Wort    an,     das 


206  Karl  Münscher. 

Hosius  anführt  V.  434/5  luxuria  vidrix  orbis  immetisas  opes  iatn 
pridem  avaris  manihus,  ut  perdat,  rapit).  Von  diesen  Erpressungen, 
die  während  Neros  letzter  Regierungsjahre ,  nach  der  Erschöpfung 
Italiens ,  in  allen  Provinzen ,  bei  allen  verbündeten  Völkern  und 
sogenannten  freien  Staaten  betrieben  wurden,  spricht  auch  Tacitus  (ann. 
XV  45) :  conferendis  pecuniis  pervastata  Italia  provinciae  etwrsae 
sociique  populi  et  quae  civitatium  liberae  vocantur.  Drum  planen 
die  Verschworenen  (XV  52)  Neros  Ermordung  in  illa  invisa  et 
spoliis  civium  extruda  domo ^  wo,  wie  hier  in  der  Oct.-Stelle,  die 
Erpressungen  und  der  Palastbau  miteinander  verknüpft  sind.  — 
Es  folgt  der  Satz  (627  f.) :  suppUces  dextram  pdant  Parthi  cruentam. 
Man  hat  zu  Rom  im  Herbst  62  iropaea  de  Partim  araisque  media 
Gapitolini  montis  errichtet  (Tac.  ann,  XV  18),  auf  Grund  von 
Paetus  hochtrabendem  Siegesbericht  (XV  8),  obwohl  seine  folgende 
Niederlage  (XV  10 — 16)  wahrlich  keinen  Anlaß  dazu  bot.  Aber 
der  Dichter  denkt  natürlich  nicht  an  das  Jahr  62 ,  sondern  an  die 
Erfolge,  die  der  bewährte  Gn.  Domitius  Corbulo,  erneut  allein  mit 
dem  Kommando  im  Osten  betraut,  im  Jahre  63  gegen  die  Parther 
erzielte  (XV  24  fi'.).  Nach  erfolgreichem  Einfall  in  Südarmenien 
schließt  Corbulo  noch  im  selben  Jahre  63  einen  neuen  Vertrag  mit 
dem  Partherkönig  Vologaeses,  und  in  Rhandeia ,  dem  Orte  der 
Kapitulation  des  Paetus  (Dio  C.  LXII  23,  2),  treffen  Corbulo  und 
Tiridates ,  Vologaeses  Bruder ,  zum  colloquium  zusammen ,  und 
Tiridates  erklärt  seine  Bereitschaft,  nach  Rom  zu  kommen  und 
aus  Neros  Hand  die  Belehuung  mit  Armenien  entgegenzunehmen: 
ohne  eine  Niederlage  der  Parther  werde  er ,  der  Arsakide ,  als 
Bittender  in  Rom  erscheinen  (iturum  quippe  Bomam  .  .  .  non  adversis 
Parthorum  rebus  suppUcem  Ärsaciden)-^  als  Geisel  stellte  er  seine 
Tochter  und  schrieb  litteras  snpplices  an  Nero  (ann.  XV  29  f.). 
Zweifellos  reichen  diese  Geschehnisse,  die  Sen.  noch  erlebt  und 
erfahren  hat,  an  sich  aus,  jenes  Sätzchen  der  Oct.  von  den  süpplices 
Parthi,  die  die  blutige  Rechte  des  Siegers  ergreifen,  zu  erklären. 
Aber  viel  wahrscheinlicher  ist  es  doch,  daß  der  Dichter  nicht  jene 
Vorgänge  im  fernen  Osten  meint,  sondern  die  mit  höchstem  Prunk 
inszenierte  Erfüllung  des  parthischen  Versprechens ,  die  Belehnung 
des  Tiridates  mit  Armenien  in  Rom  selbst.  Nach  dem  zur  ersten 
Begrüßung  in  Puteoli  veranstalteten  Kampfspiele,  an  dem  Tiridates 
selbst  als  Bogenschütze  teilnahm ,  folgte  in  Rom  die  eigentliche 
Belehnung  des  Partlierprinzen  mit  Armenien  auf  dem  Forum,  wobei 
Nero  ihm  das  Diadem  aufs  Haupt  setzte,  und  dann  der  ""goldene 
Tag'    im  goldgeschmückten  Theater,    wo  Nero  selbst  als  Kitharode 


Bericht  über  die  Seneca-Literatur  aus  den  Jahren  1915—1021.    207 

und  Wagenlenk^r  auftrat  (Dio  C.  LXIII  1 — 6) :  Nero  wurde  als 
Imperator  begrüßt  und  der  Janusbogen  geschlossen.  Und  wieder 
heißt  es  in  der  Schilderung  dieser  Szenen  (Suet.  Nero  13),  des 
bittflehenden  Parthers  Worte  [verba  siqjplicis)  wurden  dem  Volke 
verdolmetscht,  rursus  svjyplicantem  ließ  Nero  ihn  im  Theater  an 
seiner  rechten  Seite  niedersitzen.  Diese  Szene  in  Rom  hat  Sen. 
nicht  mehr  erlebt :  erst  unter  dem  Konsulate  des  C.  Telesinus  und 
Suetonius  Paiilinus  im  Jahre  66  kam  Tiridates  (nach  ann.  XVI  23, 
Dio  C.  LXIII  1,  1)  nach  Rom.  Haben  wir  nun  einen  Beweis 
dafür,  daß  der  Oct.-Dichter  nicht  bloß  an  die  Demütigung  des 
Tiridates  in  Rhandeia  vor  Corbulo  im  Jahre  63  denkt,  sondern  au 
seine  Demütigung  vor  Nero  in  Rom  im  Jahre  66?  Die  Ent- 
scheidung zugunsten  der  zweiten  Möglichkeit  und  damit  gegen 
Sen.s  Autorschaft  für  die  Oct.  bringt  das  letzte  Sätzchen  der  oben 
ausgeschriebenen  Verse  (628) :  regna  divitias  ferant.  Im  ersten 
Augenblick  wundert  sich  vielleicht  der  Leser,  daß  dies  Sätzchen, 
das  doch  anscheinend  eine  Ergänzung  gibt  zu  dem  vorher  über  die 
immensae  opes  Gesagten,  die  der  exhaustus  orbis  nach  Rom  schicken 
müsse ,  durch  den  Satz  vom  bittflehenden  Parther  abgetrennt  ist. 
Aber  es  hat  eben  in  Wahrheit  nichts  mit  der  Ausplünderung  und 
Auspressung  des  römischen  Reiches  und  aller  seiner  Untertanen  zu 
tun.  Welche  regna  können  denn  überhaupt  gemeint  sein?  Nur 
Parthien  und  Armenien,  mit  denen  Rom  fortwährend  in  wechsel- 
vollem Streite  steht.  Zu  regna  ist  also  aus  dem  ersten  Worte  des 
V.  628  Parthi  ein  Parthorum  hinzuzudenken.  Der  Parther  König- 
reiche bringen  ihre  Reichtümer  nach  Rom,  nicht  schicken  sie  sie, 
wie  alle  sonstigen  Bewohner  des  orbis  terrarum  als  abgabenpflichtige 
Glieder  des  römischen  Imperium  •,  sie  bringen  sie  selbst,  die  Parther, 
die  Tiridates  nach  Rom  geleiten.  Und  sie  kamen  wirklich  mit 
ihren  divitiae:  bei  Dio  Cassius  lesen  wir,  ihr  ganzer  Zug  war  eine 
ycofXTir]  öia  naar^g  xrjg  anb  rov  EvrpQccrov  yrjg  üansQ  sv  tnivi-Kioig 
(LXin  1).  Dem  jugendschönen  Tiridates  folgte  r;  i/egaTteta  »j  TS 
7iaQaa/.EV^  ^  ßaciXinrj  näoa;  3000  parthische  Reiter  geleiteten 
ihn  außer  zahlreichen  Römern;  seine  Gemahlin  zog  mit  ihm,  einen 
goldenen  Helm  trug  sie  ccvtl  yialvnzQag.  Alle  Städte,  durch  die 
der  Zug  ging,  empfingen  ihn  festlich,  lieferten  alle  Verpflegung 
umsonst,  so  daß  zwanzig  Myriaden  an  täglichem  Aiif^'and  während 
der  ganzen,  9  Monate  dauernden  Reise  dem  Fiskus  gutgeschrieben 
wurden    (Dio  C.  LXIII  2 ,    Ta  te   eTtiz/jdeia   navra  T(Qol/.a   eixov, 

CoatE       EL7.0OL      (.IVQlCcÖag      XO       7jf.l£QiGlOV      avCcllOf-lU      Tf[j       Ö}]U0010J 

XoyiG&rjrai,    y.al  tovto  in    ivvea  f-irp'ag,  olg  coöomoQrjOav,  Of-ioiiog 


208  Ka,v\  Münscher. 

iysveTO.  Der  Reichtum  des  Orients  kam  also  wirklich  mit  Tiridates 
nach  Rom :  drum  jenes  Sätzchen  in  der  Oct. :  regna  (Parthorum) 
divitias  ferant.  Kein  Zweifel  melir,  der  Oct.-Dichter  bezieht  sich 
in  den  V.  627/8  auf  Tiridates  glanzvolles  und  zugleich  demütiges 
Erscheinen  in  Rom  im  Jahre  66. 

Es  stehen  also  in  der  Agrippinaszene  der  Oct.  zwischen  den 
beiden  Verkündigungen  von  Neros  Untergang  (619 — 623  und 
629 — 631)  ein  paar  Zeilen  (624 — 8),  die  lauter  Ereignisse  erwähnen, 
die  der  allerletzten  Lebenszeit  Sen.s  oder,  wie  die  Tiridatesepisode, 
sicher  der  Zeit  nach  seinem  Tode  angehören,  die  Sen.  also  nicht 
anführen  konnte :  somit  ist  der  Dichter  der  Oct.  nicht  Seneca. 

Ich  schäme  mich  nicht,  daß  ich  so  bald  nach  der  Veröffent- 
lichung meines  Sen. -Buches  die  darin  vertretene  Auffassung,  die 
Oct.  sei  ein  echtes  Werk  Sen.s  selbst,  widerrufen  muß:  besser  eine 
Palinodie  als  Verharren  im  Irrtum.  Und  es  war  wohl  von  Nutzen, 
daß  ich  noch  einmal  alle  Momente  zusammenfaßte,  die  für  Sen.s 
Autorschaft  sprechen  konnten,  um  desto  sicherer  zu  erkennen,  daß 
es  einzig  und  allein  die  historischen  Beziehungen  sind,  die  Sen.s 
Verfasserschaft  ausschließen.  Alle  meine  Ausführungen  über  Sprache 
und  Gedankengehalt,  Metrik  und  Komposition  der  Oct.  bestehen  zu 
Recht ,  nur  beweisen  sie  nicht ,  was  ich  darin  suchte :  Sen.s  Ver- 
fasserschaft;  aber  sie  gewähren  uns  erwünschten  Einblick  in  Art 
und  Wesen,  Wollen  und  Können  des  namenlosen  Dichters  dieser 
Praetexta.  Ein  Zeitgenosse  Sen.s  ist  es,  der  sich  mit  bewunderndem, 
•  hingebendem  Eifer  in  Sen.s  Werke  versenkt,  sie  sozusagen  ganz 
in  sich  aufgesogen  hat,  so  daß  sein  eigenes  Dichtwerk,  die  Oct., 
nach  Wortform,  Gedankengehalt  und  Versbau  als  Werk  Sen.s  gelten 
könnte.  Überdies  hat  er  Sen.  selbst  in  seiner  Dichtung  vei-herrlicht, 
er  hat  ihn  als  den  redlichen,  ernsten,  wahrhaft  menschlichen  Malmer 
dem  kaiserlichen  Schüler  Nero  gegenübergestellt,  er  läßt  ihn  sich 
dabei  voll  Dankbarkeit  an  die  ganz  den  'Wissenschaften  geweihten 
Zeiten  der  VerbanniTUg  in  Korsika  erinnern  •  von  dem  noch  ertrag- 
reicheren otium  der  letzten  Lebensjahre  Sen.s  konnte  in  dem  noch 
bei  Octavias  Lebzeiten  (f  62)  spielenden  Stücke  nicht  die  Rede 
sein,  aber  Sen.s  Stimmung,  wie  sie  uns  aus  de  otio  vor  allem 
bekannt  ist,  der  Wunsch  und  Willen,  nach  der  Befreiung  vom 
höfischen  Leben,  die  Muße  ganz  mit  literarischem  Wirken  zu  füllen, 
kommt  in  dieser  Rückerinnerung  an  Korsika  ti'effend  zum  Ausdruck. 
Kein  Zweifel,  dieser  intimste  Kenner  Sen.s  und  seiner  Gedanken 
muß  ein  Freund  Sen.s  gewesen  sein.  Und  nicht  minder  klar  er- 
kennt man  ein  Zweites:    der  Mann,  der  sich  gedrungen  fühlte,  das 


Bericht  über  die  Seneca-Literatur  aus  den  Jahren  1910 — 1921.     209 

Schicksal  der  unglücklicheu  Kaiserin  Octavia  poetisch  darzustellen, 
er  hat  dieser  Frau  sicherlich  auch  im  Leben  nahe  gestanden  — 
ob  Seu.  so  leidenschaftslos  und  wohlwollend  der  Tochter  seiner 
gTimmigen  Feindin  Messalina  gegenübergestanden  hat ,  daß  er  sie 
dichterisch  zu  verherrlichen  gewillt  gewesen  wäre,  könnte  immerhin 
zweifelhaft  erscheinen. 

War  Sen.  der  Dichter  der  Oct.,  so  sprach  er  in  der  Aprippina- 
Verkiindigung  vom  Tode  Neros  seines  eigenen  Herzens  Wunsch 
aus,  daß  Nero  ein  seinen  Taten  entsprechendes  Ende  finden  möge. 
Dieser  Wunsch  stand  in  einem  unleugbaren  Widerspruch  zum 
sonstigen  Inhalt  des  Stücks,  in  dem  das  verbrecherische  Paar  Nero- 
Poppaea  triumphiert,  während  die  unschuldige  Octavia  in  den  Tod 
geht;  das  deutete  ich  als  einen  Beweis,  die  Oct.  Sen.s  sei  ein  un- 
vollendeter Entwurf.  In  ganz  andere  Beleuchtung  rückt  dies 
Mittelstück,  wenn  feststeht,  daß  ein  anderer  die  Oct.  nach  Sen.s 
und  Neros  Tode  verfaßt  hat.  Octavias  Schicksal  war  ein  wahrhaft 
tragischer  Stoff:  ein  schuldloses,  königliches  Weib,  das  dem  ruch- 
losen Haß  des  eigenen  Gatten  und  seiner  Geliebten  erliegt.  Aber 
wenn  auch  das  Laster  zunächst  siegt  und  triumphiert,  die  poetische 
Gerechtigkeit  verlangt  doch  den  moralischen  Sieg  des  Gerechten. 
Ein  Sophokles  hätte  aus  solchem  Stoff  eine  seiner  zweiteiligen 
Tragödien  gemacht ,  wie  es  Aias  und  Antigone  sind :  nachdem 
Octavia  zum  Tode  geführt  war ,  hätte  er  in  einem  zweiten  Teile 
von  Neros  wohlverdientem  Falle  berichten  lassen.  Anders  verfuhr 
der  Dichter  des  erhaltenen  Dramas.  Allein  die  Tragödie  der 
kaiserlichen  Märtyrerin  wollte  er  in  geschlossener  dramatischer 
Form  darstellen ,  so  konnte  und  durfte  in  seinem  Stück  nach 
Octavias  Abgang  zu  Verbanuung  und  Tod  nichts  Weiteres  folgen. 
Er  verwandte  den  im  hellenistischen  Drama  gegebeneu  dreiteiligen 
Aufbau  und  brachte  in  jedem  der  drei  selbständig  und  uuverbunden 
nebeneinanderstehenden  Teile  Ereignisse  eines  Tages  zur  Darstellung: 
im  ersten  Octavias  Bangen,  Neros  Entschluß  zur  Ehe  mit  Pöppaea 
am  Tage  vor  der  Hochzeit,  im  dritten  den  Tag  nach  der  Hochzeit: 
Poppaeas  Befürchtungen ,  des  Volkes  vergebliche  Erhebung  für 
Octavia,  die  Rache  an  Octavia,  im  mittleren  den  Hochzeitstag  selbst. 
Aber  das  Hochzeitsfest  darzustellen ,  an  dem  doch  Octavia  nicht 
teilnahm,  hatte  der  Dichter  keinen  Anlaß ,  so  bot  er  nur  ein 
Stimmungsbild :  Octavias  und  ihres  getreuen  Chores  Klagen  über 
den  schicksalsschweren  Tag ,  der  angebrochen  ist.  Davor  aber 
stellte  er  —  in  Anlehnung  an  seines  Meisters  Sen.  Prologe  im  Ag. 
und  Thj.,  wo  die  Thyestis  und  Tantali  umbrae  aus  dem  Schatten- 
Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft  Bd.  192.  (1922.  II).  14 


210  Karl  Münscher. 

reiche  emportauchen  —  das  grausige  Erscheinen  der  toten  Mutter 
Neros ,  die  dem  eigenen  Sohne  flucht  vmd  seinen  elenden  Tod  im 
voraus  verkündet.  Mit  diesem  kühnen  Einfügen  einer  die  Zukunft 
kündenden  Verstorbenen ,  wie  es  sonst  in  Prologen  üblich  war, 
inmitten  seines  Stückes  füllt  der  Dichter  nicht  bloß  den  allzu 
dürftigen  mittleren  Teil  seines  Dramas  aiif,  er  tut  damit  auch  der 
poetischen  Gerechtigkeit  Genüge :  er  fuhrt  dem  Beschauer  an  hervor- 
ragender Stelle ,  an  einem  Ruhepunkte  in  der  Mitte  der  ganzen 
dramatischen  Handlung  in  einer  gespenstigen  Zukunftsverkündung 
den  Untergang  des  Frevlers,  der  im  Drama  selbst  triumphiert  und 
triumphieren  muß,  vor  Augen.  Damit  tun  wir  einen  Blick  in  die 
künstlerische  Werkstatt  dieses  Dichters:  so  abhängig  er  in  Gedanken ,^ 
Worten  und  metrischer  Form  von  Sen.  ist ,  im  dramatischen  Auf- 
bau verfährt  er  durchaus  selbständig,  geht  er  eigene,  seltsam  kühne 
Wege.  Und  daß  das  eigenartige  Mittelstück  auf  Nichtvollendung 
des  ganzen  Dichterwerkes  deute,  dürfen  wir  nun  wahrlich  nicht 
mehr  glauben.  Und  auch  des  Chores  schwankende  Haltung,  der 
bald  zur  Poppaea,  bald  zur  Octavia  sich  hinneigt,  darf  wohl  nicht 
als  Beweis  für  Unausgeglichenheit  und  Unvollendetheit  angesehen 
werden,  und  ebensowenig  schließlich  jene  leise  Inkonzinnität,  daß 
Octavia  und  ihr  Chor  am  Schluß  das  verhängnisvolle  Schiff  sehen 
und  begrüßen,  das  Octavia  fortführen  soll ;  freilich  vor  dem  Kaiser- 
palast in  Rom ,  vor  dem  das  Stück  im  übrigen  spielt ,  kann  das 
Schiff  in  Wahrheit  nicht  sichtbar  sein ,  mögen  wir  es  uns  in  Ostia 
oder  am  Tiberhafen  in  Rom ,  bis  wohin  die  Seeschiffe  gelangten, 
vor  Anker  liegend  denken :  mit  solchen  Lokalangaben  nimmt  es  der 
Dramatiker  jeuer  Zeiten  offenbar  nicht  allzu  genau,  brauchte  darin 
auch  keineswegs  ängstlich  zu  sein,  wenn  doch  für  sein  Werk  nur 
Lesen  oder  Vorlesen  in  Betracht  kam,  Leben  auf  der  Bühne  ihm 
nicht  beschieden  war. 

Wir  kennen  den  Dichter  der  Oct.  nicht.  Scaliger  riet 
auf  Scaevus  Memor  (s.  oben  S.  117  f.),  einen  benannten  Un- 
bekannten für  einen  Namenlosen  einsetzend,  Franz  Ritter 
(Oct.  praet.  Curiatio  Materno  vindicatam  ed.,  Bonn  1843, 
p.  XII  sqq.)  auf  Curiatius  Maternus ,  der  auch  als  Dichter 
von  praetextae  berühmt  war ,  aber  schwerlich  schon  Sen.s  und 
Octavias  Freund  und  Vertrauter  gewesen  sein  kann ;  man  könnte 
an  Pomponius  Seciindus  denken ,  falls  er  Seü.  und  Nero  über- 
lebt hat  (s.  Nachträge).  Aber  solches  Rätsel  raten  ist  müßiges 
Spiel.  Was  wir  mit  gutem  Grunde  über  den  Oct. -Dichter 
sagen    dürfen ,    hat    aufs    klarste    schon    Scaliger    erkannt    und    aus- 


Bericht  über  die  Seneca-Literatur  aus  den  Jahren  1915—1921.    211 

gesprochen,  wenn  er  in  ihm  sah ;  ipsius  Octaviae  domesticum  et  Sen. 
amicum. 

Daß  die  Oct.  praetexta  später  als  Sen. -Stück  angesehen  und 
den  Sen. -Tragödien  in  der  Überlieferung  angeschlossen  wurde,  das 
hatte  gewiß  seinen  Grund  in  der  Tatsache ,  auf  Grund  deren  man 
in  der  Neuzeit  sie  Sen.  hat  absprechen  wollen :  im  Auftreten  Sen.s 
selbst  als  handelnder  Person  in  der  Oct. 

Dies  über  die  Praetexta  Oct.  meine  deizegal  Titog  (fQOvciöeg 
oorpaTSgaL. 

Nacli  träge. 

Zu  S.  121.  H.  Wocke  stellt  N.  Jbb.  f.  d.  kl.  Alt.  Jgg.  XXV 
1922,  Bd.  XLIX  287  die  Sen. -Spuren  im  'Ackermann  aus  Böhmen' 
zusammen,  den  A.  Bernt  u.  K.  Burdach  erschlossen  haben  (Vom 
M.-A.  zur  Reformation  ITI  1,  Berlin   1917). 

Zu  S.  124.  *Cas.  Morawski,  De  scriptoribus  Romanis  III. 
et  IV.  p.  Chr.  n.  saeculi  observationes,  Akad.  Krakau  1921,  handelt 
(nach  Ed.  Grupe,  Philol.  Woch.  1922,  700)  in  Abschnitt  IV  von 
rhetorischen  Übertreibungen  bei  Herodot,  Sen.  u.  Ammianus  Mar- 
cellinus. 

unbekannt  ist  mir  noch  *J.  Bruecken,  De  Sen.  philos.  usu 
perfecti  qu.  d.  consuetudinis,  Diss.     Bonn  1921. 

Zu  S.  132.  L.  Castiglioni  setzt  Rivist  di  lilol.  L  1922, 
55  ff.  seine  Studi  Anneani  fort,  IV  zu  nat.  qu. 

Zu  S.  141.  Gegen  Reinhardts  urteil  über  ira  II  19 — 21  eine 
kurze  Gegenbemerkung  in  Max  Pohlenz  Rez.,  Gott.  gel.  Anz.  1922, 
(161 — 175),  173,  1.  Vgl.  die  gleichfalls  berechtigte  Kritik  übend 
Rez.  W.  Nestle s,  Phil.  Woch.  1922,  458—465. 

Zu  S.  149.  Soeben  wird  das  Erscheinen  der  6.  Aufl.  an- 
gezeigt. 

Zu  S.  170.  Sehr  beachtenswert  ist  die  1922  erschienene  Ab- 
handlung von  A.  R  e  h  m ,  Das  VII.  Buch  der  nat.  qu.  des  Sen.  u. 
d,  Kometentheorie  des  Poseidonios,  Sitz.-Ber.  Akad.  München  1921, 
1.  Der  enge  Zusammenhang  zwischen  Sen.  und  dem  bei  Stobaios  in 
Exzerpten  vorliegenden  Physiker  Arrianos  —  der  Sprache  nach 
vielleicht  identisch  mit  dem  bekannten  A.  aus  Nikomedeia  ?,  R.  8, 
1  —  erschließt  R.,  daß  beiden  Autoren  eine  gemeinsame,  Posei- 
donios vereinfachende ,  aber  ihn  nicht  bestreitende  Quelle  vorlag ; 
Asklepiodotos  Werk,  dessen  Titel  nur  aus  Sen.  VI  17,  3  zu  er- 
schließen ist  —  wahrscheinlich  alziai  (fvoi'Kai ,  dementsprechend 
bei  Sen.  v/ahrscheinlich  (R,  5,  2)   quaestionum  zu  streichen,  so  daß 

14* 


212  Karl  Münscher. 

in  ...  naturalium  eausis  übrig  bleibt  — ,  kanu  das  gewesen  sein, 
doch  hielt  es  R.  für  gerateuer,  diesen  Mittelsmann  namenlos  zu 
lassen.  Die  Analyse  des  VII.  Sen.-Buches  zeigt ,  daß  Sen.  sich 
seine  Disposition  selbst  gemacht ,  die  doxographischen  Teile  so 
gruppiert  hat,  daß  er  am  Ende  (K.  20/1)  die  Lehren  der  Stoa 
bringt,  d.  h.  die  des  Poseidonios,  um  ihnen  von  22  an  seine  eigene 
Auffassung  folgen  zu  lassen,  die  er  mit  Einwendungen  gegen  Posei- 
donios Theorie  beweist,  und  unter  diesen  Einwendungen  sei  'nicht 
eine,  die  Sen.  nicht  selbst  hätte  finden  können'.  Erscheint  also 
Sen.  in  diesem  VII.  Buche  der  nat.  qu.  'als  Vorkämpfer  einer  nicht 
leicht ,  aber  auf  echt  wissenschaftlichem  Weg  gewonnenen  Über- 
zeugung', so  zeigt  R.s  Übersicht  über  Poseidonios  Kometenlehre, 
daß  diese  ganz  auf  Aristoteles  aufgebaut  war.  Poseidonios  also 
hier  der  'behutsame  Fortbildner  der  Tradition',  Sen.  der  selbständige 
wissenschaftliche  Denker,  der  auch  sonst  'meist  festen  Boden  unter 
den  Füßen  hat,  auch  wenn  er  zu  schwimmen  scheint'.  —  Mehi'ere 
kritische  Bemerkungen  zu  VII  gibt  R.  S.  10,  1 :  4,  1  Chaldaeos  und 
illos  zu  halten.  5,  4  Gerckes  solis  überflüssig,  faciem  r.  6,  2  Is.  et 
eniti.  10,  1  mora,  utiqite  ubi  mit  L^  Z.  S.  13,  1  tritt  R.  für  Streichung 
des  Satzes  lndc  proxima  sitpcrßcies  ignea  est  13,  3  ein,  der  Glossem 
zu  ignes  Z.   17  sein  soll. 

Zu  S.  179.  Später  erst  ist  mir  das  zweite  neue  Poseidoniosbuch 
bekannt  geworden:  J.  Heinemann,  Poseidonios  metaphysische 
Schriften  I,  Breslau  1921.  Im  II.  Teile  des  Werks,  'Analysen' 
bietend,  ist  ein  besonderer  §  3  (158 — 203)  der  Poseidonios-Benutzung 
in  Sen.s  Briiefeu  gewidmet.  Durch  Analysen  derjenigen  29  Seu.- 
Briefe  unter  den  erhaltenen  124,  welche  eine  gelehrte  Quelle  ver- 
raten und  eine  bestimmte  Richtung  in  der  Stoa  erkennen  lassen, 
kommt  H.  zu  dem  Ergebnis,  Sen.  habe  bei  Abfassung  nicht  bloß 
dieser  29,  sondern  aller  seiner  moralischen  Briefe,  abgesehen  von 
Nr.  1 — 31,  bei  deren  Abfassung  er  Epikurs  Briefe  vor  sich  hatte, 
als  Quelle  lediglich  Poseidonios  benutzt,  dessen  Name  vom  78. 
Briefe  ab  oft  erscheint:  er  sei  der  einzige  Stoiker,  dessen  Bücher 
Sen.  in  der  Hand  gehabt  habe.  In  den  Briefen  1 — 31  knüpft  Sen. 
an  Epikureische  Lesefrüchte  freie  Betrachtungen  an,  dann  aber 
ändere  sich  die  Methode:  'Nunmehr  beginnt  er  mit  Berichten  über 
ethische  Theorien  seiner  Quelle  und  über  metaphysische  Spekula- 
tionen und  logische  Unterscheidungen,  die  seinem  eigenen  Denken 
nach  Ergebnis  und  Methode  nicht  völlig  entsprechen'.  Von  Br.  S5 
ab  wird  Sen.s  Ton,  da  er  sich,  wie  er  sagt,  den  nodosa  zuwendet, 
im    ganzen    wissenschaftlicher.     'Mit    dem  Gehalt    wächst    auch  all- 


Bericht  über  die  Seneca-Literatur  aus  den  Jahren  1915 — 1921.    213 

mählich  der  Umfang  der  Briefe ,  bis  der  Inhalt  die  Form  sprengt 
und  der  Schriftsteller  106,  2;  108,  1;  109,  17  von  seinem  Ent- 
schluß berichtet,  neben  die  Darstellung  der  Ethik  in  Briefform  ihre 
Behandlung  in  einem  Handbuch  treten  zu  lassen'.  Und  dafür  soll 
Sen.  zwei  Abhandlungen  des  Poseidonios  benutzt  haben,  'eine  über 
das  Verhältnis  der  Technai  zueinander  und  über  ihre  geschichtliche 
Entwicklung,  eine  andere  über  Grundfragen  der  Ethik'.  Erstere 
sei  wahrscheinlich,  letztere  möglicherweise  von  Sen.  aus  Poseidonios 
Protreptikos  genommen  •,  es  komme  also  für  die  Rekonstruktion  der 
Ethik  des  Poseidonios  den  Luciliusbriefen  dieselbe  Bedeutung  zu 
wie  den  nat.  qu.  für  seine  naturwissenschaftlichen  Anschauungen. 
H.s  Ergebnis  ist  überaus  einfach ,  zu  einfach,  als  daß  es  richtig 
sein  könnte.  Sen.  schreibt  in  Jahr  und  Tag  100  und  mehr  mora- 
lische Briefe,  und  dabei  hat  er  immer  nur  Poseidonios,  gar  nur  ein 
einziges  Buch  des  Poseidonios  zur  Hand  genommen?  Das  glaube, 
wer  kann  und  will.  Und  H.s  Analyse ,  die  zwar  sehr  gut  öfters 
die  Fäden  bloßlegt,  die  mehrere  Briefe  zusammenhalten,  hat  auch 
im  einzelnen  den  Beweis  für  seine  These  nicht  erbracht.  M.  Poh- 
lenz  sagt  in  seiner  Besprechung,  Gott.  gel.  Anz.  1922,  175  ff.,  bes. 
180  f.,  völlig  zutreffend:  H.  habe  nicht  bewiesen,  daß  ''eine  syste- 
matische literarische  Dai-stellung'  von  Sen.  benutzt  sei.  'Sen.  hat 
in  dieser  Zeit  Poseidonios  gelesen.  Aber  wieviel  er  ihm  außer  den 
wörtlichen  —  oft  auch  noch  in  den  eigenen  Stil  umgesetzten  (ep. 
94,  38!)  —  Zitaten  verdankt,  wird  sich  kaum  ausmachen  lassen'. 
C.  Reinhardt,  Poseidonios  392  ff.  'Urzustand  und  Kulturentwick- 
lung', bestreitet,  daß  die  Detailfülle  in  Poseidonios  Kulturgeschichte 
der  Urzeit,  in  die  uns  Sen.  epist.  90  einen  Einblick  gewährt,  aus 
dem  Protreptikos  stamme.  Und  S.  336  ff.  '^Die  Güterlehre'  zeigt 
R.  in  feinsinniger  Analyse  von  Sen.  epist.  87 ,  'wie  verkehrt  es 
war,  die  Autorschaft  des  Poseidonios  über  das  direkt  für  ihn  Be- 
zeugte hinaus  auszudehnen'. 

Zu  S.  186.  Zu  V.  882  führt  Hosius  dial.  VI  16,  3/4  an,  und 
zweifellos  hat  der  Oct.-Dichter  die  seltenen  exempla  (Cornelia,  die 
Mutter  der  Gracchen,  u.  Cornelia  Livi  Drusi)  jener  Stelle  der  cons. 
ad  Marc,  entnommen;  es  war  hinzuzufügen,  daß  Fr.  Münzer, 
Rom.  Adelsparteien  und  Adelsfamilien,  Stuttgart  1920,  in  dem 
Anhang  über  die  geschichtlichen  Beispiele  in  Ciceros  Cousolatio 
,  (376  ff.)  nachgewiesen  hat  (398  ff.),  daß  Sen.  diese  exempla  von 
Müttern,  denen  ihre  Söhne  entrissen  wurden,  in  seinen  Trostschriften 
(Kutilia  tritt  hinzu  Helv.  16,  7)  aus  der  Ciceronischen  über- 
nommen hat. 


214  Karl  Münscher. 

Zu  S.  187.  Als  Kuriosum  verzeichne  ich,  was  soeben  Nik. 
Wecklein  schreibt,  Philol.  Woch.  1922,  1016:  'Die  Zuweisung 
der  unter  dem  Namen  des  Sen.  erhaltenen  Tragödien  an  den 
Stoiker  ist  sehr  zweifelhaft'  —  ein  Nachhall  aus  vergangenen 
Zeiten ! 

Zu  S.  189.  Aus  Hosius  Ausg.  sehe  ich  jetzt,  daß  dcstridus 
schon  von  Raphelengius  vorgeschlagen  war. 

Zu  S.  195.  C.  Cichorius  handelt  in  seinem  eben  erschie- 
nenen Buche,  'Köm.  Studien' ,  Leipzig  1922,  426/9  von  Pomponius 
Secundus  u.  Sen.s  Tragödien.  Er  deutet  die  Quint. -Stelle  VIII  3, 
31  mcmini  iuvenis  admodnm  inter  Pomjyonivni  ac  Sen.  et'uim  prae- 
fationihus  esse  traciaium ,  an  '^gradns  elhninar  in  tragoedia 
dici  oportuisset  zweifellos  richtig  dahin,  daß  unter  praefationes  ein- 
führende Ansprachen  ans  Publikum  vor  Vorlesungen  der  Tragödien 
zu  verstehen  sind,  entsprechend  den  ngolaXial  der  Ehetoren,  wofür 
die  Lateiner  die  Ausdrücke  2^'>'0^elocution€s  (Sen.  contr.  III  praef.  11) 
oder  eben  praefationes  (Plin.  epist.  I  13,  2.  II  3,  1.  Martial.  III 
18,  1)  anwenden  (vgl.  AI.  Stock,  De  prolaliarum  usu  rhetorico, 
Diss.  Königsberg  1911,  wo  aber  dieser  ßegrifp  ungebührlich  aus- 
gedehnt ist;  vgl.  Rez.  G.  Lehnert,  Berl.  philol.  Woch.  1914, 
1494/6).  C.  zieht  daraus  eine  doppelte  Schlußfolgerung:  1.  fällt 
die  durch  Quint.  bezeugte  Tatsache,  daß  Sen.  u.  Pomponius  ihre 
Tragödien  vorgelesen  haben,  ins  Gewicht  bei  Beurteilung  der  Streit- 
frage, ob  Sen.s  Tragödien  für  die  Bühne  geschrieben  sind  oder 
nicht,  und  natürlich  zugunsten  der  auch  sonst  gesicherten  Annahme, 
daß  es  nur  Lesedramen  sind.  2.  Da  der  um  die  Mitte  der 
30  er  Jahre  geborene  Quint.  admodum  iuvenis  diesen  Tragödien- 
rezitationen jener  beiden  beigewohnt  hat,  können  diese  nicht  vor 
dem  Beginn  der  50  er  Jahre  stattgefunden  haben.  50/1  war  Pom- 
ponius Statthalter  in  Germanien,  also  fallen  sie  erst  nach  51 :  das 
stimmt  trefflich  zu  meiner  Auffassung,  daß  Sen.  nach  seiner  Ver- 
bannung nach  Korsika,  nach  49 ,  etwa  52  mit  seiner  Tragödien- 
dichtung begonnen  hat. 

Z  u  S.  210.  Nach  Cichorius  425  f.  hat  Pomponius  bis  in 
die  letzten  Jahre  Neros   gelebt. 


Bericht  über  die  Literatur  zu  Quintilians  Institutio 
oratoria  aus  den  Jaliren  1910—1921. 

Von 
Oberstudiendirektor  Dr.  Georg  AmmOIl  in  Kegensburg. 


Inhalt. 

Seite 

I.    Zur  Einführung:  Stand  der  Forschung 215 

II.    Andere,  stofiFlich  benachbarte  Berichte 217 

III.  Persönlichkeit 221 

IV.  Überlieferung,  Handschriften 223 

V.    Quintilians  Sprache 231 

VI.   Konjekturalkritik 238 

VII.    Anlage  der  Institutio 240 

VIII.    Zu  den  einzelnen  Büchern;  Kritik  und  Erklärung 243 

IX.    Weitergreifende  Arbeiten  zur  Inst,  or 266 

X.    Quellen  und  Hilfsmittel.    Zeitgenossen 280 

XI.    Ausgaben 295 

XII.    Fortleben  der  Inst,  or 297 

XIII.    Ihre  Bedeutung  für  die  Gegenwart 303 


I.  Zur  Einführung. 

Die  Institutio  oratoria,  diese  praktische  Anleitung,  dem  Bildungs- 
ideal der  Alten,  dem  vollendeten  Redner,  näher  zu  kommen,  diese 
großzügige  allgemeine  Erziehungslehre,  dieses  oratorische  Kunstwerk 
mit  dem  mannigfaltigsten  Kulturgehalt  einer  großen  Zeit,  tritt  in 
der  Hochflut  pädagogischer  Literatur  nicht  ganz  seiner  Bedeutung 
entsprechend  hervor.  Begreiflich ;  hebt  doch  für  die  Moderne  das 
pädagogische  Evangelium  meist  mit  J.  J.  Rousseau  an;  dazu  der 
unhistorische  Sinn  unserer  Zeit  überhaupt ,  der  am  gefährlichsten 
auf  dem  Gebiet  der  Erziehung  und  Bildung  zu  werden  droht.  Indes 
hat  das  naturgemäße ,  wenn  auch  unorganisierte  Zusammenwirken 
selbstloser  Philologen  und  Pädagogen  bei  den  wichtigsten  Kultur- 
völkern auch  im  letzten  Jahrzehnt  nicht  zu  unterschätzende  Ergeb- 
nisse gezeitigt  für  die  Grundlegung,  Erklärung  und  Übermittelung 
der  Institutio. 


2l6  Ammon:  Quintil.  inst.  or.  1910 — 21. 

In  die  Überlieferungsgeschichte  haben  Sabbadini 
und  Beltrami  mehr  Licht  gebracht;  die  Konjekturalkritik, 
gestützt  auf  die  Beobachtung  des  Sprachgebrauchs,  hat  bei  der  Fest- 
legung des  Textes  mitgeholfen  [Bdarjg,  Baehrens,  Gabler). 
Die  für  weitere  Leserkreise  berechnete  englische  Ausgabe  von 
Butler  (1921/22)  beansprucht  nicht  einen  Halm,  Meister  oder 
Kadermacher  zu  ersetzen;  dieser  hat  auf  Teil  I  (Buch  I  mit  VI, 
1907)  den  zweiten  noch  nicht  folgen  lassen.  In  der  Aufsuchung  der 
Quellen  hat  sich  der  Philologenspürsinn  bewährt  (Kroll,  Marx, 
Kudberg,  Hubb  eil  u.  a.)  ;  besonders  ist  man  dem  Verhältnis  zum 
Taciteischen  Kednerdialog  nachgegangen  (Gudeman,  Wormser, 
Dienel,  Reitzenstei n).  Gefördei't  wurde  die  Auffassung  der  In- 
stitvitio  als  Ganzes  (Appel,  Börner,  Kroll),  die  Erklärung 
im  einzelnen,  so  besonders  die  Grammatikpartie  im  1.  Buch 
(Aistermann,  Colson,  Barwick),  die  symbuleutische  Rede 
(Kl  eck),  die  Aufhellung  des  X,  Buclies  (Röhl),  und  hier  wieder  der 
iudicia  (über  Lucilius,  Lucretius);  einzelne  Hilfsmittel  der  Redner 
wurden  genauer  untersucht:  ridiculum  (VI.  Buch)  durch  Süß,  das 
naQdöeiyi.ia  durch  Ale  well,  die  Stimmbildung  durch  Krum- 
b acher,  die  Gebärden  durch  Warnecke.  Die  Rhythmen- 
forschung, auf  die  ich  im  letzten  Bericht  über  Ciceros  rhetorische 
Schriften  Burs.  Bd.  179  (1919  II)  S.  76—123  näher  eingegangen  bin, 
hat  u.  a.  durch  N  o  v  o  t  n  y ,  durch  A.  W.  deGroot,  E.  Petersen, 
G.  G  0 1  z  neue  Anregungen  erhalten ;  doch  wollte  ich  für  eine 
erneute  zusammenfassende  Darstellung  zu  A.  W.  de  Groots  Prosa- 
rhythmus Teil  I.  1921  noch  die  Fortsetzung  abwarten.  Für  die 
Geschichte  des  Schul  wesens  haben  Barbagallo,  Bendel, 
für  das  Fortwirken  Quintilians  Manitius,  Borinski,  Bur- 
dach, Hofer,  Heim,  Wychgram,  Sohm  reiches  und  gutes 
Material  gebracht.  Auch  rhetorische  und  pädagogische  Hilfsmittel, 
die  zunächst  nur  für  die  Gegenwart  bestimmt  sind,  werden  mit  Ge- 
winn zur  Quintilianforschung  herangezogen.  Der  Hinweis  auf  stoff- 
lich benachbarte  Gebiete  und  Berichte  hat  oft  mehr  genützt  als  der 
Versuch,  jede  Lesung  und  jede  Deutung  genau  zu  verzeichnen. 

Und  es  gilt  noch  manche  Goldader  der  Institutio  zu  verfolgen. 
Abgesehen  von  den  kaum  endgültig  zu  lösenden  Fragen  der  Text- 
kritik und  Hermeneutik  liegen  einige  mehr  im  Vordergrund  der 
Gegenwart:  wie  z.  B.  Quintilian  (die  Rhetorik)  und  die  staatsbürger- 
liche Erziehung,  die  Psychologie  in  der  Inst.  (IV  2,  VI  2  usw.);  die 
Statuslehre  und  die  'wissenschaftliche  Problemstellung' ;  das  Ge- 
dächtnis nach   Quintilian;    die  actio  nach  XI   3;    die  Kunst  der  Er- 


II.   Stofflich  benachbarte  Berichte.  217 

Zählung,  der  Schilderung;  die  redende  und  bildende  Kunst  in  ihren 
Wechselbeziehungen  5  die  (pädagogische)  Bildersprache  Quintilians ; 
der  zweisprachige  Unterricht  nach  Quintilian ;  die  'Klassiker'  und 
die  'Moderneu' ;  Kunst  und  Grenzen  des  Übersetzens ;  Quintilians 
Stellung  in  der  Fremdwortfrage;  Quintilian  und  unsere  Fachausdrücke, 
Fremdwörter  und  geflügelten  Worte. 

Kurz  nach  Halms  grundlegender  Ausgabe  der  Institutio  ora- 
toria  (Lipsiae  1868  I,  1869  II)  erschien  für  1873—76  der  erste 
Bericht  von  Iw.  Müller  6.  Bd.  S.  262—293;  für  die  Jahre  1880 
bis  1887  von  Ferdinand  Becher  im  51.  Bd.  (1887  II)  S.  1—61  über 
die  instit.  or.  und  S.  62 — 82  für  die  Deklamationen.  Von  1888  an 
habe  ich  den  Bericht,  und  zwar  nur  über  die  inst. ,  während  die 
declamationes  einem  anderen  Referenten  zugeteilt  sind.  Mein  erster 
Bericht  umfaßt  die  Jahre  1888—1901  Burs.  Bd.  109  S.  86—144, 
der  zweite  die  Jahre  1901  —  1910  Burs.  Bd.  148  (1910  11)  S.  166 
bis  253.  Die  Hilfsmittel  für  diesen  neuen  Bericht  —  auswärtige 
Zeitschriften  und  Bücher  u.  a.  —  zu  beschaffen,  wurde  mir  durch 
das  Entgegenkommen  der  Staatsbibliothek  und  der  Universitäts- 
bibliothek München  erleichtert;  aber  es  blieben  Schwierigkeiten 
genug  *) ;  wenn  ich  das  Unfertige  aus  der  Hand  gebe,  fließt  mir  die 
subscriptio  des  frommen  Schreibers  des  Monacensis  zu  Quintilian  in 
die  Feder :  Hoc  opus  exegi  sit  Christo  gloria  regi ! 


II.  Stofflich  benachbarte  Berichte. 

über  die  Deklamationen,  auch  über  die  pseudoquintiliani- 
schen,  berichtet  bis  1914  eingehend  Georg  Lehnert  Burs.  183. 
Bd.  1920  II  S.  204—267. 

Mit  der  zur  Inst.  or.  gehörigen  Literatur,  z.  B.  über  Khythmus, 
berühren  sich  naturgemäß  auch  des  öfteren  meine  Berichte  über 
Ciceros  rhetorische  Schriften;  der  letzte,  1909 — 1917  umfassend, 
Burs.  Bd.  179  (1919  II)  S.  1—162;  berühren  sich  aber  auch  mehrere 
andere  Berichte  über  benachbarte  Stoffe. 

Kurt  E  m  m  i  n  g  e  r  (f),  Bericht  über  die  Literatur  zu  den  atti- 
schen Rednern  aus  den  Jahren  1886—1904  (1909)  Burs.  Bd.  152 
(1911  I)  S.  76—217. 

Ferner    Burs.    Bd.    161    (1913    I)    für    die    Jahre  1886—1904 


^)  Die  Bitte,  Verfasser  von  Monographien  und  Aufsätzen  möchten  ihre 
Arbeiten  zur  Berichterstattung  einsenden,  ist  heutzutage  mehr  als  je  am 
Platze. 


218  Ainmou:  Quiutil.  inst.  or.  1910—21, 

(1912);  dritter  Teil  S.  172—244;  der  vierte  Teil  (letzte) 
Burs.  166.  Bd.  (1914  I)  S.  69—117. 

J.  K.  Scliönberger,  Zu  Ciceros  Eeden  1909—1912,  Burs. 
167.  Bd.  (1914  II)  S.  280—356  und  1912—1917  Burs.  Bd.  183 
(1920  II)  S.  73—123. 

Zur  Quiutilianliteratur  im  weiteren  Sinn  gehören  ferner  die 
Schriften  zum  Rednerdialog  des  Tacitus,  den  heutzutage  niemand 
mehr  dem  Fabius  zuschreibt. 

Georg  Andresen  hat  in  den  Jahresberichten  des 
Philologischen  Vereins  zu  Berlin  (Jahrg.  35  ff.)  mit  großer 
Umsicht    und    kritischem  Blick    das    Einschlägige    zusammengestellt. 

35.  Jahrgang  (1909)  S.  257  ff.  über  R.  Dienel,  der  (in  seiner 
Schrift  „Reduerdialog  des  Tacitus",  Leipzig  1908)  den  Dialogus 
wegen  seiner  Berührungen  mit  Plinius  und  Quintilian  im  Jahre  97 
veröffentlicht  sein  lä(Jt,  doch  nach  dem  Agricola  —  dieser  wird  aber, 
wie  Andresen  beifügt,  meist  98  unter  Traian  angesetzt;  S.  263 
über  W.  Hamilton  Fyfe  (1908),  nach  dem  der  Dialog  unter  Titus 
geschrieben  und  veröffentlicht  ist. 

36  (1910)  S.  255;  37  (1911)  S.  228  über  Röhls  Ausgabe 
des  Dialogs  (1911),  S.  255  über  Sprachgebrauch;  38  (1912) 
S.  265  ff.  über  Konrad  Eisen hardt  „Über  die  Reden  in  den 
Historien  und  Annalen  des  Tacitus"  (zwei  Programme,  Ludwigshafen 
a.  Rh.),  über  Theissen  'De  .  .  .  Taciti  digressionibus'  (Diss.  Berlin 
1912);  39  (1913)  S.  154  ff.  über  Gudemans  Aufsatz  über  das 
Gesprächsdatum  (74/75),  über  Georges  Wormser  'Le  dialogue 
des  orateurs  et  Institution  oratoire',  der  nachzuweisen  sucht,  daß 
Tacitus,  als  er  den  Dialogus  schrieb,  Quintilians  Institutio  oratoria 
vor  sich  hatte ;  da  diese  94  erschien,  sei  der  Dialog  95  geschrieben 
worden ,  publiziert  erst  Ende  96 ;  beachtenswert  findet  Andresen 
diese  Gedanken  Wormsers :  Quintilian  betrachte  sein  Thema  vom 
technischen,  Tacitus  vom  historischen  Standpunkt  aus ;  vgl,  Abschn.  X. 

„Aper  wird  von  Messala-Quintilian,  der  die  Alten  preist  und 
durch  Zurückgreifen  auf  diese  eine  Regeneration  erhofft,  widerlegt, 
Messala-Quintilian  durch  Maternus-Tacitus,  der  darauf  verzichtet,  ein 
Phantom  zu  verfolgen,  weil  er  voraussieht,  daß  die  klassische  Re- 
aktion ohne  Wirkung  bleiben  wird ;  hierin  äußern  sich  zugleich  sein 
Pessimismus  und  sein  Spürsinn."  „Dem  ist  nur  hinzuzufügen,  sagt 
Andresen  S.  156,  daß  Maternus-Tacitus  nicht  bloß  Messala  wider- 
legt, sondern  auch  Aper,  und  zwar  in  dem,  was  beiden  gemeinsam 
ist,  in  der  Vorliebe  für  die  rednerische  Tätigkeit."    Vgl.  unten  über  den 


II.    Stofflich  benachbarte  Berichte.  219 

Rednerdialog  A.W.  de  Groot,  der  antike  Prosarhythmus  11921, 
S.  90  gegen  die  Identifizierung  des  Tacitus  mit  einem  Mitunterredner. 

40  (1914)  S.  77  berichtet  Andresen  über  K.  v.  Pöhlmann, 
Die  Weltanschauung  des  Tacitus.  Zweite,  vermehrte  und  verbesserte 
Auflage  (München  1913,  Franz),  wo  dem  Tacitus  abergläubische 
Anwandlungen  vorgerückt  sind,  über  Aly,  Gudeman,  Barwick  zum 
Dialog. 

41  (1915)  S.  146 — 157  über  Gudemans  Ausgabe  des  Dia- 
logus,  S.  169  über  Peterson,  Valmaggi. 

42  (1916)  S.  73  weiter  zu  Gudemans  Ausgabe,  S.  75  zu  Dienel 
über  den  Dialog  u.  Qu  in  tili  an,  S.  78  ff.  über  E.  Klaiber,  Be- 
ziehungen des  Rednerdialogs  von  Tacitus  zu  Ciceros  rhetorischen 
Schriften  (1914),  über  Richard  Reitzenstein  'Bemerkungen  zu 
den  kleinen  Schriften  des  Tacitus'  (1914),  S.  95  über  R.  Sabba- 
dini,  Storia  antica  di  testi  latini  (Catania,  1914),  S.  101  auch  über 
K.  Remmes  Bericht  bei  'Bursian'   167.  Bd.  (1914  II). 

43  (1917)  S.  108  über  ß.  Klaiber  II. 

44  (1918)  S.    105  Tacitus  als  Schriftsteller  (Pfister  u.  a.). 

45  (1919)  S.  25  über  einschlägige  Artikel  bei  Pauly-Wissowa. 

46  (1920)  wird  auf  die  Bedeutung  von  Ed.  Nordens  Germani- 
scher Urgeschichte  hingewiesen ,  in  der  auch  Quintilian  öfters  be- 
rührt wird;  vgl.  Aramon,  Bayer.  Gy.  Bl.  1922,  206 f. 

K.  Remme,  Zu  Tacitus  1904—1912  bei  Bursian  Bd.  167 
(1914  n)  S.  201—279,  besonders  'Dialogfragen'  S.  242—247 
(geht  im  wesentlichen  mit  Gudeman  gegen  Dienel). 

Weitere  benachbarte  Berichte  sind :  Friedrich  Bock,  Zu 
Plutarchs  Moralia  1905—1910  Burs.  Bd.  152  (1911  I)  S.  313 
bis  352.  Z.  B.  Jones  will  (S.  352)  im  Ps.  Plut.  tt.  naid.  aycoy. 
sogar  sprachliche  Anklänge  an  Quintilian  finden.  Dann  für  die 
Zeit  von  1911—1915  Burs.  Bd.  170  (1915  I)  S.  233—290  und  für 
die  Zeit  von  1916—1920  Burs.  Bd.  187  (1921  I  S.  228  ff.)  (auch 
über  Rhythmus  j  de  pueris  ed.  S.  243 — 45). 

Karl  Mün scher.  Zur  zweiten  Sophistik  1910 — 1915  Burs. 
Bd.  170  (1915  I)  S.  1 — 231  und  in  diesem  Band  oben  über  Seneca. 

Paul  Wessner,  Bericht  über  die  Erscheinungen  auf  dem  Ge- 
biete der  lateinischen  Grammatiker  mit  Einschluß  der  Scholien- 
literatur  und  Glossographie  für  1908—1920.  Bursian  Bd.  188 
(1921  II)  S.  34—254. 

Dieser  eingehende  Bericht  berührt  sich  naturgemäß  in  all- 
gemeinen und  besonderen  Fragen,  namentlich  hinsichtlich  der  instit.  I 
4 — 7,    mit    dem    neuen    Quintilianbericht.      S.  89 — 92    sind    eigens 


2  20  Ammon:  Quintil.  inst.  or.  1910—21. 

Quintilian  gewidmet  (Bywater  Atakta  II  —  Aistermann  Probus  — 
J.  Negro,  La  grammatica  in  Ouintiliano  e  le  sue  fonti  1914  —  Colson 
Grammatical  Chapters  und  Some  Problems  —  Neumann  De  Bar- 
barismo  usw.) ;  doch  waren  einige  Arbeiten  (Colson,  Negro)  Wessner 
nicht  zugänglich.  Was  Wessner  über  die  Selbständigkeit  des  Quin- 
tilian in  grammatischen  Fragen  gegen  Aistermann  (Probus  als  Quelle 
Quintilians)  ausführt,  kann  ich  nur  unterstreichen  •,  in  so  landläufigen 
Dingen  brauchte  der  Hochschulprofessor  den  Berytier  nicht  aus- 
zuschreiben.    Vgl.  auch  unten  Bar  w  ick,  Remmius  Palaemon. 

In  der  Zeitschrift  Glotta  berichten  Felix  Hartmann  und 
Wilhelm  Kroll  über  Lateinische  Sprache  und  Literatur  im  all- 
gemeinen, für  1910  IV.  Jahrg.  (1913),  V  für  1911  usw.  Darunter 
auch  viel  Literatur  zu  Quintilian  (z.  B.  Zielinski,  Zander,  Shipley, 
Bährens,  Laixrand  usf.).  Zuletzt  Felix  Hartmann  Glotta  IX  1921 
über  1918  S.  251  bis  267  (Akzent,  Lautlehre  usw.)  und  W.  Kroll 
S.  267—276. 

In  den  sieben  Jahrgängea  des  Indogermanischen  Jahr- 
buches (I  1913,  erschienen  Straßburg  1914,  Trübner;  VII  1919, 
erschienen  Berlin  und  Leipzig  1921)  berichtet  J.  B.  Hof  mann  ge- 
schickt und  übersichtlich  über  Italisch,  darunter  auch  Dinge  (Aus- 
sprache,   Rhythmus,    Etymologie   u.  a.),    die    zur  Inst.    or.    gehören. 

In  der  von  Rud.  Klussmann  herausgegebenen  Bibl.  scriptorum 
classic,  et  Graec.  et  Lat.  die  Literatur  von  1878 — 1896  einschlieli- 
lich  umfassend.  II.  Bd.  Script.  Lat.  2.  Teil.  Leipzig  1913.  Supplem. 
Burs.  165  S.  155—162. 

Aus  diesem  zuverlässigsten  und  übersichtlichsten  Verzeichnis 
für  die  Zeit  1878 — 1896  —  nur  ab  und  zu  bis  auf  1912  herunter- 
greifend —  wäre  noch  manches  zu  den  früheren  Berichten  über 
Quintilian  nachzutragen.  Auch  persönlich  hat  mich  Professor 
Klussmann  durch  wertvolle  Notizen  zu  dauerndem  Dank  verpflichtet. 

Auf  die  Literaturgeschichten  von  Schanz  (1933), 
Ten  ffel -Kr  oll- S  kutsch,  auch  Christ,  auf  die  Einleitung 
von  Gercke -Norden^  (1921),  Norden  Kunstprosa^,  aufPauly- 
Wissowa,  auf  den  neuen  Lübker,  auf  Daremberg-Saglio, 
auf  die  Companions  von  Whibley,  von  Sandys,  auf  die  Manuels 
von  Laurand  und  andere  allgemeine  Hilfsmittel  ist  schon 
hier,  auf  anderes  Benachbarte  gegen  Schluß  des  Berichtes  hinzu- 
weisen. So  bei  John  Edwin  Sandys,  A  companion  to  Latin  Stu- 
dios.    Cambridge   1913 

Abschnitt  V  9   'Educatioii'  von  Murison  S.  228 — 236   und 

Abschnitt  V  10   'Book  and  writings'   von  M.  R.  James. 


III.   Die  Persönlichkeit.  221 

III.  Die  Persönlichkeit. 

Unter  der  Gruppe  der  spanischen  Schriftsteller  —  fünf  aus 
dem  Süden,  zwei  aus  dem  Norden  —  wird  Quintilian  gut  gezeich- 
net von 

E.  S.  Bouchier,  Spain  under  the  Boman  empire.    Oxford  1914. 
200  S.    8.    Mit  Karte. 
Die  Wiege  des  M.  Fabius  Quintilianus  stand  nach  B.  (S.  166) 
in  Calagurris  (Calahorra  —  welchem  ?),  einer  kleinen  Stadt  am  oberen 
Ebro.     Sein  Einfluß    in  Rom    als  Tonangeber   im    literarischen  Ge- 
schmack (Vorbild  Cicero)  und  für   Erziehung ;   "nor  is  it  fanciful  to 
attribute    to    his    iufluence    the    refinement    and    nobility    of    feeling 
which  characterizes  the  next  generation"  (Plinius,   Tacitus,    Trajan, 
Hadrian).  Quintilians  Urteil  über  die  sententiae  Lukans  siehe  S.  162  f. 
Über  Gamurrinis  Wiederbelebung  der  Zweifel  an  der  spanischen 
Heimat  Quintilians  vgl.  unten  Fr.  Schoell  (zu  gurdos). 

A.  H.  Strong,    Quintilian.      A    study    in    ancient    and    modern 

methods  of  education,  ethical.and  intellectual.    In  'The  Hibbert 

JournaP  XI  1912—1913,  1,  S.  117—136. 

In  diesem  Journal,  'a  quarterly  Review  of  Religion,  Theology, 

and  Philosophy',   will  Professor  Strong  das  Erziehungsideal  (oratory) 

oder  überhaupt  die  Weltauffassung  des  „größten  römischen  Professors" 

zeichnen.      Er    bietet   im    wesentlichen    den  Inhalt    der  allgemeinen 

Pädagogik  aus  dem  ersten  Buch,  verständig  und  klar,  mit  wirksamen 

Hinweisen    auf  neuzeitliche    und  einheimische  Verhältnisse  (S.  124, 

130),  aber  ohne  wörtliche  Zitate  und  gelehrtes  Beiwerk.    "Quintilian 

is   the    most    important    of  the    group    of  the  school  of  writers  who 

ushered    in    a    reaction  in  literature  against  the  bombast  and  tinsel 

of  the   rhetoricians ,    such    as   Lucan  in  verse  and  Seneca  in  prose. 

His  style,  even  his  thoughts,   is  dignified  and  restrained." 

Wenn  S.  132  mit  dem  Begriff  sanctitas  =  at  once  'reverence 
and  dignity'  neben  virilitas  (Inst.  7,  9)  operiert  wird,  so  ist  zu  bemerken, 
daß  Vasis  (Bdar^g)  mit  gutem  Grund  sanitas  statt  sanctitas  lesen 
möchte  ;  s.  Abschn.  VI. 

Benedikt  Appel,  Das  Bildungs-  und  Erziehungsideal 
Quintilians  nach  der  Institutio  oratoria.  Donau- 
wörth 1914,  Auer,  VI,  95  S.  8.  Siehe  auch  Jahrbuch  für 
christliche  Ei-ziehungswissenschaft  1909  (Kempten  und  München, 
Kösel). 
In  dieser  Münchener  Dissertation  will  Appel  die  Inst,  haupt- 
sächlich nach  ihrem  Inhalt  und  nach  ihren  Quellen  darstellen  (S.  6). 


222  Ammon:  Quintil.  inst.  or.  1910 — 21, 

Wenn  das  allseitig  gegenwärtig  kaum  möglich  ist,  so  hat  der  wohl- 
ausgerüstete  Verfasser  doch  das  deutlich  im  Vordergrund  stehende 
Ideal  der  Erziehung  zum  vir  bonus  vielseitig  und  großzügig  er- 
faßt und  dargestellt.  Gegliedert  ist  der  Stoff  in  diese  drei  Abschnitte : 
I.  Quintilians  persönliches  Verhältnis  zur  Philo- 
sophie, II.  Der  Inhalt  des  Bildungs-  und  Erziehungsideals  der 
inst.  or.  (S.  16 — 46),  III.  Die  subjektiven  Voraussetzungen  des 
Ideals.  Ich  habe  in  meiner  Besprechung  B  ph  W  35,  1915, 
749 — 752  manches  angeführt,  was  den  Inhalt  der  Institutio,  nament- 
lich nach  der  geschichtlichen  Stellung,  und  die  Persönlichkeit  des 
Verfassers  besser  zu  beleuchten  geeignet  sein  dürfte.  Auch  W.  Kroll 
(Wiss.  Forsch. -Berichte  Lat.  Phil.  S.  71)  erkennt  den  ernsthaften  Versuch 
an,  das  gut  durchgearbeitete  Quellenmaterial  historisch  richtig  ein- 
einzuordnen. „Die  Schwierigkeit  liegt,  fährt  Kroll  fort,  darin,  daß 
Quintilian  kein  inneres  Verhältnis  zur  Philosophie  hat,  die  den  Maßstab 
für  die  Einordnung  der  Lehren  liefert,  und  daß  seine  allgemeinen 
Anschauungen  meist  die  Ciceros  sind,  nur  ein  wenig  stoisch  tem- 
periert. Daß  er  bei  seiner  Forderung,  der  orator  müsse  ein  vir 
bonus  sein,  weder  an  die  erste  und  zweite  Sophistik  noch  an  den 
Asianismus  denkt,  hätte  der  Verfasser  erkennen  sollen."  'Unphilo- 
sophisch' nennt  Kroll  den  Quintilian  auch  in  seinen  'Quintilian- 
studien'  (Rhein.  Mus.  1921) ;  siehe  unten  Abschn.  IX. 

Über  die  wenig  zutreffende  Einschätzung  des  'Philosophen' 
Quintilian  äußert  sich  in  seiner  eingehenden  anerkennenden  Be- 
sprechung Appels  auch  Georg  Lehnert  Deutsche  Lit.-Zeitung 
1918,  97;  daß  die  feinen,  weltmännischen  Ausführungen  über  actio 
XI  3  nicht  für  unsere  Zeit  entsprechend  ausgeschöpft  sind,  bedauere 
auch  ich. 

-  J.  G.  Laing,  Quintilian  the  Schoolmaster.  In  the  Class. 
Journ.  XV  8/9. 
Laing  charakterisiert  die  instit.  als  including  practically  the 
whole  cycle  of  humane  and  scientific  culture  so  far  it  was  organized 
at  that  time.  Er  sieht  in  der  Rednerschule  die  drei  Werte,  die 
heute  die  amerikanischen  Latinisten  für  sich  in  Anspruch  nehmen: 
disciplinary  value,  practical  value,  cultural  value.  L.  schließt  mit 
dem  Bild  des  idealen  Redners,  wie  Quintilian  ihn  versteht  (nach 
Philol.  W.  1921,  979). 

Eine  treffende  Würdigung  Quintilians  und  der  instit.  or.  gibt 
auch 

Karl  Hos  ins  in  dem  mit  E.  Drerup  herausgegebenen  Doppel- 


IV.    Überlieferung.  223 

Vortrag    'Erziehung   und   Unterricht  im  klassischen  Altertum'. 
Eichstätt  1918. 

Vgl.  meine  Anzeige  Berl.  philol.  Woch.  38,  1918,  Sp.  1116. 

Die  allgemeine  Bedeutung  Quintilians  beachtet  aiich  Eduard 
Spranger,  Kultur  und  Erziehung,  Leipzig  1919. 

E.  G.  Sihler  sucht  im  Amer.  Journ.  of  Philol.  XLI  3,  1920  nach- 
zuweisen, daß  Quintiliau  im  Anschluß  an  Ciceros  De  oratore  eine 
Reform  der  Rhetorik  anstrebte  ;  siehe  Class.  Quarterly  XV  1921  S.  49. 

Zu  dem  im  vorigen  Bericht  behandelten  Gesichtspunkt 'Qui  n - 
tilianus  adulator'  noch  diese  erklärende  Auffassung :  Schule 
und  Schrifttum  standen  unter  dem  gewaltigen  Einfluß  der  selbst- 
herrlichen Kaiser.  Wie  sehr  Seneca  mit  seinem  'Agamemnon'  und 
seinen  'Troades'  dem  (dichtenden)  Nero  entgegenkam,  hat  Th.  Birt 
Neue  Jahrb.  1911  (XIV)  S.  359  ausgesprochen.  Das  ist  auch  bei 
dem  Preis  des  'Germanicus  Augustus'  (Domitian),  den  nur  die 
Staatsgeschäfte  gehindert  hätten,  Roms  erste  literarische  Größe  zu 
werden  (instit.  X  1,  91),  gebührend  in  Anschlag  zu  bringen  wie  bei 
Martial.  Wenn  die  autokratischen  Cäsaren  sich  in  Prosa  und  Poesie, 
in  der  Gerichtsrede  —  Domitian  nach  Sueton  nicht  schlecht  — 
agonistisch  vernehmen  ließen,  so  wurden  Publikum  und  Schule  viel- 
fach beeinflußt  (Juveu,  sat.  7,  1)  •,  Charaktere  wie  Tacitus  waren  zu 
allen  Zeiten  dünn  gesät. 

Das  beste  Gesamtbild  Quintilians  ist  vorderhand  immer  noch 
das  von  dem  verstorbenen  L.  Schwabe  bei  Pauly-Wissowa  unter 
'Fabius'   gezeichnete. 

IV.  Überlieferung. 

Die  Überlieferungsgeschichte,  die  ich  Burs.  Bd.  109  (1901) 
S.  85  ff.  meist  im  Anschluß  an  Fierville  und  Peterson,  dann 
Burs.  Bd.  148  (1910  11)  S.  179  £f.  besonders  im  Hinblick  auf  Rader- 
machers Ausgabe  (Vol.  I  lib.  I — VI,  Leipzig  1907)  skizziert  habe, 
und  die  mit  der  Darstellung  des  Fortwirkens  (siehe  unten)  und  der 
Handschriften  zusammenhängt,  hat  mehrfach  Aufhellung  er- 
fahren ,  namentlich  durch  Sabbadini  und  seinen  Schüler  B  e  1  - 
trami;  aber  es  bleibt  noch  viel  zu  tun  übrig  sowohl  hinsichtlich 
der  Verzweigung  (Klasse  III  und  IV?)  wie  der  genauen  Neu- 
vergleichung wichtiger  Kodizes. 

Max  Manitius,  Geschichte  der  lateinischen  Litera- 
tur im  Mittelalter.  München  1911.  Handb.  J.  v.  Müller 
9,  2,  1. 


224  Ammon:  Quintil.  inst.  or.  1910 — 21. 

Lupus  von  Ferneres ,  rührig  wie  später  die  italienischen  Hu- 
manisten, bittet  den  Abt  Altsig  von  York  um  die  12  Bücher  der 
Inst.  (S.  486).  Auch  sonst  bietet  Manitius  viel  für  die  Geschichte 
der  Quintilianüberlieferung. 

Einen  Überblick  über  die  Entdeckungsgeschichte  von  Quintilian- 
handschriften  gibt*) 

liemigio    Sabbadini,     Le    scoperte    dei    codici    latini    e 
greci  ne'  secoli   XIV  e  XV.    Nuove  ricerche  col  riassimto 
filologico  dei  due  volumi.    Florenz,  G.  C.  Sansoni  1914,  VIII 
274  S.     In    der  Biblioteca  storica  dei  rinascimento  diretta  da 
F.  P.  Luiso. 
Sabbadini    in  Mailand,    seit    einem  Menschenalter  (1876)  uner- 
müdlich    in     der    Auskundschaftung    von    Handschriften    und    ihren 
Schicksalen    tätig,    faßt    das    in  den  zwei  Bänden  (1905  und  1914) 
Niedergelegte  im  4.  Kapitel  des  II.  Bandes  S.   198 — 265  nach  den 
alphabetisch  geordneten  Autoren  kurz  zusammen,  über  Quintilian, 
Inst.   or.   S.  247  f.      Die    Institutio    oratoria,    auch    im    Plural,    im 
Mittelalter  auf  8  bis  9  Bücher  reduziert,  kannte  Englands  namhafter 
Bibliophile  Richard  d'Angerville  da  Bury  (1286  —  1345),    kannte  in     | 
Frankreich    Johann   von  Montreuil  (de  Monsterolio),    geboren  1354, 
kannte   der  Florilegist  (Sammler  moralischer  Sprüche)    von   1329   in 
Verona:     Quintilianus    libro    de  oratoriis  institutionibus :    'Si  studiis 
scolas    prodesse'   (I  2,   3) ;    kannte    ferner    Guglielmo    da   Pastrengo 
(f  1363)  in  Verona,    kannte  Dionysius   voia  San  Sepolcro  (Arezzo), 
den  wir  um   1317  in  Paris  finden,  gestorben  1342,   kannte  Giovanni 
Colonna  (1265 — 1332),    kannte    Lapo    di    Castiglionchio    und    durch 
ihn  Petrarca,   kannte  Domenico  di   Bandino  in  Florenz,  kannte  Gio- 
vanni   Dominici  (um  1405)  in  Florenz,    Panormita    um    1426.     Ein 
Bruchstück  der  Inst.,    vielleicht  aus  dem  X.  Buche,    hatte  Giovanni 
Conversino. 

Den  vollständigen  Text  der  Inst,  entdeckte  Nicolaus  de 
Clemangis  in  Frankreich;  von  ihm  erhielt  ihn  Andreolo  Arese, 
ein  geborener  Mailänder  im  Dienste  der  Visconti.  Über  Poggios 
Fund  in  St.  Galleu  1416  uud  über  das  zweite,  1417  entdeckte 
Exemplar  eines  vollständigen  Textes  siehe  Bericht  über  Bai  tr  am  i. 
Der  erste  Fund  ist  nach  Sabbadini  der  gegenwärtige  Turicensis, 
der  in  St.  Gallen  bis  zum  18.  Jahrhundert  verblieb.  Abschriften 
von  ihm  sind  der  Vatic.  Urb.  327,    Ambros.  B  153  sup.,    der  Har- 

1)  Auch  an  die  von  G.  L.  S  p  a  1  d  i  n  g  im  7.  Bd.  seiner  Ausgabe  (1825) 
zusammengestellten  Selecta  de  M.  F.  Quintiliano  recentiorum  iudicia  sei 
erinnert. 


IV.    Überlieferung.  225 

leianus  4849,  der  Vindobonensis  3135  uud  der  Vatic.  Basil.  H  11, 
12  (?).  Das  zweite  Exemplar,  das  Poggio  mit  sich  nahm,  ist  jetzt 
verloren,  aber  wir  haben  Apographa,  z.  B.  Laur.  46,  9  vom  Jahr 
1418  und  Mouac.  23473  (den  ich  zum  Teil  im  Juli  1922  verglichen 
habe).  Über  den  Vatic.  Urb.  327  siehe  unten  Beltrami.  Ein 
drittes  vollständiges  Exemplar  entdeckte  Capra  1423  im  Mailändei* 
Humauistenkreis.  Abschriften  hatten  Cosimo  von  Medici,  Pizolpasso, 
Jouifroy  (jetzt  in  Carcassonne ;  über  seine  eigenartige  Stellung  vgl. 
Fierville  und  gegen  diesen  Kiderlin ;  siehe  meinen  Bericht  Burs. 
Bd.  109,  1901  II  S.  98).  Vollständig  war  der  *famo8issimo'  Ambros. 
E  153  sup. ,  einst  im  Besitz  des  Mailänders  Giovanni  Barbavara 
(von  1437 — 52  Bischof  von  Tortona).  Der  Laur.  46,  7  kam  (um 
1433)  von  Straßburg  nach  Italien. 

Remigio  Sabbadini,  Storia  e  Critica  di  testi  latini 
Cicerone,  Donato,  Tacito,  Celso,  Plauto,  Q, ui  n  tiliano,  Livio 
e  Sallustio,  Commedia  ignota.  Catania  1914,  X  458  S.  8. 
Dem  Fabius  gelten  hier  die  S.  379 — 407.  Nicola  da  Clemangis 
kannte  u.  a.  nach  den  mitgeteilten  Briefstellen  instit.  X  1,  46 — 101 
(geschrieben  ist  Tuchitidi  ac  Herodoto),  er  kannte  um  1396  einen 
vollständigen  Quintilian  (nicht  bloß  einen  Auszug  aus  inst.  X),  also 
20  Jahre  vor  Poggios  Fund  in  St.  Gallen  (August— September  1416). 
Über  diesen,  über  Poggios  und  Antonio  Franchis  Abschrift  aus  dem 
gleichen  Jahre  erfahren  wir  bei  S.  Quellenmäßiges.  Im  April  1417 
schreibt  Bruni  an  Poggio:  'Quintilianus  tuus  laboriosissime  emen- 
datur'  etc.  Gasparino  Barzizza  kann  1417/18  aus  Padua  an  Cocco 
(Caucius)  berichten :  *^Quintilianus  ex  vetustissimo  codice  in  Germania 
transcriptus  totus  apud  nos  extat'  etc.  In  seiner  Orthographia  weist 
Barzizza  hin  auf  Quintilians  Unterscheidung  (I  7,  5)  von  con  und 
cum.  Bei  einem  Sommerausflug  (1417)  nach  Frankreich  und  Deutsch- 
land fand  Poggio  einen  zweiten  vollständigen  Quintilian,  den  er 
nicht  abschrieb,  sondern  mit  nach  Italien  nahm  (1418). —  Bezüglich 
der  Frage,  ob  Quintilian  in  Calagurra  (Calagurris),  wie  Hieronymus 
Überliefert,  oder  zu  bezw.  bei  Rom  geboren  sei,  wie  eine  anonyme 
Quintilianbiographie  von  1494  will,  zeigt  Sabb.,  daß  Laur.  Valla 
zwar  nicht  der  Autor  des  ßiog  ist,  daß  diesem  aber  Vallas  Zweifel 
bezüglich  der  Nationalität  des  Verfassers  der  Institutio  bekannt 
waren  (S.  396—402).  Vgl  unter  Gamurrini  Burs.  148.  Bd.  S.  175 
und  Fr.  Scholl  unten.  Laurentius  Vallensis  war  1443 — 1447  mit  der 
'Emendation'  der  Institutio  beschäftigt  (S.  402 — 404).  Auf  drei 
weiteren  Seiten  handelt  Sabb.  von  den  pseudo-quintilianischen  De- 
klamationen. 

Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft  Bd.  192  (1922.  H).  15 


226  Amnion:  Quintil.  inst.  or.  1010—21. 

Remigio  Sabbadini,  Quintiliano,  il  Commentum  Terenti  e 

Cicerone  in  Francia  nel  secolo  XIV  (Riv.  di  Filol.  39  (1911) 

S.  540—549) 
zeigt  aus  den  Briefen  des  Nicolaus  deClemangis,  daß  dieser 
Quintilian  X  1,  46  bis  101  gelesen,  also  ein  vollständiges  Exemplar 
besessen,  und  zwar  um  1396,   also  zwanzig  Jahre  vor  Poggios  Fund 
in  St.  Gallen  (siehe  oben). 

Der  Herausgeber  des  12.  Buches  der  Inst.  or.  Achille  Bel- 
trami  hat  in  den  Memorie  del  R.  Instituto  Lombardo  di  Scienze 
e  Lettere,  classe  di  lettere  e  scienze  morali  Vol.  XXII — XIII.  della 
Serie  III  —  Fascicolo  V  (Milano  1911,  Hoepli)  S.  151—186  eine 
wichtige  Untersuchung  niedergelegt: 

De    Quintiliani    institutionis     oratoriae    codicibus 

Ambro  s.  B  153  sup. ,  Vatic. -Urbino  327   et  Medic- 

Laurent.  4  6,  9. 

Beltrami  stimmt  Radermacher  (Fierville ,  Petersen)  zu ,  daß 
in  den  jüngeren  Hss  Spuren  einer  alten  recensio  erhalten  seien 
und  erachtet  den  Ambr.  B  153  sup.  und  den  Vatic.-Urbin.  827  be- 
sonders beachtenswert.  'Hos  enim  R.  Sabbadinus  erudite  coniectavit 
a  priore  Quintiliani  codicum  integrorum  originem  ducere ,  quos 
Poggius  Florentinus  in  bybliotheca  monasterii  Sancti  Galli  cum 
reperisset,  alterum  transcripsif,  alterum  secum  ipse  in  Italiam  tulit.' 
Der  Ambros.  B  153,  der  neben  dem  vorzüglichen  Ambros.  E.  153 
s.  XI  (A)  und  dem  mutilus  F  111  sup.  s.  X  (A  2)  eine  durch- 
gehende Kollation  verdiene ,  ist  zum  Teil  schon  von  Sabbadini 
und  Bassi  herangezogen  worden.  Von  dem  Vatic.-Urbin.  327 
saec.  XV  membranaceus  wird  eine  genaue  Beschreibung  gegeben. 
Die  Graeca,  zuerst  freigelassen,  sind  später  eingetragen.  Für  den 
Vatic.-Urbin.  ermittelt  Beltr.  nach  Sabbadini  aus  einer  Bemerkung 
zum  12.  Buch  der  Inst.,  daß  er  aus  dem  ersten  von  Poggio  (1416) 
gefundenen  Text  abgeschrieben  sei ",  weniger  einfach  liege  die  Sache 
beim  Ambros.  B  153.  Über  die  beiden  Hss  sucht  B.,  von  Sabbadini 
angeregt,  Klarheit  zu  verschaffen.  Er  hat  Buch  XII  verglichen  (c.  1 
bis  4  vollständig  mitgeteilt ;  aus  c.  5  mit  1 1  Auswahl)  und  einzelne 
Stelleu  aus  I — VI  (nach  Radermacher)  und  VII — XII  (nach  Meister) 
und  dazu  den  Medic.-Laurent.  46 ,  9  herangezogen  (y),  der  laut 
handschriftlicher  Notiz  zwei  Jahre  nach  Poggios  Fund  1418  ge- 
schrieben ist.  Jene  beiden  Hss ,  A  3  und  Vu  bezeichnet ,  bieten 
keine  Diphthonge.  Neben  den  sonst  üblichen  Varianten  wie  bi  für 
ii,  reprendere  für  reprehendere,  finden  sich  auch  Spuren  alter  Über- 
lieferung;   öfter    werden    Konjekturen    moderner    Gelehrter    (Mähly, 


■    IV.   Überlieferung.  227 

Meister,  Kiderlin,  Sittl  usw.)  bestätigt,  auch  widerlegt  oder  als  älter 
erwiesen.  Das  Verhältnis  faßt  Beltrami  S.  185  so  zusammen: 
*Quibus  exemplis  id  plane  comprobatxir  .  .  .  tarn  A  3  quam  Vu  a 
T(ur.)  originem  ducere ,  sed  A  3  et  librarii  arbitrio  corruptum  et 
aliis  codicibus,  praesertim  F  b  G-  S  Alm.  et  eo  codice,  quo  Cam- 
panus usus  est,  esse  contaminatum,  Vu  autem  codicis  cuiusdam  non 
multum  a  T  discrepantis  subsidio  emendatum  esse,  atque  ab  hoc 
auxiliari,  ut  ita  dicam,  codice  eas  lectiones  esse  profectas,  quas  plane, 
similes  cum  in  Vu  tum  in  /,  M  et  Guelf  passim  invenimus.  Quae 
cum  tarn  multae  eaeque  peculiares  maxime  in  y  M  et  Guelf  sint, 
in  eam  adducor  sententiam,  ut  horum  codicum  originem  ad  eum, 
cuius  lectiones  in  Vu  emendatoris  manus  invexerit,  recta  referendam 
putem.  Cum  vero  Poggii  subscriptio  in  Vu  et  epistxila  capitumque 
tabula  in  A  3  a  librariis  ex  priore  Poggiano  transcriptae  utrumque 
codjcem  ex  hoc  ut  ex  primo  fönte  manasse  testentur,  in  temeritatis 
crimen  non  vocabimur ,  si  T  aut  archetypon  ipsum ,  quod  Poggius 
in  monasterio  s.  Galli  parum  fideliter  pro  sua  natura  transcripserit, 
aut  certe  illi  artissimo  vinculo  conexum  ducemus.'  In  y  (==  Medic. 
Laurent  46,  9)  möchte  Beltrami  die  älteste  Abschrift  des  zweiten  von 
Poggio  1417  gefundenen  Quintiliankodex  sehen. 

Eingehend  bespricht  die  Untersuchung  Beltramis  über  die  Hand- 
schriften Job.  Tolkiehn  Woch.  f.  klass.  Philol.  29  (1912),  1053 
bis  56.  In  der  Sabbadini  gewidmeten  Ausgabe  des  12.  Buches 
von  Beltrami(Roma-Milano  1910)  sieht  Tolkiehn  eine  wohlangelegte 
italienische  Schulausgabe  (87.  Bändchen  der  Raccolta  di  autori  latini). 
Bezüglich  der  Komposition  (siehe  unten)  glaubt  Tolkiehn  in  der 
Annahme  einer  Erweiterung  des  ursprünglichen  Planes  beistimmen 
zu  sollen ;  dagegen  erscheint  ihm  weniger  geglückt  der  Nachweis, 
daß  die  §§  14 — 22  des  erten  Kapitels  erst  nachträglich  nach  Voll- 
endung des  ganzen  eingeschaltet  worden  seien;   mit  Recht. 

Schon  im  letzten  Bericht  ist  verwiesen  auf  die  wichtige  Arbeit 
von  Friedrich  E  m  1  e  i  n  ,  De  locis  quos  ex  Ciceronis  orationibus  in 
Institutionis  Oratoriae  duodecim  libris  laudavit  Q  uintilianus. 
Karlsruhe  1907.    83  S. 

Man  hat  seit  Spalding  einige  Stellen  Quintilians  (z.  B.  V  10, 
92.  11,  11.  14,  3.  IX  3,  38.  4,  29)  aus  Ciceros  Reden  verbessert. 
„An  vielen  Stellen,  sagt  Ferdinand  M  e  i  s  t  e  r  in  seiner  Besprechung 
(B.  ph.  W.  1910,  583  f.),  gibt  Emiein  der  Überlieferung  Quintilians, 
zum  Teil  mit  größerem  oder  geringerem  Bedenken,  aber  stets  mit 
Umsicht  und  umfassender  Sprachkenntnis ,  an  einigen  auch  der 
Überlieferung    Ciceros    den    Vorzug,    z.  B.  IV  2,    51    und    2,   110 

35* 


328  Ammon:  QuintiL  inat.  or.  1910—21. 

=  Lig.  2,  4."  „Sehr  häufig  ist  der  Kritiker  in  der  schlimmen  Lage, 
sich  nicbt  mit  Bestimmtheit  für  Cicero  oder  Quintilian  entscheiden 
zu  können,  z.  B.  da,  wo  sich's  um  Abweichungen  in  der  Wortstellung 
handelt;  maßgebend  ist  und  bleibt  für  ihn  das  Alter  und  die  Güte 
der  Handschriften.  Daneben  ist  auch  zu  berücksichtigen,  daß  Quin- 
tilian wohl  seinen  Cicero  aus  20 jähriger  Lehrtätigkeit  ganz  genau 
kannte;  wir  dürfen  ilira  aber  auch  zutrauen,  daß  er  nicht  pedantisch 
Wort  für  Wort  stets  wiedergegeben,  sondern  hin  und  wieder  sich 
die  Freiheit  genommen  hat,  an  den  Belegstellen  eine  unwesentliche 
Änderung  vorzunehmen,  ein  oder  mehrere  Wörter  umzustellen,  hin- 
zuxttsetzen  oder  auch  wegzulassen."  Meister  verweist  auch  auf  die 
Jenenser  Dissert  (1910)  von  Hermann  Reeder,  'De  codicibus  in 
Ciceronis  orationibus  Caesarianis  reete  aestimandis',  wo  auch  unter- 
»ttcht  wird,  welche  Cicero-Hss.  Quintilian  benutzt  habe  (B.  ph.  W. 
I&IO,.  517).  Unsere  Quintilianüberlieferung  (in  etwa  100  Hand- 
sebriften)  ist  im  Vergleich  zu  der  anderer  Autoren,  selbst  Ciceros, 
im  ganzen  gut.  Aber  die  Erforschung  ist  noch  lange  nicht  ab- 
geschlossen; dessen  war  sich  auch  ein  Halm  bewußt;  Iwan  Müller 
und  Becher  konnten  nicht  zum  Abschluß  bringen,  was  sie  in  Aus- 
sicht genommen.  Meister  und  Radermacher  haben  das  ihrige 
in  unermüdlicher  Forschung  getan ;  Radermachers  Bd.  II  (Buch  7  mit 
12)  steht  noch  aus.  Wilh.  Kroll  sagt,  in  Hönns  wissenschaftlichen 
FöTSchungsberichten  1914 — 1918  'Lateinische  Philologie'  (Gotha 
1919,  F.  A.  Perthes)  S.  3:  'Für  den  Text  mancher  Schriftsteller 
brieb  die  handschriftliche  Grundlage  lange  unsicher  —  für  Quin- 
tilian z.  B.  sehen  wir  in.  manchen  Partie»  noch  heute  nicht  klar.' 
Hier  wäre  nähere  Angabe  erwünscht. 

Für  die  Behandlung  der  Handschriftenverzweigung  und  der 
rhetorischen  Sprache,  insbesondere  der  Terminologie,  sind  zwei  ver- 
wandte Schriften,  obwohl  nur  Ciceros  Werke  De  oratore  gewidmet,  doch 
auch  für  die  Quintilianforschung  belangreich: 

Johannes    Stronx,    Handschriftliche    Studien   zu    Cicero 

De  oratore  (Rektoratsprogramm  der  Universität  Basel).    Basel 

1921,   182  S.    Gr.  8. 
und 

Joseph    Martin,    Tu  11  i an a.      Die    Vatikanischen    Codices    zu 

Cicero  de  oratore  Vat.  Lat.  2901    und  Vatic.  Palatinus  1470. 

Habilitationsschrift.     Würzburg  1922,   90   S.     8. 
Über    die    ins   Altertum    hinaufreichende    Verzweigung   Martin 
Si  89  f. ;  ebendort  über  das  Verhältnis  Ciceros  zu  Quintilian. 

Die    Nachlichten    über    Korrekturen    (z.    B.    Aristophanes    für 


IV.   Überlieferung.  229 

Eupolis  bei  Cicero),  über  verschiedene  Schreibweisen  und  Lesarten 
vor  dem  Ausgang  des  Altertums  sind  nicht  so  selten;  vgl.  über 
Korrekturen  Martin  a.  a.  0.  S.  89  f. ;  die  authentische  Schreibung 
Opillius  für  Opilius  bei  Suet.  gramm.  6 ;  'praevidisset'  statt  'provi- 
disset'  bei  Hör.  ep.  I  7,  68  nach  Ps.-Acro  p.  239,  12  K  'in  alio 
'praevidisset'  legitur'. 

Das  Stemma  der  Hss  nach  Radermacher  wäre  etwa  so: 
Quintil. 


Julius  Victor 
Archet.  in  Kleinschrift  u.  mit  Scholien 

P{aris.)  und  Verwandte 
A(mbro8.)  153         B  (Bern, 

s.  XI  Bamberg, 

Notred) 
s.  X. 
Weiter  auszubauen  nach  Beltrami  (s.  o.). 

Referent  zum  Bambergensis. 

Eine  teilweise  Vergleichung  des  Cod.  Mon.  23  473  hat  mir 
nichts  Besonderes  ergeben.  Dagegen  hat  ein  Einblick  in  den 
Bambergensis  (im  August  1922)  auf  kurzer  Strecke  einiges  Be- 
achtenswertes geboten.  Cod.  Bambergensis  M  4,  14  =  klass.  Hand- 
schr.  45  (Katalog  der  Handschriften  der  Königlichen  Bibliothek  zu 
Bamberg.  Bearbeitet  von  Friedr.  Leitschuh,  1.  Bd.  2.  Abt.  Bam- 
berg 1895,  S.  47  und  1.  Bd.  3.  Abt.,  bearbeitet  von  Hans 
Fischer,  Bamberg  1908,  S.  43),  hat  die  Überschriften  I  c.  1  que- 
madum  tradenda  synt ;  aber  c.  2  utilius  domi  an  in  scholis  erudiantur, 

I  1,  5  (p.  8,  19  R)  nam  quando  iubonum  verteris  vitia,  aber 
von    der    zweiten   Hand,    von    der    das  jetzige    erste  Blatt    herrührt 

re 

über    verteris ;    über    diese    die    Konstruktion    und    den    Rhythmus 
(-w^:::^— )  ändernde  Variante  schweigen  die  Herausgeber. 

I  1,  10  (9,  15  R)  et  plurib;  {=pluribus)  disciplinis  opus  est, 
entschieden  besser  als  plurimis  (Halm  u.  a.) ;  und  plurib  ist  ans 
dem  folgenden  (9,  24  R)  deutlich  pluribus. 

e 

I  1,  11  (9,  18  R)  8i  tarnen  non  contingit,  das  e  anscheinend 
von  der  gleichen  Hand  (nach  Halm  2.  Hand). 

eis 

I  2,  1  (14,  6  R)  hat  Bg*  deutlich  publicatis  p  ceptorib. 


230  Ammon:  Quintil.  inst.  or.  1910—21. 

I  2,  2  (14,   7)  clarissimarum  civitatium,  wo  i  deutlicli  punktiert 

u 

ist,  wie  I  2,  4  parentium  und  wie  I  2,  4  ingeniös. 

I  2,  4  (14,  26  E)  exempla  tarn  pdite  bei'cule  quam  conservate, 
von  der  gleichen  Hand  perdite  (^perditae)  deutlich  hineinkorrigiert-, 
besser  als  Halms  Lesung. 

I  2,  4  (p.  14,  26  K)  lese  ich  deutlich  utrubique,  nicht  utro- 
bique  (Halm).  Über  dem  n  des  folgenden  natura  steht  ein  n,  wohl 
=  nam,  was  sinngemäß  ist. 

Am  Rand  unten  steht  ohne  Beziehungszeichen  auf  diesen  Satz, 
aber  von  der  gleichen  Hand:  at  uature,  cuius  quis ;  sit  .t.  quo  cü 
quaue  cura  nutriatur  distat ;  vor  nutriacur  noch  3  verwischte  Buch- 
staben (von  Halm  angemerkt,  Natura  cuius  quisque  sit  uel  qxiocum 
quaue  cura  nutriatur  distat,   aber  ohne  das  At  am  Anfang). 

c 

I  2,  6  (p.  15,  13  R)  et  cocum  intellegit;  am  Rand  von  anderer 
Hand  mit  dunklerer  Tinte  crocum ;  über  all  das  bei  Radermacher 
nichts;  crocum  auch  Halm  nicht;  und  doch  ist  crocus  die  größere 
Finesse,  vgl.  Th.  L.  L. 

mores 

12,  7  (p.  15,  14  R)  quam  os  instituimus  wie  crocum,  aber  über 
OS  geschrieben  (Halm,   Meister,  Radermacher);  Bonnell  mores. 

unt 

I  2,  8  (p.  15,  19  R)  ex  nobis  audierunt,  ohne  Korrekturpuukte ; 
audierunt,  was  Radermacher  nicht  erwähnt,  ist  dem  audiunt  von 
A  (Halm,  Meister)  nach  Sinn  und  Rhythmus  vorzuziehen.  Zeile  21 
steht  über  inde  von  anderer  Hand  deinde. 

I  4  hat  die  Überschrift  De  grammatica,  aber  I  10,  9  De  musice. 

Die  Schreibung  oratiost  habe  ich  nicht  beobachtet,  I  2,  4  deut- 
lich conversatio  .  e .  (=  conversatio  est),  socordia  est  u.  ä.  Zu 
Cicero  bieten  die  Mutili  dem  Rhythmus  entsprechend  oratiost,  cau- 
sast,  utendumst ;  bei  Quintilian  haben  wir  meist  die  gleiche  Rhyth- 
misierung. Fälle  wie  'in  bonum  vertere  vitia'  statt  verteris  (I  1,  5), 
wozu  man  z.  B.  Tac.  dial.  4  in  consuetudinem  vertisset  stellen  mag, 
lassen  eine  Neuvergleichung,  namentlich  unter  besonderer  Beachtung 
der  Rhythmen  (auch  parentum  und  parentium ,  civitatum  und  civi- 
tatium) wünschenswert  erscheinen. 

Daß  auch  aus  dem  F(lorentinus)  noch  manches  zu  holen  ist,  lehrt 
eine  verlässige,  noch  nicht  veröffentlichte  Kollation  von  Karl  Rück 
(vgl.  Burs.-Ber.  1901,  S.  103).  Um  das  acta  agere  hintanzuhalten, 
gebe  ich  hier  Rück  selbst  das  Wort  zu  seiner  wertvollen  Mitteilung. 

Über   meine    Kollation    der  Quintilian-Handschrift  F    in    der 
Laurentiana  zu  Florenz  habe  ich  folgendes  zu  berichten : 


Quintilians  Sprache.  231 

Nach  der  Ansicht  Wilhelm  Meyers  (aus  Speyer)  ist  es  ein 
bleibendes  Verdienst  Halms,  daß  er,  nachdem  die  Güte  der  Hand- 
schriften A ,  Bn  und  Bg  schon  von  anderen  anerkannt  war ,  die 
ergänzende  Hand  des  Bambergensis  G  hervorgeholt  hat ;  im  übrigen 
aber  hat  er  sich  geirrt.  Die  Annahme ,  daß  Turic.  und  Flor, 
aus  dem  Bamberg,  abgeschrieben  seien,  ist  fast  absurd.  Besonders 
folgenreich  war  die  Verkenuung  dieser  Handschriftenklasse,  welche 
durch  Tur.,  Flor.,  Almelovenianus  und  die  2.  Hand  des  Bamb. 
b  repräsentiert  wird.  Die  Angaben  über  b  bei  Halm  sind  leider 
ungenau  und  irreführend.  Den  Almelovenianus  wiederzufinden, 
ist  Meyer  trotz  mehrfacher  Nachforschungen  nicht  gelungen. 
Doch  hoffte  er  ihn  immer  noch  aufzutreiben.  Denn  wenn  diese 
Handschriftenklasse  fest  erkannt  ist,  dann  wird  sich  auch  der 
schwierigste  Teil  der  ganzen  Handschriftenfrage  des  Quintilian 
lösen  lassen,  nämlich  „die  vielen  trefflichen  Lesarten  in  den 
jüngeren  Quintilianhandschriften".  Der  Handschriftenapparat 
Halms  zu  jenen  Büchern,  für  die  sowohl  A  als  B  fehlt,  ist,  ab- 
gesehen von  G,  wertlos  und  für  wissenschaftliche  Forschung  un- 
brauchbar. Das  Rätsel  der  jungen  Handschriften  löst  sich,  wenn 
man  zum  Text  der  Handschriften  Tur.,  Flor,  von  1.  Hand  (=  b) 
das  hinzunimmt,  was  schon  im  11.  Jahrb.  eine  zweite  Hand  dar- 
über geschrieben  hat. 

Um  das  Rätsel  zu  lösen ,  hatte  ich  mir  scho-n  vorher ,  ehe 
ich  nach  Florenz  reiste,  Bogen  angelegt,  in  die  ich  —  zur  Richt- 
schnur war  Halm  genommen  —  die  Variauten  von  T  eingetragen 
hatte;  in  diese  wurden  dann  in  Florenz  die  Varianten  von  Fi 
und  F2  nachgetragen.  Die  Kollation  nahm  623  Folioseiten  in 
Anspruch.  Sie  wurde  bis  zum  Schluß  des  5.  Buches  geführt,  bis 
zu  den  Worten :  Marci  Fabii  Quintili  Institutionü  oratoriarü  lib. 
V.  explicit.     Ich  kam  am  31.  Oktober  1890  mit  ihr  zu  Ende. 

Dr.  Karl  Rück. 

V.  Quintilians  Sprache. 

Die  sorgfältige  Arbeit  von  K.  Friz  'Sog.  Verbalellipse  bei 
Quintilian'  (1905)  habe  ich  Burs.  148,  S.  198  ff.,  besprochen  und 
dort  den  Wunsch  geäußert,  es  möge  Quintilians  Eigenart,  gemessen 
besonders  an  seinen  älteren  und  jüngeren  Zeitgenossen ,  ins  rechte 
Licht  gestellt  werden.     Dies  geschieht  bei 

Xaver  Gabler,    De    elocutione    M.  Fabii  Quintilian i. 
Erlanger  Dissert.    Borna-Leipzig  1910.    109  S.    Gr.  8.  : 


232  Ammon:  Quintil.  inst.  or.  1910 — 21. 

Gabler  hat  bei  seiner  Untersuchung  der  Sprache  der  Institutio 
oratoria  die  Frage  im  Auge :  'quibus  maxime  rebus  a  veteribus  scriptori- 
bus  —  besonders  Cicero  —  differat  quantumque  aetati  suae  tribuat.'  Er 
gliedert  den  Sto£f  in  diese  drei  Hauptteile:  1.  De  delectu  atque  usu 
vocabulorum  S.  1 — 42,  2.  De  ratione  syntactica  S.  43 — 88,  3.  De  com- 
positione  sententiarum  S.  89 — 104,  dazu  S.  105/6  die  Conclusio.  Es 
ist  eine  bekannte  Erscheinung,  daß  die  Sprache  der  Dichter  in  die 
Prosa  der  nächsten  Geschlechter  eindringt ;  auch  bei  uns  Deutschen. 
So  gibt  G.  (1 1,  1)  eine  Übersicht  über  die  in  der  silbernen  Latinität  aus 
früheren  Schriftstellern,  namentlich  aus  dem  poetischen  Sprachschatz 
verwendeten  Ausdrücke,  die  sich  bei  Cicero  und  Cäsar  nicht 
finden:  z.  B.  abnegare  —  absinthium  —  adiutorium  — colaphum 
tibi  ducam  („einem  eine  herunterziehen")  inst.  VI  3,  83,  wo  Rader- 
machers Text  den  Druckfehler  colophum  enthält  —  decor  ungemein 
oft  —  excreare  („räuspern")  —  enarrabilis  und  inerrabilis  —  obti- 
cescere  (neben  Celsus'  t.  t.  obticentia  für  anoGuorcr^oig)  —  super- 
imponere  usf.  bis  vivax  mit  dem  Verweis  'Poetae.  GelP.  Daran 
schließen  sich  (I  1,  2  S.  12)  'Vocabula  Quintilianea,  quae  ea  demum 
aetate  quae  vocatur  argentea  in  usum  venisse  videntur',  z.  B.  ab- 
dicatio  —  antidotus  {avTiöoTog)  —  das  umstrittene  clamosus  — 
favorabilis  —  gesticulatio  —  incomprehensibilis  (wozu  in  Ciceros 
philosophischen  Schriften  comprehendilis  (Ac,  1,  25)  u.  ä.  zu  ver- 
gleichen) —  observabilis  —  possibilis  und  impossibilis  —  retro 
agere  (cf.  Tac.  Germ.  38)  tyrannicidium ,  was  gegenüber  homi- 
cidium  und  suicidium  eine  Neuerung  nicht  bedeutet  ■ —  venula 
(Flußäderchen) ,  dem  das  Taciteische  vena  (Germ.  5),  vom  Edel- 
metall gebraucht,  zur  Seite  zu  stellen  ist  —  vivacitas,  das  auf 
gleicher  Stufe  steht  mit  vivax ;  ebenso  das  letzte  Wort  dieses  Ab- 
schnittes zelotypus  {^^.rjXÖTvrcog) ,  das  nach  Ciceros  Briefen  (Att.  X 
8  A.  XIII  13.  18)  zu  schließen,  ein  alter  Schlager  aus  der  helle- 
nistischen Zeit  ist.  Der  folgende  Paragraph  (I  1,  3  S.  20 — 27) 
erscheint  schon  nach  seiner  Überschrift  etwas  überladen :  ' Vocabula, 
quae  apud  Quintil ianum  primum  leguntur  sive  ab  ipso  novata  sive 
ex  graeco  translata  sive  nova  indita  significatione  sive  ex  usu  coti- 
diano  assumpta',  z.  B.  abusive  Jcara^ßj^OTixo/c:,  wozu  Serv.  zu  Aen. 

I  177,  260  (Thes.  L.  L.)  zu  vergleichen  —  acor  übertragen  wie 
acrimoniabeimAuct.  adHerenn.  (4,  19)  —  congeries  für  ovvad^^oiofiog, 
wobei  wie  bei  anderen  Fachausdrücken  verschiedene  Übersetzungs- 
versuche   (coacervatio  usw.)  zu  vergleichen  waren  —  elocutrix  (inst. 

II  14,  2),  das  wie  disputatrix  seinen  Vorläufer  hat  in  der  latei- 
nischen Übersetzung    der  Rhetorikdefinition  des  Theodoros  von  Ga- 


V.     Quintilians  Sprache.  238 

dara:  *ars  inventrix  et  iudicatrix  et  enuntriatrix'  (II  15,  21)  vgl. 
Gabler  selbst  S.  42;  rubrica  (XII  3,  11)  bedeutet  gegenüber  Per- 
sins  V  90  kaum  eine  Neuerung,  besonders  im  Hinblick  auf  Ciceros 
leguleii ;  für  vocalitas  (I  5,  24),  das  in  dem  Horazianischen  vocalem 
Orphea  (c.  1,  12,  6)  seinen  Ursprung  haben  mag,  gilt  das  oben 
von  vivacitas  Gesagte.  In  dem  2.  Kapitel  des  ersten  Hauptteiles 
'De  usu  vocabulorum'  wird  der  Gebrauch  der  Substantiva  besprochen, 
z.  B.  cervix  stets  im  Singular,  dann  die  fortschreitende  Verwendung 
von  Adjektiven  für  Substantiva,  z.  B.  simile  «ixwv,  studentem, 
einiges  über  Zahlwörter  (mille  für  sescenti) ,  über  die  Pronomina, 
über  Adverbien  und  Konjunktionen  •,  dort  wird  interim  mit  Recht 
in  den  Vordergrund  gerückt  (S.  36)  —  subinde  sollte  daneben 
stehen  — ,  hier  bei  den  Konjunktionen  vermisse  ich  Et .  . .  autem. 
In  «einer  'Peroratio'  zum  ersten  Hauptabschnitt  (S.  40 — 42)  hebt 
G.  u.  a.  hervor:  die  zahlreichen  inchoativa,  den  Gebrauch  von 
praetenuis  für  das  ältere  pertenuis  u.  ä.,  interritus  für  non  territus 
u.  ä. ,  weitere  Bildungen  auf  -bilis  und  -ivus,  auch  -alis 
(iuridicalis  ?) ;  über  elocutrix  u.  ä.  ist  oben  gesprochen.  Wegen 
der  Behandlung  der  Eigennamen,  wie  Celsus  Cornelius,  Laenas 
Popilius  ist  auf  Bacherlers  Aufsätze  zu  verweisen.  In  dem 
zweiten  Hauptabschnitt  De  ratione  syntactica  wird  behandelt 
die  Kongruenz,  wie  commendationem  atque  excusationem  propria 
putaverunt  (VI  2,  11),  auch  auf  alius  . .  ,  alius  .  .  .  neutri  (VIII  6,  36) 
war  zu  verweisen ;  dann  behandelt  G.  die  Kasuslehre  sehr  eingehend, 
ähnlich  die  Präpositionen ;  hier  war  das  modische  citra  mehr  zu  be- 
tonen und  mit  intra  ('nicht  ganz  bis  .  .  .  hin')  zusammenzuhalten  ;  auch 
*in  exemplum'  'als  Beispiel'  und  ähnliche  hätten  Beachtung  ver- 
dient, wohl  auch  in  Marathone  und  in  Salamine.  Für  die  häufigen 
Fälle,  wo  gegen  unser  Sprachgefühl  die  Präposition  nicht  wieder- 
holt wird,  konnten  bessere  Belege  gewählt  werden.  Bei  den  Tem- 
pora und  Modi  wird  der  Gebrauch  satis  erat  (für  est) ,  wie  bei 
Horaz  Optimum  erat,  u.  ä.  richtig  beleuchtet;  für  den  Potential is 
wie  von  abnuerim,  concesseris,  nocuerit,  profuerint  bietet  die  Ta- 
belle S.  61  eine  gute  Übersicht.  Quintilian  unterscheidet  sich  hier 
kaum  von  seinen  Zeitgenossen.  Bei  den  indirekten  Fragen  sehen 
wir  das  Anwachsen  von  an  —  doch  nirgends  an  non.  S.  66  wendet 
sich  G.  gegen  Verbesserungsversuche  der  Überlieferung  wie  nescio 
an  nullus  oder  nescio  an  numquam  «tatt  uUus  und  umquam ;  ich 
glaube  mit  Recht;  nescio  an  heißt  wie  dubito  an  zunächst  'ich 
schwanke',  *ich  weiß  nicht  recht'  (s.  Tac.  Germ.  46);  die  Neigung 
kann  bald  mehr  positiv  sein :   'vielleicht*,  'wahrscheinlich',  wie  VIII 


234  Ammon:  Quintil.  inst.  or.  1910 — 21. 

5,  21,  XI  1,  57,  bald  mehr  negativ:  'schwerlich',  'kaum',  wie  XII 
10,  2  (nescio  an  ars  ulla),  X  1,  65.  Wenn  Bonnell,  Törnebladh, 
Marty  u.  a.  öfter  si  im  Sinne  von  an  genommen  haben ,  so  betont 
G.  mit  Recht  die  kondizionale  Grundbedeutung  (S.  66  f.).  Zu  prüfen 
waren  noch  die  Fälle  (auch  an  der  Hand  der  Überlieferung) ,  wo 
in  anscheinend  indirekten  Fragen  der  Indikativ  steht.  Aus  den 
adverbialen  Nebensätzen  sei  hervorgehoben:  cum  interim  (konzessiv- 
adversativ), alius  quam  massenhaft,  quis  ignorat  quin  cum,  praesertim 
häufig ,  das  Fehlen  von  est  quod  oder  nihil  est  quod ;  der  Kon- 
junktiv bei  quamquam,  häufiges  quamvis  (aber  kaum  vulgär,  vgl. 
Tacitus).  Zum  Infinitiv  und  Partizip  (S.  82  ff.)  möchte  ich  spes  . . . 
victuri  VII  4,  18  ('daß  er  .  .  .  leben  werde')  und  idque  .  .  .  facien- 
dum  .  .  .  vetat  Antonius  VII  3,   16  beifügen. 

Der  dritte  Hauptteil  der  Dissertation  'De  compositione 
sententiarum'  fällt  gegenüber  den  beiden  anderen  schon  äußer- 
lich etwas  ab;  das  kommt  u.  a.  daher,  daß  der  Verf.  in  seiner  Dis- 
position antike  und  moderne  Betrachtungsweise  verbunden  hat  (de 
re  syntactica  und  de  compositione) ;  sein  dritter  Abschnitt  entspricht 
ungefähr  dem,  was  wir  mit  Zumpt  'syntaxis  ornata'  zu  nennen  uns 
gewohnt  haben;  Quintilian  nennt  es  nitor.  G.  handelt  u.  a.  über 
Periodisierung,  Brachylogie,  Figuren  (Anaphora,  Chiasmus,  Hyper- 
baton, Alliteration,  Hysteron-proteron,  Litotes). 

In  seiner  Zusammenfassung  S.  105  f.,  die  natürlich  ein  anderes 
Bild  gibt,  als  Francesco  Filelfo  von  der  'Hispanitas'  des  'Barbaren' 
Quintilian  entwirft,  betont  G.  1.  den  Anschluß  an  die  Sprache 
seiner  Zeit  trotz  seines  Ciceronianismus ;  2.  die  freie  Benutzung 
des  Arpinaten,  von  dem  er  Glanzstellen  aus  dem  Gedächtnis  zitiert; 

3.  vulgäre    Elemente ,    die    aber    eine    andere    Erklärung   zulassen ; 

4.  familiäre  Ausdrucksweise,  die  in  der  docendi  ratio  ihren  Grund 
hat;  5.  die  für  die  Zeit  wünschenswerte  Vereinigung  der  gesunden 
virilitas  mit  dem  angemessenen  nitor.  An  32  Stellen  äußert  sich 
G.  kritisch   zur  Textgestaltung  (zusammengestellt  S.   10.8). 

I  6,  2  cum  .  .  .  honestus  est  (Radermacher  mit  Halm  sit)  \\  II 
17,  19  für  confitebor  (Hss.  Raderm.)  gegen  Meisters  confiteor  ||  III 
7,  13  [eo]  maiorem  mit  Raderm.  gegen  P  ||  IV  2,  17  deinde  tum 
narret  mit  A  gegen  Radermachers  Tilgung  des  tum  ||  V  9,  3  für 
Radermachers  (eo)que  mihi;  ich  für  quae  der  Hss.  ||  V  9,  11  für 
in  aequo  est  ||  V  10,  74  für  signorum  insolubilium  (statt  immu- 
tabilium)  ||  V  12,  18  für  dum  levia  sint  (statt  sunt)  ||  V  13,  24 
für  Spaldings  (per)  omnia;  vgl.  Baehrens  omnia  =  omnino  ||  V  4, 
19   für  Radermachers  Lesung  (per)  j]  VI    1,  18  für  nescio  an  enar- 


V.    Quintilians  Sprache.  235 

rabili,  vgl.  o.  ||  VI  4,  17  für  multi  res  (statt  iu  re)  consilii ;  ob 
nicht  in  re  zu  ändern  in  interim?  ||  VII  6,  4  für  ad  actorem  an 
actionem.  Weitere  Stellen  sind  IX  1,  18—19.  3,  71.  3,  100.  4, 
1.  4,  62.  4,  129.  4,  139.  X  1,  18.  1,  94.  1,  102.  (clari  vir 
ingenii,  auch  Bonnell).  XI  1,  31.  XII  10,  39.  XII  5 ,  2  für 
Meisters  inter  adversa.  Abschließend  ist  die  für  sich  genommen 
sehr  tüchtige  und  gehaltvolle  Arbeit  Gablers  nicht,  wozu  noch 
wichtige  Teile  der  textkritischen  Grundlage  fehlen.  Wir  werden 
kaum  einen  zweiten  antiken  Schriftsteller  haben ,  bei  dem  wir  so 
bis  ins  einzelne  gehend  Theorie  und  Praxis  vergleichen  können 
wie  bei  Quintilian.  Darum  sollte  die  Untersuchung  einsetzen  mit 
der  Frage:  Wie  denkt  Quintilian  über  die  Entwicklung  der  Sprache? 
Vgl.  X  2,  13  (Zurücktreten  und  Verschwinden  von  Sprachwendungen); 
XII  10,  45  (nicht  an  die  Uralten  sich  anlehnend).  Wie  denkt  er 
über  Sprachrichtigkeit  (ratio)  und  Sprachgebrauch  (consuetudo)  V 
logisch  -  psychologisch  ?  Wie  über  Bildersprache  uud  eigentliche 
Ausdrucksweise?  über  Dialekt-  und  Fremdwort?  Wie  über  die 
vei-schiedenen  Stile?  über  die  Figuren?  über  Hiat  und  Elision? 
über  Khythmus?  über  Euphonie  und  Kakophonie  (Monosyllaba)  ? 
über  Zitate,  Sprichwörter,  Sentenzen?  über  Gesprochenes  und  Ge- 
schriebenes? über  Nachahmung?  (frei);  über  Übersetzung?  (möglichst 
treu).  Die  ungemein  zahlreichen  Bilder  Quintilians,  mit  denen 
er  alle  Stufen  und  Verzweigungen  der  Erziehung,  des  Unterrichts, 
der  menschlichen  Rede  und  der  Seelenerregungen  veranschaulicht, 
verdienten  eine  besondere  Untersuchung  (Natur  —  Landbau  — 
Seefahrt  —  Künste  usw.).  Alfred  Gudeman  hat  in  seiner 
Ausgabe  des  Taciteischen  Dialogus  1914,  S.  111,  und  Rudberg 
in  seinem  Poseidonios  (1918)  dafür  Fingerzeige  gegeben.  Der 
Rhythmus  Quintilians ,  der  in  den  Klauseln  fast  aufdringlich  wird 
—  trotzdem  Quintilian  in  seiner  gesunden  Natürlichkeit  überall 
die  f.i£G&irjg ,  den  modus,  das  7CQertov  predigt  — ,  hat  Gladisch 
genau  aufgezeigt.  Für  den  Entscheid  bei  schwankender  Überliefe- 
rung (quia  fateatur  —  fatetur ;  simus  —  sumus  dicturi),  für  die 
Orthographie  (perisse  —  periisse,  studii  —  studi,  Isocraten  —  Iso- 
cratem  usf.)  ist  dieses  Hilfsmittel  noch  nicht  allseitig  durchgeprobt ; 
das  gilt  auch  für  sprachliche  Untersuchungen  wie  die  Gablers, 
Eine  kakophonische  Wortstellung  wie  magni  est  studi ,  die  uns 
Deutschen  kaum  auffiele,  wird  sich  bei  Quintilian  schwerlich  finden> 
Wir  sind  immer  noch  geneigt,  eine  Sprache  mehr  lexikalisch,  gram- 
matisch, logisch  als  psychologisch,  rhetorisch,  ästhetisch  zu  betrachten. 
Erst  kürzlich  hat  A.  W.  de  Groot  in  seinem  Werk  'Der  antike 


236  Ammon:  Quintil.  inst.  or.  1910—21. 

Prosarhytlimus'  I.,  Grroningen  1921,  S.  11,  das  Verständnis 
dieses  vielumstrittenen  akroatischen  Kunstmittels  als  die  unerläßliche 
Vorbedingung  für  das  Verständnis  der  antiken  Kunstprosa  überhaupt 
bezeichnet.  Hier  einen  Wandel  herbeizuführen,  ist  Quintilians  In- 
Btitutio  vor  anderen  Werken  geeignet. 

Wenn  von  so  autoritativer  Seite  wie  von  dem  Quintilianheraus- 

geber   Radermacher,    Praef.   p.  XI,    ausgesprochen   wird:    "^Ego 

Ambrosiani    receptas    lectiones    non    raro   sprevi,    quas  nimis  politas 

atque   elegantes  putavi :    ad  familiam  B  redii ,    etsi  quae  continebat, 

duriora    et   asperiora   videri    poterant:    talem    mihi   finxeram    Quin- 

tiliani  imaginem  hominis  ad  antiquum  morem  Romani  et  nimis  levia 

spernentis',   so  ist  in  allen  wesentlichen  Teilen  einer  Untersuchung 

über  Quintilians  Sprache,  insonderheit  seiner  compositio,  zu  diesem 

Grundsatz  Stellung   zu    nehmen.     Ein  Vorbild   für  Stilanalyse  kann 

E.  Courbaud  sein:  Les  procedes  d'art  de  Tacite  .  . .    Paris  1918, 

besonders  Kap.  V  Le  style ;  s.  u.    Einiges  über  den  Sprachgebrauch 

des  Quintilian  (Vermeidung  von  quis  statt  quibus  u.  ä.)  bietet  auch 

Richard    Wagner,    Stilistische    Beobachtungen    im   Anschluß   an 

Tacitus    Annalen    I,    I  — 10.      Festschrift   Parchim    1919.    S. 

129—152. 

Eine    für   einen   so    sorgfältigen    Stilisten    wie   Quintilian   recht 

wichtige  Arbeit    trägt    ihre  Zugehörigkeit    zur  Quintilianliteratur  zu 

wenig  an  der  Stirn, 

Hugo  Säur,  Die  Adversativpartikeln  bei  lateinischen 
Prosaikern.  Diss.  Tübingen.  Tübingen  1913,  Laupp  jr. 
VIII,  111  S.,  Gr.  8. 
Die  von  Gundermann  geförderte  Untersuchung  zu  Cicero  (Tusc), 
Livius,  Seneca,  Quintilian,  Tacitus  ruht  auf  gründlicher  Kennt- 
nis der  Hilfsmittel ,  der  einschlägigen  Autoren  und  auf  sorgfältiger 
Arbeitsweise.  Bei  Quintilian  wird  Buch  I — VI  nach  Radermachers 
Text  behandelt.  Die  Adversativpartikela  at,  atqui,  autem,  contra, 
immo,  sed,  tamen,  vero,  verum  werden,  wie  man  sieht,  gleich  den 
Autoren  alphabetisch  aufgeführt  mit  der  Fülle  der  Belege,  so  daß 
bisweilen  das  Aussehen  einer  Logarithmentafel  dem  Leser  vor- 
«chwebt  (z.  B.  S.  33 — 36),  aber  innerhalb  der  Funktionen  der  ein- 
zelnen Partikeln  ist  verständig  gegliedert,  z.  B.  gleich  at:  allgemein 
(zur  Gegenüberstellung)  —  in  Verbindung  mit  pronominibus  —  nach 
vorhergehender  Konzessivpartikel  —  als  Partikel  der  Kompensation 
—  at  stellt  der  Frage  die  Antwort,  der  Rede  die  Gegenrede  gegen- 
über usw.,  über  at  allein  S.  3 — 11.  Bei  immo  —  ob  aus  ipsimo 
öder  aus  inimo?  —  sollte  die  Schreibung  imo  nicht  ganz  unbeachtet 


i 


V.    Qointilians  Sprache.  237 

gebliebeu  sein.  Zu  manchen  stilistischen  Bemerkungen  regt  die  Übersicht 
S,  103 — 109  an ;  z.  B.  contra  gebraucht  Quintilian  recht  sparsam,  Tacitus 
in  den  historischen  Schriften  oft,  im  Rednerdialog  überhaupt  nicht. 
At,  autem,  verum  bei  Quintilian  häufig.  —  Über  einen  belangreichen 
Genitiv  der  Sprache  Quintilians  (wie  der  gesamten  Latinität)  handelt 
Joseph  Wilhelm,    Der   Genetivus    diseriminis    im    La- 
teinischen.    Diss.  München  1922. 
In  der  mir  im  Autogramm  vorliegenden   umfangreichen,  gediegenen 
Arbeit  wird S. 67 — 69  dieser  Genitiv  in  der  Institutio  untersucht:  1.  Verba 
des  Anklagens:  accuso,  teneo,  insimulo  . . .   2.  Verba  des  Verhandeins:  ago, 
convinco  ...    3.  Verba  des  Verurteilens :  damno,  absolvo.    Die  statistischen 
Belege  sind  übersichtlich  zusammengestellt.   Den  122  Beispielen  mit  geni- 
tivischer Ausdrucksweise   stehen  7  Beispiele   mit  anderen  Konstruktionen 
gegenüber,  unter  diesen  3  mit  propter. 

M.  Bacherler,  Die  Namengebung  bei  den  lateinischen 
Prosaikern  von  Ve llejus  bis  Sueton.  In  der  Wochenschr. 
f.  klass.  Philol.  32  (1915)  Nr.  44. 45  und  88  (1916)  Nr.  2,  7,  8,  10, 
11,  13,  hier  in  Nr.  11,  Abschnitt  VII  über  Quintilians 
inst.  or.  nach  den  Ausgaben  von  Halm  und  von  Radermacher. 
Bacherler    hat    auf  Anregung    seines   um  die  Rhetorik  hochver- 
dienten Lehrers  Thomas  Stangl  (f  August  1921)  die  ausgedehnte 
Untersuchung    unternommen    und    kommt    zu    anderen    Ergebnissen, 
wie  die  Regeln  bei  Schmalz  und  manche  Verlegenheiten  der  Heraus- 
geber   erwarten    lassen.     Ergebnis :    Pränomen   noch    seltener  als  in 
Senecas   philosophischen    Schriften.     Von    268  Römern   erhalten   66 
das   Pränomen.     Nur   viermal    begegnen    die    offiziellen  Dreinamen. 
Mit  Prä-  und  Gentilnomen  bezeichnet  Quintilian  40  Personen  an  79 
Stellen.     Pia-    und  Kognomen  findet  für  23  Personen  56  mal  Ver- 
wendung.   Ohne  Vornamen  treten  von  268  Personen  194  auf;  einzig 
mit  Vornamen  3  (vgl.  Regenten).    Ich  breche  die  Angaben  hier  ab. 
Sie    erwecken    genügend   den  Eindruck  der  Umsicht  und  Verlässig- 
keit  der  überraschenden  Zusammenstellung. 

Für  die  Graeca,  für  die  Ausdrücke  >;^og,  Ttdd^og,  xaqav.tri'Q, 
texvoXoyia  usw.  ist  wie  für  Cicero  wichtig  die  Zusammenstellung 
von  H.  I.  Rose  'The  Greek  of  Cicero'  in  The  Journal  of  Hellenic 
Studies  XLI  (1921)  S.  93—114  in  alphabetischer  Ordnung.  Vgl. 
unten  Travaglio  zur  inst.  I  4  closa  =  yAwaffa. 

Quintilians  Bhythmns. 

Wenn  ich  auch  die  Literatur  zu  den  Deklamationen,  über  die  zu- 
letzt G.  Lehner  t,  Burs.  Bd.  183  (1920  II  S.  204—267)  berichtet  hat, 
nicht  mit  einbeziehe,  so  darf  für  den  Rhythmus  doch  genannt  werden : 


238  Ammon:  Quintil.  inst.  or.  1910—21. 

Georg  Golz,  DerrhytlimischeSatzschluß  in  den  größeren 

p.seudoquintilianischen  Deklamationen.     Kieler   Diss.     Leipzig 

1913. 

Von    Felix    Jacoby    angeregt    und    gefördert ,    zeigt   Golz    (geb. 

1887)    umsichtig    den  Entwicklungsgang    der  rhythmischen  Schlüsse 

nach  den  Norden- Wolflfschen  4  Hauptformen  in  den  Deklamationen, 

natürlich    auch    im    Hinblick    auf  den    echten    Q uintilian,    bei 

dem  die  Uniformität  schon  weit  fortgeschritten  ist  (S.   69),    nämlich 

-^w-^w      .       .       .       .       410/0 
S^LJ-^L         .      .      .      240/0 

-!^w-^ 200/0 

Seine  Arbeit  gehört  auch  nach  Lehnerts  Urteil  zu  dem  Besten, 
was    auf   diesem    Gebiete    vorliegt    (Burs.    183    S.    261).      Über    J. 
Gladisch,  De  clausulis  Quint.  (1909)  habe  ich  im  letzten  Bericht 
S.  201  ff.   einen  Überblick  gegeben.     Bei  Quintilians  Schüler,    dem 
jüngeren  Plinius,   ist  der  lihythmus  umsichtig  aufgezeigt  durch 
Mauriz  Schuster,   Studien  zur  Textkritik  des  jüngeren  Plinius. 
Wien  1919,  Tempsky. 
Darüber  W.  Sternkopf  im  'Sokrates'   1920  S.  59. 
Fr.    Spatzek,    der    nach    C.    Hofacker    die    Rhythmen    des 
jüngeren  Plinius  untersucht,  glaubt  (bei  Kukula,  Ausg.  des  Paneg.), 
Plinius  gebrauche  nebeneinander  akzentuierende  und  quantitierende 
Klauseln ,    mit  Korresponsion.     Dagegen    wendet  sich  nachdrücklich 
Karl     Münscher,     Kritisches     zum    Panegyrikus     des 
jüngeren    Plinius.     Rhein.    Mus.     N.    F.    Bd.    73,    1920. 
S.  181  ff. 
Über  eine  verständige  maßvolle  Berücksichtigung  des  Rhythmus, 
besonders    der   Klauseln ,    in    der    Textkritik    spricht    sich    auch 
Alfred  Klotz  Berl.  phil.  Woch.  1920,  605  aus  (bei  der  Besprechung 
von    Clarks   Ciceroj,    warnt    aber    vor    Vergewaltigungen    der    Über- 
lieferung.     Daß    die    Schrift   dem    gesprochenen    Worte    mit   seinen 
rhythmischen    und    melodischen    Feinheiten    nicht   überallhin    folgen 
kann,    dessen   war  sich    Quiutilian    bewußt;    z.  B.    über    ovvaiQEGig 
und  avvaXoKprj  15,  7;    Fälle  wie  Phaethon,  Laertiades,  duodecimo 
lassen  sich  bei  Prosaikern  schwer  feststellen. 


VI.  Konjekturalkritik. 

Wennschon  der  Grundsatz,  solange  als  möglich  bei  der  Über- 
lieferung zu  bleiben,  auch  bei  der  Festlegung  des  Textes  der  instit. 
in    den    letzten  Jahrzehnten    strenger    als    früher  beobachtet  wurde,  |ii(t 


VI.    Konjekturalkritik.  239 

so  rief  doch  schon  das  häufige  Auseinandergehen  auch  der  guten 
Hss  den  Philologenscharfsinn  wach ;  bei  offenbar  verderbten  oder 
lückenhaften  Stellen  mußte  die  Oivination  zu  Hilfe  kommen ,  und 
sie  hat  vielfach  geholfen;  anderes  harrt  noch  der  Heilung.  Das 
betont  auch  K  a  d  e  r  m  a  c  h  e  r  Praef.  p.  VIII  zu  seiner  Aus- 
gabe und  sonst. 

Die  neue  Ausgabe  von  Ludwig  Kadermacher  veranlaßt  E.  Bdarjg 
zu  seinen  scharfsinnigen  Q u  i  n  t i  1  i  a n  e  a.  In  eO^vi'KOv  TiavErtiOTr'jiiior. 
^E7iioxri(.iovL/.rj  enETi]Qig  Z'  (=  VII)  1910 — 1911.  Athen  1911, 
Sakellarios.  S.  171—184. 

Von  den  über  30  Stellen,  die  zum  Teil  nur  die  Interpunktion 
betreffen,  seien  nur  einige  berührt:  I  1,  5  et  haec  ipsa  magis  per- 
tinaciter  haerent,  quo  (statt  quae)  deteriora  sunt,  ansprechend,  aber 
nicht  neu,  schon  bei  Bonnell  ||  I  1,  36  proficieut  für  proficiet,  auf 
die  impressa  bezogen  ||  I  8,  9  (S.  53,  22  E)  sanitas  für  sanctitas; 
ansprechend  für  den  avTixiauog,  wenn  auch  die  sanctitas  und  viri- 
litas  der  echten  eloquentia  überhaupt  zugesprochen  werden ,  z.  B. 
Tac.  dial.  c.  10  omnesque  eius  partis  (sc.  eloquentiae)  sacras  et 
venerabiles  puto.  ||  I  11,  5  quarum  vices  (statt  vis  est)  apud  uos 
quoque,  sehr  gelungen  ||  II  5,  11  streicht  fient  euim  horridi  atque 
ieiuni  ||  II  12,  3  quae  peritos  für  imperitos  etiam  i|  II  15,  27  veram 
autem  [et]  honestam ;  durch  die  Tilgung  des  et  erscheint  erst  der 
rechte  Gegensatz;  Butler  übersetzt  (1921)  noch  rhetoric  in  itself 
he  regards  as  a  genuine  and  honourable  thing  ||  II  17,  13  gegen  die 
von  Radermacher  hinter  licet  angenommene  Lücke ;  eine  solche  auch 
nicht  in  anderen  Ausgaben  ||  II  21,  4  quaecumque  [ei]  ad  dicendum, 
mit  Recht  ei  gestrichen  ||  II  21,  15  novit  aut  (für  et)  debet  ||  IV  1, 
17  iudicis  velim  (nos)  nosse ,  ich  würde  nos  velim  nosse  stellen  || 
IV  2,  19  sed  illud  ipsum  (non)  narrare  ||  LV  2,  20  haben  andere 
Ausgaben  Ne  hoc  quidem  ||  IV  2,  25  praeter  alia  gravia  für  praeter 
(andere  propter)  aliquam  gratiam  ||  IV  2,  49  ex  ordine  praeter- 
mittendo  für  praetermittenda  ||  IV  2,  70  quaedam  non  negantes  (statt 
non  narrantes)  •,  treffend  ||  IV  2,  83  liest  Vasis:  nos  relicturos  rerum 
ordinem  testamur  ||  IV  3,  14  (Druckfehler  Ib.  14)  alienae  rei  sed, 
hübsch  II  IV  4,  2  summae  collectio  ||  V  10,  40  in  qua  quidque  civi- 
tate  geratur  für  quaeratur,  unnötig  ||  hübsch  über  V  10,  65  ||  V  13, 
33  [impossibilia  aggrediantur],  zu  billigen  ||  V,  14,  31  vallibus  fluunt 
statt  fluat;  bieten  bereits  andere  Ausgaben  ||  VI  1,  43  sed  si  (statt 
sie)  scripsisti,  ecce,  auch  treffend  erklärt  ||  VI  2,  19  sublime  [desi- 
derat] ;  treffend  VI  2,  83  et  (statt  sed)  quidam  jj  VI  3,  45  communis 
in  (utramque)  partem  ||  VI  3,  60  sunt  quaedam  vi(su)  similia. 


240  Ammon:  Qumtil.  inst.  or.  1910—21. 

W.  A.  Baehrens,  Beiträge  zur  lateinischen  Syntax. 
Philologus  suppl.  XII  2.  Heft  1912  S,  233—556. 

Baehrens  glaubt,  daß  ßaderniacher  in  seiner  trefflichen  Ausgabe 
dem  Ambrosianus  E  153  nicht  immer  das  gebührende  Gewicht  bei- 
gelegt habe.  Gegliedert  ist  der  mannigfaltige  Stoff  in  diese  8  Ab- 
schnitte: I.  Über  einige  ütvo  xotroi; -Verbindungen.  II.  Über  ver- 
wandte Konstruktionen.  III.  Einiges  zur  Wortstellung  im  Latei- 
nischen. IV.  Über  einige  Pleonasmen.  V.  Uli  =  illic.  VI.  Zur  Kon- 
struktion xcrra  avveaiv.  VII.  Über  einige  (sogenannte)  Gräzismen. 
Vni  Zum  Konjunktiv  im  Lateinischen. 

Nach  dem  Index  sind  behandelt:  I  2,  3.  5,  2.  7,  2.  II»  1,  4. 
1,  5.    8,  15.    8,  16.    9,   11.    10,  2.     1114,3.    4,4.     IV  1,  1.    1,11, 

V  3,  3.  3,  7.  3,  8.  5,  4.  6,  4.  7,  1.  11,  1.  11,  3.  VI  1,  2.  3,  1. 
6,  1.  8,  3.  VII  42  (Druckfehler).  VIH  2,  8.  3,  10.  3,  13.  Ich 
greife  ein  paar  Stellen  heraus.  III  8,  67  nam  ut  [in]  coneiliis 
pl.  s.  q.  est,  ita  saepe  in  causis  minor;  streicht  das  im  Ambros.  153 
fehlende  in  •,  überhaupt  hätte  Radermacher ,  meint  Baehrens ,  sich 
noch    enger    an    den    führenden    Ambrosianus    anschließen    sollen. 

V  10,  95  für  non  a  confessis.  V  10,  3  quia  [nee]  distinctis  nee 
totidem  partibus  mit  AB  gegen  den  P(ari8inus),  der  nee  bietet. 
Baehrens  glaubt  (S.  260),  daß  P  selten  AB  gegenüber  Bedeutung 
habe.  Über  die  Übereinstimmung  von  P  und  Julius  Victor  äußert 
sich  B.  nicht  näher.  XI  1,  21  befürwortet  er  (S.  444)  illa  |in] 
iactatione;  Halm  liest  passend  mit  KoUiu  illa  iactatio.  Altmodisch 
schreibt  B.  wiederholt  Quinctilianus.  Über  die  Verbesserungs- 
versuche von  Gabler  (Sprache),  Herm.  Röhl  zum  X.  Buch, 
W.  Kroll,  Quintilianstudien ,  dann  zu  einzelnen  Stellen,  wie 
Eitrem,  ist  suo  loco  referiert.  AufLindsay,  Notae  Latinae 
(1915),  als  Hilfsmittel  für  die  Quintiliankritik  wird  unten  zu  I  7, 
20  verwiesen;  zu  'Rhythmus  und  Textkritik'  ist  eine  Äußerung  1 
von  A.  Klotz  oben  angeführt. 

VII.  Die  Anlage  der  Institutio. 

Johannes    Börner,    De    Quintiliani    institutionis    ora- 
toriae  dispositione  (Pars  prior).   Leipziger  Diss.  Leipzig 
1911,  73  S.    8. 
Auch  in  der  Disposition  seiner  institutio  oratoria,  die  man  nach 
B.  (S.  17)    am    besten    mit    'Bildung    zum  Redner'   oder  'Bildungs- 
gang   des  Redners'   übersetzt,    steht   der  Kalagürritaner  naturgemäß 
auf  den  Schultern    seiner  Vorgänger,    ohne    sich   aber  seiner  Selb- 


VII.   Die  Anlage  der  Institutio.  241 

ständigkeit  zu  begeben.  Die  im  Leipziger  philologischen  Seminar 
angeregte  Aufgabe :  ''De  Quintiliani  inst.  or.  dispositione  ita  quae- 
ratur,  ut  imprimis  libri  XII  ratio  illustretur  priorum  libris  rhetoricis 
in  comparationem  vocatis'  hat  B.  gewählt  und  behandelt  die  ganze 
Disposition;  der  Abschluß  (der  zweite  Teil)  ist,  soviel  ich  weiß, 
noch  nicht  erschienen. 

Die  Anlage  der  übersichtlichen  Arbeit  ist  diese :  I.  D  e 
Quintiliani  opere  1.  Quid  sibi  proposuerit  (als  erster  eine 
derartige  Enzyklopädie) ;  2.  De  titulis  (absichtlich  institutio  oratoria 
gewählt ,  zum  Unterschied  von  ars  rhetorica  oder  Ciceros  Rhe- 
torici,  auch  A.  Cornelius  Celsus  habe  nicht  'institutio'  gewählt) ; 
3.  De  notione  institutionis  (aus  der  Praxis  für  die  Praxis) ;  4.  De 
dispositione  institutionis  oratoriae :  in  der  Hauptsache  die  drei  Teile 
de  arte  (Buch  3  mit  11,  nämlich  inventio  3  mit  6,  dispositio  7, 
elocutio  VIII  mit  XI  1,  memoria  XI  2,  pronuntiatio  XI  3);  de 
artifice  und  de  opere  (beide  Teile  im  12.  Buch).  II.  De 
dispositione  priorum  librorum  rheticorum,  ein  gut 
Stück  Greschichte  der  Khetorik,  das  (S.  27  —  50)  Anaximenes, 
Aristoteles  mit  dem  Exkurs  über  die  leges ,  dann  die  Herennius- 
rhetorik  und  Ciceros  De  oratore  und  Partitiones  in  ihrem  Haupt- 
plan aufzeigt.  III.  De  Quint.  inst.  or.  dispositione  cum 
eorum  qui  antecesserunt  op  er  um  coraparata  (S.  51 — 72): 
1.  De  dispositione  totius  operis,  wo  gegen  Nordens  Aufftxssung,  bei 
Cic.  part.  or.  sei  vis  oratoris  =  orator,  betont  wird,  was  Cicero 
vis  oratoris  nenne,  sei  bei  Quintilian  ars;  dieser  habe  seine  eigene 
und  eigenartige  Disposition ;  2.  De  quaestionibus  quae  sunt  de  sub- 
stantia  rhetorices ;  3.  De  partibus  rhetorices,  4.  De  generibus  cau- 
sarum;  5.  De  inventione;  6.  De  genere  iudiciali  (S.  65 — 72).  — 
Georg  L  e  h  n  e  r  t  lobt  in  seiner  anerkennenden  Besprechung  B.  ph. 
W.  34  (1914),  1078  f.  die  eingehende  Vergleichung  mit  den  Vor- 
gängern und  deutet  einige  Berichtigungen  an.  —  Nach  der  gestellten 
Aufgabe  wäre  man  besonders  auf  die  umstrittene  Disposition  des 
12.  Buches  gespannt,  die  der  2.  Teil  zu  beleuchten  hätte.  Auch 
Johannes  Tolkiehn  hebt  in  seiner  beifälligen  Besprechung  von 
Börners  Dissertation  Woch.  f.  klass.  Philol.  30,  1913,  S.  174  die 
große  Selbständigkeit  Quintilians  hervor. 

Die  Disposition  von  Ps.-Plutarch  7t.  naldtov  aycoy^g,  wie  sie 
übersichtlich  A.  Sizoo  S.  9  f.  zusammengestellt  hat  (vgl.  u.),  zeigt  viele 
Berührungspunkte  (Ammen,  Pädagogen,  Lehrer,  Kameraden,  Sitt- 
lichkeit usw.)  mit  dem  Abschnitt  über  Erziehung  bei  Quintilian, 
aber  auch  erhebliche  Abweichungen,  z.  B.  domi  an  in  ludis  publicis ; 
Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft  Bd.  192  (1922.  U).  16 


242  Ammon:  Quintil.  inst.  or.  1910 — 21. 

niclits  von  Demokrit  dem  Abderiten,  der  bei  Cicero,  Dionys.  Hai., 
bei  Seneca  w.  a.  in  den  Vordergrund  gerückt  wird  (nach  dem  Vor- 
gang des  Poseidonios  ?) ,  während  ihn  Quintilian  ebenso  wie  der 
auct.  7t.  £Q[.irjv.  nicht  nennt-,  das  drastische  Erziehungsexempel 
des  Lykurg  mit  den  zwei  Hunden ,  das  Nikolaus  von  Damaskus 
erzählt  hat,  findet  sich  bei  Quintilian  nicht;  wohl  aber  versteckt 
bei  Hör.  ep.  2,  65  ff.  venaticus,  ex  quo  tempore  cervinam  pellem 
latravit  in  aula  etc. 

Nach  A.  S  i  z  o  0 ,  De  Plutarchi  qui  fertur  de  liberis  educandis 
libello  (Diss.  Amsterdam  1918),  hat  Quintilian  Chrysipps  Schrift 
nEQl  TtaiöoTQoq^lag  (dies  ist  der  richtige  Titel,  nicht  7C€qI  Tzaidiov 
ayioyrjg)  selbst  herangezogen,  z.  B.  über  körperliche  Züchtigung; 
die  dem  Plutarch  von  Wyttenbach,  Dyroff,  Weissenberger,  Hein 
u.  a.  abgesprochene  Schrift  Tiegl  nalöiov  aycoyr^g  hat  —  das  sucht 
Sizoo  geschickt,  doch  nicht  überzeugend  zu  erweisen  —  Plutarch 
in  jüngeren  Jahren,  vielleicht  noch  stehend  unter  dem  Einfluß  der 
Rhetorik,  zusammengestellt  als  eine  Sammlung  stoischen  Materials 
für  spätere  Verarbeitung,  und  zwar  hat  er  wohl  die  Schrift  Chrysipps 
bereits  in  einer  nicht  immer  geschickt  bearbeiteten  Epitome  benützt 
(vielfach  mit  den  stoischen  Sprachwendungen  und  den  Euripides- 
zitaten),  dazu  anderes  Stoische  über  Knabenerziehung  oder  Eigenes 
gefügt.  Meine  E^indrücke ,  die  ich  bei  wiederholtem  Lesen  des 
Schriftchens  hatte,  decken  sich  im  wesentlichen  mit  denen  von 
Wyttenbach.  Aus  Horaz  läßt  sich  wohl  für  Chrysipp  oder  über  die 
Epitome  Tiegl  Traiöorgocpiag  viel  gewinnen. 

Zur  Geschichte  der  Disposition  der  Texvt]  ist  jetzt  zu  verweisen 
auf  K.  Barwick,  Die  Gliederung  der  rhetorischen  Te^vr)  und  die 
Horazische  Epistula  ad  Pisones.  Hermes  LVII  1  (1922),  vgl.  Philol. 
Woch.  1922,  761  f.  (durch  Herakleides-Neoptolemos  vermittelt). 
Dazu  neuestens  N.  Wecklein,  Bayer.  Gymn.-Bl.  1922,  S.  139  f. 

Zu  der  Anlage  der  Institutio  vergleicht  man  nicht  ohne  Gewinn 
den  Aufbau  der  Rhetorik  Philodems  in  7  Büchern,  wie  ihn  Harry 
M.  Hubbell  in  den  Transactions  of  the  Connecticut  Academy  of 
Arts  and  sciences  Vol.  23  (1920)  S.  253  übersichtlich  zusammen- 
gestellt hat. 

'Book  I    General  iutroduction.     Nature  of  "art". 

Book  II    Is    rhetoric    an    art?     Criticism  of  arguments  for  and 
agaiust.     Philodemus'    view    that    sophistic  i.  e.  epideixis  is  an  art, ![ 
but  all  other  varieties  of  rhetoric,  as  well  as  politics,  are  not 

Book  III    The    sophistical    school    does   not  produce  statesmen;  ,^1 
in   fact  the  sophistical  training  is  often  harmful  usw.  Jw; 


VIII.    Zu  den  einzelnen  Büchern  der  Institutio.  243 

Book  VII  Criticism  of  the  Stoic  attitude  toward  rhetoric. 
Further  criticism  of  Aristotle.  Comparison  of  rhetoric  and  philo- 
sophy.' 

Ebenso  wären  zu  vergleichen  die  5  Bücher  der  Rhetorik  des 
Celßus  nach  der  neuen  Ausgabe  von  Fr.  Marx  (siehe  unter  Quellen). 
Daß  Quintilian  seinen  reichen  enzyklopädischen  Stoff  von  vorn- 
herein in  12  Bücher  (nach  Vergils  Äneis  ?)  teilen  wollte  (gegenüber 
V  des  Celsus?),  sagt  er  selbst  im  Prooemium  zu  t  §  21  f.  Wieder- 
holte Verweisungen  —  proximo  libro  für  das  nächstvorausgehende 
und  für  das  nächstfolgende  — ,  zeigen,  daß  er  den  Plan  festgehalten 
hat,  im  wesentlichen  selbst  im  XII.  Buch. 

In  unserer  Überlieferung  finden  sich  Inhaltsübersichten  zu  den 
meisten  Kapiteln  (auch  andere  Inhaltsangaben).  Dazu  äußert  sich 
Hermann  Mutschmann  (f ),  Inhaltsangabe  und  Kapitel- 
überschrift im  antiken  Buch.  Hermes  46,  1911,8.93 — 107, 
so  (S.  96) :  „Dagegen  hat  man  noch  niemals  die  Überschriften  und 
Argumente  in  den  Institutionen  des  Quintilian  angezweifelt  5  sie  ge- 
hören auch  so  sehr  zu  dieser  Eloaytoyr),  daß  man  sie  ohne  Schaden 
für  die  Übersichtlichkeit  des  voluminösen  Werkes  nicht  wegdenken 
kann." 

Halms  Ausgabe  hat  die  Kapitelüberschriften  nicht,  Radermaeher 
setzt  sie  in  Klammern,  Meister  bietet  sie  in  anderen  Lettern.  Die 
Verweise,  die  Wortstellungen  beim  Beginn  neuer  Gedankenreihen, 
die  Übergänge  u.  a.  machen  es  auch  mir  nicht  wahrscheinlich,  daß 
die  Kapiteleinteilung  (mit  ihren  Überschriften)  auf  Quintilian  selbst 
zurückgeht. 

VIII.  Zu  den  einzelnen  Büchern  der  Institutio. 

Kritik  und  Erklärung. 

I.    Buch. 

Über  Berührungen  von  Quintilian  I  1,  4  bis  I  1,  10  mit  Ps.- 
Plutarch  de  lib.  educ.  hat  schon  A.  Dyroff  in  seiner  Ethik  der 
alten  Stoa  (1897  S.  239  ff.)  gehandelt.  Dazu  Fr.  Bock  in  der 
Berl.  phil.  Woch.  1919,  916  bei  der  Besprechung  von  Fridericus 
Glaeser,  De  Pseudo-Plutarchi  libro  neqi  naiÖDV  ayioyr^g  (Wien 
1918). 

„Die  Personen,  die  nacheinander  auf  die  Charakterentwicklung  des 
Menschen  Einfluß  haben,  Ammen,  Spielgefährten,  Pädagogen,  Lehrer, 
schreibt  Bock ,  können  ja  kaum  in  anderer  Reihenfolge  aufgezählt 
werden,  und  ebensowenig  darf  es  auffallen,  wenn  von  der  Erholung  nach 

16* 


244  Ammon:  Quintil.  inst.  or.  1910 — 21. 

der  Arbeit  erst  später  (9  C  bzw.  I  3,  8)  gcsproclien  wird.  Und 
die  vielen  Gemeinplätze ,  von  denen  Ps.-  Phitarch  wie  die  meisten 
erziehungstheoretischen  Schriften  wimmelt,  sind  sicher  schon  vor 
Piaton  und  Aristoteles  oft  ausgesprochen  und  auch  geschrieben 
worden,  sie  dürfen  einer  bestimmten  Philosophenschule  gewiß  nicht 
ohne  ganz  zwingende  Gründe  zugewiesen  werden-,  dann  freilich, 
und  das  mache  ich  gegen  Gläser  geltend ,  ebensowenig  dem 
Peripatos,  der  seinerseits  kaum  mehr  Originalität  für  seine  Er- 
ziehungslehre wird  beanspruchen  dürfen  wie  der  von  ihm  abhängige 
Chrysipp."     Vgl.   unten  'Quellen'  und 

A.   Sizoo,    De    Plutarchi    qui    fertur    de    liberis    edu- 
candis  libello.    Amsterdam  1918,  A.  H.  Kruyt.    (Mir  erst 
gegen  Schluß  des  Berichtes  zugegangen.) 
Sizoo,    der    die  Ausführungen  Quintilians  eingehend  mit  denen 
der  Schrift  üeqI  naidov  aycoyr^g  vergleicht,  glaubt  (vgl.  o.),  Quin- 
tilian  habe  ChrysippsBuch  nsgX   TcaidoT Qocpiag  besser  ge- 
kannt   als  "^Plutarch'   (S.  26);    die  Partie    über    die  Züchtigung    der 
Knaben    habe    Quintilian    aus    Chrysipp    selbst   (S.  33);    s.  o.     Das 
letzte  ist  auch  mir  wahrscheinlich. 

Die    Polemik    Quintilians  I  1 ,    24    gegen    eine    unvernünftige 
S  p  r  a  c  h  m  e  t  ho  d  e  erhält  Licht  aus 

Johannes  van  Yzeren,  'Zur  Geschichte  der  griechischen  Ortho- 
graphie', in  den  Neuen  Jahrb.  1911   (XIV)  S.  90. 

Zur  Orammatik. 

F.  H.    Colson,    The    grammatical    chapters    in    Quin- 
tilian I  4—8.  In  The  Classical  Quarterly  8  (1914),  S.  33  bis  47. 
Anschließend  an  Nettleships  Artikel  'Latin  Grammar  in  the 
First    Century'    in    dem    Journal    of  Philology    Vol.  XV   unterzieht 
Colson  die  Quintilianischen  Grammatica,  das  Beste  und  Erschöpfendste 
in    seiner   Art    nach  Varro    und   Diouysius  Thrax ,    einer    erneuten, 
scharfsinnigen  Prüfung.    I.  Die  Scheidung  zwischen  Grammatik  und 
Lektüre,  recte  loquendi  scientia  und  enarratio  poetarum,  zwischen  dei 
methodice  und  historice  (I  9,  1).     Sie  bestand  zur  Zeit  des  Aristo- 
phanes    von    Byzanz    noch    nicht ;    sie    hat    sich  aber  aus  den  sechs 
Aufgaben  des  Grammatikers    bei  Dionysius  Thrax,    denen    die    vie: 
officia  bei  Varro    —    lectio,    emendatio,    enarratio,    iudicium,    lautej 
'literarische'    —    gegenübergestellt  werden,    entwickelt,    unter  den 
wachsenden  Einfluß  äes'^EV^rjvioi-iog,  der  wissenschaftlichen  Grammati] 
und  Systematik,  auch  der  Pädagogik,  entwickelt  noch  vor  Quintiliar 
II.  Aus  der  nach  Nettleship  mitgeteilten  Disposition  von  I  4,   1  bi 


Hieb 
P. 


YIII.    Zu  den  einzelnen  Büchern  der  Institutio.  245 

I  5,  54  liest  Colson  nicht  heraus,  daß  Quintilian,  dessen  'ability'  er  mit 
Recht  höher  einschätzt,  Plinius  und  Palämon  kontaminiert  habe,  sondern 
es  ergibt  sich  ihm  besonders  durch  die  Auffassung  von  sermo  =  plura 
verba  im  Gegensatz  zu  singula  verba  und  von  declinatum  im  weiteren 
Sinne  eine  wohlgeordnete  Gedankenfolge  für  die  Zwecke  des  Khetors, 
die  ich  nach  S.  40  am  liebsten  hierher  setzen  möchte. 

Inhalt  von  I  4  mit  7  recte  loquendi  et  scribeudi   scientia. 
Kap.  4  :    The  grammarian   must  observe  and  classify  the  facts  of 

the  lauguage. 
Kap.  5  :  He  must  then  apply  this  knowledge  practically  to  establish 
the  regula  rede  loquendi, 
a)  in  singulis  verbis,  b)  in  pluribus  verbis. 

a  1)  He  will  eliminate  actual  mistakes  'in  singulis  verbis' 

(barbarismus). 
b  1)  He  will  do  the  same  'in  pluribus  verbis'  (soloecismus). 
a  2)  He  will  deal  with  'dubia'  (i.  e.  with  questions  where 
there  is  fair  room  for  discussion)  'in  singulis  verbis'. 
Here  the  choice  will  be  chiefly  between 
a)  native  and  foreign  words, 
ß)  compounded  and  uncompouuded, 
y)  literal  and  metaphorical, 
d)  familiär  and  new. 

Kap.  6  (b  2):  He  will  deal  with  'dubia'  'in  pluribus  verbis' 
Here  bis  choice  will  be  between  the  conflictiug  claims  o 
'analogia'  and  'etymologia'  on  the  one  band,  and  'vetustas', 
'auctoritas',  and  'consuetudo'  on  the  other. 

It  is  to  be  understood  that  both  in  a  2  and  b  2  the  final 

choice    must  depend  on  the  'iudicium'  of  the  'grammaticus'. 

Ob    nicht  Quintilian   einer  Schrift  gefolgt  ist ,    die  das  fiir  den 

Redner  aus  der  Grammatik  Nötige,  besonders  hinsichtlich  der  eyikoyrj 

und  Ovvdeaig  bvoixdziov,  zusammengefaßt  hatte?     Vgl.  Dionys.  Hai. 

und  Ciceros  Rhetorika. 

ni.  Die  Vergleichung  der  vier  officia  Varros  {dtoo&toaig, 
avdyvojaig,  iB^yr^aig,  -/.giaig)  mit  den  sechs  des  Dionysius  Thr.  und 
den  Erörterungen  Quintilians  ergibt,  daß  Quintilian  an  der  'enarratio 
poetarum'  festhält,  daß  die  Schulpraxis  auch  im  Altertum  das  ihr 
nicht  Förderliche  abgestoßen  hat. 

F.  H.  Colson,  Some  Problems  in  the  Grammatical 
chapters  of  Quintilian.  In  The  Classical  Quarterly 
10  (1916)  S.  17—31. 


246  Ammon:  Quintil.  inst.  or.  1910—21. 

Hatte  Colson  im  Januarheft  der  Classical  Quarterly  1914  die 
Absiclit  und  den  Plan  der  Kapitel  sowie  ihr  Verhältnis  zur  zeit- 
genössischen Schulpraxis  im  allgemeinen  dargelegt,  so  wendet  sich  der 
Aufsatz  von  1916  den  sprachlichen  und  gedanklichen  Schwierigkeiten 
im  einzelnen  zu  (I  4 — 7) :  so  4,  20  über  die  Vermehrung  der  Rede- 
teile über  acht  hinaus  durch  Wörter  wie  eheu  und  fasciatim,  wo 
Colson  'et  tractionem'  ut  'fasciatim'  feinsinnig  als  Beispiel  für  ab- 
geleitete (tracta)  Adverbien  im  Gegensatz  zu  den  Grundadverbien 
{nQonörVTTo)  faßt.  I  4,  28  cui  simile  fletur.  (tur)  accipimus  aliter; 
I  5,  17  verteidigt  und  erklärt  er  avvaiQsaiv  et  avvaloiq)7]v,  z.  B. 
Phaethon  (auch  bei  Butler) ;  vor  dem  eTiiovvaXoicpy]  deutscher  Heraus- 
geber warnt  er.  Ausdruck  nebst  Synonyma  und  Sache  für  ovvaXoKpyj 
wären  aus  Dionys  von  Halikarnaß,  dessen  Einwirkung  auf  Quintilian 
unverkennbar  ist  (vgl.  IX  4,  88  und  W.  Kroll,  Quiutilanstudien 
im  ßhein.  Mus.  73,  1921,  S.  248  u.  ö.),  noch  näher  zu  erläutern. 
Dann  bespricht  Colson  noch  unsicherere  Stellen  S.  24—31,  so  4,  10 
und  11.    4,  2.    5,  22.    6,  38. 

Josef  Aistermann,  De  M.  Valerio  Probo  Berytio 
Capita  quattuor.  Accedit  reliquiarum  conlectio.  Bonn  1910. 
Friedrich  Cohen.  VIII  -f  156  -f  LXXIV  S.  Gr.  8.  Vgl. 
den  Bericht  von  P.  W  e  s  s  n  e  r. 

Die  4  Kapitel  sind:  1.  Leben  und  Schriften  des  Probus; 
2.  Probus'  Quelle  für  Quintilian  instit.  I  4,  7 — 12;  3.  Über  Terentius 
Scaurus;  4.  Probus  Quelle  für  Gellius. 

Für  die  ganze  Grammatikpartie  sind  Aistermanns  Untersuchungen 
von  größter  Wichtigkeit.  Wenn  z.  B.  Servius  zum  Anfang  von 
Vergils  Äneis  anmerkt:  'Probus  ait  Troiam  Graios  et  Aiax  non 
debere  per  unam  i  scribi',  so  liegt  es  nahe  inst.  I  4,  11  auf  den 
Berytier  (nicht  auf  Plinius,  dub.  serm.)  zurückzuführen.  Nach- 
drücklich und  überzeugend  tritt  Aistermann  S.  88  ff.  ein  für  die 
Lesung  (I  4,  10)  iam  sicut  tam  scribitur  et  'vos'  (statt  quos  Hss.) 
ut  'cos' ;  Radermacher  mit  Ritschi   'quos'  ut  'tuos'. 

Karl  Barwick,  Remmius  Palaemon  und  die  römische 
arsgrammatica.  Im  Philologus  Suppl.  15,  Heft  2.  S.  272. 
Leipzig  1922. 

Daß  Quintilian  die  ars  des  Remmius  Palaemon  gekannt  und 
eingesehen  hat  (I  4,  20),  steht  nach  Barwick  außer  Zweifel  (S.  268). 
•"Eine  tiefer  gehende  Benutzung  läßt  sich  aber  nirgends  nachweisen.' 
Näher  soll  auf  die  umfassende,  gründliche  Arbeit,  die  auch  Böltes 
Vorarbeiten  verwerten  konnte,  nicht  eingegangen  werden,  schon  wei: 
sie  unter  der  Berichtsgrenze  liegt.    Nur  dies  sei  angeführt  (S.  267)1 


VIII.    Zu  den  einzelnen  Büchern  der  Institutio.  247 

'Offenbar  sind  Varro,  Verrius  Flaccus  und  Plinius  von  Quintilian 
stark  benutzt  worden,  aber  gewiß  nicht  allein.  Daß  auch  die  rex^V 
des  Dionysios  Thrax  nicht  ganz  ohne  Einfluß  auf  ihn  geblieben 
ist,  haben  wir  soeben  gesehen.' 

Zur  Orthographie  (auch  der  graeca). 

Unter  wiederholter  Berufung  auf  Quintilian  (I  4,  8.  7,  21  usw.) 
behandelt  eingehend  (zum  Teil  nach  Seelmann  und  Lindsay) 

Cesare     Travaglio,     De     orthographia     qua     veteres 
usi  sint  in  papyris  cerisqueLatinis.  In  den  Memorie 
del    reale    istituto    Lombardo    di    scienze    e  lettere.     Classe  di 
lettere,  scienze  morali  e  storiche.    Vol.  XXII  (13  der  S.Reihe), 
Milano  1910—1913.     S.  1—51  in  4«. 
Zwar   finden    wir    in    den  Papyri    nicht    die    neuen  Buchstaben 
des  Claudius  wie  auf  den  Inschriften  aus  der  ßegierungszeit  dieses 
Kaisers    (S.  9),    aber    Maarcus    und  31A^PK0^   —    auch    in    der 
neuen  Plutarchausgabe  von  Ziegler-Lindskog  wird  mit  Recht  BlaQycog, 
nicht   Mdg-KOg   akzentuiert ;    wir    sehen    das    Schwanken    zwischen    i 
und    e :    fratre  für  fratri ,    wie  Quintilian  (I,  4)  für  mihi ,    sibi  u.  a. 
bezeugt    (S.  13    u.   15)  j    zwischen    b    und    v,    wir  finden  perspexsit 
maxsimus ,    Alexsandrini ,    die    mehr   und  mehr  fortschreitende  Assi- 
milation der  Präpositionen   in  Zusammensetzungen,    auch  Graeca  in 
lateinischer  Schrift,  wie  closa  =  yXaiaoa. 

Für  Quintilian  ist  die  Frage  nach  der  Schreibung  der  Graeca, 
die  ich  soeben  bei  der  Besprechung  der  Arbeit  von  Travaglio 
gestreift  habe,  wichtig.  Auf  Anregung  Tb.  Birts  hat  sich  mit  ihr 
beschäftigt 

Walther  Nieschmidt,    Quatenus    in    scriptura   Romani 
litterisGraecis  usi  sint.    Diss.  Marburg.    Marburg  1913. 
67  S. 
Das  Ergebnis  ist  trotz  sorgfältiger  Arbeitsweise  wenig  greifbar; 
natürlich.     Man  suche  einmal  bei  uns  die  Mode,  lateinische  Wörter 
mit  deutschen  Lettern  zu  drucken  oder  umgekehrt  deutsche  Fremd- 
wörter wie  "^protestantisch'  mit    lateinischen  Lettern  zu  drucken  bis 
auf  die  deutsche  Endung  -  i  s  c  h ,  in  bestimmte  Sätze  zu  fassen,  und 
man  wird  die  Unfruchtbarkeit  der  Bemühung  erkennen.    'Glossaria, 
faßt  Nieschmidt  S.  66    zusammen ,    nimirum    semper  Graeca  Graece 
exhibebant  [bis  zu  welcher  Zeit  herab?].     Ceterum  ille  scriptoribus 
Romanis    videtur    mos    fuisse ,    ut ,     cum    totam    sententiam   Graece 
dicerent    afferentque    locum    queudam    pleuiorem    ex    Graeco    libro 
sumptum ,    retinerent    scripturam    Graecam.      In    singularibus  autem 


248  Ammon:  Quintil.  iust.  or.  1910 — 21. 

verbis  Graecis  quae  orationi  Latinae  insertae  leguntur  tantum  abest 

ut   certam    scribendi    legem    secuti    sint  scriptores  Komani,    ut  apud 

unum    eundemque    mira    saepe    inveniatur    inconstantia.' 

Max    Niedermann,     Sur    un    passage     controverse    de 

Quintilien.  inst.  or.  I  5,  23.     Im  Musee  Beige  16  (1912). 

p.  289—291. 
Quintilian  verwirft  die  gräzisierende  Betonung  Cämillus  Cethegus 
statt  Cämillus  Cethegus  und  fährt  fort :  aut  flexa  pro  gravi ,  a  u  t 
apice  circumducta  sequenti  quam  ex  duabus  etc.  Statt  aut  möchte. 
N.  mit  einem  Teil  der  Überlieferung  ut,  statt  apice  nicht  Appi, 
noch  weniger  mit  Birt  (Rhein.  Mus.  34,  21)  Marcipör  lesen,  sondern 
accire,  das  Quintilian  für  eine  fehlerhaft  kontrahierte  Form  für 
acciere  betrachtet  habe. 

Fritz    Scholl,     Zur    latein.     Wortforschung,      ludogerm. 

Forsch.  31  (1912/18).  S.  809—320. 
Im  Burs.  Jahresb.  148  (1910),  S.  175,  Anm.  hatte  ich 
Gamurrinis  Bedenken,  daß  Quintilian  in  Spanien  geboren  sei, 
als  nicht  unberechtigt  bezeichnet,  wegen  der  Stelle  I  5,  57  über 
gurdus  =  stolidus ,  hebes.  Diese  Bedenken  zerstreut  Scholl 
S.  313  ff.,  indem  er  Geschichte  (vor  Quintilian)  und  Entwicklung 
des  Wortes  weiter  verfolgt.  Quintilian  könne  trotz  des  Nicht- 
bescheidwissens über  diesen  Volksausdruck  für  'DummkopP  (audivi) 
recht  wohl  geborener  Spanier  sein.  Vgl.  ob.  (S.  225)  Überlief.  Er 
weist  auf  Einar  Löfstedt,  Eranos  X  1910,  164  hin.  Überzeugend 
führt  Seh.  cantus,  wofür  canthus  (xavd-og)  nicht  'promiscue  scribitur' 
(gegen  Maurenbrecher  Th.  L.  L.),  auf  das  kymr.  cant  zurück;  aus 
dem  Lateinischen  sei  erst  das  griechische  y.avd^6g  =  eniaiOTOov  ge- 
bildet; mit  Recht  wird  der  keltische  Einfluß  in  diesen  Dingen 
(raeda,  petorritam,  gisia  usw.)  betont. 

Carolus    Heuer,    De    praeceptis     Romanorum    eupho- 

nicis.     Jenenser  Diss.     Jena  1909.     59  S. 

Die  durch  die  Rhythmenforschung  neu  belebte  Frage  der 
Elision  u.  a.  in  der  Prosa  heißt  mich  nachträglich  noch  auf  die  durch 
Georg  Goetz  geförderte  Arbeit  von  Karl  Heuer  (geb.  1882)  hin- 
weisen, die  in  August  Lobecks  'Paralipomena  grammaticae  Graecae' 
einen  großen  Vorläufer  hatte.  Wenn  Dionysius  Thrax  —  auf 
Demetrius  von  Abdera  über  xaXXieTisia  habe  ich  früher  gelegentlich 
hingewiesen  —  sagt:  7]  Si  ccTtoazQOcpog  ti&€zat,  ot'  av  öid  ti^v 
TiakXiqxüv iav  xoi;g)/C€rat  to  ev  (pwvrjev  yQu/j/ua,  oTirjvixa  dto 
<p(t}v^€vrd  eiaiv  sv  juta  Xe^ei,  so  hat  die  Schulgrammatik  im 
Lateinischen  zwar  nicht  eine  gleichlautende,  aber  die  Sache  ist  den 


Vni.    Zu  den  einzelnen  Büchern  der  Institutio.  249 

Römern  (Varro,  Cicero,  Quintilian  usw.)  bekannt  gleichwie  die 
Weisungen  über  Qvd^i.ids  und  (xekog  in  der  Kunstprosa:  oratori 
aurium  consilio  utendum  est.  Quintilian,  der  I  5,  4  usw.  über  die 
vocalitas  oder  Evcpiovia  handelt,  wird  im  geschichtlichen  Zusammen- 
hang S.  6,  21,  42  ff.  berührt.  Über  den  Hiat  z.  B.  gilt  für 
Quintilian  Heuers  Zusammenfassung  (S.  47):  'et  Graeci  et  Romani 
vocalium  concursionem  plus  minus  asperam  ideoque  vitiosam 
habuerunt,  etsi  negare  non  possumus  etiam  fuisse,  qui 
illud  Studium  hiatus  fugiendi  non  tarn  neglegerent 
quam  neglegendum  esse  existimarent,  quippe  quod 
omnem  orationis  vim  infringeret  sonumque  deleret.'  Man  sieht, 
die  solide  Arbeit  beherrscht  auch  das  einschlägige  Sprachgut. 
Quintilian  nicht  prinzipiell  gegen  den  Hiat;  s.  u.  Sturtevant 
zu  IX  4,  33. 

Nachträglich  sei  erinnert  an  einen  gründlichen  Aufsatz  von 
Martin  L.  Rouse,    The  pronunciation  of  c,    g    and    v    in   Latin. 
In    den    Trans,    and    Proceed.    of  Amer.   Philol.     Assoc.  Dez. 
1909.     Vol.  XL  p.  LXXVIIL 
Über  die  Aussprache    von  Atreus    (inst.  I  5,  24)  u.  ä.  handelt 
Massimo    Lenchantin    de    Gubernatis,    Studi    sull' 
accento    greco    e    latino.     In    Riv.    di   filol.    50    (1922). 
ö.  177  ff.  XIX.     L'accentuazione  delle  parole  greche  in  latino. 
In    der  Anmerkung    S.  177    ist    auch   der    Inhalt   von  I — VIII 
(1915 — 22)  angegeben,  darunter  VIII  voce.  Väleri,  Valeri. 

Über  die  Etymologie  von  Lupercal  (inst.  I  5,  66)  luere 
per  caprum ,  durch  die  die  Reinigungswirkung  der  lupercalia  an- 
gedeutet werden  könnte,  s.  Otto  im  Philol.  76,  1913,  S.  162 
und  169. 

F.    Muller,     Zum    lateinischen    Präfix    au.     Zeitschr.    f. 
vergleich.  Sprachforsch.  49  (1919),  S.  112—117 
zeigt,    wie    aufero    zum    Unterschied    von    affero    gefordert    wurde, 
während  vor  v  das  einfache  a  genügte,  avello  usw.  zu  inst.  I  5,  69 
anfugit  und  Cic.  or.   158. 

Richard  Reitzenstein,  Historia  Monachorum  und  Historia 
Lausiaca.  Eine  Studie  zur  Geschichte  des  Mönchtums  und 
der  frühchristlichen  Begriffe  Gnostiker  und  Pneumatiker. 
Göttingen  1916. 

S.  93:  „Daß  die  Engel  im  Himmel  nicht  freien  und  nicht  ge- 
freit werden,  war  dem  Christen  selbstverständliche,  noch  überdies 
durch  ein  Herrenwort  bezeugte  Anschauung.  Daß  auch  der  Hellene 
frühzeitig  eine   ähnliche  Anschauung  auf  seine  Götter  übertrug  und 


250  Ammon:  Quintil.  inst.  or.  1910—21. 

darum  die  Menschen,  die  ihnen  hierin  nachahmten,  göttlich  nannte, 
wird  seltsam  erscheinen,  läßt  sich  aber  aus  Grammatikspielereien  mit 
Sicherheit  erweisen."  Bei  Besprechung  der  stoischen  Etymologie  er- 
wähnt QuintilianI6,  36  ingenioseque  visus  est  Gavius  *^caelibes' 
dicere  veluti  'caelites'  ...  ait;  r^id^EOi  =  f]  0-Eoi{Qeia  ^wovrcg). 
Über  den  Widerstreit  der  Analogie  und  Anomalie,  in 
dem  Quintiliau  (I  6)  entschieden  auf  die  Seite  der  consuetudo 
(Sprachgebrauch)  tritt  —  ähnlich  Cicero  — ,  handelt 

Curtius  W  0 1  d  t ,  De  analogiae  disciplina  apud  grammaticos  Latinos. 
Königsberger  Diss.  1911.  114  S.  8. 
Er  stellt  zunächst  die  Begriffe  für  analogia  zeitlich  fest :  pro- 
portio,  portio,  comparatio,  ratio,  regula  usw.  —  ratione  translata 
gebraucht  Cicero  auch  für  ?}  xa^'  avaXoyiav  fXETaipoQCc  — ;  bei 
Qu  int.  16,  3  faßt  Woldt  proxime  .  .  .  transfereutis  im  Sinne  von 
optime  (S.  9),  'am  sinngemäßesten\  Dann  wird  die  Analogie  nach 
den  Wortklassen  durchgegangen.  Daß  W.  zu  Quiutilians  Aus- 
lassung (I  6,  7  f.)  über  das  vielbesprochene  fervere  ein  kräftiges 
Fragezeichen  setzt,  nehme  ich  ihm  nicht  übel. 

Die    von     Quintilian    17,    20    bezeugte    ältere    Schreibweise 
caussae  für  causae  behandelt 

Louis  H  a  V  e  t ,  Manuel  de  eritique  verbale  appliquee  aux  textes 
latins.  Paris  1911 ; 
auch  die  Formen  fuere  -  fuerunt  inst.  15,  42  und  zahlreiche  andere 
Stellen.  Als  Hilfsmittel  für  die  Textkritik  sei  auch  hier  das  dem  An- 
denken L.  Traubes  (1915)  gewidmete  Werk  'Notae  latinae'  von 
Lindsay  empfohlen. 

Eduard    Hermann,    Silbischer    und    unsilbischer   Laut    gleicher 
Artikulation    in    einer    Silbe    und    die    Aussprache    der    indo- 
germanischen   Halbvokale    u    und    i.     In    den  Götting.  Nachr. 
1918.     Philol.-histor.  Kl.     S.  100—159. 
S.  130:  'Die  Schule  blieb,  wie  uns  Quintilian  I  7,  26  bezeugt, 
noch  im  1.  Jahrh.  bei  der  Schreibung  uo  stehen' :  seruos  =  servus. 
Edgar  Howard  Sturtevaut,  The  Pronunciation    of  cui 
and  huic.    In  den  Trans,  and  Proc.  of  Amer.  Philol.  Assoc. 
Vol.  43  (1912)  S.  57—66 
beleuchtet  an  der  Hand  der  anderen  antiken  Zeugnisse  inst.  or.  I  7, 
27  S.  61  f.  (das  u  in  huic  nicht  konsonantisch). 

W.  K.  Hardie,    Note    on  Quint.  I,  VII,  29.     In  The  Class. 
Rev.  27  (1913)  163  f. 
'et  ,consules'  exempta  n  littera  legimus'  faßt  Hardie  mit  Hecht, 
im    Sinne   von    „wir    finden   geschrieben";    die  Stelle  zeigt,    daß  n 


VIII.    Zu  den  einzelnen  Büchern  der  Institutio.  251 

ausgesprochen  wurde.    Butler  übersetzt  (1921)  noch  'we  also  find 
jColumna'  and  ,consul'  speit  without  an  n'. 
Zur  Grammatik  (I  c.  4  ff.)  vergleiche : 
Hermann  Di  eis,  Die  Anfänge  der  Philologie  bei  den  Griechen. 

Neue  Jahrb.  13,   1910,  I  S.  1—25;  und 
A.  Gudeman,  'Grammatik'  bei  Pauly-Wissowa  (s.  u.). 

Unzugänglich  war  auch  mir 
—  J.  Negro,  La  grammatica  in  M.  Fabio  Quintiliano. 
Citta  di  Castello,  1914. 
Zu  I  9  vgl.: 
A.    Brinkmann,    Aus    dem    antiken    Schulunterricht. 
Rhein.  Mus.  65  (1910)  S.  129—155. 
Über  Barbagallo,  Ziebarth,   Beudel  s.  u. 
Julius   Peundorf,    Progymnasmata.     Rhetorische    Anfangs- 
übungen   der    alten    Griechen    und    Römer.     Wissenschaftliche 
Beilage  des  Realgymnas.  Plauen,  Ostern  1911  (Progr.  N.  786). 
Plauen  i.  V.  1911.     27  S.  4. 
Verf.,  mit  der  rhetorischen  Literatur  wohlvertraut,  eröffnet  seine 
auf  die    Förderung    des    modernen    muttersprachlichen    Unterrichtes 
eingestellte  (S.  27),    aber    auch  für  die  Geschichte  der  Vorübungen 
nicht  belanglose    Abhandlung    mit    Quintilian;    S.  3 — 5    werden 
besprochen  die  Äsopische  Fabel  (auch  mit  Auflösung  von  Versen  in 
Prosa,    vgl.    C.    Zander     'Phaedrus    solutus',     Lund  1921),    Sinn- 
sprüche ,    charakteristische    Reden ,    die  Aufgabe,    Zweifelhaftes    ein- 
zureißen (destruere)  oder  mehr  zu  sichern  (confirmare),  Lob,  Tadel, 
Vergleich ,     Gemeinplatz ,    Beurteilung    von    Gesetzen ;     Q.uintilians 
verständige  Weisungen  für  den  praktischen  Unterricht  der  Anfänger. 
Dann  folgt  der  Reigen  der  16  Progymnasmata  nach  Aelius  Theo n, 
den   P.    in    das    1.    nachchristl.  Jahrhundert   (vor  Quintilian?)    ver- 
setzt, nämlich:  Chrie,  Fabel  usw.  bis  Widerrede.  Auf  Hermogenes  und 
Aphthonius  (richtiger  Apthonius)  S.  21 — 26  ist  hier  nicht  einzugehen. 
Aus  den  Worten  I  11,  17   'praecepta  de   liberorum  educatione 
composita'     entnimmt    A.  Sizoo     (S.     19 — 24)     den     Titel     üegt 
naidotQOCpiaq  des  Chrysippischen  Werkes,  nicht  den  umfassenderen 
neqi  Ttaiöcov  aywytjg-,  ansprechend.    S.  24  ff.  vergleicht  Sizoo  ein- 
gehend die  Stellen  der  beiden  Benutzer  über  Ammen  usw.  I  10,  32 
mitDyroff  für  adhibetur  infantibus  allactationi  statt  allectationi  (S.  25). 
Ich  finde  der  Unterschiede  mehr  als  Sizoo,  auch  erheblichere  (sapientes). 
Ob  beide ,    Quintilian    und  'Plutarch',    einen    Auszug    aus  Chrysipp 
(von  einem  Philosophen)  benützt  haben,    Quintilian  einen  besseren, 
Plutarch  einen  schlechteren,  bleibt  doch  recht  fraglich. 


252  Ammon:  Quintil.  inst,  or.  1910—21. 

II.    Buch. 
Zu  II  10.    Eine  eingehende  Studie  widmet  der  beratenden 
Beredsamkeit 

Josephus    Kleck.     Symbuleutici    qui    dicitur    sermonis 

historiam     criticam    per     quattuor     saecula    continuatam 

scripsit    Josephus    Kleck.      8.  Heft    der    rhetorischen    Studien 

Drerup.     Paderborn  1920,   Schöningh.     IV  169   S. 

Die  umfassende,  trefflich  ausgestattete  Arbeit  (auch  mit  Indices) 

zieht  in  ihren  Bereich  auch  die  Stellen  Quintilians,  die  die  suasoriae 

behandeln  (II  10,  1,  III  8,  4  usw.);  Kleck  polemisiert  auch  gegen 

Quintilian  (III  8,  15)  S.  81   oder  dessen  Erklärer  (ni  8,  47)  S.  107. 

Die  Literatur  wird  ausgiebig  lierangezogen : 

G.    Fraustadt,    Encomiorum    in    litteris  Graecis    usque    ad 

Romanam  aetatem  historia.     Diss.  Leipzig  1909; 
E.  Gossmann,     Quaestiones    ad    Graecoriim    orationum    fune- 
brium  formam  pertinentes.     Diss.  Jena  1908; 
und  viele  andere.    Besprochen  ist  Kleck  B.  ph.  W.  1920,  575 — 587 
von  Friedrich  Levy. 

m.    Buch. 
A.    Schulten,    'Martials    spanische    Gedichte'.     In    dem  Neuen 
Jahrb.  1913  I  S.  463:  über  den  verschiedenen  Geschmack  der 
Alten   und    der  Modernen    an   der  Natur  (Quintil.  III  7,  27). 

IV.  Buch. 

Über  declamare  =  xaT>;x*'^*'  inst.  IV  2,  29 
H.  Colson  in  The  Classic.  Rev.  XXXVI 314  (Phil.Woch.  1922, 1076). 

V.  Buch. 

W.    A.    Baehrens,     Vermischtes     über     lateinischen 
Sprachgebrauch.     Glotta  V  (1914)  S.   79—98 
bespricht  unter  XII  omnia  =  omnino  auch  Quintil.  inst.  or.  V  13,  24 
(p.  291,  6  R)    paria    sint  omnia,    wo  Radermacher  per  omnia  liest. 
Zu  V  11: 
Karl  Ale  well.    Über    das  rhetorische  naQä6Eiy(.i(x.     Diss.  Kiel, 
1913.     S.  u. 

VL   Buch. 
Zu  VI  3,  20: 
Charles  Knapp,  Molle  atque   facetum.    Auszug  aus  Amer. 
Jouru.  of  Phil.  38,  1917,  2.     p.  194—199. 
Alfred  Klotz    billigt   in    der   B,  ph.  W.  40,  1920,  589  f.    die 


VIII.   Zu  den  einzelnen  Büchern  der  Institutio.  253 

Beziehung    Knapps    von    Horazens  Worten    (sat.  I  10,   44)    auf  die 
Eklogen  Vergils,  während  Quintil.  VI  3,  20  an  die  Äneis  denke. 
Wilhelm  Süß,    Das    Problem    des   Komischeu    im  Alter- 
tum.    In  den  Neuen  Jahrbuch.  23  (1920)  I  S.  28—45. 

Ein  rhetorisches  wie  philosophisches  Problem  erörtert  Q uin- 
t  i  1  i  a  n  in  VI  3  de  r  i  s  u.  Süß ,  der  Verf.  des  Ethos,  der  ge- 
wiegte Kenner  des  Aristophanes,  wählt  den  Satz  Quintilians  VI  3,  6 
Varia  hominum  iudicia  .  .  .  iudicatur  zum  Motto  seines  Aufsatzes 
und  verfolgt  das  Lachen,  das  ysXolov,  den  Witz  von  Piaton  und 
Aristoteles  über  Cicero  bis  auf  Quintilian  (S.  40  f.) 

Die  Stelle  über  die  Phantasie  erläutert  durch  Goethesche 
Parallelen  Ernst  Maaß.  Neue  Jahrb.  1915.  IS.  20.  'Toten- 
opfer für  Jugurtha'. 

Quintilian  führt  VI  3,  37  für  den  Kunstgriff,  das  Lächerliche 
drastisch  vor  Augen  zu  stellen ,  den  gleichen  Fall  au  wie  Cicero 
De  or.  II  266,  wo  C.  Julius  Cäsar  Strabo,  dem  die  Darstellung  der 
Partie  über  das  yelolov  zugeteilt  ist,  erzählt,  wie  er  dem  drängenden 
Helvius  Mancia  auf  die  Frage:  'Nun,  wie  sehe  ich  denn  aus?'  sach- 
lich geantwortet  habe:  'demoustravi  digito  pictum  Gallum  in 
Mariano  scuto  Cimbrico  sub  Novis,  eiecta  lingua  buccis  fluen- 
tibus'.  Über  diesen  eigenartigen  Schildschmuck ,  von  dem  Quin- 
tilian wohl  nur  vom  Hörensagen  wußte,  und  Verwandtes  handelt 
eingehend 

Adolphe  Reinach,  Le  Klappersteiu,  le  Gorgoneion  et 
l'Anguipede,  im  Bulletin  du  Musee  Histor.  de  Mulhouse, 
XXXVII  1913,  S.  35—135; 
speziell  über  die  Quintilianstelle  S.  80  ff.  Auch  Plin.  nat.  bist. 
XXXV,  4  (8)  kenneu  diese  Schilddarstellung  nur  vom  Hörensagen. 
Die  Römer  mögen  in  dem  Bild  einen  Cimbernkopf  gesehen  haben, 
wie  denn  die  Schildbuckel  (des  Hasdrubal ,  des  M.  Aemilius)  nicht 
selten  das  Porträt  des  Trägers  darstellten. 

Inst.  or.  VI  3,  90  will  Eduard  Fraenkel  Glotta  VIII  1917 
S.  59  das  Geschlecht  von  dies  des  postera  die  ins  Maskulin  ver- 
wandeln wegen  des  sonstigen  Sprachgebrauches  wie  XI  2 ,  43. 
Warum  die  einhellige  Überlieferung  ändern?  Nach  Helm  Philol. 
Woch.  1920,  289  gebraucht  Paulinus  von  Nola  dies  bald  als  masc, 
bald  als  fem. ;  auch  sonst  schwankend. 

Vn.    Buch. 
Inst.  or.  vn  2,   16  will  Ludwig  Radermacher,  der  Heraus- 
geber des  Werkes,    unter  Anlehnung  an  die  Hss.  so  lesen  (Wiener 


254  Ammon:  Quintil.  inst.  or.  1910 — 21. 

Studien  32,  1910,  S.  206  f.):    sumendum    est  enim  ex  his  exemplis 
statt  utendum  est  enim  et  his  exemplis. 

VIII.   Buch. 
In  der  berechtigten  Annahme,    Quintilian   lehne    sich   auch  in 
technischen  Sprachwendungen  an  Cicero  an,  liest 

Johannes  Stroux,  Handschriftliche  Studien  zu  Cicero  De  oratore 
(Basel,   1921),  S.  166  f. 
bei  Quintilian  VIII  3,  17  quae  aut  maxime  explanant   statt  ex- 
clamant  im  Hinblick  auf  Cic.  or.  80 ;  treffend. 

Über    die    Auffassung    von    favor    und    urbanus    VIII    3,     34 
Th.  Stangl.     Ehein.  Mus.  65,  1910,  S.  117. 
Inst.  VIII  6,  44: 

Gegen  die  Deutung  von  Hör.  carm.  I  14  0  navis  referent 
durch  Quintilian  (VIII  6,  44)  als  eine  fortgesetzte  Metapher 
{dXXr]yoQia)  für  "^Staaf  wendet  sich  der  verdiente  Herausgeber  der 
Pliniusbriefe 

R.  C.  Kukula,  Quintilians  Interpretation  von  Horaz' 
Carm.  I  14.  Wiener  Studien  34  (1912),  S.  237—245. 
Das  Gedicht  sei  wie  I  3  ein  Propemptikon,  gerichtet  an  die 
kurz  vorher  bei  der  Rückfahrt  aus  der  Gegend  der  Cykladen  hart 
mitgenommenen  Galeere  Oktavians ,  der  nach  Asien  in  den  ersten, 
für  die  Seefahrt  gefahrlichen  Wochen  des  Jahres  30  segeln  wollte. 
Der  Rezensent  der  Abhandlung  Gustav  Friedrich  lehnt  (Woch. 
f.  klass.  Phil.  30  [1912],  574  f.)  den  Gedanken  rundweg  ab; 
Heinzes  Erklärung  bleibe  zu  recht  bestehen.  Für  seine  Propemptikon- 
deutung  bricht  Kukula  ebendort  Sp.  1021  f.  eine  Lanze;  Friedrich 
erwidert  Sp.  1022.  Wird  es  einen  großen  Unterschied  machen,  ob 
der  Dichter  die  navis,  die  den  Staat,  die  patria  oder  die,  welche 
den  pater  patriae,  den  Repräsentanten  trägt,  anredet?  Horaz 
schmeichelt  dem  Kaiser  oft  unauffällig  (vgl.  c.  I  2).  Wenn  beides 
sich  nicht  vereinigen  läßt,  scheint  mir  Quintilians  Auffassung  die 
natürlichere. 

Über  die  zitierbare  Sentenz  (inst.  VIII  5,  3)  bietet 
Eugen  Wolf,    Sentenz    und  Reflexion   bei  Sophokles.     Ein  Bei- 
trag zu  seiner  rhetorischen  Technik.     1.  Teil.    Diss.  Tübingen. 
Tübingen  1913 
wertvolles    Material    (s.    S.    3) ,     das    einmal    die    Wichtigkeit    des 
yvojf.ioloyelv,  wie  Aristoteles  in  der  Rhetorik  betont,  und  dann  für 
die  Kunst  die  Bewiißtheit  des  Schaffens,  freilich  sehr  im  Gegensatz 


VIII.   Zu  den  einzelnen  Büchern  der  lustitutio.  265 

zu    unserem    Zeitgeist ,    aber    im    Anschluß    an  Sophokles ,    der    au- 
geblich dem  Aischylos  vorrückte:    ort  eI  '/mI  tcc  dtovxa  Ttoiel  aX?^ 

OL'/.  Eidcog  ys. 

IX.    Buch. 

Pietro  Rasi,  Di  un  ctTxa^  elgr^juevor  logico  o  di  pen- 
siero  presso  Quintiliano  (Inst.  er.  IX  3,  8).  In  der 
Kiv.  di  filol.  45  (1917),  S.  160—196. 

Bei  Vergil  Ecl.  IV  62  stehe  richtig  cui  risere  parentes ;  anders 
Quint.  IX  3,  8.  Dieser  habe  statt  cui  in  seinem  Vergilexemplar 
quoi  oder  qui  gelesen  und  dies  als  Nominativ  gefaßt  für  die  zu 
belegende  Figur.  Die  Mutili  der  rhetorischen  Schriften  Ciceros 
bieten  öfters  qui  für  cui,  ebenso  quidam  für  cuidam  u.  ä. 

Eines  der  vom  bayerischen  Staatsministerium  für  Philologen  1914 
gestellten  Themen  lautet : 

Führt  Quintilian  seine  Autorenreihen  da,  wo  die  strengzeit- 
liche Ordnung  aus  sachlichen  Gründen  erwartet  wird,  regelmäßig 
oder  geradezu  ausnahmslos  in  chronologischer  Folge  vor?  Zur 
V^iederlegung  von  Kurt  Koehlers  Berliner  Dissertation  v.  J.  1909 : 
De  Rhetoricis  ad  C.  Herennium.  Vgl.  auch  Berl.  philol.  Wochen- 
schr.  30  (1910),  Sp.  399,  wo  Th.  St  an  gl  die  Arbeit  von  Köhler, 
die  Kornifizianer  und  Antikoruifiziauer  (inst.  IX  3 ,  69  flP.) ,  den 
chronologischen  Gesichtspunkt  und  Schlüsse  ex  silentio  eingehend 
bespricht.     Die  gewünschte  Untersuchung  steht  noch  aus. 

Rhjiihmus. 

Die  fast  unübersehbare  Literatur  zum  Prosarhythmus, 
die  auch  zur  Theorie  und  Praxis  Quintilians  heranzuziehen  ist, 
findet  sich  zum  größten  Teil  zusammengestellt  bei 

A.  W.  de  Groot,  A  Handbook  of  Antique  Pr  ose -Rhythm. 

I.  Teil.     Groningen  1918. 

S.  200 — 217   'Contributions  to  a  Bibliography  of  Antique  Prose- 

Rhythm'    in    alphabetischer    Ordnung    (Adams    bis    Zielinski)    über 

200    Verfasser.      Ergänzungen    und    ein    systematisches    Verzeichnis 

soll  der  in  Aussicht  stehende  II.  Teil  bringen. 

Vgl.  meinen  Bericht  über  Ciceros  rhetor.  Schrifen,  Bursian 
Bd.  179  (1919  n)  S.  114  f.  und  Berl.  philol.  Woch.  40  (1920), 
Nr.  10  u.  11,  über  die  Bibliographie  Sp.  244. 

Noch   weiter   herab  geht  das  ergänzte  Literaturverzeichnis  von 

Louis    Laurand,     Supplement    ;i   la    Bibliographie    du 

Cursus   latin.     Le  Mus6e  Beige  IV  (1920).      S.    188—198 

von  Ales  bis  Zillinger.     Wie  ich  schon  öfter,   betont  auch  Laurand 


256  Ammon:  Quintil.  inst.  or.  1910 — 21. 

die  Zweckmäßigkeit  zu  diesen  Fragen ,  die  Arbeiten  über  Sprach- 
rliythmus  überliaupt  und  über  die  einzelnen  Sprachen  im  besonderen 
Leranzuzielien,  und  verweist  auf  Marbe ,  Belin ,  Clark,  Lipsky, 
Saiutsbury,  Platt,  Landry,  Roustan,  Faguet,  Lanson,  Bremond. 

Bei  der  häufigen  Parallelisierung  von  redender  und  bildender 
Kunst,   auch  bei  Quintilian,  gehört  hierher 

Eugen    Petersen,  'Rhythmus'.     In   den    Abhandl.  der  Gott. 
Ges.  d.  Wiss.    Bd.  16  Nr.  5.    Berlin  1917.    4.    S.  1—104. 

Den  Gegensatz  zwischen  Qvd-[.if/.ol  und  ^etqi'AoI,  den  Quin- 
tilian (IX  4,  48)  wie  Dionys  von  Halik.  kennt,  beleuchten  be- 
sonders S.  21  und  97.  S.  21 :  „Das  Metrum,  vorgestellt  in  Zeichen  . . . 
ist  ein  abstraktes  Schema,  ein  räumliches  mehr  als  zeitliches,  ohne 
Bewegung,  diese  nur  latent  enthaltend;  Rhythmus  dagegen  ist 
das  lebendige  Bewegung  gewordene  Gesetz,  das  in  dem  Leben  eben 
die  Kraft  mit  sich  führt,  die  es  bändigt."  Etymologisch  führt  Petersen 
Qvd'fAog  auf  egv  und  J-qv  zurück,  also  wie  unser  'Zug'  (Energie- 
begriff), nicht  wie  üblich  aiif  Qtco,  Fluß  (gleichmäßig).  Auch  der 
Gebrauch  des  deutschen  Wortes  und  seiner  Synonyma  erfahren  durch 
den  großen  Archäologen  Petersen  (f  1919)  willkommene  Aufklärung. 
Auch  an  die  Neuauflage   von  K.  Bücher  'Rhythmus'  sei    erinnert. 

Akzent. 

H.  B  e  r  g  f  e  1  d  (f ),  DasWesen  der  lateinischenBetonung. 
In  Glotta  VII  (1916)  S.  1—20. 
War,  wie  Skutsch  u.  a.  wollen,  die  Betonung  von  Anfang  bis 
zu  Ende  expiratorisch?  Oder  hat  nebeneinander  eine  musikalische 
und  expiratorische  Betonung  bestanden ,  wie  namentlich  Franzosen 
annehmen?  War  der  lateinische  Akzent  der  klassischen  Zeit  über- 
wiegend expiratorisch  oder  musikalisch?  Für  dieses  entscheidet 
sich  Bergfeld ;  in  Poesie  wie  Prosa  einschließlich  der  Klauseln  der 
klassischen  Zeit  (im  weiteren  Sinn)  war  der  Akzent  quantitierend 
(musikalisch),  vorwiegend  musikalisch ;  auch  der  saturnische  Vers 
Avar  (nach  Zander,  Leo,  Bergfeld)  quantitierend.  Daß  die 
Prosa  hinsichtlich  des  Akzentes  (der  numeri)  nicht  wesentlich 
von  der  Poesie  abweicht,  wird  unter  gebührender  Hervorhebung 
von  Cicero  or.  190  und  Quintil.  inst.  or.  IX  4,  61  S.  5  f. 
neuerdings  eingeschärft.  Von  einer  gedankenlosen  Herübernahme 
der  griechischen  Betonungsweise  durch  lateinische  Gelehrte  wie 
Quintilian,  könne  nicht  die  Rede  sein.  Stimmt!  Daß  aber  auch 
die  Mode  sich  breit  machte,  beklagt  Quintilian  selbst.  Und  wenn 
Deutsche    von    deutschredenden    Franzosen    lange  'Reformator'  statt 


VIII.   Zu  den  einzelnen  Büchern  der  Institutio.  257 

^Reformator'  höreu ,  finden  sich  unter  ihnen  vielleicht  auch  Nach- 
ahmer. Kom  hat  nach  B.  im  4.  vorchristlichen  Jahrhundert  seinen 
alten  (etruskischen  ?)  expiratorischen  Akzent  mit  dem  quantitierenden 
Drei- (Vier-)  Silben- Akzent  vertauscht,  im  4.  nachchristlichen  Jahr- 
hundert setzte  sich  unter  dem  Einfluß  der  'Barbaren'  (Afrika?)  der 
entgegengesetzte  Wandel  durch. 

F.  W.  Shipley,  The  heroic  clausula  in  Cicero  and 
Quintilian.  Class.  Philology  6  (1911)  S.  410—418. 
Cicero  billigt  or.  217  den  Schluß  -  ww  -  w ,  Quintilian  ver- 
wirft ihn  inst.  IX  4,  102.  In  der  Praxis  hat  Cicero  nur  0,6  % 
clausulae  heroicae ,  Quintilian  1,9 ''/o;  beide  also  wenige.  Aber 
-  V./W  -  C7  ist  anders  in  der  Form  moeuia  Romae  oder  adire  labores 
(Vergil),  anders  in  der  Form  quid  faceres  cum  (Horaz),  anders 
commemorare  oder  non  videatur  (Cicero,  Quintilian).  Eine  über- 
sichtliehe Tabelle  S.  412  ergibt:  '■'Die  forms  tvhich  occur  most  fre- 
quently  in  prose  are  rarest  in  poetry,  and  the  forms  which  are  most 
frequent  in  poetry  are  relatively  rare  in  prose.'  Die  Formen  velle 
videbam  oder  foedere  cautumst,  in  der  Poesie  zwischen  62  und  38  *^/o, 
sinken  in  der  Prosa  auf  4,6  bei  Cicero,  auf  3,6  ^lo  bei  Quintilian 
herab.  Ein  sachlicher  Widerspruch  ist  bei  beiden  Technographen 
nicht  vorhanden :  Cicero  hat  Akzent  und  Rhythmus  von  Formen  itn 
Sinn  wie  composuisses  oder  non  videatur,  Quintilian  die  poetischen 
Formen.  Vgl.  F.  di  Capua,  der  Boficl  19  (1912)  S.  207  die 
Worte  Cic.  or,  217  quomodo  .  .  .  dichoreus  als  Glosse  streichen  will. 
Es  sei  auch  hingewiesen  auf  Fr.  Novo  tny,  Die  neue  Klausel- 
methode und  die  zweifelhaften  Sallustiana.  Zeitschr.  für  österr. 
Gymn.  68,  1918,  S.  25—64.  Ebendort  S.  328—332  äußert  sich 
Novotny  über  Qvd-uog  gegen  0.  Schröders  Deutung  =  'Welle',  es 
sei  vielmehr  'Wasserweg',  'Bahn',  'Ordnung'.  Vgl.  oben  Eug. 
Petersen:  'Zug'. 

Über  den  ursprünglichen,  später  geänderten  Anfang  des  Livia- 
nischen  Geschichtswerkes  (inst.  IX  4,  74) :  facturusne  operae  pretium 
sim  spricht  A.  W.  de  Groot,  Der  antike  Prosarhythmus.  Gro- 
ningen (1921)  S.  26.  Auf  dieses  neue  Werk  von  A.  W.  de  Groot 
(Teil  I),  das  die  Rhythmisierung,  namentlich  die  Prosametrik,  groß- 
zügig von  der  vorattisclien  Periode  bis  auf  Cicero  verfolgt,  soll  hier 
nicht  näher  eingegangen  werden.  Vgl.  meine  Besprechung  Philol. 
Woch.  42  (1922)  S.  1069  ff.  Auch  wird  man  den  IL  Teil  (Cicero 
und  die  spätere  Zeit)  abzuwarten  haben. 

Unter  Berufung  auf  Quintilian  (IX  4)  führt  F.  di  Capua 
in  seiner  Besprechung  (Boficl  XX,  1913/14,  S.  202  ff.)  von  L.  Lau- 

Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft  Bd.  192  (1922.  11).  17 


258  Ammon:  Quintil.  inst.  or.  1910 — 21. 

rands  Schrift  'Ce  qu'on  sait  et  ce  qu'on  ignore  dn  ciirsus^  (Mus6e 
beige  1913)  eine  Briefstelle  (85)  des  hl.  Augustin  an  „unde  accidit 
ut  onmissa  compositione  verborum  et  scribentium  sollicitudine  dictem 
quidquid  in  buccam  venerit",  die  uns  zeigt,  daß  ein  und  derselbe 
Schriftsteller  bald  l'^Qv^/na,  bald  aQQvd^/iia  schreiben  konnte  und 
wollte,  wie  wir  dies  auch  aus  Cicero  und  Dionys  von  Halik.  ent- 
nehmen können.  Bei  der  Besprechung  von  Susan  Helen  Ballou, 
De  clausulis  a  Flavio  Vopisco  .  .  .  adhibitis  (Weimar  1912)  hebt  di 
Capua  (Boficl  XX  S.  130  f.)  die  Zwischenräume  in  der  Schrift 
im  Cod.  Palat.  hervor,  welche  die  rhetorischen  incisa,  membra 
und  ambitus  andeuten. 

E.  H.  Sturtevant,  Elision  and  Hiatus  in   Latin   Prose 

and  verse.  In  The  Classical  Journal  XH  1916,  S.  34—43. 
St.  betont  mit  Recht,  daß  Quintilian  für  die  Prosa  Hiaten  wie 
pulchrä  oratione  acta  anerkennt  und  zum  Zweck  der  Emphase  die 
Unterlassung  der  Synalöphe  billigt.  Ähnlich  die  Behandlung  von 
Schluß-m  wie  in  multum  ille  (IX  4,  46).  Vgl.  oben  Heuer  über 
Euphonie. 

P.  Baumert,    De    -m    final i    (De    pronuntiatione   litterae    -m 
finalis    quam    subsequitur    vocabulum    a  vocali  incipiens,    quid 
efficiatur  ex  clausulis  S  uetonianis  et  Apuleianis).    Im  Aus- 
zug   mitgeteilt  in  dem  Jahrbuch  der  philosophischen  Fakultät 
der  Georg-August- Universität   zu  Göttingen   1921.      1.  Hälfte: 
Januar— Juni.       I.     Historisch -philologische    Abteilung    VIII, 
116  S.     Hier  Nr.  13. 
„Da  ergaben  sich  für  Sueton  —  geprüft  sind  nur  die  Klauseln 
des    Div.    Jul.    —    bei    Nie htver Schleifung    des    -m    etwas 
bessere  Klauseln.    Nach  dem,  was  der  Auszug  mitteilt,  scheint 
Sueton  beide  Möglichkeiten  zugelassen  zu  haben."    So  Alfred  Klotz 
in    der   Woch.  f.  Ph.  1922,   444  f.     Auch   was    Klotz    gegen    Blass' 
ßesponsion,    gegen    Zielinskis    Diärese,    für   die    Geltung    der    xwAa 
und  yLOfXfxata  sagt,  verdient  Beachtung. 

F.  di  Capua,  Una  glossa  in  Quintiliano,    Inst.  Or.  IX 

4,  105  im  ßoll.  di  filol.  class.  19  (1912/13)  S.  207 
will  die  Worte  "quo  modo  claudet  qui  placet  plerisque  dichoreus?" 
als  den  Eandbeisatz  eines  Lesers,  der  den  Sprachgebrauch  trochaeus 
=  tribrachys    nicht   verstanden    habe,    streichen.     Was  ist  mit  dem 
vorhergehenden  alioqui?     Vgl.  oben  Shipley. 


VIII.    Zu  den  einzelnen  Büchern  der  lustitutio.  259 

Zum  Yerstäiidnis  der  Wortfügung  (IX  4). 

K.  Brugmanu,  Verschiedenheiten  derSatzgestaltung 
nach  Maßgabe  der  seelischen  Grundfunktionen  in 
den  indogermanischen  Sprachen.     Ber.  üb.  d.  Verb, 
d.    Sachs.    Ges.    d.  Wiss.   zu  Leipzig.      Philo!. -bist.  Kl.   70,  6. 
Leipzig  1919,  Teubner. 
Unmittelbar  zur  Quintiliansliteratur  gehört : 
J.  Marouzeau,    Pour    mieux    comprendre    les    textes 
1  a  t  i  n  s  (essai    sur  la  distinction  des  styles).     Rev.  de  Philol. 
55,  1921,  S.  149—193. 
Er  bringt  viel  aus  Quintilian  und  arbeitet  mit  Quintilian :   inst.  I 
6,  1.   IV  1,  68.   Vni  3,  11  fP.   X  1,  9.    1,  28.    1,  31.    1,  41.    X  2,  21 
und  22.    XII  10,  10.    10,   58.     Vergl.    zu    der  tiefgreifenden  Frage 
Klemens    Blener,     Zur    Methode    der    Untersuchungen    über 
deutsche  Wortstellung.   Zeitscbr.  f.  deutsches  Altertum  usw.   LIX.  Bd., 
1922  S.  127 — 144:    „Es    gibt  kein  einheitliches  Prinzip,    das  auch 
nur    in    einer    bestimmten  Periode    für  eine  bestimmte  Sprache  alle 
Wortstellungserscheiuungen  erklären  würde''   (S.  144). 
Inst.  IX  4,  4 5  ff. 
*Poesieund  Prosa'  überschreibt  Ulrich  von  Wilamowitz- 
Mo  eil  endorff  das  zweite  Kapitel  seiner   'Griechischen 
Verslehre'.     (Berlin  1921,  Weidmann),   S.  25—57. 
In  großen  Zügen  mit  charakteristischen  Einzelheiten  (auch  aus 
den  Lateinern)  gibt  Verf.    ein  Bild   der  Entwicklung   von  der  Zeit, 
wo  die  Kunstprosa  sich  an  die  Stelle  der  Poesie  drängt,    von  Gor- 
gias,  Isokrates,  Piaton,  Demosthenes  bis  herab  auf  die  Zeit,  wo  der 
expiratorische    Akzent    das    Gefühl  für  Quantität    ertötet  und  Prosa 
wie    Poesie    auf  neue    Bahnen    weist.     Auch    sonst   bietet    das    um- 
fassende (630  S.),    gehaltvolle   Werk    für    das  Verständnis    der    In- 
stitutio    vieles,    z.  B.  S.  67    über  Aristoxenos,    S.  69    über  Dionys. 
de  comp.   17  (Inst.  I  10,    22.    IX  4,    88).     Vgl.  A.  Körte,    Neue 
Jahrb.  1922.    I  313  ff. 

X.  Buch. 
Daß  die  in  der  Einsamkeit  Erzogenen  der  Sprach fähig- 
keit  entbehren  (inst.  X,  1,  10),  führt  Weyman  wegen  der 
Ähnlichkeit  der  Erzählung  mit  Arnobius  (c.  21  p.  65 ,  7  ff.  K.) 
nicht  mit  Peterson  auf  Herodot  II  2  zurück,  sondern  auf  'eine  Ver- 
sion der  Erzählung,  in  der  Züge  des  Herodotischen  Berichtes  und 
der  von  Arnobius  für  seine  Schilderung  des  Erziehuugsexprimentes 
benutzten  Vorlage  vereinigt  waren'.  (In  den  'Beiträgen  zur  Ge- 
schichte des  christlichen  Altertums  und  der  byzantinischen  Literatur' 

17  * 


260  Ammon:  Quintil.  inst  or.  1910—21. 

Festgabe  für  Albert  Ehrbard,    berausg.   von  A.  M,  Koeniger,    Bonn 
1922.     S.  481  f.) 

Über  Timagenes,  den  Quintilian  X  1,  75  als  Erneuerer 
ernster  Gescbicbtscbreibung  liocb  einscbätzt,  bandelt  eingebend  Eduard 
Norden  in  seiner  Germaniseben  Urgescbicbte  (^  1922)  S.  149, 
153  usw.  Beacbte  die  Einreibung  des  Timagenes  im  Stemma 
S.  170.  Aucb  an  A.  Klotz,  Cäsarstudien,  1910,  ist  bierbei  zu 
erinnern. 

W.  ßennie,    'satura    tota   nostra    est'.      In  Tbe  Classical 
Review  XXXVI  1/2,  1922,  S.  21. 

Quintilian  (X  1,  93  £F.)  meint  nicbt  "römiscben  Ursprungs", 
sondern  "römiscben  Cbarakters"  und  "von  den  Römern  vervoll- 
kommnet" ;  'final  acbievement'. 

Mit  dem   Satz  Quintilians  X,   1,   93   'satura  quidem  tota  nostra 

est'  sowie  mit  dem  anscbeinenden  Widerspruch  X  1,  95  illud  prius 

satirae    genus    befaßt    sich  eine  Dissertation,    die  überhaupt  für  die 

griechischen  Studien  höher  stehender  Römer  beachtenswert  ist : 

Emil  Englmaier,    Was  ist  in  des  Horaz  Satiren  und  Episteln 

auf    griechischen    Einfluß    zurückzuführen?     Diss.     Erlangen. 

Nürnberg  1913,  Benedikt  Hilz.     128  S.     Gr.  8. 

Englmaier  meint,  Quintilian  habe  die  Worte  des  Horaz  sat. 
I  10,  66  rudis  et  Graecis  intacti  carminis  auctor  [sc.  Ennius]  nicht 
richtig  gefaßt  oder  noch  wahrscheinlicher ,  er  wolle  nur  sagen : 
'Eine  Satire,  die  genau  der  des  Lucil  entsprochen  hätte,  hat  es 
bei  den  Griechen  nicht  gegeben'  (S.  8).  Für  die  ars  poetica 
(Q,uint.  VIII  6,  30)  hätten  dem  Horaz  außer  Neoptolemos  von 
Parion  noch  Schriften  alexandrinischer  Grammatiker  vorgelegen 
(S.  21);  vgl.  darüber  jetzt  K.  Barwick,  Hermes  LVII  1 
(1922).  Aucb  bei  Horaz  ist  das  reiche  Überlieferuugsgut  der 
grammatischen  und  rhetorischen  Schulen,  der  Lektüre  und  Exempla, 
der  Gnomologien,  nicht  zu  vergessen.  Wenn  Englm.  bei  dem 
Hinweis  auf  die  Lektüre  des  Horaz  stipare  Piaton a  Menandro 
(sat.  II  3,  11)  an  den  Philosophen  nach  älterer  Auffassung  denkt 
(S.  34),  so  wird  man  dies  kaum  gutheißen. 

Giacomo    Giri,     II    giudizio    di    Q, uintiliano    intorno    a 
Lucrezio.    In  den  Classici  e  Neolatini  VII  (1911)  S.  2 — 8. 

'Macer  et  Lucretius  legendi  quidem,  sed  non  ut  phrasin  id  est 
corpus  eloquentiae  faciant;  elegantes  in  sua  quisque  materia,  sed 
alter  humilis  alter  diflficilis',  urteilt  Quintilian  X  1,  87.  Wie  be- 
rechtigt vom  Standpunkt  der  Inst.  or.  aus  das  Urteil  und  die  Zu- 
sammenstellung ist,    und  wie  man  das  anscheinend  magere  Lob  für 


VIII.    Zu  den  einzelnen  Büchern  der  Institutio.  261 

Lukrez    voll    auszudeuten  hat,    zeigt  kenntnisreich  und  scharfsichtig 
Giri. 

Karl  Altkamp,  Examinatur  Q, uintiliani  de  Lucilio 
iudicium.  Wiss.  Beil.  des  Gymnasiums  zu  Warendorf,  1913. 
28  S.  4. 
Der  auch  nach  Altkamp  mit  den  beiden  Literaturen  wohl- 
vertraute, umsichtig  und  selbständig  urteilende  Kalagurritaner  be- 
handelt X  1,  94  den  Erfinder  der  Satire  C.  Lucilius:  'eruditio 
in  eo  mira  et  libertas  atque  inde  acerbitas  et  abunde  salis.'  An 
diesem  mit  Varro  und  Cicero  zusammentreffenden  Urteil  weist  Alt- 
kamp im  Hauptteil  seiner  Arbeit  (bis  S.  21)  das  Lob  der  mira 
eruditio  —  ein  Schlagwort,  lebenskräftig  auch  noch  in  der  mo- 
dernen literarischen  Kritik  —  als  wohlberechtigt  nach,  und  zwar 
gründlich  und  umsichtig.  'Fragraentis  Lucilii  c[Uod  ad  eruditionem 
attinet  perlustratis  neminem ,  qui  carmina  Lucilii  perlegerit  attente 
eorumque  sententias  clare  perceperit ,  fugiet  poetam  quascunque 
tractat  materias  virum  se  praestare  magnae  scientiae.  Graecorum 
philosophis  [Piaton  -  Sokrates,  die  Vorsokratiker  und  die  nachsokra- 
tischen  Schulen]  poetis  [von  Homer,  besonders  der  Odyssee,  herab 
bis  auf  Menander]  rhetoribus  [von  Isokrates  bis  auf  die  zeitgenössi- 
schen Redner  und  Grammatiker]  bene  est  eruditus  neque  tamen 
omisit  Romanorum  veterum  comoediam  tragoediamque  cognoscere. 
Etiam  Ennii  scriptorum,  quem  primixm  apud  Romanos  saturas  scrip- 
sisse  constat,  peritum  se  praebet  Lucilius.  Neque  minus  in  dicendi 
ratione  amplitudinem  quandam  assecutus  est.  Numeros  concitatiores 
et  ad  varios  affectus  depingendos  saepenumero  optimc  adhibuit' 
(S.  20).  Ob  das  freilich  alles  von  dem  vornehmen  Dichter  durch 
eigene  Lektüre  gewonnen  ist?  In  den  neu  eröffneten  Rhetoren- 
schulen  wird  viel  Gemeingut  überliefert  worden  sein ,  z.  B.  über 
Antiopa,  Zethus  und  Amphion  (Cic.)  ;  vgl.  die  Arbeiten  von  Kohl, 
M.  Schamberger,  besonders  Karl  Ale  well,  Über  das  rhetorische 
7taQdÖ£iyi.ta,   Diss.    Kiel  1913. 

Das  zweite  Charakteristikum  im  Urteile  Quintilians  über  Lucil, 
die  libertas,  wird  kurz  abgeraaiJht ;  auch  seinem  Gönner  Scipio  hält 
er  das  —  von  Quintilian  —  berührte  pertaesum  vor:  'Pertisum 
hominem,  non  pertaesum,  dicere  humaniam  genus.'  Die  acerbitas  und 
die  abundantia,  auch  die  Sprachmengerei  des  alumnus  Campanus 
werden  beleuchtet  (S.  22 — 27)  und  teilweise  gegen  Horaz  in  Schutz 
genommen.  Die  in  gefälligem  Latein  geschriebene  Programmabhand- 
lung begründet  nicht  nur  das  Urteil  Quintilians  gut,  sondern  fördert 
durch  den  weiten  Überblick  über  das  Geistesleben  der  Szipionenzeit 


262  Ammon:  Quintil.  inst.  or.  1910—21. 

auch  die  Horazerklärung,  besonders  sat.  I  4,  I  10,  II  1  und  ars  poetica 
(vgl.  0.  die  Abhandlung  von  Barwick). 

Das  Urteil  Quintilians  (X  1,  72),  daß  Menander  den  Kuhm 
aller  anderen  Komiker  verdunkelt  und  auch  Philemon  als  Zweiten 
weit  hinter  sich  gelassen  habe,  vergleicht  H.  v.  Arnim  „Kunst 
und  Weisheit  in  den  Komödien  Menanders"  mit  Plut.  Compar. 
Aristoph.  et  Men.  3  S.  854  A  in  den  Neuen  Jahrb.  13  (1913)  I 
S.  243.  Auch  die  folgenden  Ausführungen  über  Quintilian,  der 
(XI,  69  ff.)  Menander  für  die  Jugendlektüre,  besonders  in  Ehetoreu- 
schuleu   empfiehlt,   sind  belangreich. 

Über  Menander,    den  wie  Quintilian    auch  Dion    von  Prusa 
or.    18,    6    als    Hilfsmittel    tür    den    künftigen    Redner    bezeichnet, 
bieten  Beachtenswertes 
E.  Legrand,  Daos  •, 
J.  W.   Cohoon,    Ehetorical    studies    in    the    arbitration   scene  of 

Menander's  Epitrepontes,   1914; 
Berend  Keulen,   Studia  ad  arbitrium  in  Meuandri  Epitrepontibus 
exhibitum.     Diss.    Leiden  1916. 

Darüber  Th.  Thalheim  B.  ph.  W.  37,  1917,  451  f.  und  meine 
Besprechung  von  Cohoon  B.  ph.  W.  36,  1916,  1129  ff. 

Über  die  Literatur  zu  Menander  und  zur  Komödie  über- 
haupt siehe  den  eingehenden  Bericht  von  Ernst  Wüst,  Burs. 
174.  Bd.  (1916/18  I  105—254). 

Aus  Inst.  or.  X  1,  128  inquirenda  quaedam  mandabat  schließt 
Ed.  Norden,  Die  Germanische  Urgeschichte  .  .  .  (1920)  S.  444 
auf  Aufträge,  die  Neros  Minister  Seneca  der  Nilquellenexpedition 
könne  mitgegeben  haben.     (Im  Index  bei  Norden  nicht.) 

Für  das  Urteil  Quintilians  (XI,  114)  über  Cäsar  als  Redner 
(vis  und  elegantia)   ist  belangreich 

Leo  Holtz,   C.  Julius  Caesar  quo  usus  sit  in  orationibus 
dicendi  gener e.    Dissert.  Jena.     'Ludovicopoli  MCMXIIL' 

Holtz  stellt  S.  42  Quintilians  Urteil  mit  dem  des  sonstigen 
Altertums  zusammen  und  kommt  (S.  59  ff.)  zu  dem  Ergebnis,  daß 
Cäsar  in  der  Hauptsache  sich  der  rhodischen  Stilart,  durch  Molen 
gewonnen,  angeschlossen  habe ,  zeitweilig  auch  dem  genus  dicendi 
Atticum  nicht  ferngestanden  sei.  Wenn  A.  W.  de  Groot  recht 
hat  (Der  antike  Prosarhythmus  I  1921  S.  104),  daß  das  ganze 
genus  Rhodium  nur  ein  Schlagwort  Ciceros  ist,  bedarf  aber  das  an- 
sprechende Ergebnis  von  Holtz  einer  gründlichen  Revision. 

In  dem  vielbehandelten  Urteil  über  Seneca  Inst.  X  1,  131 
möchte  S.  Eitrem,  Varia,  Nordisk  Tidskrift  f.  Eilologi  6  (1917) 


VIII.    Zu  den  einzelnen  Büchern  der  Institutio.  263 

S,  161  so  lesen:  ':  /implicia  non  contempsisset,  si  parum  (trita) 
non  concupisset'.  Kaum.  Wenn  wir,  meine  ich,  an  der  Überlieferung 
partum  (Geborenwerden)  non  concupisset  festhalten,  so  würde  das 
sonst  übliche  Bild  vom  Entstehen  von  Gedanken  (Einfällen ,  Re- 
gungen) naheliegen,  etwa :  si  aliqua  in  sinu  contempsisset  si  partum 
non  concupisset;   'ihr  Zurweltkommen  nicht  gewünscht  hätte'. 

Zu  der  Bekämpfung  des  übertriebenen  Gebrauches  von  Sen- 
tenzen (sententiae,  sententiolae,  sensus,  sensiculi ;  yvioi-tai,  yvcofiiöia) 
vgl.  Friedrich  Seiler,  Deutsche  Sprichwörterkunde,  München  1922 
Beck.  Z.  B.  S.  23  S.  Aurora  musis  amica.  Zahlreiche  'geflügelte' 
Worte  —  der  Begriff  ist  1864  durch  Georg  Büchmaun  geprägt 
worden  —  sind  uns  durch  die  Institutio  Quintilians  und  seiner 
Nachahmer  vermittelt  worden ;  in  den  Ehetorenschulea  wurden  die 
alten  Gorgianischen  Figuren  (mit  Reim,  Assonanz,  avxid^exa  im  wei- 
testen Sinn)  Jahrtausende  fortgepflegt.  Diese  Fortpflanzung  von 
geflügelten  Worten  durch  Quintilian  wäre  der  Unter- 
suchung wert. 

Oskar  Tillmann,  Zur  Dichte rlektüre  in  den  ersten  Jahr- 
hunderten der  Kaiserzeit.  Programm.  Zweibrücken  1912. 
34  S.  8°. 

Bei  dem  ersten  Abschnitt  der  kenntnisreichen  Arbeit  „Die 
Dichterlektüre  unter  rhetorischen  Gesichtspunkten"  S.  6 — 21  wird 
Quintilians  Theorie  der  Nachahmung,  die  auf  selbsttätige  Ver- 
wertung des  Gewonnenen  hinweist  (X  2,  12),  gut  gewürdigt.  „Eins 
freilig  darf  bei  aller  Anerkennung  seiner  Vorzüge  nicht  übersehen 
werden:  über  den  Gesichtspunkt  der  Nachahmung  hinaus  zu  freier 
unbefangener  Würdigung  der  Poesie  hat  auch  Quin- 
tilian sich  nicht  erhoben"  (s.  u.).  Durch  die  Vergleichung 
mit  Plutarch ,  Lukian ,  Dio  von  Prusa  (nach  H.  von  Arnim)  und 
unter  Berücksichtigung  des  philosophischen  Gesichtspunktes  (S.  21  ff.) 
wird  diese  Seite  der  inst.  or.  gut  beleuchtet. 

Tieferes  über  Imitationstheorie  bietet 
Paul    Wendland,    Quaestiones    rhetoricae.     Schrift   an- 
läßlich   der    Preisverteilung    der    Universität    Göttiugen  1914. 

Für  die  Verwendung  der  Musterbeispiele  und  für  die  Geschichte 
der  imitatio  werden  hier  tiefgehende  Ausblicke  gegeben. 

Zu  den  von  Quintilian  (X  5)  empfohlenen  Übersetzungen 
und  Variationen  bringt  wertvolles  Material 

Walter  Franz el,  Geschichte  des  Übersetzens  im  18.  Jahrh. 
Diss.  Leipzig  1913,  155  S. 


264  Ammon:  Quintil.  inst.  or.  1910 — 21. 

Wie  K.  Fr.  Bahr  dt  seinen  Tacitus  verdeutsclien  will,  habe 
ich  bei  der  Besprechung  des  Neudruckes  (B.  ph.  W.  40,  1920, 
Sp.  636  ff.)  hervorgehoben.  Für  Quintilians  Instit.  wäre  die  Über- 
tragung von  Schi  räch  eingehender  zu  würdigen  (1,  Teil  Helm- 
städt  1775),  der  sich  auf  seine  Gewissenhaftigkeit  etwas  zugute  tut. 
Zu  dem  pädagogischen  18.  Jahrhundert  würde  mau  mit  Gewinn  die 
Theorie  und  Praxis  der  Alten,  vornehmlich  Quintilians,  halten;  selbst 
hinsichtlich  der  Fachausdrücke,   wie  xar    uvTihjipiv  inst.  VII  4,  4. 

Zum  X.  Buch  noch  einige  Textverbesserungen: 
H.  Eöhl,  Zu  Quintilian.     Woch.  f.  klass.  Philol.  28,    1911, 
Nr.  41  und  Nr.  46. 

Der  neue  Bearbeiter  des  zehnten  Buches,  der  verdiente  Horaz- 
forscher,  behandelt:  XI,  70  statt  illa  mala  zu  lesen  illa  moralia  || 
X  1,  99  wird  erklärt  mit  der  reichen  Literaturangabe  ||  X  3,  22 
vorgeschlagen  mihi  certe  Evdaif.wvr/.üg  magis  ||  X  7,  1  imitari  (für 
intrare)  portum  ||  X  1,  130  erklärt  das  Urteil  über  Seneca,  das  in 
heilem  Text  überliefert  sei  ||  X  3,  21  materias  dividere  im  Sinne 
individueller  Behandlung  ||  X  7,  3  patitur  hoc  actio  (statt  ratio). 

XI.    Buch. 

John  W.    Basore,    On    the    Status    of  the    Later  Comic 
Stage. 

Trans,  and  Proceed.  of  Am.  Phil.  Ass.  Dez.   1909,    Vol.  XL, 
p.  XXI  sq. 
Quintilian  gibt  XI  3,    58    einen  Überblick    über   die  komische 
über   palliata   —   comoedia  —    comici  —  comoedi    actores    comici, 
scenici    aetores,    histriones)    und    die    tragische   Bühne.     Die  fabiila 
palliata  hat  sich    erhalten  bis    zum  Anfang  des  2.  Jahrh.  mit  guter 
actio,   als  Muster  für  rhetorischen  Vortrag. 
Über  Armin  Krumbacher,  Stimmbildung,  s.  u. 
Über  XI,  3  handelt  u.   a. 
Boris    Warnecke,     Gebärdenspiel    und    Mimik    der    rö- 
mischen Schauspieler.     Neue  Jahrb.  1910  XIII,  S.  580— 594. 
Auf  K.  Sittl,  Gebärden  der  Griechen  und  Römer,  auf  K.  Scraup, 
Katechismus  der  Mimik,  und  auf  andere  Hilfsmittel  wird  verwiesen. 
Eine    verständnisvolle    Darlegung   der   Lehren    Quintilians,    der 
ausführlichsten    über    diesen  Gegenstand ,    wird  besonders  S.  588  fiF. 
gegeben   mit   sachkundigen  Ausblicken    auf  den    auct.    ad  Herenn., 
Cicero,    Dionys  von  Halikarnaß  u.  a. 


VIII.    Zu  den  einzelnen  Büchern  der  Institutio.  265 

XU.    Buch. 

Achille    Beltrami,    La    composizione    del    libro    duo- 
decimo    di    Quintiliano.     Studi    italiani    di    filol.    cl.    19 
(1912),  S.  63—72. 
Der   verdiente   Herausgeber    des    12.  Buches    sucht,    einen  Ge- 
danken von  R.  Sabbadini  weiter  verfolgend,  nachzuweisen,  daß  sich 
Spuren    von  späteren  Zusätzen  finden ,    die  nicht  im  ursprünglichen 
Plane  lagen  und  von   Quintiliankennern,    wie  Bonnet,    schon  früher 
störend  empfunden  Avurden.     Vgl.  oben  über  Disposition  (Börner, 
Tolkiehn). 

Zu  XII  10  :  Über  Antiphilos,  den  Zeitgenossen  und  Neben- 
buhler des  Apelles,  außer  P.-W.  (unter  Apelles  und  Antiphilos)  auch 
E.  Pagenstecher,  Alexandrinische  Studien.    Sitzungs- 
bericht   der    Heidelberger    Akad.    d.  ,Wiss.     phil.-hist.    Klasse 
1917. 

Aufsatz  I:  „Die  Raumdarstellung  in  der  alexandrinischen 
Malerei  zur  Zeit  des  Antiphilos." 

Zu  den  übrigen  bei  Quintilian  genannten  Malern  und  Bild- 
hauern, zu  Polygnot,  Aglaophon,  Zeuxis,  Parrhasios,  Protogenes, 
Pamphilos,  Melanthios,  Theon,  Apelles,  die  beiden  Euphranor,  zu 
Kallon,  Hegesias,  Kaiamis,  Myron,  Polyklet,  Pheidias,  Alkamenes, 
Lysippos,  Praxiteles,  Demetrios  bietet  die  neueste  Archäologie  einem 
künftigen  Erklärer  Quintilians  reichen  Stoff.  Ich  habe  ihn  nicht 
gesammelt.  Auch  die  Parallelen  zwischen  redender  und  bildender 
Kunst,  wie  sie  z.  B.  Brzoska  in  dem  Epimetrum  zu  seiner  Arbeit 
über  den  Kanon  der  10  Redner  zusammengestellt  hat  (S.  81  ff.), 
verdiente  eine  Neusichtung  und  Erweiterung,  auch  mit  Rücksicht 
auf  ihr  Fortwirken  in  der  Folgezeit. 

Zum  I.  und  XII.  Buch  der  instit.  und  zu  den  Arbeiten  von 
Loth,  Messer,  Appel  über  Quintilian  wird  man  mit  Nutzen  ver- 
gleichen einen  Aufsatz  von  Rudolf  Lehmann,  'Pädagog.  Typen- 
lehre', Zeitschr.  f.  Päd.  Psych,  und  exper.  Päd.  23  (1922),  S.  241 
bis  254,  z.  B.  das  aristokratische  Ideal ,  das  priesterlich-jjhilo- 
sophische,  das  bürgerliche  Bildungsideal,  auch  über  Erziehertypen. 
Über  die  durch  Rudolf  Lehmann  besorgte  Neuauflage  von  Fr.  Paulsen, 
Geschichte  des  gelehrten  Unterrichts,  die  für  Quintilian  wenig 
bietet,  s.  unten. 


266  Ammon:  Quintil.  inst.  or.  1910—21. 

IX.  Weitere  Arbeiten  zur  Kritik  und  Erklärung. 

Wilhelm  Kroll,  Quiutilianstudien.  Ehein.  Mus.  73  (1921), 
S.  243—272. 
In  diesen  Studien  Krolls^  der  ^)  durch  seine  Ausgabe  neues 
Leben  in  die  Erklärung  von  Ciceros  Orator  gebracht  bat,  weht 
Höhenwind  der  Forschung,  ganz  anders  als  in  den  landläufigen 
Dissertationen  und  Programmabhandlungen.  Abschnitt  I  'Das 
Kapitel  über  die  Synthesis  (inst.  IX  4)',  S.  243—260  gibt  einen 
trefilichen  Sach-  und  quellenkritischen  Kommentar  zu  dem  Haupt- 
gegenstand antiker  Rhetorik  in  ihrem  Höhenstand;  vgl.  o.  J.  Ma- 
rouzeau,  Pour  mieux  comprendre  les  textes  latins.  ßev.  de 
Philol.  55,  149  ff.  Die  Einleitung  §  1—16  (bzw.  18)  möchte  Kr. 
übereinstimmend  mit  H.  Mutschmauu  {tceqI  vip.)  nicht  auf  Cäcilius 
von  Kaiakte  zurückgeführt  sehen  (gegen  Coblentz  und  Ofenloch), 
aber  auch  Theodoros  von  Gadara  will  er  nicht  als  direkte  Quelle 
der  einheitlichen  Einleitung  annehmen  (gegen  Mutschmann).  Für 
die  Vorbemerkung  der  eigentlichen  Tractatio  (IX  4,  23  f.)  über  die 
Scheidung  der  Prosa  in  rhythmisierte  und  nichtrhythmisierte  werden 
Parallelen  angeführt  aus  Dionys.  Halic,  aus  Aquila,  aus  Demetrius, 
der,  wie  Aquila,  drei  Periodenarten  unterscheide ,  die  historische, 
dialogische  und  rhetorische ,  Scheidungen ,  die  letzten  Endes  auf 
Aristoteles'  Xs^ig  ygacpiKi]  und  ayioviGZLy.ri  zurückgehen  mögen. 
Quintilian  kennt  die  historische  Pei'iode  anscheinend  nicht,  aber 
er  wußte  doch  wohl ,  daß  Dionys  von  einem  \GTOQLy.ov  nldoi-ia 
spricht,  und  die  Theorie  des  Demetrios,  dessen  Zeitansatz  immer 
noch  umstritten  ist,  geht,  denke  ich,  auf  vorquintilianische  Zeit 
zurück.  Die  vereinzelte,  aber  von  Quintilian  nicht  erfundene  Drei- 
teilung der  Synthesis  in  ordo  (23 — 31),  iunctura  (32 — 44),  zu  der 
Horaz  a.  p.  zu  vergleichen,  und  numerus  (45  ff.)  wird  im  einzelnen 
genau  behandelt.  'Hat  Quintilian  nicht  selbst  den  Dionys  ein- 
gesehen, so  hat  seine  Vorlage  es  getan,  oder  es  liegt  Benutzung 
derselben  Quelle  vor'  (S.  248).  Ich  habe  mich  schon  früher  für 
die  erste  Annahme  ausgesprochen ;  s.  inst.  IX  4,  89.  Bezüglich 
des  numerus ,  insbesondere  der  Metrik ,  urteilt  Kr.  mit  Recht : 
'Quintilian  hat  sich  an  das  Gangbare  —  meist  nach  Cicero  —  ge- 
halten und  nicht  so  alte  Quellen  wie  Dionys  aufgesucht'  (S.  248). 
Den  Anfang  von  Demosthenes'  Kranzrede  kannte  Quintilian  aber 
wohl    sicher    aus    eigener   Lektüre,    ebenso  Ciceros  Korrespondenz; 

1)  Auch   auf  seine   Randbemerkungen  im   Rhein.   Mus.  62  (1907) 
zu  Dionys,  Cicero,  Quintilian  sei  nachträglich  hingewiesen. 


IX.   Weitere  Arbeiten  zur  Kritik  und  Erklärung.  267 

gl.  über  die  Briefe  des  Caivus  und  Brutus  S.  260.  Quintilians 
:^emerkuno^en  über  Binnen  rhythmus  (inst.  IX  4,  66 — 71) 
;mpfiehlt  K.  besonderer  Beaclituug,  Wie  Quintülan  dazu  komme, 
n  §  97  den  Terminus  Tribracbys,  den  er  abweichend  von  Cicero 
;ben  verworfen  bat,  zu  gebrauchen,  darin  stimmt  Kr.  Woebrer  bei. 
jber  die  anscheinend  sich  widersprechende  Behandlung  des  Dak- 
ylus  durch  Cicero  und  durch  Quintilian  vgl,  oben  Shipley. 
^uintilian  hat,  darauf  weist  schon  Prooem.  zu  I  hin,  kontaminiert, 
n  der  Behandlung  des  numerus  Cicero  (or.  und  de  or.),  Dionys, 
'ielleicht  auch  einen  den  Cicero  oder  Dionys  oder  beide  berich- 
igenden  Rhetor;  auch  dem  Celsus  ist  Quintilian  nach  Kr.  S.  259 
ron  IX  4,  121  an  in  der  Hauptsache  gefolgt.  Es  ist  nicht  nötig, 
u  der  Zeit  der  Klauselforschung  auf  diese  Ausführungen  Krolls 
loch  mit  besonderem  Nachdruck  hinzuweisen.  Die  austera  com- 
positio  hänge  mit  Dionys'  avairjQCc  avvd-eaiq  (richtiger  agfiovia) 
rgendwie  zusammen,  sei  vielleicht  geradezu  durch  sie  veranlaßt; 
,'gl.  Ammon,  De  Dion.  Halic.  fönt.  (1889),  S.  55  und  Cic.  or. 
Ib8  und  175.  "An  Theophrast  als  dem  Urheber  dieser  Lehren 
iann  ich,  sagt  Kr.,  heute  nicht  mehr  festhalten'   (Kroll  S.  259). 

Ein  noch  schwerer  greifbares  Element  nimmt  Abschnitt  II 
Das  Kapitel  über  das  Prepon  (XI  1)"  in  Augriff.  Daß  das 
tQtJiov  zur  gesamten  Darstellung  treten  muß,  als  letztes,  aber  un- 
entbehrlichstes Erfordernis,  betont  für  die  avvd^eoig  auch  Dionys. 
Bei  Quintilian  heben  sich  XI  1,  1 — 5  als  Einleitung  ab ;  in  der 
iveiteren  Erörterung ,  die  nach  Kr.  im  wesentlichen  das  rcqinov 
3ei  Cicero  behandelt,  wird  dem  Fabius  die  Disposition,  namentlich 
äine  reinliche  Scheidung  zwischen  Af^/g  und  TiQdy/.iaTa  schwer. 
Das  liegt  im  Wesen  der  Sache  und  in  der  rhetorischen  Tradition. 
Bis  §  39  reicht  der  erste  Hauptteil  (hier  möglicherweise  auch 
Celsus  Quelle);  der  zweite  39 — 59:  bei  den  res  alienae  als  ad- 
i'ocati.  Es  folgt  das  Passende  im  Ausdruck  mit  Nachträgen  bis 
^egen  Schluß.  Über  die  Quellenfrage  (Caecilius,  Celsus  oder 
mdere)  will  sich  Kr.  nicht  entschieden  äußern.  In  §  66  über 
unser  Benehmen  in  Prozessen  mit  Verwandten,  oly.eloi,  tritt  stark 
Aristotelisches  (Peripatetisches)  Gut  hervor,  in  verständnisvoller 
Überlieferung.  Aus  Horaz  ließe  sich  wie  für  die  ovvö^eoig^  so 
auch  für  das  Tcqtnov  mehr  gewinnen ,  und  zwar  nicht  bloß  aus 
dem  Brief  an  die  Pisonen ,  sondern  auch  aus  anderen ,  z.  B.  an 
Lollius  (I  18,  68):  quid  de  quoque  viro  et  cui  dicas  saepe  videto; 
während  Lollius  zu  Rom  deklamiert,  studiert  Horaz  in  Präneste 
das  rrQtnov^  lieber  nach  Homer  als  nach  philosophisch-rhetorischen 


268  Ammon:  Quintil.  inst.  or.  1910—21. 

Kompendien  (epist.  I  2,  1  ff,  .  .  .  qitid  pulchrum,  quid  turpe,  quid 
utile,  quid  non  .  .  .),  sat.  I  10,  25  ff. 

Viele  Nüsse  zu  knacken  gibt  uns  das  wertvolle  Kapitel  über 
die  Actio  (XI  3),  das  Kroll  als  letzten  (dritten)  Abschnitt  be- 
handelt. Die  Disposition  Einleitung  (1^ — 10 :  Wert  der  VTtoY-Qioig, 
die  bona  naturae),  I.  Hauptteil  14 — 65  vox  mit  den  Unterabteilungen, 
dann  II.  gestus  (§  65  ff.)  ist  an  sich  ziemlich  einfach.  Aber  die 
Übertragung  der  4  Tbeophrastischen  aQerai,  wie  Kroll  mit  Stroux 
richtig  annimmt,  auf  die  pronuntiatio  (emendata,  dilucida,  ornata, 
apta)  ergibt  manches  Geschraubte.  'Über  die  Quelle  der  weiteren 
Ausführungen  läßt  sich  nichts  sagen,  als  daß  Plinius  (§  143)  und 
Popillius  Länas  (§   183)   sicher  benutzt  sind'. 

Wilh.  Kroll,  Eliein.  Mus.  73  (1921),  272  schlägt  vor  XI  3, 
2  zu  lesen  (et)  adfectus  omnes  languescant  necesse  et,  sehr  an- 
sprechend. Auch  sonst  sei  noch  viel  zu  heilen,  besonders  durch 
Archäologen.  Auch  an  moderne  Sprachtechniker  sei  erinnert,  z.  B. 
das  Neueste:  Fritz  Gerathewohl,  'Erziehung  zum  Redner', 
Berlin  1922,  der  knappe  Weisungen  und  S.  32  einschlägige  Literatur 
der  jüngsten  Zeit  gibt  (s.  u.). 

Richard  Reitzenstein,  Bemerkungen  zu  den  kleinen  Schriften 
des  Tacitus.  Nachrichten  von  der  Königlichen  Gesellschaft 
der  Wissenschaften  zu  Göttingen.  Philologisch-historische 
Klasse  1914,  S.  173—276. 
Hauptzweck  der  'Bemerkungen'  ist  (nach  S.  213),  die  Kunst 
des  Tacitiis  in  seinen  ersten  Werken  zu  erläutern,  wobei  besonders 
auf  die  damals  eben  erschienene  große  Ausgabe  von  Alfred  G  u  d  e  - 
man  fortlaufend  Bezug  genommen  wird.  Es  ergibt  sich  aber  aus 
den  scharfsinnigen  Untersuchungen  Reitzensteins  so  Belangreiches 
für  die  Charakteristik  der  Zeit,  der  Rhetorik,  der  Stilrichtungen, 
für  die  Imitatio,  das  Klassizistische  und  Klassische,  die  'Moderne', 
die  Wechselbeziehungen  des  Dialogus  und  der  Institutio  sowie  für 
einzelne  Stellen  der  'Rednerbildung',  daß  der  Quintilianbericht  auf 
sie  hinweisen  muß.  Erschüttert  die  Untersuchung  der  Überlieferung, 
besonders  betreffs  des  Hersfelder  Inventarium ,  die  Sicherheit  der 
äußeren  Zeugnisse  für  die  Autorschaft  des  Tacitus,  so  sprechen 
Einzelbeobachtungen,  die  noch  fortzusetzen  sind,  für  ihn,  für  die  Ver- 
wandtschaft mit  dem  (früheren)  Agricola  und  der  Germania.  Unter 
den  Flaviern  sei  der  Dialogus  nicht  veröffeutlicht ;  auch  Kroll 
möchte  ihn  in  die  Nähe  des  Agricola  rücken.  Für  einzelne  Stellen 
der  Institutio  ist  Reitzenstein  öfters  heranzuziehen,  so  für  X  1,  90 
Saleius  Bassus,  S.  234,    für  X  1,  31  Redner   und  historischer  Stil, 


IX.    Weitere  Arbeiten  zur  Kritik  und  Erklärung.  269 

S.  199,    für  X  1,   130  Urteil  über  Seneca,  S.  269  f.,   zu  XH  10,  48 
über  Sentenzen,  S.  260. 

Zur  actio  (Bucb  XI.) 
Armin    Krumbacher,    Die    Stimmbildung    der    Redner 

im  Altertum  bis  aufdie  Zeit  Quintilians.    Paderborn 

1921,    zweites    Titelblatt:    1920.     Scböningh.     108    S.    gr.  8. 

In  den  von  E.  Drerup  herausgegebenen  Rhetorisclien  Studien, 

Heft  10. 
Stimmbildung ,  Stimmdiätik  und  Stimmbygiene  bedurften  bei 
den  großen  Aufgaben  der  antiken  Redner  und  dem  empfindlichen 
Ohr  der  Zuhörerschaft  einer  sorgfältigen  Pflege.  Wie  dies  geschehen, 
untersucht  Kr.  nach  den  bisher  nur  spärlichen  Vorarbeiten  (Volk- 
mann, Warnecke)  in  den  zwei  natürlichen  Hauptteilen  I  Geschichte 
der  Stimmbildung,  von  Perikles  bis  auf  Quintilian,  S.  12 — 53, 
n  das  System. der  Stimmbildung  S.  54 — 107. 

Verhältnismäßig  spät  und  erst  nach  langer  praktischer  Betätigung 
entwickelte  sich  die  Lehre  vom  Vortrag  (v7t6'/.Qiaig,  TVQOcpoQa,  actio, 
pronuntiatio)  als  ein  selbständiger  Teil  der  Techne,  da  der  Vortrag 
Sache  der  Natur  zu  sein  schien  (s.  meine  Bemerk.  Bayer.  Gymn.- 
Bl.  30,  1900,  S.  21).  Krumbacher  verfolgt  die  Stimmbildung 
vou  Perikles  an  über  dessen  demagogische  Nachfolger,  über 
Thrasymachos  (Perioden,  Rhythmisierung,  Hiatvermeidung)  und 
Isokrates  (Vorlesen  der  "köyoi  avayiyvcoay.ofusi'oi),  dann  über  Demo- 
sthenes,  dessen  Stimmbildung  und  Vortrag  sehr  eingehend,  aber 
zu  wenig  kritisch  gegenüber  der  Überlieferung  ^)  betrachtet  wird, 
über  Aischines,  Hypereides,  dann  über  die  Theoretiker  Aristoteles 
und  seinen  großen  Fortsetzer  Theophrast,  der  die  ndd^i]  zijg  ifjvyvg,  die 
seelische  Ergriffenheit  des  Redners  feststellte  und  damit  den  Kern 
jedes  natürlichen  (psychologischen)  Vortrags,  dann  über  Athenaios, 
den  Zeitgenossen  des  Hermagoras,  über  die  Entartung  der  asianischen 
Richtung  und  die  gesunde  Gegenströmung  der  rhodischen  peri- 
patetisch  beeinflußten  Schule,  die  in  der  Herenniusrhetorik  und 
durch  Ciceros  rhetorische  Schriften  (Molon)  auf  Rom  herüber  wirkt 
(dagegen  A.  W.  de  Groot  s.  u.),  dann  über  die  recitationes  der 
ersten  Kaiserzeit  bis  aufQuintilian.  Dessen  Darstellung  (XI  3), 
die  ausführlichste  und  genaueste  des  Alterturas ,  hat  auch  zum 
Aufbau  der  Geschichte  von  Perikles  bis  auf  Domitian  viel  Material 
geliefert.    Quintilian  selbst  steht  auf  den  Schultern  Ciceros,  gestützt 


^)  Vgl.    die    eingehende   Besprechung    von   Friedrich   Levy,    Philol. 
Woch.  1922,  704. 


270  Ammon:  Quintil.  inst.  or.  1910—21. 

wohl  auch  von  Dionysios,  Celsus  (NB.  Marx'  Ausgabe),  Plinius ; 
vgl.  0.  Kroll. 

Der  geschichtliche  Überblick,  umsichtig  und  gehaltvoll,  bietet 
auch  für  das  Verständnis  Quintilians  sehr  viel.  Wenig  hätte  mau 
nachzutragen,  so  das  Eintreten  des  Horaz  für  das  Natürliche  und 
Maßvolle,  z.  B.  format  enim  natura  prius  nos  intus  ad  omnem  tor- 
tunarum  habitum  (a.  p.  108  ff.)  im  Sinne  Theophrasts  oder  die 
Geißelung  der  Unnatur  eines  Demetrius  und  Tigellius  (sat.  I  10 
Ende  mit  den  Schollen). 

Wichtiger  noch  als  der  geschichtliche  Überblick  ist  für  ein 
gründliches  Verständnis  der  Institutio  (namentlich  I  und  XI)  Krum- 
bachers II.  Teil  'System  der  Stimmbildung'  (S.  54 — 108), 
der  den  Gegenstand  mit  reicher  Literatur-  und  Sachkenntnis  über- 
sichtlich darstellt :  Die  Stimmbildung  der  Knaben  vor  dem  Eintritt 
in  die  Elementarschule  —  der  Leseunterricht  (Anfangsgründe,  der 
Leseunterricht  auf  höheren  Stufen,  das  Lesen  des  Lehrers  und  des 
Schülers,  die  Arten  des  Lesens:  xax^a  diaozoXrjv,  xad-  v7t6}iQiGiv, 
"Kara  TTQOOwdiav,  Lautlehre,  Metrik)  —  Musik  und  Stimmbildung 
(die  Musik  im  Jugendunterrieht,  die  gesangliche  Stimmbildung  nach 
den  Musiktheoretikern,  Solmisation,  das  Tonarion,  auch  der  Fistu- 
lator  des  C.  Graccus)  —  der  Schauspieler  als  Stimmbildner  (die 
Phonasci).  —  Die  gesundheitliche  Stimmpflege  (Geschichtliches, 
Anweisung  zur  Stimmpflege,  die  Anaphonesis,  vociferatio,  auch  als 
Heilmittel)  und  damit  zum  Schlüsse  Hinüberleitung  hoher  Errungen- 
schaften der  antiken  ßhetorik,  besonders  bei  Quintilian,  aber  auch 
bei  seinen  Vorläufern ,  Zeitgenossen  und  Nachfolgern,  zu  den  ver- 
wandten Bestrebungen  des  20.   Jahrhunderts. 

Noch  besonders  hinweisen  möchte  ich  auf  die  weit-  und  tief- 
greifende Besjjrechung  der  Arbeit  Krumbachers  durch  Johannes 
Stroux,  Deutsche  Lit. -Zeit.  1922,  Sp.  694 — 98.  Die  Stimmbildung  war, 
das  betont  Stroux  ergänzend,  ein  Teil  der  allgemeinen  gesellschaft- 
lichen Bildung  (vgl.  Eurip.  Ale.  v.  343  ff.),  schon  bevor  sie  in  den 
Aufbau  der  Rhetorik  einbezogen  wurde,  wo  sie  ein  Autor  mit  dem 
gestus  nach  einer  einheitlichen  Konzeption  verkoppelte,  und  blieb 
es  auch  nach  der  Einbeziehung,  bis  auch  hier  die  Opposition  gegen 
ein  Übermaß  sich  mit  der  Naturanlage  begnügen  wollte.  Die  Prin- 
zipien der  rhetorischen  Hypokrisis ,  zu  deren  geschichtlicher  Be- 
trachtung Stroux  schon  in  seinem  Werke  'De  Theophrasti  virtutibus 
dicendi',  1912,  S.  70  f.  einige  Linien  gezogen  hatte  —  die  schau- 
spielerische geht  ihre  eigenen  Wege  — ,  mußten  von  den  griechischen 
Anfängen  über  Quintilian  herab  bis  zu  den  späten  Ausläufern  ver- 


IX.    ^Yeitere  Arbeiten  zur  Kritik  und  Erklärung.  271 

folgt  werden.  Diese  Aufgabe  habe  Krumbacher  bei  aller  An- 
erkennung seiner  Beiträge  noch  nicht  gelöst.  „Es  ist,  schließt 
Stroux,  der  Reiz  aller  ernsthaften  Behandlung  der  Geschichte 
der  Rhetorik ,  daß  sie  unmittelbar  iu  die  Bildungswerte  und  die 
Kulturelemente  der  Antike  hineinführt." 

Zn  den  juristischeu  Fragen. 

Josephus    Sprenger,     Quaestiones    in    rhetorum    Roma- 
norum declamationes  iiiridicae.    In  den  Dissertationes 
philologicae    Halenses    Vol.    XX,  2,  1911,  VIII  S.  169—262. 
Sprenger    behandelt    den    Älteren    Seneca,    Qiiintilian    und 
Calpurnius  Flaccus.     Er  teilt  den  Stoff  in  diese  8  Kapitel:  1.  Loci 
communes    de    praemio    tribuendo ,    2.    de    patria   potestate,    3.    de 
matrimonii    iure,    4.    de    obligationibus ,    5.  de  belli  iure  atque  usu, 
6.    de    actionibus    iiiris    civilis   et    criminum    animadversione ,    7.  de 
poenis  exigendis,  8.  variae  leges. 

Für  die  Geschichte  der  Deklamationen  von  dem 
Phalereer  Demetrios  bis  auf  Quintilian  und  für  die  'iuris  argu. 
tiae'  (S.  232),  die  uns  auch  iu  der  Inst.  or.  naturgemäß  immer 
wiederbegegueu,  ist  die  umfassende,  unter  G.  Wissowas  Ägide  ent- 
standene Dissertation  sehr  wertvoll.  Ihre  nähere  Besprechung  ge- 
hört in  einen  anderen  Bericht. 

In  dieser  juristischen  Umgebung,  in  die  uns  der  Advokat 
Quintilian  naturgemäß  immer  wieder  hineinstellt,  sei  genannt 

Vocabularium  iurisprudentiae  ßomanae  iussu  insti- 
tuti  Savigniani,  Tom.  I— V  2,  1894—1917. 

Griechen,  Beispiele  u.  a. 

Wie    sich    Quintilian    zur    griechischen  Sprache,    Literatur 

und  Bevölkerung    stellt,    ergibt  das  weitgreifende,  gründliche  Werk 

Walter    J.   Snellmann,    De    interpretibus    Romanorum 

deque     linguae     Latinae      cum     aliis    nationibus    commercio. 

Pars    I    Enarratio.      Leipzig    1919.      XVI    193    S.     Pars    II 

Testimonia   veterum.      Leipzig    1914    (sie!).     193    S.     Gr.    8. 

Unter     den    XIV    Gruppen     des    lateinischen    Sprachverkehrs 

(I  Romani   —   gentes    Italicae    S.  1  — 14    bis    zu    XIV  Romani  — 

Aegyptii  S.  183 — 184)    kommt    Quintilian    vornehmlich    für    die 

Griechen  (XII  S.  119 — 174)    in  Betracht:    so   inst.  I  1,   12  (mit 

Griechisch    anfangen);    II  1,    1    (spät    zum  Rhetor) ;    VI  1,    14  (ein 

griechisches   Bonmot)  •,    X  5 ,    2  (über    den  Wert    des  Übersetzens) ; 

XII  10,    35    (Griechisch    und    Lateinisch   verglichen);    XII   11,    23 


272  Ammon:  Quintil.  inst.  or.  1910—21. 

(Cato  lernt  im  Alter  Griechisch) ;  aber  auch  für  die  italischen  Völker 
mit  Inst.  I  6,  39;  für  die  Veneti  VlII  1,  3  (des  Livius  Patavinitas) ; 
für  die  Galli  X  1,  87  Varro  Atacinus ;  für  die  Hispani  VII  3,  77. 
Die  den  Testimonia  entsprechende  Enarratio  im  1.  Bd.  gibt  eine 
verlässige  Erklärung ,  geeignete  Parallelen  und  reiche  Literatur- 
nachweise; z.  B.  I  S.  107  f.  Die  Volltitel  bietet  der  Index  librorum 
adhibitorum  I  p.  VIII — XIV,  z.  B.  Atzert,  De  Cicerone  interprete 
Graecorum.     Diss.  Göttingen  1908. 

Über  das  angebliche  spanische  gurdi,  das  man  auch  gerne 
im  Index  rerum  neben  "^Gurdonicus  homo  quidam  Gallus'  sähe, 
vgl.  Fr.  Scholl,  Indog.  Forsch.,  s.  o.  S.  248. 

Karl  Alewell,  Über  das  rhetorische  IlaQad  e  ly  ^a. 
Theorie,  Beispielsammlungeu,  Verwendung  in  der  römischen 
Literatur  der  Kaiserzeit.  Kieler  Diss.  Leipz.  1913,  Hoffmann 
behandelt  zunächst  die  rhetorischen  Vorschriften,  für  welche  in  der 
nacharistotelischen  Zeit  neben  dem  auct.  ad  Herenn.  und  Cicero  vor 
allem  Quintilian  (V  11,  1  usw.)  von  Belang  ist.  Dieser  gehe 
(S.  19  ff.)  auch  gegen  Cicero  mit  Aristoteles  in  der  Fassung  des 
Begriffes  (V  11,  1);  A.  handelt  weiter  über  Terminologie,  über 
Definitionen  (S.  24),  über  XQ^jOig  und  Xioig  TTaQadeiyf.icctwv 
(Qu int.  V  11,  5  und  24).  Den  Vorschriften  folgen  die  Beispiel- 
sammlungen S.  36  ff.,  ab  S.  54  die  Zusammenstellung  der  in  der 
kaiserzeitlichen  Literatur  vorkommenden  Exempla  mit  41  Gruppen, 
S.  56 — 86:  exempla  paupertatis,  z.  B.  Fabricius  inst.  VII  2,  38; 
exempla  mutationis  fortunae  bis  zu  den  exempla  integritatis.  Für 
die  Anwendung  der  exempla  kommt  Quint.  mit  XII  2,  29  u.  a.  in 
Betracht.  S.  100  (Abschnitt  V)  zählt  A.  die  von  Quintilian  ge- 
brauchten Exempla  —  Schulexempla  —  auf. 

Hans  Schönberger,    Beispiele    aus  der  Geschichte,    ein  rheto- 
risches Kunstmittel  in  Cicero s  Eeden.     Augsburg  1910. 
Darüber  die  benachbarten  Berichte  von  Lehnert,  J.  K.  Schön- 
berger u.  a. 

In  Ed.  Nordens  Germanischer  Urgeschichte^,  Berlin  1922, 
werden  manche  Stellen  der  Inst,  gut  beleuchtet  —  in  seinem  Index 
fehlt  Quintilian  — ,  z.  B.  Inselumfang  und  Flächeninhalt  inst.  110,  39 ; 
Furcht  bei  Mondfinsternis  (Perikles,  Sulpicius  Gallus)  I  10,  47  ff. ; 
'sine  urbibus  ac  sine  legibus  gentes'  noch  zu  Quintilians  Zeiten 
(also  um  die  Zeit  der  Veröffentlichung  der  Germania)  inst.  or. 
III  2,  4  mit  einem  Hieb  auf  Giceros  (oder  Poseidonios  ?)  Begründung 
der  Anfänge  der  Beredsamkeit. 

Über  die  Würdigung   des  Timageues   s.  o.  S.  256    zu  X  1, 


IX.    Weitere  Arbeiten  zur  Kritik  und  Erklärung.  273 

Für  Homer  der  auch  nach  Quintilian  ein  Muster  für  den  Redner 
sein    soll,    wie    ihn  Dio    von  Prusa    bezeichnet   als  den  TtQCüTog  ycat 
fxfoog  y.al  varatog  7cavTi   naidl  y.al  avögi  xal  yeQovzi,  sei  genannt: 
Hans   Dachs,    Die    "Kva ig   ex   xov   irgoacoTtov.     Ein    exe- 
getischer  und    kritischer  Grundsatz  Aristarchs    und  seine  An- 
wendung   auf  Ilias    und  Odyssee.     Diss.  Erlangen.     Erlangen 
1913.     81  S.     Gr.  8. 
Für    die    Auffassung    der    Lehren    vom    TJd^og   xov    Xiyovrog  ist 
sehr  ergiebig  die  auf  Anregung  des  Aristarchforschers  Adolf  Römer 
von    Dachs    unternommene    neue    Prüfung    des    Gedankens,     daß 
Homer    die    Reden    seiner   Personen    individualisiert ;    daß    deshalb 
ihre    Aussagen    oft    untereinander    oder    von    der    Darstellung    des 
Dichters    selbst    abweichen ,    daß    aber    solche  Differenzen    nicht   als 
Widersprüche    der  Dichtung    aufgefaßt ,    sondern    aus  den  psycholo- 
gischen   Motiven    der    betreffenden    Reden    erklärt    werden    müssen. 
Die  Schollen    zu  Homer,    zu    den  Tragikern,    zu  den  Rednern  usw. 
haben    natürlich    immer    die    naQayyäXf.iaza    Tsxvr/.a    vor    Augen: 
vgl.  Dachs  S.   79;    über    den  Grammatiker    und    Kritiker    Aristarch 
inst.  I  4,  22.    X  1,  54  und  59. 

Für  die  r^d^t]  und  näd^rj^  besonders  für  das  t)i^og  tot  ?Jyovrog, 
ist  von  hervorragender  Bedeutung: 

Wilhelm  Süß,  Ethos.  Studien  zur  älteren  griechischen  Rhetorik. 
Leipzig  1910,  Teubner. 
Auf  das  Verhältnis  Quiutilians  zu  Aristoteles  (R  o  e  m  e  r :  Marx) 
ist  in  früheren  Berichten  näher  eingegangen,  hier  sei  nur  hin- 
gewiesen auf  die  er/oVa-Partie,  inst.  V  10,  15  ff.,  'Debet  nota  esse 
recte  argumenta  tractaturo  vis  et  natura  omnium  rerum'  etc.,  worüber 
Süß,  S.  154  ff. 

Rhetorische    Forschungen,     herausgegeben    von    Otmar 
Schissel    von    Fieschenberg    u.    Joseph    A.    G 1  o n a r. 
Halle  a.  S.   1912  ff.     M.  Niemeyer. 
'Die  Rhetorischen  Forschungen    dienen    kunstwissenschaftlicher 
Beschreibung   der  Rhetorik.     Der  Begriff  Rhetorik    wird    in  seinem 
weitesten    Umfang    verstanden;     rhetorische    Theorie    und    Praxis, 
Vortrags-  und  Leserhetorik,  politische  und  epideiktische  Beredsamkeit 
finden    also    gleiche  Berücksichtigung',    heißt    es    im  Programm   der 
Sammlung.     Für    die    nar ratio    auch   bei   Quintilian    ist    der  Ab- 
schnitt I    önjyrjaig    und  öi7Jyi]ua    in    dem    II.  Bd.    'Die  griechische 
Novelle'  S,  1 — 19  von  Bedeutung. 

Ciceronis  orationum  Scholiastae.    Vol.  II  ed.  Thomas  S  tan  gl. 
Wien  und  Leipzig  1912. 

Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft  ßd;  192  (1922.  ü).  18 


2  74  Ammon:  Quintil.  inst.  or.  1910—21. 

In  dieser  grundgelehrten  Ausgabe  des  Qi^rogitiCotaTOg  St  an  gl 
findet  auch  der  Quintilian-  und  Rhetorikforscher  zuvei'lässiges 
Material. 

Für  einen  künftigen  Erklärer  der  Institutio  wird  eines  der 
wichtigsten  allgemeinen  Hilfsmittel  sein: 

Alfred  Gudeman,  P.  Cornelii  Taciti  dialogus  de  ora- 
toribus.     Leipzig — Berlin  1914,  Teubner  (s.  u.). 

Die  Gesichtspunkte  für  solche  Arbeiten,  die  Art  der  Entstehung, 
die  Frage  der  Wechselbeziehungen,  die  Analyse,  die  Sprache,  der 
Kommentar  S.  183 — 511  in  seiner  Fülle,  Übersichtlichkeit  und 
Verlässigkeit,  die  Bibliographie  S.  515 — 520  und  der  Index  nominum 
et  rerum  S.  521 — 528.  Auf  Einzelheiten  will  ich  hier  nicht  ein- 
gehen. Vgl.  meine  Besprechung  in  der  Deutschen  Literaturzeitung 
1914,  2563 — 67  und  die  noch  eingehendere  von  Konstantin  John, 
B.  ph.  W.  35,  1915,  1171—1188,  der  als  besonders  wertvoll  die 
Prolegomena  hervorbebt,  aber  auch  den  Kommentar  trotz  mancher 
Einwände  als  „einen  unerschöpflichen  Stapelplatz  des  gesamtien 
Wissenstoffs"  bezeichnet ,  der  zur  sachlichen  Erklärung  der  Schrift 
herangezogen  werden  kann.  Die  Institutio  auf  diese  Weise  zu 
kommentieren,  erforderte  unerschwinglichen  Aufwand  an  Geld  und 
Kraft.     Und   der  Leserkreis  ? 

Daß  Demosthenes  dem  Plato  (seinen  Schriften  und  Vorträgen) 
viel  verdankt,  berichtet  der  Dialog  (c.  32)  wie  die  inst.  (XII  2, 
22)*,  nach  Cic.  Brut.  121  sagt  dies  Demosthenes  selbst  in  einem 
Brief;  aus  Cicero,  der  De  or.  I  89  und  or.  15  das  gleiche  bezeugt 
—  wohl  nach  der  Monographie  des  Demetrios  von  Phaleron  über 
Leben  und  Studien  des  Demosthenes  — ,  wird  das  Zeugnis  im  Dia- 
logus wie  in  der  inst,  herzuleiten  sein ;  daß  andere  den  Demosthenes 
durch  die  Aristotelische  Rhetorik  seine  wesentliche  Ausbildung  ge- 
winnen lassen ,  erweist  Dionys  von  Halikarnaß  als  Irrtum.  Die 
Ausbildung  eines  Pompeius,  eines  Crassus  usw.  war  in  dem  großen 
Sammelwerk  des  Mucianus  (11  Bücher  Acta,  3  Bücher  Briefe)  ge- 
schildert (Tac.  dial.  37). 

Mit  dem  'Taciteischen'  Charakter  des  Dialogus  befaßt  sich  die 
umsichtige,  vielseitige  Arbeit  von 

Roman  Hingher,  Possessivpronomen  und  Prosarhythmus  bei 
Tacitus;  ein  Beitrag  zur  Dialogusfrage.  Tübingen  1922, 
Kommissonsverlag  Osiandersche  Buchhandlung.  VI  61  S. 
Gr.  8. 

Hingher  hält  die  negativen  Ergebnisse  Reitzensteins  (Be- 
merkungen zu  den  kleinen  Schriften  des  Tacitus,  in  den  Nachr.  d. 


IX.    Weitere  Arbeiten  zur  Kritik  und  Erklärung.  275 

Gott.  Ges.  d.  W.  Philol.-Histor.  Kl.  1914)  für  gesichert,  nicht  aber 
die  positiven  Folgenxngen.  Hinghers  Untersuchungen  über  das 
Possessivpronomen  und  den  Prosarhythmus  in]  dem  nach  Ciceronia- 
nischer  Technik  angelegten  Rednerdialog  zeigen  solche  Unterschiede 
gegenüber  dem  sonstigen  Tacitus,  daß  er  'sie  kaum  für  vereinbar 
hält  mit  der  These  von  der  Veränderlichkeit  des  persönlichen 
Stils'  (S.  61).  Einen  endgültigen  Entscheid  fällt  H.  nicht.  Die 
Vorsicht  ist  angezeigt;  aber  neben  dem  Zeitbild  des  Seneca,  Quin- 
tilian,  Sueton,  Martial,  Plinius,  Juvenal  spiegelt  der  Dialog  doch 
viel  von  echt  Taciteischen  Denk-  und  Sprachformen  wider.  Und 
für  die  willkürliche  Stiländerung  gibt  Sueton  in  dem  Rhetor  Albucius 
Silus  ein  drastisches  Beispiel  (rhet.  6). 

Paulys  Realenzyklopädie  des  klassischen  Altertums. 
Neue  Bearbeitung  von  Georg  Wissowa  und  Wilhelm  Kroll. 
Stuttgart,  Metzlersche  Buchhandlung.  Bd.  VII — X  (von  Fornax 
bis  Katochos),  1912—1919. 
Fortunatianus,  der  nicht  bloß  Cicero  und  Quintilian  aus- 
geschrieben, sondern  mit  größerer  Selbständigkeit  arbeitet  (VII  45, 
52,  54  usf.  von  M  ü  n  s  c  h  e  r)  ;  G  a  b  b  a  (so  Bücheier  statt  Galba, 
vgl.  Prosop.  imper.  Rom.  II  S.  104),  der  Hofnarr  des  Augustus 
(VII  418),  von  dem  Quintilian  (VI  3,  27,  nicht  von  A.  Galba)  ver- 
schiedene Witze  mitteilt;  Junius  Gallio,  Rhetor  der  Kaiserzeit 
(X  1035—1039  von  Gerth),  von  Quintilian  Hl  1,  21  (IX  2,  91) 
zitiert;  Gallus  (verschiedene)  VII  682  f.;  Gavius  Bassus, 
Grammatiker  VII  866 — 868  von  Funaioli  zur  inst.  I  6,  36;  Geta  bei 
Quintilian  I  Prooem.  6  fehlt  VII  1330;  Glycon  Spyvidion  (VII 
1439  von  Münscher  zur  inst.  VI  1,  41);  Gorgias  der  Leontiner 
VII  1598  fF.  von  Wellmann  zur  inst.  III  1,  9  u.  ö.,  sowie  der 
Lehrer  von  Ciceros  Sohn,  der  Figurenschreiber,  VII  1604 — 1619 
von  Münscher  zur  inst.  IX  2  u.  ö. ;  Grammatik  (grammatici, 
darunter  Remmius  Palaemon)  VII  1780  — 1811  von  A.  Gudeman , 
der  auf  Aistermann  'De  M.  Valerio  Probe'  und  auf  die  Artikel 
KqixiAog  und  OiXoXoyog  verweist,  besonders  zur  inst.  I  4 — 7; 
Hermagoras,  gegen  den  Poseidonios  schrieb,  Bd.  VIII  692 — 696 
von  Radermacher  zur  inst.  III  1,  16  u.  a. ;  dann  der  Schüler 
des  Theodoros  von  Gadara  zur  inst.  III  1,  18;  ferner  viel- 
leicht ein  Schüler  des  Stoikers  Persaios  zur  inst.  III  5 ,  14 ; 
Hermogenes  aus  Tarsos  VIII  865  —  877  von  Radermacher 
zur  inst.  III  (Statuslebre) ;  Hermokreou,  der  Typus  eines 
reichen  Rhodiers,  VIII  889  von  Münzer  zur  inst.  V  10,  78; 
Hesiodos  VIII  1167  —  1240  von  Rzach  zur  inst  I  1,   15  über   die 

18* 


276  Amraon:  Quintil.  inst.  or.  1910—21. 

Echtheitsfrage  der  XiQCOvog  V7to9^rj^cci  (Sp.  1222)  u.  a. ;  Hipp  las 
Eleus  VIII  1706  ff.  zur  inst.  III  1,  10,  XII  11,  21  (Tausend- 
kÜQStler) ;  Hippokrates  VIII  1801  ff. ,  der  große  Arzt ,  zur 
inst.  III  6,  63  (Fehler  eingestanden);  histriones  VIII  2116—2128 
von  War  necke  besonders  zur  inst.  XI  3  (vgl.  oben  Armin 
Krumbacher):  Homeros  VIII  2188  —  2247  von  Witte,  wäre 
für  die  Würdigung  Homers  bei  Quiutiliau  (passim !)  noch  zu  ver- 
arbeiten ;  ebenso  Ed.  Stemplingers  Horatius  VIII  2336 
bis  2399  und  sein  Buch  'Horaz  im  Wandel  der  Jahrhunderte* 
(Leipzig  1921,  Dieterich)-,  Hortensius,  Ciceros  Kivale,  VIII 
2470 — 2481  (Vonder  Mühll)  zur  inst.  VI  3,  98  u.  ö.;  Hypereides, 
der  Verteidiger  der  Phryne  {r^dovy),  IX  (1916)  281—285  von 
Thalheim,  der  die  Stellen  der  inst.  X  1,  77,  II  15,  9,  XII  10,  22 
zu  vrenig  heranzieht;  Jambographeu  IX  651 — 680  von  Gerhard 
zur  inst.  X  1,  9  (scriptores  iamborum,  auch  Mimus  und  Sentenzen) ; 
Isaios  IX  2051  f.  zur  inst.  XII  10,  22  (attice  dicere) ;  Isokrates, 
der  Redner  IX  2146—2227  von  Münscher  zur  inst.  II  15,  33 
(Khetorik  =  Philosophie,  wozu  Sp.  2151  zu  vgl.);  III  8,  9  in  Helenes 
laude  und  in  Panegyrico,  dazu  Sp.  2180  ff.  *,  zur  angezweifelten 
riyvr]  inst.  II  15,  4  Sp.  2224;  über  sein  Fortwirken  III  1,  14, 
IV  2,  21  Sp.  2221  und  zu  zahlreichen  anderen  Stellen  Quintilians ; 
Julius  Africanus,  ein  römischer  Redner,  gleichzeitig  mit  Cn. 
Domitius  Afer,  Bd.  X  (1919)  Sp.  114—116  von  Gerth  zur  inst. 
VIII  5,  15  u.  ö.;  Julius  Florus,  ein  Redner  aus  Gallien,  und 
sein  mit  Quintilian  engbefreundeter  Neffe  Julius  Secundus 
Bd.  X  800 — 803  von  Gerth  zur  inst.  X  3,  13  u.  a.;  iuriscon- 
sulti  X  1153  ff.  und  iurispruden  t  ia  X  1159—1200  von 
Berger,  z.  B.  Sp.  1183  zur  inst.  X  1,   116,  XII  3,  9  u.  a. 

Aus  dem  Supplementband  III  zu  Pauly-Wissowa  (1918) 
ist  u.  a.  der  Artikel  Marcus  Aper  von  Gerth  für  die  Auffassung 
der  Institutio  von  Bedeutung. 

Aus  der  zweiten  Reihe  von  Pauly -Wissowa  oder  Pauly- 
Kroll- Witte  (Ra  .  .  .)  1914  ff.  gehören  hierher 
raeda  zur  inst.  I  5,  57  und  68  von  Hug  (I  1  S.  41  f.),  Rätsel 
(aenigma)  zu  VIII  6,  53  u.  a.  von  W.  Schultz  (I  1  v.  S.  62—125), 
Rednerbülme  von  K.  Schneider ,  r  e  p  u  d  i  u  m  zu  VII  4,  38  von 
Klingmüller,  —  Artikel  wie  Rhetor,  Rhetorik,  Rhetorenschulen, 
ridiculum  (risus)  u.  a.  vermißt  man  — ,  Rhythmica  von  Seydel 
(I  1,  770 — 781),  Rufus  Rutilius,  sacerdotes,  sacrilegium  zu 
VII  3,  10  u.  a.  von  Pftiff,  I  2  S.  1678—1681),  Salii  zu  I  6,  40 
von   Rappaport   (I  2    S.  1874—1899),    Sallustius    zu   X  1,    101 


IX.   Weitere  Arbeiten  zur  Kritik  und  Erklärung,  277 

von  Funaioli  (I  2  S.  1912—1955),  satura  zu  X  1,  93  ff.  von 
Kroll  (II  A  1921  S.  192—200);  Saturninus,  Saturnus,  Satyros, 
Schollen  von  A.  Gudeman  (II  1,  625—705). 

Das  sind  einige  Fingerzeige  zur  Ausnützung  des  fortsclireitenden 
P. -W.  für  die  Quintiliauerklärung;  es  wird  noch  lange  Jahre 
dauern,  bis  sie  durchgeführt  ist. 

Erinnert  sei  auch  an  das  große  Werk 
Dictionnaire     des     antiquit^s     grecques     et     romaines ,     von 
Daremberg    begründet,    von    Edmund    Saglio    (f    1911) 
und   von  Pottier   und   Lafaye    zum  Abschluß    gebracht    (Paris 
1912). 
Besonders    für    die    Teile ,    die    bei    Pauly  -Wissowa    noch    aus- 
stehen,    wie    tragoedia,    oder    die    der  Plan    des    deutschen  Werkes 
ausschließt,    wie  translatio    zur    inst.  III  6,  69  f.     Die  Tables 
(Stoffübersicht)    sind  erst  1919  hinzugekommen,    z.  B.  I  9,  S.  13  f. 
•^Sciences,    Lettres ,    Enseignement'     von    Arithmetica    bis    volumen 
(recht  praktisch). 

Zur  Schulgeschiclite. 

Ein  Hauptwerk  über  Schule  und  Unterricht ,  das  auch  Quin- 
tilian  und  sein  pädagogisches  Hauptwerk  in  die  rechte  Beleuchtung 
setzt,  ist 

Corrado  Barbagallo,  Lo  stato  e  1'  istruzione  pubblica 
nell'    impero    romano.      Catania    1911,    Franc.    Battiato. 
8.    431  S.    In  der  von  Karl  Pascal  herausgegebenen  Biblioteca 
di  Filologia  Classica  Teil  3. 
'Das  öffentliche  Schulwesen  Europas  ist  durchaus  eine  Schöpfung 
Italiens.'       Wie    Rom    mehr    noch    durch    seine    Grammatik    und 
Rhetorik  als  durch  seine  Legionen  die  Welt  erobert  und  behauptet 
hat,  wird  mit  Worten  Gaston  Boissiers    (La  iin  du  paganisme)  leb- 
haft  veranschaulicht.     Etwa   zwei  Jahre    nach  Quintilians  Institutio 
or.    erschien    Tacitus'    Agricola.      'lam    principum    filios    liberalibus 
artibus  erudire,    et  ingenia  Britannorum  studiis  Gallorum  anteferre, 
ut   qui    modo    linguam  Romanam    abnuebant,    eloquentiam    concupi- 
scerent',    rühmt    er    von    der    staatspädagogischeu    Tätigkeit    seines 
Schwiegervaters  (c.  21),    ohne   den  Blick  gegen  die  dem  Naturvolk 
drohenden    Gefahren    der    Überkultur    zu    verschließen.     Wenn    in 
den    (italienischen,    französischen,    englischen,    deutschen)    Arbeiten 
über   antikes  Schulwesen  Rom    meist   mit  Hellas ,    insonderheit    der 
hellenistischen   Zeit ,    zusammengenommen    ist ,    so   ist  das  innerlich 


278  Ammon:  Quintil.  inst.  or.  1910—21. 

begründet,  mag  auch,  was  Barbagallo  bedauert,  das  Verdienst  der 
Römer  dabei  niclit  genügend  zur  Geltung  kommen.  Auch  Agricola 
hat  sein  schulisches  Interesse  aus  der  Narbonitis  mitgebracht. 

In  9  Kapiteln  durchschreiten  wir  bei  B.  in  einem  großen  Schul- 
museum die  Entwicklung  vom  Aufstieg  des  Augustus  bis  zum  Tod 
Justinians  (30  v.  bis  565  n.  Chr.),  bis  zur  Schwelle  des  Mittelalters : 
I.  die  Zeit  der  Julisch-klaudischen  Kaiser  (Museum  Claudium  ;  Einfluß 
des  Hofes,  so  Neros  auf  die  Zunahme  rhetorischer  Studien;  Nero 
und  die  Philosophie);  II,  die  Zeit  der  Flavier  (69 — 96  n.  Chr.), 
für  Quintilian  das  Hauptkapitel  (S.  81 — 112);  III.  die  Zeit  von 
Nerva  bis  Mark  Aurel  (Trajans  Bibliothek,  Athenäum,  Erneuerung 
des  Museums  in  Alexandrien;  kaiserliche  Lehrstühle  an  der  Uni- 
versität Athen  usw.) ;  IV.  von  Commodus  bis  zur  Abdankung 
Diocletians  (180 — 305):  der  militärische  Charakter  der  collegia 
iuvenum,  Honorare  der  Professoren,  der  Unterricht  in  Gallien  im 
3.  und  4.  Jahrhundert;  V.  die  Zeit  Konstantins  des  Großen  und 
seiner  Söhne  (312 — 361);  VI.  die  Schulreformen  Julians  des  Ab- 
trünnigen (361—363);  VII.  die  Valentinianische  Dynastie  (364—383); 
Vm.  die  Dynastie  des  Theodosius  (383—450);  IX.  vom  Tode 
Theodosius'  II.  bis  zum  Regierungsende  Justinians  (450 — 565). 
Theoderich  d.  Gr.  und  der  öffentliche  Unterricht,  Auflösung  der 
Universität  Athen,  Codex  Justinianeus.  Die  Schlußpartie  (S.  379 
bis  408)  faßt  den  reichen  Inhalt,  der  das  Kulturleben  der  mehr 
als  halbtausendjährigen  Zeit  des  Imperium  gut  und  neu  beleuchtet 
(außer  Grammatik  und  Rhetorik  auch  Philosophie,  Musik,  Juris- 
prudenz, Gehälter,  Bibliothekswesen),  in  großen  Zügen  zusammen. 
Die  Literatur,  auch  die  der  'grande  nazione  tedesca'  (S.  6),  ist 
vielseitigst  und  gründlich  herangezogen. 

Ich  greife  auf  Kapitel  II  zurück.  Zweck  und  Umfang  der 
Rhetorenbesoldung  Vespasians?  Sie  beschränkte  sich  auf 
Rom,  auf  hervorragende  Vertreter  wie  Quintilian;  grammatici  und 
litteratores  überließ  der  römische  Staat,  der  für  die  "^Oberen'  sorgte, 
ihrem  Schicksal  (vgl.  Juvenal).  Es  war  eine  Vergünstigung  ad 
personam ,  ein  Zug  Mäzenatentum  des  Kaisers ,  nicht  eine  Bevor- 
zugung der  Rhetoriklehrstühle ,  um  ihre  Vertreter  etwa  zu  Ver- 
teidigern der  Regierung  zu  machen.  Die  Würdigung  Quintilians 
(S.  97  ff.),  der  die  innere  Ausbildung  des  Knaben  und  Jünglings 
von  den  ersten  Jahren  bis  zur  Reife  erstrebt,  trifft  mit  der  uns 
durch  deutsche  Gelehrte  nahegelegten  zusammen  (z.  B.  Kämmel  in 
Schmids  Encyklopäd.,  Schwabe  bei  Pauly-Wissowa ;  über  C.  Hosius 
s.  unten). 


X.   Weitere  Arbeiten  zur  Kritik  itnd  Erklärung.  279 

Das  römische  Schulwesen  steht  so  auf  den  Schultern  der 
Griechen,  daß  auch  hier  zu  erinnern  ist  an 

Erich  Ziebarth,  Aus  dem  griechischen  Schulwesen. 
Eudemos  von  Milet  und  Verwandtes.    Leipzig  1909.    Teubner. 

Lehrer  [yQa{.iiiiarodidaaxaXoc)  —  auch  Wanderlehrer,  Lehr- 
fächer ,  Musik  und  Turnen.  Betrieb :  Wachstafeln ,  Präparations- 
heft zu  Homer,    Schulagone,    Schultheater,    schulfreie  Tage,  Ferien. 

Eine  sorgfältige,  anregende  Arbeit,  die  fast  auf  jeder  Seite 
aus  Quintilians  Institutio  Licht  empfängt ,  ist  ihrerseits  geeignet, 
seine  Genauigkeit  zu  bestätigen : 

Paulus  Bendel,  Qua  ratione  G  r  a  eci  liberos  docuerint, 
papyris  ostracis,  tabulis  in  Aegypto  inventis 
illustratur.  Diss.  Univers.  Münster  i.  W.  Münster  i.  W.  1911. 
71   S.     Gr.  8. 

In  drei  Kapiteln  wird  gehandelt  'De  grammatistarum  scholis', 
'De  grammaticorum  scholis',  'De  rhetorum  officiis  a  grammaticis 
occupatis'.  Wenn  Qu  int.  I  1,  30  sagt  'In  syllabis  nulluni  com- 
pendium  erat :  omnes  erant  perdiscendae'  etc.,  so  bestätigen  die 
Übungen  av  €v  iv  ov  vv  lov,  dann  ßav  ßev  usw.  den  Brauch.  Bei 
der  Lektüre  erinnern  Erklärungen  wie  luyviv  =  ogytjv^  d^ea  =  (.lovaa 
zur  Ilias  doch  stark  au  moderne  Präparationshefte. 

Den  Stand  und  Einfluß  der  Rhetorik  in  der  Zeit  Quintilians 
beleuchtet  eingehend  und  verständnisvoll 

Edmond  Courbaud,  Les  procedes  d'art  de  Tacite  dans 
les  'Histoires'.     Paris  1918,  Hachette.     XXII  298  S. 

Courbaud,  gleich  vertraut  mit  der  Rhetorik  wie  mit  Tacitus, 
sieht  in  diesem  als  Künstler  'un  compose  du  poete  et  de  l'orateur'. 
'Melange  curieux'  (p.  IX).  'Alors  la  rhetorique  domine  en  mai- 
tresse'  (p.  217).  Kapitel  IV  Les  discours  p.  199—234  und  V  Le 
style  p.  235 — 285  gehören  besonders  hierher.  Hier  die  Inhalts- 
angabe :  Kap.  IV.    Les  discours : 

I.  Les  discours  a  l'epoque  imperiale.  —  Les  discours  dans  les 
camps ,  sur  le  champ  de  bataille  —  Methode  des  historiens.  — 
Methode  de  Tacite. 

n.  Objets  des  discours  dans  les  'Histoires'.  —  Le  discours  a 
tendance  psychologique.  —  Le  discours  ;i  tendance  politique.  — 
Le  discours,  simple  exercise  litteraire. 

m.  La  part  de  rhetorique  dans  des  discours  des  'Histoix'es'.  — 
Les  discours  d'ecole  (p.  223).  —  La  vraisemblance.  —  Le 
monologue.  —  Les  maximes. 

IV.  Principes  communs  a  toutes  les  varietes  des  discours. 


280  Ammon:  Quintil.  inst.  or.  1910—21. 

V.    Les    discours    en    style    indirect.    —    Les   discours  omis.  — 
Pourquoi  les  grands  discours  sont  relativement  peu  uombreux. 
Inhalt  von  Kapitel  V.    Le  style : 

I.  La  Periode  dans  l'art  classique.  —  Les  periodes  dans  les 
•^Histoires'.  —  Ce  qui  reste  des  liabitudes  anciennes. 

II.  La  structiare  generale  de  la  phrase  eliez  Tacite.  —  Les 
divers  types :  la  phrase  courte  —  la  phrase  allongee  —  la  phrase 
condensee.  —  Emploi  caracteristique  du  participe  et  de  l'ablatif, 
notamment  du  participe  ä  l'ablatif  absolu.  —  L'ordre  successif. 

III.  Les  antitheses.  —  Les  'sententiae'.  —  Les  idees  generales 
et  les  grandes  pensees. 

IV.  Principe  commun  d'oü  derivent  les  differents  caracteres 
de  ce  style :  le  desir  d'innover.  —  luconvenients  et  avantages  du 
principe :  aiFectation  et  obscurite,  pittoresque  et  relief. 

V.  Originalite  du  style  de  Tacite. 
Vgl.  unten  Literatur  zum  Dialogus. 

Zur  Charakteristik  der  Beredsamkeit  des  ersten  Jahrhunderts 
der  Kaiserzeit  bietet  Wertvolles 

Karl     Münscher,      Kritisches     zum     Pauegyrikus     des 

Jüngeren    Plinius.       Rhein.    Mus.       LXXIIL       1920. 

S.  174—198. 
Wie    auf   Friedl anders    Sittengeschichte,    9.    Aufl.    von 

G.  Wissowa   (L  Bd.    1919,   IL  Bd.  1920,   IIL  Bd.  1921), 

ist  auf 
Georg     Grupp,      Kulturgeschichte     der     römischen     Kaiserzeit  ^, 

München    1911,    zu    verweisen:    Abschnitt   VIII:    Unterricht, 

Schule  und  Lehrer;  ferner  auf 
Otto    Seeck,     Geschichte    des    Untergangs    der    antiken    Welt. 

4.    Bd.      Berlin    1911.     Namentlich    im    6.    Kapitel    über    die 

Ehetorik,  S.  168—204;  schließlich  auf 
Adolf  Busse,    Die  Anfänge    der    Erziehungswissenschaft.     Neue 

Jahrb.  13,  1910.     S.  465—477. 

X.  Quellen  und  Hilfsmittel  Quintilians; 
Zeitgenossen. 

Die  Selbständigkeit  Quintilians ,  der  Umfang  seiner  Studien 
und  Hilfsmittel  wird  leicht  zu  gering  angeschlagen.  Man  unter- 
schätze nicht  die  öffentlichen  und  privaten  Bibliotheken  in  Rom, 
die  häufigen,  anregenden  Vorträge  und  Vorführungen,  die  täglichen 
Redekämpfe    auf   dem  Forum  mit  ihren  Schlagern,    das  stille,  noch 


X.    Quellen  und  Hilfsmittel  Quintilians;  Zeitgenossen.  281 

fruchtbarere  avf.iq^iXoXoyeiv  und  oviiupLXooocfelv  der  besseren  Kreise 
oder  das  Vorlesen  beim  einfachen  Mahle  durch  die  Anagnosten, 
die  ausgiebige  literarische  Korrespondenz,  den  internationalen  Ver- 
kehr und  den  Kulturreichtum  der  "Weltstadt.  Manche  Hilfsmittel, 
z.  B.  Aristoteles ,  mag  der  Rhetor  zeitweilig  benützt ,  aber  nicht 
ständig  zur  Hand  gehabt  haben.  Die  zahlreichen  Zitate  zeigen, 
daß  er  zwar  manches  aus  dem  Gedächtnis  anführt,  im  allgemeinen 
aber  einer  guten  Überlieferung  folgt  (Hermann  Reeder,  De 
codicibus  in  Ciceronis  orationibus  Caesarianis  recte  aestimandis. 
Diss.  Jena  1906.     S.  15—32.     Emiein  s.  o.  S.  227). 

Barwick  (Remmius  Palaemon,  s.  o.  S.  246)  sagt  im  Hinblick 
auf  die  ars  grammatica  (S.  267):  'Überhaupt  dürfen  wir  bei  einem 
Mann  wie  Quintilian  eine  weitgehende  Vertrautheit  mit  der 
grammatischen  Literatur  voraussetzen.  Da  wird  er  denn  zweifellos 
auch  manches  eingesehen  haben,  oder  es  wird  ihm  manches  aus  der 
Erinnerung  in  die  Feder  geflossen  sein,  worüber  wir  jetzt,  bei  dem 
Charakter  der  Überlieferung,  nicht  mehr  urteilen  können.'  Von  der 
ars  rhetorica  gilt  das  gleiche. 

Aristoteles. 

Über  das  Fortwirken  des  Aristoteles  auch  bei  Quintilian 
handelt 

Ludwig  Radermacher,  Ein  Nachhall  des  Aristoteles  in 

römischer  Kaiserzeit.  Wiener  Studien  38,   1916.  S.  72 — 80. 

Es    handelt    sich    hauptsächlich  um  den  Gedanken  (inst.  HI  7, 

23  ff.,  n  12,  4)  virtutibus  ac  vitiis  vicinitas  aus  Aristoteles'  Rhetorik; 

wohl    ein  Gemeingut    der  Rhetor enschule ,    findet    er    sich    auch   bei 

Horaz,  Livius,  Celsus  u.  a.     Vgl.  W.  Süß,  Ethos,  S.  154  ff. 

Poseidouios. 

Da  der  Einfluß  des  Poseidouios  aus  Apameia  auf  das  erste 
nachchristtiche  Jahrb.  noch  sehr  groß  war  —  nicht  bloß  auf  Seneca, 
sondern,  wie  ich  glaube,  auch  auf  Quintilian  und  Tacitus  — ,  so  sei 
hier  eingereiht: 

Karl  Reinhardt,  Poseidouios.    München  1921,  Beck.  475  S. 

Der  ganze  Abschnitt  über  die  Ethik  S.  262 — 342 ,  enger  D 
'Die  Erziehung'  S.  313 — 319,  in  dem  hauptsächlich  die  Werke 
tisqI  Tta&iov  (Affektlehre)  und  tieqI  aQETUiv  zur  Geltung  kommen, 
liefern  Bausteine.  Nach  Galen  hat  Poseidonios  einen  ganzen  Aus- 
zug der  Platonischen  Erziehungslehre  in  sein  erstes  Buch  über  die 
Affekte  aufgenommen.    Aber  bei  dieser  Angabe  ist  Vorsicht  geboten. 


282  Ammon:  Quiutil.  inst.  or.  1910 — 21. 

„Worauf  Poseidonios  ausging,  war  Ergründung  des  Irrationalen; 
was  Galen  will,  ist,  daß  Piaton  recht  behalte"  (S.  319).  Poseidonios 
ersetzt  das  intellektualistische  Weltbild  der  Stoiker  durch  ein 
dynamisches.  Leib  und  Seele  stehen  in  Wechselwirkung.  Bespr, 
von  Wilh.  Nestle,  Philol.  Woch.  1922,  Nr.  20. 

In  der  Übersicht  über  die  Statustheorien  erwähnt  Quint.  (III 
6,37)  den  großen  Apameer  Poseidonios,  sonst  nicht.  Daß  aber 
die  Institutio  direkt  oder  indirekt  von  Poseidonios  beeinflußt  ist, 
ahnt  jeder,  der  sich  vertraut  macht  mit 

Gunnar  Rudberg,   Forschungen  zu  Poseidonios.     Upp- 

sala ,     Akademiska    Bokhandeln.     —     Leipzig ,    Harrassowitz. 

336  S.     Erschienen    in:    Skrifter    utgifna    af  K.    Humanistica 

Vetenskaps-Samfundet  i  Uppsala.     Bd.  20,  3.     (1919.) 

Die    6    Kapitel    sind:    I.    Zur   Persönlichkeit;    II.    Urzeit   und 

Entwicklung ;  III.  Philologisches  (Poseidonios'  Stellung  zu  den 

Sprachen,    Etymologien,    S.  99  OvXi^ov  =  '[J\i:s.i=^ Od vaa 6 cog,   vgl. 

Inst.    14,  16,    über   y.aX6v:    r^öv    S.  141,    Namenforschung,   über 

literarische    und   philologische  Kritik,    über  Poesie  und  Prosa;    der 

wichtige  Exkurs    über    Poseidonios   und    die  Schrift   nsgl   vipovg 

S.  144  ff.,  über  das  yelolov  S.  155);    IV.  Zur  Bildersprache 

(Natur  und  Menschenwelt,  auch  die  Wage) ;  V.  Technik  und  Kunst ; 

VI.  Bemerkungen  über  Sprache  und  Wortschatz.     Die  Forschungen 

Rudbergs  machen  durchaus    den  Eindruck  großer  Gediegenheit  und 

fördern  auch  das  Verständnis  der  Institutio. 

Für  die  Quellenforschung  zu  Quintilian  bietet,  wie  schon  oben 
angedeutet,  gar  manches  das  ungemein  stoffreiche  Werk 

Eduard    Norden,    Die    germanische    Urgeschichte    in    Tacitus' 
Germania.   Siehe  meine  Bespr.  in  den  Bayer.  Gymn.-Bl.  1922, 
204—208. 
Vgl.  oben  zu  Timagenes  und  Seneca. 

Quintilian  und  die  Historiker  S.  149.  Norden  weist  S.  459  hin 
auf  das  Fortwirken  des  Poseidonios,  der  auch  eine  Schrift  über 
den  Stil  {vtEgl  Xe^Ecog)  verfaßt  hat  (Diog.  Laert.  VII  60)  —  nach 
Quint.  inst.  or.  III  6,  37  genau  und  eigenartig  über  die  Status- 
einteilung, also  nicht  bloß  über  Xe^ig  — ,  auf  Pseudo-Longin  7t.  vip. 
(ovvsv&ovaiq) ;  ferner  auf  H.  Mutschmann,  Tendenz,  Aufbau  und 
Quellen  der  Schrift  vom  Erhabenen  (Berlin  1913)  sowie  im  Hermes 
LH  (1917)  161. 

Stoiker. 

Hermann    Eaubeu heimer,    Quintilianus    quae    debere 
videatur    Stoicis    popularibusque,    qui    dicuntur, 


X.    Quellen  und  Hilfsmittel  Quintilians;  Zeitgenossen,  28  3 

pbilosophis.  Würzburger  Dissertation.  Würzburg  1911, 
C.  J.  Becker,  Akademiscbe  Druckerei.  84  S.  Gr.  8. 
Quintilian  ist,  worauf  Raubenbeimer  (geb.  1885  zu  Ludwigs- 
bafen  a.  Rh.)  im  Eingang  in  seiner  unter  Rem.  Stölzles  Auspizien 
entstandenen  Arbeit  Nacbdruck  legt ,  kein  ausgesprocbener  Gegner 
der  Pbilosopbie,  besonders  nicbt  der  Pbilosopbie,  die  in  jener  Zeit 
im  stoischen  Gewand  als  eklektische  Popularphilosophie  herumging. 
In  ihrer  üblichen  Dreiteilung  behandelt  er  die  Naturphilosophie 
(Götter,  Geschöpfe,  Vorsehung),  die  Logik  (Erkenntnislehre,  Dialek- 
tik) und  die  Moralphilosophie,  das  für  den  Redner  und  Staatsmann 
wichtigste  Gebiet  (Güterlehre ,  Tugenden  und  Laster),  mehr  oder 
minder  tiefgreifend,  wobei  sich  natürlich  zahlreiche  Berührungen  mit 
Ciceros  rhetorischen  und  philosophischen  Schriften  ergeben.  In 
einem  zweiten  Teil  (S.  49  ff.)  untersucht  R.  Quintilians  Gedankeu 
über  Jugenderziehung  und  Redekunst.  Jene  zeigen  im  Zusammen- 
halt mit  der  pseudoplutarchischen  Schrift  Ttegl  rtaidiov  aycoyijg 
manches  Chrysippische  —  freilich  in  einer  nicht  immer  greifbaren 
Deutlichkeit  und  scharfen  Gegenüberstellung.  Li  der  Definition  der 
Rhetorik  kehrt  Quintilian  das  et'  Xiyeiv  hervor  (über  dieses  alte 
Bildungsideal  H.  Gomperz);  der  Redner  muß,  wie  Quintilian  mit 
Diogenes  von  Seleucia  (Babylonius)  betont,  ein  vir  bonus  sein  (vgl. 
unten  Hubbell),  und  nicht  ein  Schandmaul,  um  mit  Noske  zu  reden. 
Quintilian  hat  nach  Raubenbeimer  viel  Stoisches,  zum  Teil  aus  den 
Quellen  selbst  geschöpft.  Raubenbeimer  meint,  eine  künftige  Samm- 
lung der  Fragmente  der  Stoiker  müsse  aus  Quintilian  viel 
mehr  ausheben,  als  Hans  von  Arnim  getan  hat.  Indizes  und  In- 
haltsverzeichnis schließen  die  umsichtige  Untersuchung,  die  ausgiebig 
H.  von  Arnim  und  Radermacher  zitiert.  Nach  dem  Proömium  zum 
ersten  Buch  und  nach  anderen  Stellen  habe  ich  von  Quintilian  den 
Eindruck,  daß  er  den  Redner  auf  Kosten  des  Philosophen  zu  heben 
sucht;  dieser,  wie  der  Jurist  zu  den  iufirmiora  ingenia  gerechnet 
(wie  von  Aper  in  Tacitus  Rednerdialog),  habe  seine  'Beute',  das 
Wesentliche  von  Ethik,  Physik  und  Logik,  an  seinen  alten  Besitzer, 
den  großzügigen  Redner,  den  vir  bonus,  herauszugeben. 

Philodemos. 

Über    die    Streitigkeiten    zwischen    Philosophen    und    Rhetoren 

bietet  reiches  Material  Philodemos  in  den  7  Büchern  seiner  Rhetorik. 

Harry    M.    Hubbell    (Ph.    D.    assistant  professor  of  Greek    and 

Latin  in  Yale  University),  TheRhetorica  ofPhilodemus. 

Translation    and    commentary.     In    den    Transactiona    of   the 


284  Ammon:  Quintil.  inst.  or.  1910—21. 

Connecticut   Academy    of  arts    and    sciences.     Vol.    23    (Sept.. 

1920)   p.    2*43—382.      New    Haven,    Connecticut,    Yale    Uni- 

versity  Press. 
Philodem  von  Gadara,  dessen  Privatbibliotliek  uns  eine  Vor- 
stellung von  den  literarischen  Hilfsmitteln  (auch  für  Quintilian) 
geben  mag ,  gern  gesehen  im  Augusteischen  Kreis ,  hat  nach  dem 
Vorläufer  vTiOfivrjf.iazLy.6v  seine  Rhetorik  au  Gaius  (um  75  v.^  Chr.) 
veröffentlicht,  auf  die  bereits  oben  bei  der  Disposition  der  iust.  or. 
hingewiesen  ist.  Auf  die  Entwicklung  der  Begriffe  qt^tloq  und 
G0(piOTijg  mit  ihren  Ableitungen  legt  Hubbell  mit  Recht  Gewicht. 
Die  Seite  262 — 264  verzeichnete  Literatur  zur  Rhetorik  des  Philo- 
dem tut  auch  für  Quintilian  gute  Dienste.  Die  Übersetzung,  im 
ganzen  trotz  aller  Schwierigkeiten  klar  und  geschmackvoll,  folgt  im 
wesentlichen  der  Anordnung  von  Siegfr.  Sudhaus.  Durch  Vor- 
bemerkungen vor  den  einzelnen  Büchern  und  durch  verbindenden 
Text  zwischen  Bruchstücken  wird  der  Gedankengang  leichter  er* 
sichtlich ;  einigemal  ist  auf  Quintilian  verwiesen.  Die  iudicia  über 
Perikles ,  Demosthenes  (auch  Kallistratos ,  was  Drerup  auf  S.  337 
aus  Kallisthenes  verbessert  hat)  berühren  sich  eng  mit  denen  Quin- 
tilians.  Die  fortlaufende  Parallelisierung  Philodems  und  Quintilians 
(Natur  und  Kunst,  yrf/^ffv,  Sachkenntnis  usf.)  wäre  eine  Arbeit 
für  sich,  die  namentlich  die  Fragmenta  incerta  (S.  341 — 359),  z. 
B.  die  Erzählung  von  Sardanapall  (Cic.  Tusc,  Dio  Chrys.),  den 
vir  bonus  dicendi  peritus  des  Diogenes  von  Babylon  (S.  351), 
dann  die  Fragmenta  Hypomnematici  (S.  359  ff.)  gehörig  auszunützen 
hätte.  Den  Gedanken  (Quint.  II  17,  11),  daß  es  ohne  und  vor 
der  Rhetorik  redegewandte  Männer  (wie  Demades)  gegeben  habe, 
führt  Hubbell  durch  Vergleichuug  mit  Philodem,  Sextus  Empiricus 
und  Cicero  (De  or.)  zurück  auf  einen  Dialog  desCharmadas, 
in  welchem  die  drei  Teilnehmer  an  der  Philosophengesandtschaft 
von  155  ('?),  Kritolaus,  Diogenes  und  Karneades,  Hauptunterredner 
gewesen  sein  mögen.  In  der  Frage ,  ob  die  Rhetorik  eine  ars  sei 
oder  nicht  —  ifjsvdrj,  auazäv,  nicht  zum  Ziel  gelangen  — ,  auf  die 
ich  früher  bei  der  Besprechung  von  Sudhaus'  Ausgabe  hingewiesen 
habe,  biete  Philodem  einiges  mehr  als  Quintilian  und  unsere  sonstige 
Überlieferung;  Quintilian  habe  (inst.  II  17)  Dinge  verschmolzen, 
die  bei  Philodem  getrennt  waren.  Die  Wendung  des  Eingangs  der 
Aristotelischen  Rhetorik,  die  qr^xoQLyJj  sei  avzioxQOcpog  z^  ÖLaXE'/.ziy.j^, 
in  diese  Richtung:  'Wenn  die  Dialektik  eine  Kunst  ist,  dann  ist  auch 
die  Rhetorik  eine  Kunst'  möchte  Hubbell  als  Quintilians  eigenen 
Gedanken  ansehen. 


X.    Quellen  und  Hilfsmittel  Quintilians;  Zeitgenossen.  28  5 

Diouys  von  Halikarnaß.     ♦ 

Für    die    Beziehungen    zwischen   Dionys    und    Quintilian   bietet 
manches  Wertvolle 

Umberto    Galli,    L'opera   retorica  di  Dionigi  d'Ali- 
carnasso.      In    den    Studi    Italiani    di    Filologia    classica    19 
(1912)  S.  237—273. 
So    im    Abschnitt    I  Lo    scritto  Della   collocazione    delle   parole 
S.  236 — 257    über    das    musikalische    Element   bei  Dionys,    Cicero, 
Quintilian,   Abschnitt  II  Carattere  ed  importanza  dell'  opera  di  Dio- 
nigi.    In    die  Tiefe ,    wie    einschlägige    deutsche    und   englische  Ar- 
beiten ,    von    denen    er    nur    wenige    zu  kennen  scheint ,    geht  Galli 
nicht.    Über  Dionys  und  Quintilian  vgl.  o.  S.  266 f.  Krolls  Quin- 
tilianstudien     Ehein.  Mus.  73  (1921). 

Johannes  David  Meerwaldt,  Studia  ad  gener  um  dicendi 
historiam  pertinentia.     Pars  I  De  Dionysiana  vir- 
tutum  et  gener  um  dicendi  doctr  in  a.    Dissert.  Amster- 
dam   (1920).     Amstelodami  1920,    A.  H.  Kruyt.     VI,    100  S. 
Gr.  8.     Beigegeben  noch  die  Thesen  (8  S.). 
Meerwaldt    gliedert    seine  Untersuchung  über  die  aggrat-Lehre 
des  Halikarnaseer  Dionysios    (tt.  ovvS^eo.  ovo/j.    und    die   kritischen 
Schriften)  so :  I  de  virtutum  ratione  mit  den  virtutes  necessariae  und 
adiectae ,    II    de    virtutum    cum    geueribus  dicendi  necessitudine  mit 
den    3    genera   (tenue  sublime  medium),  III  de  Demosthene  oratore 
perfecto    nach    den   dem  Redner  eigenen  und  weniger  eigenen  Vor- 
zügen.   Von  den  3  Excursus  befaßt  sich  I  mit  4  Stellen  des  Haupt- 
werkes des  Dionys  :  de  vi  compositionis,  II  mit  pulchritudo  und  suavitas. 
Quintilian  spielt  bei  fast  allen  Fragen  mit  herein.    Ergebnis  ?   Teil  II 
abwarten!    Vgl.  meine  Bespr.  Phlilol.  Woch.   1922,  637  flF. 

Caeciliiis  von  Kaiakte. 

Da  Quintilian  sich  wiederholt  auf  Caecilius  von  Kaiakte  be- 
zieht, so  ist  für  seine  iudicia  von  Bedeutung 

La   Eue    van   Hook,    The    criticism    of  Photius    on    the   Attic 
Orators.     In    den    Transact.    and   Proceedings    of    the    Amer, 
Philol.  Assoc.  38  (1907)  S.  41—47. 
Photios    benützt   nach    eigener  Angabe   häufig  das  für  uns  ver- 
lorene Werk  des  Kalaktiners.    Aus  Photios  läßt  sich  also  die  ästhe- 
tische   Kritik    in    der    Zeit    von    Cäcilius-Dionys   bis    auf  Quintilian 
weiter  aufhellen.    Nach  Wilh.  Schäfer  (s.  u.)  hätte  freilich  Quintilian 
den  Kalaktiner  nicht  gelesen. 


286  Ammon:  Quintil.  inst.  or.  1910—21. 

Cicero. 

Fritz  Selilmey er ,  'Beziehungen  zwischen  Quintilians 
Institutiones  oratoriae  und  Ciceros  rhetorischen 
Schriften'.  Diss.  d.  Univers.  Münster  i.  W.  1912.  97  S.  8. 
In  der  von  W.  Kroll  geförderten  Arbeit  will  Sehlmeyer  (geb. 
1888)  versuchen,  'an  welchen  Stellen  zwischen  Cicero  und  Quintilian 
Beziehungen  bestehen',  was  am  besten  durch  Nebenordnung  der 
entsprechenden  Stellen  von  Buch  1 — XII  erreicht  wird.  Sehlmeyer 
bringt  die  Praxis  Quintilians,  die  Tagesliteratur,  die  Mannigfaltig- 
keit der  Quellenbenutzung  für  die  inst,  or.,  in  der  z.  B.  I  prooem. 
26,  27  Cicero  und  Celsus  ineinandergearbeitet  seien,  mehr  als  andere 
in  Anschlag.  Wenn  es  feststeht  (nach  Wo  ehr  er),  daß  Julius 
Severianus  (p.  355,  17)  die  äußeren  adiumenta  des  Redners  vox, 
latus,  decor,  valetudo,  frugalitas,  laboris  patientia  aus  Celsus,  dem 
als  Mediziner  diese  zu  betonen  nahelag,  abgeschrieben  hat,  so  weist 
allerdings  Quintilians  Fassung  (§  27):  vox,  latus  patiens  laboris, 
valetudo,  constantia  nach  der  gleichen  Richtung.  Nur  beachte  man, 
daß  das  Verhältnis  von  q)vGig  Ttyvv  f/eAeVi;,  von  aiexvov  und  avT£)rpov 
so  abgedroschen  war  (vgl.  B.  Appel),  daß  sich  Anklänge  von  selbst 
ergaben  5  man  beachte  auch ,  was  Severianus  aus  latus  patiens  la- 
boris gemacht  hat.  Den  Nachweis,  daß  Quintilian  Ciceros  Buch  I 
De  oratore  „eingesehen  hat"  (S.  9),  verlangt  wohl  kein  Quintilian- 
kenner.  Fabius  ist  mit  allen  rhetorischen  Schriften  Ciceros  und 
Reden  wohlvertraut,  wie  schon  der  nach  Schriften  geordnete  Index 
bei  Halm  (II  S.  373  ff.)  zeigt.  Aber  es  ist  die  umsichtige  Zu- 
sammenstellung der  erheblich  über  200  Stellen  (Übersicht  S.  91 — 96), 
wo  sich  Quintilian  mit  Ciceros  rhetorischen  Schriften  berührt,  nicht 
wertlos;  sie  wird  durch  die  den  Parallelen  beigefügten  Erörterungen 
sogar  für  beide  Rhetoren  auf  weite  Strecken  ein  willkommener 
Kommentar.  Aber  auf  einige  Fragen  hätte  man  noch  gerne  eine 
Antwort :  Wie  hat  Quintilian  die  einzelnen  der  7  rhetorischen 
Schriften  Ciceros  eingeschätzt  und  verwertet?  Über  die  rhetorici 
(=  de  inv.)  z.  B.  äußert  er  sich  unter  Berufung  auf  Cicero  selbst 
(De  or.  I,  5)  wiederholt  ziemlich  abfällig.  In  welcher  Weise  hat 
er  das  durch  Cicero  vermittelte  griechische  Erbe  (Aristoteles,  Theo- 
phrast,  Dikäarch  usw.)  und  wie  das  von  Cicero  hinzugebrachte  Na- 
tionale verarbeitet?  In  welcher  Form  (Hss.)  lagen  dem  Fabius 
Ciceros  Schriften  vor? 

Concetto  Marchesi,  De  Quintiliano  Ciceronis  lauda- 
tore.  In  den  Classici  e  Neolatini  VII  (1911)  Nr.  3/4,  S. 
262—272. 


X.    Quellen  und  Hilfsmittel  Quintilians;  Zeitgenossen,  287 

Seinem  Zeitgeist,  der  neue  Muster  und  einen  neuen  Stil  ver- 
langte und  vielleicht  auch  brauchte,  stellt  Quintiliau  die  Alten,  die 
Klassiker,  namentlich  Cicero  gegenüber,  dessen  Reden  und  rhetorische 
Schriften  richtig  verwendet  bzw.  nachgeahmt  zur  Gesundung  der 
zeitgenössischen  Beredsamkeit  fuhren  können.  Marchesi  zeigt,  wie 
Quintilian  Cicero  lobt,  wie  er  ihn  als  Redner,  Staatsmann  und  Men- 
schen im  Vergleich  mit  Demosthenes  würdigt.  Gegen  Ciceros  Eitel- 
keit hätte  sein  Bewunderer  Quintilian  schärfere  Worte  finden  sollen, 
nicht  bloß  das  minime  contemptor  sui  (XII  1,  26);  der  Größe  des 
Redners  entspreche  nicht  die  staatsmännische  und  menschliche  Größe.  — 
Ferrero  spricht  anders ! 

Celsus. 

Was  der  berühmte  Mediziner  A.  Cornelius  Celsus  in  der 
Rhetorik  geleistet  hat,  müssen  wir  den  Zitaten  des  mehr  oder 
minder  an  ihm  nörgelnden  Quiutiliau  entnehmen.  Auf  die  Disser- 
tation von  Justinus  W  o  e  h  r  e  r ,  De  A.  Cornelii  Celsi  rhetorica 
(Dissert.  Vindsb.  VII  1903),  die  aus  F.  Marx'  Seminar  erwachsen 
ist  (vgl.  Berl.  philol.  Wochenschr.  X,  1890,  1008),  bin  ich  im 
letzten  Quintilianbericht  S.  229  ff.  eingegangen.  Jetzt  haben  wir 
eine  zusammenfassende  abschließende  Darstellune:  in 

Fridericus  Marx,  A.  Cornelii  Celsi  quae  supersunt. 
Leipzig  1915.  Teubuer.  CXIV  484  S.  In  dem  Corpus  medi- 
corum  Latinorum   Vol.  I. 

Auf  zwei  Seiten  (p.  XIX  sq.)  zeichnet  Marx  den  auch  in  der 
Rhetorik  grundgelehrten,  von  den  Zeitgenossen  anscheinend  wenig 
geschätzten  (inst.  XII  11,  24)  Celsus  und  gibt  u.  a.  zu  Quintilian 
ni  6  über  die  Statuslehre  des  Flavus  Virginius  (im  J.  49  Lehrer 
des  A.  Persius)  und  des  Celsus  tiefgreifende  Aufschlüsse.  Die  21 
Fragmente  aus  den  5  Büchern  der  Rhetorik  des  Celsus  —  alle 
aus  Quintiliau  —  sind  S.  411 — 421  mustergültig  zusammengestellt 
und  durch  treffende  Parallelen,  auch  aus  Julius  Severianus  nach 
Wilh.  Schäfer  erhellt,  z.  B.  gleich  I:  Ziel  der  Redekunst  oc  zö 
Tcuoai^  ctXXa  xo  jceiaxiAcog  einelv  (im  Sinne  des  Aristoteles),  was 
Celsus  mit  dicere  persuasibiliter  wiedergab.  Das  Stemma  für  die 
Statuslehre  des  Celsus  steht  S.  413;  im  wesentlichen  liatte  ich  es 
nach  Woehrer  schon  im  letzten  Bericht  S.  281  gegeben.  Über  den 
Satz  quaedam  virtutibus  ac  vitiis  vicinitas  fr.  VII  vgl.  zu  Ps.  Plut. 
TT.  n.  ay.  Im  Text  IV  1,  12  frg.  VIII  ist  mir  die  von  Halm  und 
Radermacher  abweichende  aber  sehr  ansprechende  Lesung  aufge- 
fallen: Negat  haec  prooemi[a]  esse  Cornelius  Celsus.  Ob  Woehrer 
IX  4,    97,    wo  Quintilian    tribrachys    statt    des    zu  erwartenden  tro- 


288  Ammon:  Quintil.  inst.  or.  1910—21. 

cliaeus   gebraucht,    mit  Eeclit    auf  Celsus    zurückführt,    bezweifelt 
W.  Kroll,  Eh.  Mus.  73,  251. 

Was  wir  an  Fragmeuten  aus  der  Rhetorik  des  Cornelius  Celsus 
haben,  stammt  aus  Quintilian.  Daß  aber  das  Werk  nach  Quintilian 
nicht  spurlos  verschwunden  ist,  hat  schon  Just.  Woehrer  auf  An- 
regung von  Fr.  Marx  nachzuweisen  mit  Erfolg  versucht,  namentlich 
unter  Heranziehung  von  Julius  Severianus. 

Guilelmus  Schaefer,  Quaestiones  rh  etor  icae.  Diss.  Bonn. 
Berlin  1913.    93  S.    Gr.  8. 

Wilh.  Schaefer  (geb.  1887,  frühzeitig  f),  ein  Schüler  von  Fr. 
Marx,  hat  Aveiter  geforscht.  Den  Titel  der  Ausgabe  des  Sixtus  a 
Popma  1569  'Aurelii  Cornelii  Celsi  de  arte  dicendi  libellus''  hält 
Schaefer  mit  Reitzenstein  gegen  Woehrer  nicht  für  eine  handschrift- 
liche Überlieferung,  sondern  für  eine  Erfindung  des  S.  a  Popma 
selbst,  gewonnen  aus  der  Vergleichung  des  Severian  und  Quintilian. 
Severian,  ein  auch  von  Sidonius  Apollinaris  erwähnter  gallischer 
Rhetor  aus  der  Zeit  des  Maiorianus,  habe  die  Rhetorik  des  Celsus 
ausgiebigst  benützt.  Quint.  IV  2,  4  sq.  mit  Severian  p.  358,  18  ss. 
verglichen,  gibt  Schaefer  diesen  Schluß  ein  (S.  29  u.  37):  'Qua 
comparatione  uixi  pro  certo  dicere  possumus  Quintilian  um  et 
Severianum  illam  de  narratione  praetermittenda  doctrinam  hau- 
sisse  ex  Celsi  opere.'  Gelesen  hat  natürlich  Quintilian  die  5 
Bücher  des  Celsus ;  aber  gerade  die  seit  Jahrhunderten  immer 
wieder  behandelte  Erzähltechnik  mahnt  zur  Vorsicht,  wenn  die  un- 
selbständige Ausnützung  des  Celsus  durch  Quintilian  in  Frage  kommt; 
vgl.  Burs.  Bd.  148 ,  S.  230  f.  Auf  Grund  auch  der  sprachlichen 
Untersuchung  schließt  Schaefer  mit  Woehrer :  "^Ac  Julii  Severiani 
de  arte  dicendi  libellus  Cornelii  Celsi  rhetoricae  operis  deperditi 
epitoma  est'  (S.  59).  Ausgewählte  Untersuchungen  über  die  Figuren 
(S.  60  ff.)  stellen  weitgehende  Übereinstimmungen  zwischen  Quintilian 
und  Isidor  fest.  Über  Celsus  (S.  68)  und  seine  Vorlage  wird  das  Gemein- 
gut auf  den  Stoiker  und  Progymnasmataschreiber  Theon  (III  6,  48 
und  IX  3,  76)  zurückgeführt ;  den  Cäcilius  habe  Quintilian  nicht  ge- 
lesen (S.  68  u.  81).  Das  Schlußkapitel  behandelt  Fragen  der  Statuslehre. 

Epiktet. 

Für  das  Verständnis  der  Inst.  or.  ist  förderlich  die  Aufhellung  der 

Pädagogik  seines  Zeitgenossen  (50 — 130?),  des  Stoikers  Epiktet.  Über 

diesen  haben  wir  die  feinsinnige ,  umfassende  und  gründliche  Arbeit : 

Wilhelm  Scher  er,    Epiktets  pädagogische  Bedeutung. 

Programm  Regensburg,  Altes  Gymnasium  1915/16.  56  S.  Gr.  8. 


X.    Quellen  und  Hilfsmittel  Quintilians;  Zeitgenossen.  289 

Inhalt:  Einleitung  mit  dem  Motto  ovdtv  svaycoyoTBQOV  ävd-Qio- 
rcu'T^g  \pvx%  (Epiktet  Diss.  IV  9,  16),  das  aucli  den  pädagogischen 
Optimismus  Quintilians  kennzeichnen  könnte,  dann  I.  Begriff, 
Notwendigkeit  und  Ziel  der  Pädagogik  S.  6 — 24,  II.  Empfänger  und 
Vermittler  der  Erziehung  S.  24 — 35,  III.  Erziehungs-  und  Bildungs- 
mittel S.  35 — 56.  Überall  werden  die  Stellen  und  Hilfsmittel  ge- 
nau angegeben ;  eine  Vergleichuug  mit  Quintilian  erfolgt  nicht. 

Quintilian :  Tacitus. 

Die  zeitlichen  und  inhaltlichen  Wechselbeziehungen  zwischen 
Quintilians  Institutio  und  Tacitus'  Eeduerdialog  gehören  zu  den 
umstrittensten  Fragen  der  lateinischen  Philologie.  Über  die  zwischen 
1914 — 1918  geäußerten  Auffassungen  von  A.  Gudeman,  R. 
Reitzenstein  (Gott.  Gel.  Nachr.  1914,  173—225.  226—276), 
B.  Diene  1  (Wiener  Stud.  37,  239—271),  auch  R.  Klaib  er  (Progr. 
Gymn.  Bamberg  1914  I,  1916  II),  urteilt  Wilhelm  Kroll  in  seinem 
Bericht  über  lateinische  Philologie  (1919)  S.  72  f.  Er  selbst  neigt 
dazu,  den  (echten)  Dialogus  „neben  den  Agricola  zu  rücken".  Zeit- 
lich liegt  vor  Gudemans  Ausgabe  und  Dieneis  Besprechung  ein  Auf- 
satz von  Wormser. 

Georges  Wormser,    Le    dialogue    des    orateurs   et  l'in- 

stitution  oratoire.    In  der  Rev.  de  philol.  XXXVI  (1912) 

S.  179—189. 
Der  mit  der  einschlägigen  Literatur,  namentlich  auch  der  deut- 
schen (Helm,  Grünwald,  Reuter,  Hirzel,  Gudeman,  Leo,  Norden) 
wohlvertraute  Verf.  glaubt  auf  Grund  der  oft  engen  sachlichen  und 
sprachlichen  Berührungen  (besonders  S.  182  f.)  sich  zu  diesem  Schluß 
berechtigt  (S.  184):  Tacitus  hat  Quintilians  Werk  vor 
Augen  gehabtj  er  hat  die  'formules  de  l'iustitution'  oft  nur 
weiter  entwickelt,  in  andere  Bilder  gekleidet  oder  auch  gekürzt. 
Ich  möchte  den  Schluß  nicht  für  zwingend  halten,  weil  die  zwanzig- 
jährige Lehrtätigkeit  Quintilians  viele  seiner  Urteile  und  Dar- 
stellungen bei  dem  jüngeren  Geschlecht  in  Umlauf  gesetzt  hatte, 
auch  wörtlich  nach  dem  Stenogramm  der  Hörer  (prooem.  I  7).  Dana 
sind  zahlreiche  Bilder  (maturitas ,  avazrjQoirjg)  für  den  Geschmack 
aus  der  Eruchtreife  längst  Gemeingut  der  Schulen  und  Bücher. 
Welche  Philosophenschule  dem  Redner  die  nachhaltigste  Nahrung 
biete,  war  von  Cicero  (de  or.,  Brut.,  or.),  ähnlich  wie  von  Quintilian 
nud  Tacitus  erörtert  worden.  Aus  der  Verschiedenheit,  der  politischen 
Stimmung  schließt  Wormser,  den  Dialog  habe  Tacitus  im  Jahre  95 
zu  schreiben  begonnen  und  Ende  96,  unmittelbar  vor  dem  Agricola, 

Jahresbericht  fUr  Altertumswissenschaft  Bd.  192  (1922.  II).  19 


290  Ammon:  Quintil.  insf.  or.  1910—21. 

veröffentlicht;  die  Institutio  oratoria  sei  schon  94  erschienen.  Ta- 
citus  habe  sie  gleich  gelesen  und  zum  Ausgangspunkt  für  seinen 
Dialog  genommen ;  in  der  Dialogform  konnte  er  seine  Person  vor 
dem  argwöhnischen  Domitian  sichern.  Wirksam  ist  bei  W.  S.  186 
die  Gegenüberstellung  der  beiden  Schriften,  die  rhetorisch- technische 
und  die  entwicklungsgeschichtliche  Betrachtungsweise ,  die  Tacitus 
schärfere  Töne  anschlagen  läßt  als  seinen  Lehrer  Quintilian  (gegen 
Ed.  Wölfflin).  Messalla,  der  angesehenste  Mitunterredner,  verficht 
den  Quiutilianischen  Standpunkt :  zurück  zu  Cicero !  nicht  hyper- 
modern (Seneca) !  Der  Redner  muß  ein  Charakter  sein ;  die  Rhe- 
torik benötigt  die  auf  Psychologie  und  Ethik  begründete  Allgemein- 
bildung, ay7.vY.Xog  TtaiÖEia.  nicht  Blend-  und  Flitterwerk! 

'La  faconde  des  modernes ,  schließt  Wormser  seinen  gehalt- 
vollen, anregenden  Aufsatz  S.  189,  marque  une  decheance,  la  re- 
action  classiqiie  restera  sans  cffei^  ainsi  peut  se  resumer  la  demon- 
stration  de  Tacite.  On  y  apertjoit  deja  son  iJessimisme  et  sa  sagacit6.* 
Alfred  Gudeman,  P.  Cornelii  Taciti  dialogus  de  ora- 
toribus.  Zweite,  völlig  umgearbeitete  Auflage.  Leipzig- 
Berlin  1914,  Teubner.  VIII,  528  S.  Gr.  8. 
•  Gegenüber  der  englischen  1894  erschienenen  Ausgabe  ist  diese 
zweite  Auflage  ein  neues  Buch,  das  die  einschlägigen  Fragen  alle 
auf  einmal  und  mit  seltener  Sachkenntnis  sowie  mit  besonnenem 
Urteil  weithin  fördert,  wenn  nicht  zum  Abschluß  bringt.  Auf  seine 
Bedeutung  für  einen  künftigen  Erklärer  der  Institutio  Qiiintilians 
ist  schon  oben  hingewiesen ;  auch  auf  die  Bedeutung  der  sprach- 
lichen Feststellungen  des  mit  dem  gesamten  Material  des  Thesaurus 
linguae  latinae  arbeitenden  Herausgebers.  Die  nachdomitia- 
nische  Abfassungszeit  des  fingierten,  aber  im  Jahre  74/75  gehalten 
gedachten  Dialogs  lehnt  G.  mit  nicht  zu  unterschätzenden  Gründen 
ab.  Er  sieht  in  ihm  ein  Jugendwerk  des  Tacitus  (etwa  vom  Jahre 
81) ;  auch  die  Annahme ,  daß  der  Dialog  unter  Domitian  verfaßt» 
aber  erst  nach  dessen  Tod  veröffentlicht  sei,  weist  G.  S.  30  zurück. 
Quintilian  habe  wohl  durch  seine  Vorträge  auf  den  jugendlichen 
Tacitus  gewirkt  (S.  96),  wie  sich  umgekehrt  einige  Spitzen  der 
Inst.  or.  gegen  den  Dialog  zu  richten  schienen.  Die  Frage  nach 
den  literarischen  Quellen  (S.  85 — 98)  berührt  sich  natürlich  oft 
mit  der  gleichen  Frage  in  der  Institutio.  Die  Beziehungen  des 
Dialogs  zu  Cicero  hat  Rudolf  Klaiber  in  den  beiden  Programm- 
abhandlungen Bamberg  1914  L  Teil  und  1916  11.  Teil  sorgfältig 
zusammengestellt;  auch  der  Dialog  Hortensius  (Gudeman  S.  87), 
die  Theodoreische  Richtung  der  Rhetorik,    die  ich  die  kasuistische, 


X.    Quellen  und  Hilfsmittel  Quintilians;  Zeitgenossen.  291 

den  jeweiligen  praktischen  Bedürfnissen  angepaßte  nennen  möchte, 
haben  nach  Gudeman  auf  den  jugendlichen  Tacitus  (durch  Quin- 
tilian?)  Einfluß  geübt.  Die  Ähnlichkeiten  mit  Quintilian  und  Ps.- 
Plutarch,  die  S.  93  ff.  in  Übersicht  geboten  werden,  möchte  G.  auf 
Chrysipp  zurückführen.  Hier  gilt  noch  ein  Distingue !  Vgl.  o.  S.  242  f. 
Auf  die  Bedeutung  der  Ausgabe  als  Arsenal  für  rhetorische  Studien 
ist  schon  oben  hingewiesen. 

K.    Dienel,     Quintilian    und    der    Rednerdialog    des 
Tacitus.     Wiener  Studien  37  (1915)  S.  239—271;  vgl.  die 
Zeitschrift   für   österr.    Gymnas.    66,    1915    S.  735—758  und 
883 — 892  (Bespr.  von  Gudemans  Ausg.  durch  Dienel). 
„Mögen  wir,  sagt  Dienel,    der  1908  den  Dialog  herausgegeben 
hat,    im    Eingang    seiner    kenntnisreichen,    umsichtigen  Abhandlung, 
den  Dialog  wann  immer  ansetzen,    als  eine  Schrift  zur  Propaganda 
des    von  Quintilian    geforderten  modernen  Ciceronianismus  kann  er 
keinesfalls    angesehen    werden;    mit    dem    Stil    des    Dialogs    könnte 
man    diese  Annahme    nur    dann    begründen ,    wenn   der  Inhalt  dazu 
stimmte."     Die  Leitgedanken  des  Eednerdialogs  werden  (S.  245  ff.) 
denen  Quintilians    scharf  gegenübergehalten.     Quintilian    verdammt 
den    modernen    Stil ,    aber    nicht    den    Rednerberuf  an    sich.      „Der 
Dialog    ist    ein  kulturhistorisches  Glaubensbekenntnis    im  Sinne  des 
sittlich-konservativen   Römertums."      Ob    dies    den  Gedanken  Quin- 
tilians,   'Fortentwicklung    sei    das    Grundgesetz    der    Redekunst   wie 
aller  anderen'  ausschließt,  erscheint  denn  doch  fraglich.    Für  Kap.  40 
lehnt    nach  Dienel  Tacitus  sowohl  Ciceros  politische  als  Quintilians 
moralische  Beurteilung  der  Redekunst  rundweg  ab.     So  hat  Dienel 
die  XJberzeugang  (S.  271),    'der  Dialog  des  Tacitus  sei  nach  der 
Institutio  Quintilians  und  zum  Zwecke  deren  Wider- 
le*gung  —  im    großen  und  in  Einzelnheiten  —  zu  einer  Zeit  ge- 
schrieben, wo  Tacitus  sich  der  Geschichtschreibung  zuwandte'.     Die 
Arbeit    von  Dienel    ist  jedenfalls  sehr  förderlich;    die  Auseinander- 
setzung aber  noch  nicht  abzuschließen.   So  äußert  sich  auch  W.  Kroll 
Lat.  Philol.  in  Hönns  wiss.  Forschungsber.  (1914 — 18)  S.  73 :  'Tacitus 
habe  sich  damals  der  Geschichtschreibung  zugewandt  und  sich  über 
die  von  Quintilian  aufgeworfenen  Fragen  grundsätzlich  äußern  wollen; 
um    sein  Geschichtswerk   nicht    damit   zu    belasten,    habe  er  das  in 
einer  Monographie  getan.    Das  ist  in  dieser  Form  kaum  zu  billigen; 
so  dankenswert  auch  das  reichhaltige  Material  ist,    mit  dem  Dienel 
sachliche  Berührungen  zwischen  den  beiden  Autoren  belegt,  so  muß 
bei  der  Aufspürung  polemischer  Beziehungen   doch  die  größte  Vor- 
sicht angewendet  werden.'     Quintilian  —  Lehrbuch,  Tacitus  —  lite- 

19* 


292  Ammon:  Quiatil.  inst.  or.  1910—21. 

rarische  Streitfrage.  Nach  R.  K 1  a  i  b  e  r  ,  Die  Beziehungen  des 
Kednerdialogs  zu  Ciceros  rhetorischen  Schriften,  1.  und  2.  Teil 
(Bamberg  1914.  1916)  'stellt  sich  Tacitus  nirgends  schroff  auf  die 
eine  Seite'.     Siehe  Kroll  a.  a.  0.  S.  73. 

'Den  Prosastil  sucht  in  der  Zeit  Vespasians  Quintilian 
wieder  in  die  geglätteten,  kunstmäßigen  Bahnen  Ciceros  zu  lenken. 
Tacitus  mußte  in  seiner  Jugend  die  Einwirkung  aller  dieser  wider- 
strebenden Hichtungen  über  sich  ergehen  lassen.  Geklärt  und  ge- 
läutert ist  daraus  seine  Meisterschaft  erwachsen.  Die  imponierende 
Kraft  hat  sein  Stil  erst  dadurch  erhalten,  daß  seine  ganze  Persön- 
lichkeit darin  mitschwingt',  so  ansprechend  Arthur  Stein  'Tacitus 
als  Geschichtsquelle'  in  den  Neuen  Jahrb.  1915  I  S.  373. 

Anders  urteilt,   aber  weit  weniger  treffend 
R.  Delius,    Zur    Psychologie    der   römischen  Kaiser- 
ze it.     München  1911. 

Nach  Delius  durchdenkt  Tacitus  nie  das  Ganze;  er  ist  ein 
'Mosaik  geistreicher  Fragmente'   usw.    Delius  hält  mehr  auf  Sueton. 

Tacitus'  Rednerdialog  und  Quintilians  Institutio  gehen  m.  E.  ihre 
eigenen  Wege.  Der  Dialog,  um  die  Mitte  der  siebziger  Jahre  ge- 
halten gedacht,  nicht  zu  lange  darauf  (schwerlich  20  Jahre)  nieder- 
geschrieben, muß  nicht  die  Institutio  als  Anstoß  haben,  eher  könnte 
sie  durch  Quintilians  Werk  de  causis  corruptae  eloquentiae  oder 
durch  seine  Vorträge  veranlaßt  sein.  Tacitus  schreibt  geschichts- 
philosophisch ,  stellt  Lebensanschauung  gegen  Lebensanschauung, 
legt  wie  sonst ,  z.  B.  bei  der  indirekten  Charakterisierung  des 
Augustus ,  die  richtigen  Gewichte  in  die  Wagschalen  wie  ein 
Shakespeare  und  läßt  uns  den  Befund  ablesen.  'Exzellenz'  Quin- 
tilian, der  erfahrene  Praktiker  und  persona  gratissima  bei  Domitian, 
dem  Feind  der  Philosophen ,  schreibt  für  die  Schule  und  aus  der 
Schule  fürs  Leben.  In  wesentlichen  Punkten,  wie  bezüglich  des 
unvermeidlichen  Wandels  der  Zeiten  —  mutari  cum  temporibus 
formas  quoque  et  genera  dicendi,  Dial.  c.  18  — ,  über  Natur,  über 
l^ieaotrjg  stimmen  beide  überein;  sie  schreiben  auch  in  Gedanken 
und  Worten  ihrer  Zeit,  lehnen  nur  Maniertheit  und  Unnatur  ab. 

Chr.ysipp  —  Plutarch. 

Eine    flir    die  Auffassung    der  ganzen  inst.  or.  wichtige  Unter- 
suchung hat  geliefert: 

Fridericus  Glaeser,  De  Pseudo-Plutarchi  jcsqI  Tiaidcjv 
ayioy^g.     In    den   Dissertationes    Vindobonenses    Philologae. 


X.    Quellen  und  Hilfsmittel  Quintilians;  Zeitgenossen.  293 

Vol.  XII  Pars  1.  Wien  und  Leipzig  1918,  F.  Deuticke.  107  S. 
Gr.  8. 

Die  Schrift  Über  Kindererziehung,  die,  wie  mir  Dr.  Bock  mit- 
teilte, aucli  wegen  der  Ehythmen  dem  Plutarch  nicht  beigelegt 
werden  kann,  stammt  aber  aus  der  Zeit  des  Plutarch,  wie  Glaeser 
mit  Grasberger  anzunehmen  geneigt  ist,  etwa  aus  der  Zeit  Hadrians. 
Sie  ist  das  Werk  eines  ungeschickten  Kompilators,  über  den  Gl. 
nichts  Genaueres  angeben  kann.  Sie  ist  das  Pi-odukt  der  Ver- 
mischung von  Lehren  der  mittleren  Stoa  (Panaitios,  Poseidonios) 
und  des  Peripatos  (Theophrast) ;  Chrysipp  ist  nicht  unmittelbar  be- 
nützt (gegen  Dyroff).  Die  Grundlage  war  philosophisch ,  moral- 
philosophisch gehalten ;  den  rhetorischen  Einschlag  hat  sie  erst  bei 
der  Kompilation  in  der  Zeit  des  Synkretismus  bekommen;  auch  der 
Gemeinplatz  gegen  die  schlechten  Lehrer  u.  ä.  stamme  aus  der 
Kaiserzeit  (vgl.  S.  37,  88,  95).  Die  Polemik  gegen  Chrysippos 
—  bei  Quintilian  hinsichtlich  der  körperlichen  Züchtigung  —  wird 
(S.  87)  geschickt  über  Galen  auf  Poseidonios  zurückgeführt.  Was 
Quintilian  anlangt,  so  möchte  Gl.  trotz  der  ausdrücklichen  Zitate 
nicht  annehmen,  daß  er  die  pädagogische  Schrift  des  Chrysipp 
selbst  gelesen  habe ;  diese  habe  dem  Fabius  in  einer  kompilatorischen 
Verarbeitung  vorgelegen  (S.  88),  nimmt  aber  in  der  Anmerkung 
die  These  halb  und  halb  wieder  zurück.  Mit  Recht  darf  Gl.  von 
sich  behaupten  (S.  88):  certe  quae  ilii  philosopho  (Chrys.)  non 
debeat,  adumbravimus.  Wie  Quintilian  arbeitet  und  zitiert,  glaube 
ich  aber  an  die  unmittelbare  Benützung  des  Chrysipp;  ebenso 
A.  Sizoo,  siehe  oben  S.  243  f.  zu  Buch  I.  Auf  ihn  war  er  durch  seinen 
Leitstern  Cicero  so  gut  hingewiesen  wie  auf  Panaitios  (auf  diesen 
auch  wegen  der  Vererbungstheorie  in  den  Tuskulauischen  Ge- 
sprächen) und  auf  Poseidonios ;  auch  an  Horaz'  Erwähnung  des 
Chrysippos  ist  zu  erinnern.  Vgl.  Friedr.  B  ock  in  seinem  Plutarch- 
bericht  Burs.  Bd.  187  (1921,  T)  S.  244  f. 

Um  die  Bedeutung  von  Glaesers  Arbeit  für  Quintilian  im  Umriß 
zu  zeichnen,  stehe  hier  der  Conspectus :  I  De  compositione  et  genere 
libelli,  II.  Herum  comparatio  [1 — 13  de  fine  educationis  —  de  uxore 
et  concubitu  —  de  natura,  institutione,  exercitatione  —  de  nutricum, 
servulorum,  paedagogorum  moribus  —  de  paedagogo  et  magistro  — 
Bonorum  comparatio  et  eruditionis  laus  —  de  institutione  oratoria  — 
Tor  syY.vv.Xia  7taiöei}.iaTct  et  philosophia  —  Bioi  —  Varia  —  (de 
puerorum  amore,  de  corporum  exercitatione,  de  remissione  laborum,- 
ludis ,  certaminibus)  —  subsidia  educandi  et  virtutes  —  De  di- 
scendo   —    De    adulescentibus],    III.  De    foutibus   Pseudo-Plutarchi, 


294  Ammon:  Quintil.  inst.  or.  1910 — 21. 

IV.  De  scriptore  eiusque  aetate.  Zum  gleichen  Zweck  aus  dem 
Index  nominum  et  rerum  memorabilium  (S.  106  f.)  einiges:  adula- 
tores  —  aemulatio  (zu  Poseidonios  tieqI  rcad^iov  S.  21)  —  dicendi 
genera  —  mediocritas  Peripatetica  —  vitia  adulescentium  —  de 
Xenophontis  imitatione.  Neben  aemulatio  sollte  auch  das  Schlag- 
wort ambitio  (inst.  or.  I  2,  22)  stehen. 

Den  Ammentopos,  den  Quintilian  unter  Berufung  auf 
Chrysipp  (II,  16  und  10,  32)  behandelt,  bespricht  in  seiner  stoischen 
und  nichtstoischen  Wendung 

Wilhelm  Schick,  Favorin  tceql  naidiov  ayajyijg  und  die  antike 
Erziehungslehre.    Diss.  Freiburg  i.  Br.    Leipzig  1911,  Teubuer. 

Die  von  Albrecht  Dieterich  angeregte  und  seinem  Andenken 
gewidmete,  frisch  geschriebene  Dissertation  zeigt  die  enge  Berührung 
zwischen  Favorinus,  dem  Lehrer  des  A.  Gellius,  und  Pseudoplutarch 
ttsqI  Ttaiöiov  aytoyijg',  mit  Favorin  berühre  sich  Quintilian  kaum. 
Den  Gemeinplatz  über  die  Verwendung  schlechter  Erziehungs- 
organe bei  Favorin,  der  auch  die  stoische  Lehre  von  der  Vererbung 
erweitert,  möchte  Schick  auf  den  Peripatetiker  Hieronymos  oder  gar 
auf  Theophrast  zurückführen ,  der  zuerst  7t€Ql  Tiaidcov  aycoyrjg 
schrieb.  Die  Staatspädagogik  eines  Plato  und  eines  Aristoteles 
habe  unter  dessen  Nachfolgern  schon  eine  Wendung  zur  indivi- 
dualistischen genommen,  folgend  dem  Zuge  der  Zeit.  Die  stoische 
Erziehungslehre  des  Chrysipp  hält  Schick  nicht  für  originell. 

Im  Anschluß  an  Favorin,  über  den  auch  der  Artikel  bei 
P.  W.  zu  vergleichen  wäre,  möchte  ich  nachträglich  auf  eingehende 
Untersuchungen  über  die  Ai'beitsweise  das  A.  Gellius  hinweisen, 
die  Karl  Hos  ins  in  seiner  Ausgabe  der  Noctes  Atticae  1903 
Praef.  p.  XVI — LIX  niedergelegt  hat.  Zwar  zeigt  der  Index  zu 
Gellius  nicht  den  Namen  Quintilians,  aber  der  literarische  Befund 
und  Geschmack  der  Zeit  Quintilians  wird  gut  beleuchtet.  Über 
Hosius'  Vortrag  über  römisches  Schulwesen  siehe  oben. 

Für  die  Arbeitsweise  des  Gellius  oder  der  benach- 
barten Zeit  überhaupt  ist  von  hervorragender  Bedeutung  Friedrich 
M  ü  n  z  e  r ,  Beiträge  zur  Quellenkritik  der  Naturgeschichte  des 
Plinius  (Berlin  1897,  Weidmann) :  z.  B.  S.  189  ff.  Weintrinkeu  einer 
Matrona ;  Varro  ausgeschrieben ,  aber  nicht  genannt ,  statt  seiner 
Fabius  Pictor.  Quintilian  nennt  den  Varro  (I  6,  12)  als  Mittel - 
quelle:  Varro  in  eo  libro,  quo  initia  Komanae  urbis  enarrat 
lupum  feminam  dicit  Ennium  Pictoremque  Fabium   secutus. 


XI.   Ausgaben.  295 

XI.  Ausgaben. 

In  der  Loeb  Classical  Library,  herausgegeben  von  Capps,  Page 
and  Kouse,  ist  in  schmuckem  Bädekergewand  erschienen 

H.  E.  Butler,    The    Institutio    oratoria  of  Quintiliau 

with    an    English    translation    in    four  Volumes.     Vol.  I.  XJV 

und  544  S.     Buch  I  mit  III.     II.  (IV— VI)  ib.  1921,  532  S. 

m.  (VII— IX)  ib.  1922,  596  S.    IV.  (X— XU)  1922,  548  S. 

London  —  William  Heinemann,  New  York  —  G.  P.  Putnam's 

Sons. 
Die  Einleitung  bietet  knapp  den  ßiog  in  der  gewöhnlichen 
Form:  geboren  ca.  35,  gestorben  noch  vor  100  n.  Chr.  (Beweis?). 
An  Gamurrinis  Zweifel  betreffs  des  Geburtslandes  war  zu  erinnern. 
Wenn  Quintilians  Vater  in  Eom  als  Rhetor  tätig  war,  so  überrascht  der 
nächste  Satz  'the  young  Quintilian  was  seut  to  Rome  for  his  education*. 
Die  Umrißzeichnung  des  großen  Lehrers  trifft  ihn  gut :  'humane, 
kindly  and  of  a  deeply  affectionate  nature,  gifted  with  a  robust  common 
sens  and  sound  literary  judgment,  he  may  well  have  been  the  ideal 
schoolmaster.'  Die  Bibliographie  hält  sich  auch  bündig,  ebenso  die 
Inhaltsangabe.  Der  Text  ist  der  von  Halm  mit  etlichen  Änderungen, 
besonders  in  der  Interpunktion.  Links  steht  der  lateinische  Text, 
rechts  die  englische  Übersetzung.  Die  Übersetzung  ist,  soweit 
ich  dies  für  das  Englische  beurteilen  kann ,  treu  und  geschmack- 
voll. Z.  B.  I  2,  3  über  die  angebliche  Schädigung  der  Moral  in 
öffentlichen  Schulen :  'K  it  were  proved  that  schools,  while  advantage 
US  to  study,  are  preiudicial  to  morality,  I  should  give  my  vote  for 
virtuous  living  in  preference  to  even  supreme  excellence  of  speaking. 
But  in  my  opinion  the  two  are  inreparable.  I  hold  that  no  one 
can  be  a  true  orator  unless  he  is  also  a  goodman  and,  even  if  he 
could  be,  I  would  not  have  it  so.'  Die  Partien  über  allgemeine  päd- 
agogische Fragen,  wie  die  eben  berührte,  sind  natürlich  bequemer 
zu  übersetzen  als  die  speziell  technischen  der  Grammatik  und 
Rhetorik ,  wo  eine  Übersetzung  stellenweise  ganz  unmöglich  ist, 
wie  I  6,  40  qualia  sunt  topper  et  antegerio  et  exanclare  —  I  refer 
to  words  such  as  topper,  "quite",  antegerio,  "exceedingly'',  exanclare, 
"to  exhaust",  so  behilft  sich  Butler  auch  weiterbin  öfters,  z.  B. 
bei  den  verschiedeuen  status  ('bases')  III  6.  Ich  habe  es  bei  der 
Übersetzung  von  Dionys  von  Halikarnaß  Tlegi  avvd'.  ov.,  wie  früher 
bei K. Kuchtners  Übersetzung  der  Herenniusrhetorik,  wieder  erfahren: 
wo  die  Sprachform  als  solche  in  Betracht  kommt,  sind  die  Grenzen 
der    Übersetzung    fest    gezogen.      An    Umfang    wird    die    modern- 


296  Ammon:  Quintil.  inst.  or.  1910—21. 

sprachliche  Übersetzung  in  der  Regel  etwas  länger  (bei  Butler  etwa 
um  ein  Viertel)  als  das  antike  Original. 

Auf  den  lateinischen  Text,  der  sauber  und  übersichtlich 
gedruckt  ist,  näher  einzugehen,  liegt  kein  Grund  vor.  III  11,  20 
wird  Clytaemnestra  (englisch  Clytemnestra)  gedrtickt ,  obwohl  auch 
bei  Quintilian  das  n  nicht  begründet  ist.  Im  Index,  der  nur  die 
erklärungsbedürftigen  Namen  wie  Agnon,  Aleidamas  enthält,  finden 
sich  Clytaemestra,  Agamemnon  u.  ä.  nicht.  Es  wird  das  überlieferte 
Marcelle  Victori  geboten,  Vitoii  nicht  erwähnt,  auch  im  Index  nicht. 
Der  IV.  Bd.  enthält  S.  517  Index  of  names,  S.  533—549  Index 
of  words,  auch  die  graeca,  wie  das  Schlagwort  dva7taQay(.oXovOr]TOv 
IV  1,   40,   das  uns   oft  bei  Dionys  von  Halik.  begegnet. 

Butlers  äußerst  gefällige  und  handliche  Ausgabe  wird  besonders 
den  englischen  und  amerikanischen  Pädagogen  erwünscht  sein ;  viel- 
leicht greift  auch  mancher  deutscher  Neusprachler  und  Pädagoge, 
der  nicht  das  pädagogische  Evangelium  von  Rousseau  ausgehen  läßt, 
wegen  der  guten  englischen  Übersetzung  nach  Butlers  Buch. 

M.  Fabii  Q,  u  i  n  t  i  1  i  a  n  i  institutionis  oratoriae  liber    decimus. 
Erklärt    von    E.    Bonneil.       6.  Aufl.    von    Hermann    Röhl. 
Berlin  1912,  Weidmann.     98  S.     8. 
Der    hervorragende    Horazinterpret   H.   Röhl    hat    umfassendes 
Wissen,    Takt  und  Pietät  der  bewährten  Bonuellschen  Ausgabe  des 
10.  Buches,    um    deren    5.   Auflage    sich    der  Quintilianherausgeber 
Ferdinand  Meister    sehr    verdient    gemacht  hatte ,    in  dankenswerter 
Weise    zugewendet.     Ich    habe    in    meiner  Besprechung    der  Neu- 
auflage B.  ph.  W.  33,    1913,    877  &.    einige  Wünsche  geäußert  für 
eine    künftige  Behandlung  der    iudicia,    der  hellenistisch  -  römischen 
Terminologie    der    Rhetorik ,    der    Klauseltechnik  u.  a.     Diese  sind 
schon  im  Hinblick  auf  die  zum   10.  Buch  im  einzelnen  angeführten 
Schriften    nicht    zu    wiederholen.     Auch    die   textlichen  Neuerungen 
sind  oben  nach  Röhls  Studien  behandelt. 

Ferdinand  Meister,  Quintiliani  Institutio  oratoria.  Liber  X. 
Wien-Leipzig  1921,  Tempsky-Freytag.  Zuerst  1897.  Neue 
Titelauflage  1920. 
Nicht  benützen  konnte  ich: 
—  A.  Beltrami,  Quintiliani  Institutionis  oratoriae  liber  XII 
con  introduzione  e  commento.  Roma  1910,  Albrighi  Segati 
e  Co. 

Rez.  A  e  R  N.  133'134  p.  42—43  von  C.  Biene. 
Boficl  XVII,  2/3,  p.  48—51  von  Cisorio. 


XII.    Fortleben  der  Institutio  oratoria  Quintilians.  297 

—  A.  Beltrami  .  .  .  libro  X.    Bologna  1904,  Zanichelli.    154  S. 

—  M.  Bassi  ...  libro  X^  (ristampa).     Torino  1914. 

—  Hild  ...  1.  X. 

—  Lupi  ...  1.  I.     Livorno  1915;  auch  nicht: 

—  Greene,  H.  W zu  XII  10,  64;  in  Class.  Quart.  IX  (1915) 

S.  55. 

Wir  brauchen  heutzutage 

a)  eine  Erneuerung  und  Weiterführung  der  grolien  kritischen 
Ausgabe  von  Halm  (1868/69), 

b)  eine  Ausgabe  mit  fortlaufendem  Kommentar,  der  in  allen 
Teilen  auf  der  Höhe  der  Wissenschaft  steht ;  beides 
natürlich  nicht  Ttagegya. 

XII.  Fortleben  der  Institutio  oratoria  Quintilians. 

über    den    Einfluß    auf   Firmianus    Lactantius,    den    christ- 
lichen Cicero,  handelt 

Hubertus  Jagielski,  De  Firmiani  Lactantii  fontibus  quaestiones 
selectae.  Königsberger  Diss.  Königsberg  1912.  97  S.  Gr.  8. 
Quintilian  wird  neben  Varro,  Seneca  und  Gellius  —  Cicero  ist 
früher  von  Pichon  behandelt  —  als  eine  Quelle  für  Laktauz,  der 
mit  einem  seiner  Hauptwerke  Institutionum  divinarum  libri  VII  zur 
Verbreitung  des  Titels  beigetragen  hat,  aufgezeigt  (S.  89 — 93)  an 
Ähnlichkeiten,  die  freilich  hie  und  da  auch  eine  andere  Erklärung 
zulassen. 

In  Parallele  treten  z.  B.  Lact.  Instit.  H  12,   4  mit  Quint.  I  4,  4. 
Für    den    Bestand    der    bei    Quintilian    berührten  Stenographie 
(Tachygraphie)  bietet  wenig: 

Arthur  Mentz,    Das  Fortwirken  der  römischen  Steno- 
graphie.    Neue  Jahrb.  19  (1916)  I  S.  493—517, 
aber  viel  für  die  Geschichte  der  Stenographie  mit  der  einschlägigen 
Literatur. 

Für  das  Fortleben  und  Fortwirken  Quintilians  enthält,  wie 
schon  oben  bei  der  Überlieferungsgeschichte  angedeiitet,  nicht  wenig : 
Max  Manitius,  Gesch.  der  lat.  Lit.  des  Mittelalters,  München 
1911.  Handb.  von  Iw.  von  Müller  IX  2,  1 ; 
so  war  die  Inst,  nach  Cassiodor  in  der  Bibliothek  von  Vivarium  vor- 
handen ;  der  Abschnitt  de  analogia  bei  Isidnr  von  Sevilla  stammt  aus 
Quintilian  (S.  63).  S.  486  Anm.  4  :  'Es  gab  eine  unvollständige  insulare 
[bei  Altsig  in  England]  und  eine  vollständige  römische  Überlieferung 


298  Ammou:  Quintil.  inst.  or.  1910 — 21. 

Quintilians'   [bei  Benedikt  III.].      Für    die  Zeit  Petrarcas  und  Pog- 
gios  vgl.  oben  S.  224  ff.    Überlieferung  (Sabbadini,  Beltrami). 

Ein  Grundstein  der  Instit.,  der  'vir  bonus'  wird  im  Aufbau  der 
Eenaissance  verwendet,  wenn  auch  Quintilian,  dessen  Einfluß  nach 
Aug.  Messers  Forschungen  mächtig  war,  nicht  immer  genannt  wird. 
Zum  Verständnis  des  Tugendbegriffes ,  besonders  des  politischen, 
trägt  viel  bei 

Karl  Borinski,  DieWiedergeburtsidee  in  den  neueren 

Zeiten.     In  den  Sitz.-Ber.  d.  Bayer.  Ak.  d.  Wiss.     Philos.- 

philol.  u.  bist.  Kl.     Jahrg.  1919,   1.  Abhandlung, 

z.  B.  S.   67   und  die  Literaturnachträge  S.  120  (Burdach:  Wolkan; 

Hans  Tiedemann  'Tacitus  und  das  Nationalbewußtsein  der  deutschen 

Humanisten  um  1500'). 

Konrad  B  u  r  d  a  c  h  ,  der  beste  Kenner  der  Renaissance  (auch 
Jakob  Burckhardt  überragend),  gibt  seit  1912  im  Auftrage  der 
Preußischen  Akademie  der  Wiss.  unter  dem  Titel  „Vom  Mittelalter 
zur  Reformation"  eine  Sammlung  (bisher  4  Bände)  heraus,  die  auch 
für  das  Fortleben  Quintilians  von  Bedeutung  ist. 

Konrad  B  u  r  d  a  c  h  ,   Reformation  —  Renaissauce  —  Humanismus. 
Zwei  Abhandlungen    über    die   Grundlagen    moderner  Bildung 
und  Sprachkunst.     Berlin  1918,  Gebrüder  Paetel.     220  S. 
Bespr.  Literaturblatt    f.    germ.    u.   rom.  Phil.  43,  1922,  153  ff. 
von  Koerner. 

Wie  sich  im  Kreise  Petrarcas   und  Poggios  der  Wechselbegriff 
Renaissance    und    Humanismus    entwickelt  hat,  faßt  B.  übersichtlich 
usammen. 

Quintilians  Institutio  war  im  Kreise  Poggios,  der  1416  den 
Codex  mit  dem  unverkürzten  Text  in  St.  Gallen  entdeckte,  bekannt 
und  wirksam.     Auch  an 

Burdach,    Deutsche  Renaissauce.     2.  Auflage.     Berlin  1918, 
sei  erinnert. 

„Der    antike  Kultus,    in    seinen   originalen  Formen  wenigstens, 

mochte    vergehen.     Die    antike    Schule   als  disciplina  blieb."     Über 

dieses    Fortwirken    namentlich   'der    Systematik    Quintilians    spricht 

(der  12.  1.  22  als  Professor  an  der  Universität  München  verstorbene) 

Karl  Borinski,   Die  antike  Poetik  und  Kuusttheorie 

vou  (richtig :  vom)  Ausgang  des  klassischen  Altertums  bis  auf 

Goethe  und  Wilhelm  von  Humboldt.    L  Mittelalter,  Renaissance, 

Barock.     Leipzig  1914,  J)ieterichsche  Buchhandlung.     324  S. 

Heft  IX  vom  „Erbe  der  Alten". 


XII.   Fortleben  der  Institutio  oratoria  Quintilians.  299 

Wie  zu  Beginn  des  Mittelalters  die  artes  bei  Augustin  und 
Cassiodor  weitergeblüht,  zeigt  (I  3)  S.  30  5  die  internationale  Lati- 
nitas,  von  Valla  als  Göttin  gefeiert,  mit  ihrem  aptum  und  der  TCBid^O) 
führt  die  Kunsttheorie  (II  3  S.  120  ff.)  ?  für  die  Zeit  der  Hoch- 
renaissance und  des  Barock  ist  der  Stilschule  Quintilians  ein 
Paragraph  (III  2  S.  176  ff.)  gewidmet;  auch  die  Poetik  der  Ke- 
naissance  greift  auf  Quintilian  zurück  (S.  227).  Reiche  Literatur 
in  den  Anmerkungen ;  auch  Behandlung  einzelner  Stellen. 

Johann  Michael  Hofer,  Die  Stellung  des  Desiderius 
Erasmus  und  des  Johann  Ludwig  Vives  zur  Pä- 
dagogik des  Quintilian.  Erlanger  Dissert.  Erlangen 
1910.     IV,  221  S.     Gr.  8. 

Wie  der  katholische  Theologe  Ben.  Appel  hat  auch  der  pro- 
testantische Theologe  Hofer  (geb.  1887)  der  Instit.  or.,  angeregt 
und  gefördert  durch  Ad.  Römer,  seine  Arbeitskraft  gewidmet.  Der 
Einfluß  Quintilians  als  *^autor  classicus'  der  Pädagogik  wird  kurz 
skizziert  (S.  1 — 13);  so  auf  die  jüngeren  lateinischen  Rhetoren,  auf 
Hieronymus,  Hilarius,  Servatus  Lupus  (Karolingerzeit),  Vincenz  von 
Beauvais,  auf  den  Humanismus.  Den  Humanistenfüi-sten  Erasmus 
und  den  mehr  ethisch  gerichteten  Vives  hatte  schon  A.  Messer 
eingehend  behandelt  —  vgl.  meinen  Bursianbericht  Bd.  109  (1901 
II)  S.  140  f.  Darauf  war  zu  verweisen.  Es  ist  schon  betont  worden, 
daß  von  acht  einschlägigen  Schriften  des  Erasmus  sich  dieser  Ein- 
fluß naturgemäß  am  meisten  in  dem  Buche  De  pueris  statim  ac 
liberaliter  instituendis  (1529)  kund  macht.  Hofer  weist  wörtliche 
und  gedankliche  Übereinstimmungen  in  großer  Menge  nach.  Haupt- 
gebiete sind :  Beginn  der  'Unterweisung',  Beginn  der  sittlichen 
Erziehung,  das  Ideal  der  Bildung  (Eloquenz),  der  sittlichen  Er- 
ziehung, die  Kindesuatur,  Verhältnis  von  Anlage  und  Erziehung, 
Übung,  die  Individualität,  Kennzeichen  der  Anlagen,  frühreife 
Talente,  Verhältnis  von  Körper-  und  Geistespflege  (Spiel  und  Er- 
holung), die  Erziehungsfaktoren  (Eltern,  Wärterinnen,  Pädagoge, 
Lehrer,  Kameraden),  Unterricht  im  Hause  oder  in  der  Schule? 
Die  Zucht,  Beeinflussung  des  Willens  (Schläge,  Ehrgefühl  —  Ehr- 
geiz —  der  Unterricht  —  spielend  lernen  —  Anschauung) ,  die 
Methode  des  Unterrichts,  Aussprache,  Lesen  und  Schreiben,  Gram- 
matik und  ihr  Unterrichtsgang,  die  Klassikerlektüre  und  ihre 
Interpretation ,  Griechisch ,  die  Imitation.  Nach  dem  'Rückblick' 
S.  90  f.  verarbeitet  und  erweitert  Erasmus  oft  Quintilian,  kritisiert 
ihn  aber  nicht;  für  ihn  ist  der  römische  Professor  'völlige  Autorität*. 
*Von    einer  inneren  Verwandtschaft  der  beiden  Pädagogen'  (S.  90) 


300  Aminon:  Quintil.  inst.  or.  1910 — 21. 

läßt  sich  aber  nur  cum  grano  salis  sprechen.    Das  Beste  in    der  In- 
stitutio  ist  Überlieferungsgut. 

Nach  dem  fast  gleichen  zweckmäßigen  Plan  wird  Vives  be- 
handelt, der  nach  dem  'Eückblick'  S.  159  als  eigen  hat:  'Kritik 
an  den  Alten  und  Fortschreiten  über  dieselben  hinaus' ;  also  den 
Weg  der  neuzeitlichen  Pädagogik  betritt. 

Anhangsweise  möchte  ich  hinweisen  auf  Erasmus  (Dialogus) 
Cicero  nian  US  von  1528,  den  Job.  Karl  Schönberger  nach 
der  Baseler  Ausgabe  von  1540  neu  herausgegeben  hat.  I.  Teil: 
Text.  Augsburg  1919.  83  S.  Bezüglich  des  Hauptstrebens  der 
Humanisten,  der  Imitation,  äußert  sich  der  Mitunterredner 
Bulephorus  im  Sinne  Qu  in  tili  ans  so  (S.  80  f.):  'Nullus  fuit 
unquam  tarn  absolutus  artifex  in  cuius  opere  non  aliquid  deprehendas 
quod  melius  reddi  possit.  Ad  haec  nolim  hanc  imitationem  nimis 
anxiam  ac  superstitiosara  esse.  Nam  hoc  ipsum  obstat,  quomiuus 
efficiamus  quod  volumus.  Nee  ita  censeo  M.  Tullium  adamandum 
ut  a  ceteris  omnibus  abhorreas,  sed  optimos  quosque  primum  legendos 
et  ex  optimis  quod  in  quoque  est  Optimum  excerpeudiim  .  .  .  Ad 
haec  nolim  quenquam  sie  addictum  esse  Ciceroni  imitando,  ut  a  suo 
recedat  ingenio  et  valetudinis  vitäeque  dispendio  consectetur  quod 
repugnante  Minerva  non  possit  assequi  vel  nimio  constaturum  sit, 
si  tandem  assequatur.' 

Wenn  auch  Quintilian  in  den  Schulordnungen  'fast  niemals  mit 
Namen'  genannt,  so  ist  doch  sein  Einfluß  unverkennbar,  wie  Ernst 
Schwabe  betont  *,  siehe  Neue  Jahrb.  1915  II  S.  292  'Die  Zwickauer 
Schulordnung  des  Rektors  Esrom  Rüdinger  vom  Jahre  1550' ; 
Rüdinger  beruft  sich  bezüglich  der  mores  praeceptoris  ausdrücklich 
auf  den  Fabius  (S.  302). 

Hans  Heim,  Fürstenerziehung  im  16.  Jahrhundert. 
Beiträge  zur  Geschichte  ihrer  Theorie.  Forschungen  und 
Fragen,  herausg.  von  R.  Stölzle,  Heft  11.  Paderborn  1919, 
Sehöningh.     XII,   179  S.     8". 

Wenn  die  Studie  fruchtbringend  werden  sollte ,  so  durfte  sich 
der  Verf.  —  wie  Adolf  Hase  n  cl  ever  -  Halle  a.  S.  in  seiner- Be- 
sprechung Deutsche  Lit.-Ztg.  1922,  154  f.,  betont  —  nicht  auf  die 
Vorführung  der  wenig  bekannten  Gelehrten  (Christoph  Vischer, 
Belisar,  Aquaviva,  Michael  Marullus,  Joachim  Hopper,  Stephan 
Piphius,  Thomas  Sigfried,  Franziscus  Patricius)  beschränken,  sondern 
mußte  die  Abhängigkeit  dieser  von  den  vorausgehenden  päd- 
agogischen Theoretikern  feststellen ;  also  auch  auf  Quintilians  Ein- 
fluß eingehen. 


XII.    Fortleben  der  Institutio  oratoria  Quintilians.  3Q1 

Marianne  Wychgram,  Quintilian  in  der  deutschen 
und  französischen  Literatur  des  Barocks  und 
der  Aufklärung.  In  Friedrich  Manns  Pädagogischem  Ma- 
gazin Nr.  803.  Langensalza  1921.  XII,  150  S.  8. 
Unter  Hinweis  auf  die  von  mir  im  letzten  Bursianbericht 
(1-18.  Bd.  S.  167)  bezeichneten  Desiderata  der  Q.uintilianliteratur 
unternimmt  es  die  Verf.,  die  Geltung  Quintilians  für  das  deutsche 
Geistesleben  des  17.  und  18.  Jahrhunderts,  soweit  es  in  der  Lite- 
ratur zum  Ausdruck  kommt,  zu  untersuchen.  In  der  Antithese 
Barock  -  Aufklärung  (bis  auf  Adelung)  treten  zwei  verschiedene 
Arten  der  Geltung  Quintilians  deutlich  hervor  —  über  die  Sturm- 
uud  Drangperiode  stellt  W.  gesonderte  Untersuchung  in  Aussicht. 
Es  wird  nach  Angabe  der  Verf.  noch  ein  doppelter  Zweck  im  Auge 
behalten :  das  Fortwirken  der  Antike  überhaupt  und  der  literarische 
Stil  des  17.  und  18.  Jahrhunderts.  Statt  der  systematischen  Dar- 
stellung ,  z.  B.  Quintilians  Bedeutung  für  Ehetorik  und  Stilistik, 
für  Pädagogik ,  Psychologie  und  Ästhetik ,  für  allgemeine  Kunst- 
theorie (Das  Erbe  der  Alten  9.  Bd.)  usw.,  wie  dies  zum  Teil  bei 
Karl  Borinski ,  Die  Antike  in  Poetik  und  Kunsttheorie  geschehen 
ist,  wird  die  historische  Methode,  das  zeitliche  Nacheinander  ge- 
wählt; es  werden  die  führenden  und  repräsentativen  Persönlich- 
keiten (z.  B.  Morhof,  Grübel,  Chr.  Weise,  Schröter ;  Uhse,  Bödiker, 
Neukirch,  Lougolius,  Leibniz)  ins  Auge  gefalJt;  die  klassische  fran- 
zösische Literatur  (Racine,  Lafontaine,  Lami,  Rapiu,  die  Teilnehmer 
au  der  „Q,uerelle  des  Anciens  et  des  Modernes",  ßolliu,  Du  Bos) 
wird  nur  insoweit  berücksichtigt,  als  sie  auf  die  Geltung  Quintilians 
bei  den  Deutschen  eingewirkt  hat :  Ausgaben,  Fabricius,  Hallbauer, 
Gottsched,  Breitinger,  Simonetti,  Peucer,  Baumgarteu,  G.  F.  Meier, 
Job.  El.  Schlegel,  Joh.  Ad.  Schlegels  Batteuxübersetzung,  ßabener, 
Geliert,  Friedrich  der  Gr.  und  Bielfeld,  Thomas  Abbt,  J.  F.  Löwen, 
Hogarth,  Ant.  Eaph.  Mengs ,  Winckelmann,  Lessing,  Eschenburg, 
Sulzer,  Wieland,  Garve,  Adelung.  Vorausgeht  dieser  stoffreichen 
Darstellung  eine  kurze  Analyse  der  Institutio  oratoria  (S.  1 — 5), 
an  der  Natürlichkeit  und  Ausgeglichenheit  des  Stils  besonders  ge- 
rühmt werden,  und  eine  Skizze  der  Geltung  Quiutilians  im  Mittel- 
alter, in  der  Kenaissance  und  im  Übergang  zur  Barockzeit  (S.  6 — 23) ; 
abgeschlossen  wird  die  gehaltvolle  Arbeit  durch  die  Zusammen- 
fassung S.  136 — 138.  Einen  Index  ersetzt  die  eingehende  Inhalts- 
übersicht S.  X — Xn  und  das  Literaturverzeichnis  (Quellen  und  Dar- 
stellungen) S.  139 — 147,  in  dem  sich  freilich  etliche  Lücken  uud 
störende  Druckfehler  finden.     Hervorheben  möchte  ich  die  Stellung 


302  Ammon:  Quintil.  inst,  or.  1910 — 21. 

Lessings  (S.  119  ff.),  der  ii,  a.  viel  über  die  actio  (auch  den  Ausdruck 
^Chironomie"'  inst.  I  11,  17)  aus  Quintilian  genommen  hat.  Mehr 
einzugehen  war  auf  (bayerische)  Schulordnungen,  besonders  der 
Jesuitenkollegien.  Zu  den  Schriften  über  Fortleben  Quintilians,  das 
ich  in  meinen  Bursiauberichten ,  auch  über  Cicero ,  mitbehandelt 
habe,  wären  u.  a.  noch  zu  stellen  Manitius,  Sabbadini,  Bassi,  Bel- 
trami ') ;  zu  den  Gesamtdarstellungen  Quintilians  neben  Froment  in 
Buissons  Dictionnaire  de  Pedagogie  (Paris  1911)  die  von  Schwabe 
bei  Pauly-Wissowa  (Fabius)  und  die  in  dem  Vortrag  über  römisches 
Schulwesen  von  Karl  Hosius ;  die  in  der  Cyclopedia  of  Edu- 
cation  V  S.  101  f.  (New  York  1913)   bietet  nicht  viel. 

Bei  Paulsen -Lehmann,  Gesch.  d.  gel.  Unterrichts  (I  1919, 
II  1921)  ist  zwar  wiederholt  von  Quintilian  die  Rede,  aber  in  den 
Registern  findet  sich  sein  Name  nicht  (wie  die  der  Klassiker  über- 
haupt nicht). 

Am  meisten  näherte  sich  Johann  Sturm  der  antiken  Rhetorik. 
Hier  schafft  Aufklärung 

Walter    So  hm,    Die    Schule    Johann    Sturms    und    die    Kirche 

Straßburgs     in    ihrem    gegenseitigen    Verhältnis    1530 — 1581. 

Ein  Beitrag   zur  Geschichte  deutscher  Renaissance.     München 

und   Berlin    1912.     XIV,  318  S.     27.    Bd.    der    ^Historischen 

Bibliothek'. 
S.  31  ff.  'Der  Begriff  und  die  Schule  der  sapiens  et 
eloquens  pietas'  (Aristoteles  —  Cicero  —  Quintilian  —  Hermo- 
genes).  'Haben  wir  seinen  [sc.  Ciceros]  Geist  erfaßt,  dann  ist  auch 
der  Quintilians  geschildert,  der  nur  des  Meisters  Ideen  zu  einer 
klassischen  Pädagogik  umarbeitet'  (S.  44).  Auch  Sturm  setzt  gerne 
orator  =  philosophus  (S.  95).  Vgl.  oben  S.  222  zu  Appels  Arbeit. 
Auf  das  Fortwirken  des  als  Erzieher  seines  rhetorischen  Volkes 
hocheingeschätzten  Quintilian  kommt 

Paul  Barth,  Die  Geschichte  der  Erziehung  in  soziologischer  und 

geistesgeschichtlicher    Beleuchtung,    2.    Aufl.      Leipzig    1916. 

751   S. 
immer  wieder  zix  sprechen  (Humanisten,  Locke,  Gesner  usw.),  nament- 
lich  tritt   bei    ihm    aber    die  'Erziehung   in    der  Klassengesellschaft 
des  Altertums'    S.  123  ff.    durch    die    benachbarten    Gegensätze    ins 
rechte  Licht. 


1)  Einen  Avie  starken  Einfluß  die  antike  Pädagogik,  neben  Quintilian 
auch  das  unter  Plutarchs  Namen  gehende  Büchlein  tkqI  nctiSwv  dyayyijs, 
geübt  hat,  skizziert  unter  Angabe  reicher  Literatur  A.  Sizoo,  De  Plu- 
tarchi   qui  fertur  de  liberis  educandis  libello  (1918  s.  o.),  im  Prooemium. 


XII.    Fortleben  der  Institutio  oratoria  Quintilians.  303 

Ernst  Bergmann,  Die  antike  Nachahmungstheorie  in  der  deut- 
schen   Ästhetik    des    XVIII.    Jahrhunderts.      Probevorlesung, 
gehalten    an    der    Universität    Leipzig    1910.     In    den    Neuen 
Jahrb.  1911  I  S.  120—131. 
Nach  Aristoteles,  der  von  seinem  Lehrer  Piaton  hierin  abweicht, 
beruht  die  Freude  an  der  uii-irjaig,  an  der  Kunst  überhaupt,  in  dem 
Vergleichen   von  Abbild    und  Urbild  .  .  .      „Bei  den  Römern  erhält 
die  (.iif.ir]aig  einen  anderen  Sinn.    Wenn  Cicero,  wenn  Quintilian 
von    i  m  i  t  a  t  i  o    reden  ,    so    meinen    sie    damit  die  Nachahmuns:  der 
großen  Werke  berühmter  Vorgänger.     Diese  Verflachung  der  Nach- 
ahmungstheorie und  Einschränkung  auf  die  Rhetorik  wirkt  dann 
fort   durch    die    ganze   neulateinische  Dichtung  und  Renaissance  bis 
ins  XVin.  Jahrhundert  hinein.     So    schreiben   die   Bembo ,    Sturm, 
Joh.  Gerh.  Voß    und    viele    andere    de    imitatione    oratoria.      Auch 
Kant  gebraucht  das  Wort  noch  in  dem  angedeuteten  Sinn," 

Wenn  Paul  Merker  in  seinem  Aufsatz  ''Der  Ausbau  der 
deutschen  Literaturgeschichte'  in  den  Neuen  Jahrbüchern  f.  kl.  Alt. 
1920  I  (S.  72)  sagt:  ''Zunächst  fehlt  uns  eine  literarische  Stil- 
und  Formgeschichte,  die  die  Wandlungen  der  allgemeinen 
dichterischen  Form  und  des  Stils  durch  die  Jahrhunderte  verfolgte', 
so  zeigen  die  Arbeiten  von  Borinski,  Wychgram,  Bergmann  u.  a., 
was  uns  auch  hier  Quintilian  sein  kann.  Rhys  Roberts  hat  von 
Dionys  von  Halikarnaß  ausgehend  eine  Geschichte  der  literarischen 
Kritik  in  Angriff  genommen. 

Wegen  der  Übersetzungen  Quintilians  —  eine  solche  war  auch 
für  Drerups  Rhetorische  Quellenschriften  in  Aussicht  genommen  — 
ist  zu  verweisen  auf 

W.  Franz el,    Geschichte    des  Übersetzens   im  18.  Jahrhundert. 
Leipzig  1914. 
Siehe  oben  zu  Buch  X. 

Xin.  Quintilians  Bedeutung  für  die  Gegenwart. 

Die  Institutio  enthält  1.  eine  bis  zur  Raffiniertheit  entwickelte 
rhetorische  Technik,  die  dem  künftigen  Berufsredner  die  besten 
Wege  öffentlicher  Wirksamkeit  weist,  2.  eine  auf  dieses  oratorische 
Ideal  eingestellte  allgemeine  Bildungs-  und  Erziehungslehre,  3.  ein 
Kultur-  und  Sprachbild  der  Weltstadt  aus  dem  Hochstand  ihres 
Imperiums.  Ein  solches  Werk  kann  den  Epigonen  nicht  entbehrlich 
werden,  auch  wenn  sie  an  den  Grundfragen  menschlichen  Aufstiegs 
nicht  so  irre  geworden  wären  wie  die  Gegenwart.    Zwar  klingt  das 


304  Ammoa:  Quiutil.  inst.  or.  1910—21. 

Eeichsgesetz :  „Jedes  deutsche  Kind  hat  ein  Kecht  auf  Erziehung 
zur  leiblichen,  seelischen  und  gesellschaftlichen  Tüchtigkeit"  noch 
verheißungsvoller  als  das  Programm  des  civis  Komanus,  aber  zum 
Zweck  der  Durchführung  wird  es  gut  sein,  ab  und  zu  bei  dem 
alten  'Professor'  ein  Stündchen  zu  hören.  'Von  keinem  Gebiet 
gilt  so  sehr  die  Wahrheit,  daß  in  der  Gegenwart  die  ganze  Ver- 
gangenheit enthalten  ist  wie  von  der  Erziehung'  (Eduard  Spranger, 
Kultur  und  Erziehung,   S.   1). 

a)  Zur  Rhetorik. 

Unsere  Zeit ,  die  Zeit  der  Großstädte  und  des  Verkehrs ,  der 
Freistaaten  und  der  Parlamente  ist  rhetorisch  oder  wird  rhetorisch. 

Adolf   Damaschke,    Volkstümliche    Redekunst,    Erfah- 
rungen und  Katschläge.     Jena  1911. 

„In  der  Redekunst  ist  der  Wille  zur  Tat  das  Entscheidende" 
(Vorwort);  virtus  und  pectus,  die  Quintilian  fordert,  stehen  dem 
nahe.  Die  Disposition  (Fleiß  und  Begabung  —  Stoff —  Gliederung  — 
Ausdruck  —  Aneignen  —  Vortrag;  von  der  Vollendung  der  Rede- 
kunst) zeigt  uns  das  Gerippe  der  alten  Techne.  Quintilian  (S.  4. 
36.  37.  47  genannt)  kommt  zur  Geltung,  z.  B.  die  Bedeutung  des 
Proömiums.  „Wenn  man  das  erste  Knopfloch  verfehlt,"  mahnt 
Goethe,  „kommt  man  mit  dem  ganzen  Zuknöpfen  nicht  zustande. 
Der  Anfang  muß  gut  sein." 

Umfassender  ist  das  10  Jahre  später  erschienene  Buch 

Adolf  Damaschke,  Geschichte  der  Redekunst.  Eine 
erste  Einführung.  Jena  1921,  Fischer.  VIII,  320  S. 
Wie  seine  Geschichte  der  Nationalökonomie  „soll  auch  dieses 
Buch  nichts  voraussetzen  und  verzichtet  ebenso  auf  wissenschaft- 
liche Vollständigkeit"  ...:  „Mit  höhnischem  Spott  und  bitterem 
Weh  wird  heute  die  Anklage  erhoben,  daß  wir  Deutsche  niemals 
ein  staatsbüi-gerlich  durchgebildetes  Volk  gewesen  sind.  Im  rechten 
Sinn  aufgefaßt,  kann  eine  Geschichte  der  Redekunst  mehr  zu  solcher 
staatsbürgerlichen  Erziehung  helfen  als  Arbeiten  auf  vielen  anderen 
Gebieten"  (S.  V).  Ähnliche  Gedanken  schließen  öfter  auch  meine 
rhetorischen  Berichte.  Von  Homer  bis  auf  uns  durcheilt  D.  die 
Zeit  in  10  Abschnitten  (I  1  Homer  —  X  5  „Und  wir").  In  Rom 
zeigt  die  Graccheuzeit  die  Macht  des  radikalen  Schlagwortes  (S.  59). 
Der  Abschnitt  II  5  'Cicero'  und  II  6  'Um  Cicero'  (S.  78—113) 
und  IT  7  'Der  Ausgang  in  Westrom'  (S.  113 — 133),  in  dem  „Ex- 
zellenz"  Quintilian    und   Tacitus    im    ganzen    angemessen   behandelt 


XIII.    Quintilians  Bedeutung  für  die  Gegenwart.  305 

sind,  ersetzen  streckenweise  einen  Saclikommentar  zur  Inst.  or. 
Ein  Namenverzeiclinis,  das  mau  vermißt,  würde  auch  das  Fortwirken 
der  antiken  Beredsamkeit  (Demothenes  —  Pitt  usw.)  leicht  überblicken 
lassen. 

Fritz     Gerathewohl,     Erziehung     zum     Redner.      Eine 
Anleitung.     Berlin  1922,  Zentralverlag.     32  S.  8. 
Wie  der  Titel  der  Inst.  or.  entspricht,  so  auch  mehrere  Kapitel: 
Die  Atmung   —    das    Sprechen    (Naturresonanz,    Stimmlagen,    Wort 
und  Inhalt)  —    die  Rede  —  der    Stil ,    mit    geeigneten   Beispielen, 
auch    aus    unseren    Klassikern.      Von    der    augeführten    Literatur 
(Martin-Seydel,  Ewald  Geißler,  Kofier,  Schreber,  Krumbach-Balzer, 
Damaschke,    Preßler,  Wallaschek,  Naumann,  Wunderlich,  Niemann, 
Le  Bon,    David,    Hermann  Müller)    sind  mehrere  ,    wie  Le  Bon,  La 
Psychologie  des  foules  (3.   Aufl.    Leipzig  1919) ,    schon    fiüher    be- 
sprochen oder  berührt,  andere  seien  hier  noch  kurz  skizziert. 
HansCalm,  Redner  und  Rede.    Leipzig  [1919],  Voigtländer. 
161   S. 
gibt  gute,  knappe,  klare  Weisungen. 

Gustav    Herrmann,  Die    Kunst    der   politischen    Rede. 
Leipzig-G.  1921,  in  2  Bändchen, 
Für    Quintilians    Forderung,     daß    der    höchste    Gipfel    der    Rede- 
kunst   einem    durchaus    anständigen    Menschen    erreichbar 
sei  (I  S.  9).    Kurzer  geschichtlicher  Überblick. 

Bei  der  Besprechung  der  Arbeit  von  Armin  Krumbacher, 
Die  Stimmbildung  der  Redner  im  Altertum  (s.  o.),  hebt  W.  E.  J. 
Kuiper  im  Museum  29,  8,  S.  192  ff.  als  besonders  lehrreich  hervor, 
zu  sehen,  wie  die  Stimmbildung  der  Redner  im  Altertum 
in  einer  Weise  üblich  war,  wie  man  sie  erst  wieder  im  20.  Jahrb. 
zum  Gegenstand  des  Unterrichts  gemacht  hat  (Phil.  Woch.  1922, 
691).  Ahnlich  schließt  Friedrich  Levy  seine  eingehende  Besprechung 
Philol.  Woch.  1922,  702—705. 

Quintilian  hat  sich  wie  Cicero  und  Dionys  gründlich  mit 
Musik  beschäftigt.  In  einen  größeren  Zusammenhang  rückt  diese 
Studien  ein  Schüler  von  Otto  Crusius, 

Hermann  Abert,    Die    Lehre    vom    Ethos    in    der   grie- 
chischen Musik.  Leipzig  1899.  2.  Bd.  in  Breitkopf  &  Härteis 
Sammlung    musikwissenschaftlicher   Arbeiten,    z.    B.    S.    43  f. 
'Grammatik,  Rhetorik,  Metrik.      Die  Laien',    Quintilian  u.  a. 
Über    die    Veröffentlichungen     über    Redekunst    (Rhetorik) 
berichtet    Ewald    Geißl  er-Erlangeu     in    der    Zeitschrift     für 
Deutschkunde,    zuletzt    1922,    Jahrg.    36,    S.    189—191    (Gerliug» 
Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft  Bd.  192  (1922  II).  20 


306  Ammon:  Quintil.  inst.  or.  1910 — 21. 

Calm,  David,  Fritz  Müller,  Fritz  Specht,  Gustav  Hermann) :  drei 
seien  herausgehoben:  Der  junge  Redner  von  Willibrod  Beßler, 
2.  u.  3.  Aufl.  Freiburg  i.  B.  1919,  Herder  (mit  Stoffen  aus  den 
Oberklassen  einer  Klosterschule) ,  dann  eine  theologische  Arbeit, 
die  aber  auch  für  die  Nichttheologen  recht  gute  Dienste  tut:  Wie 
predigen  wir  dem  modernen  Menschen?  3.  Teil,  Tübingen  1921 
(Mohr),  und  schließlich  eine  Geschichte  der  Redekunst,  'die  aber 
eigentlich  keine  Geschichte  ist:  Adolf  Damaschke,  Geschichte 
der  Redekunst.     Jena  1921,  Gustav  Fischer';  s.  S.  304. 

b)  Zur  Bildung  und  Erziehung. 
Friedrich  Leo,  Die  römische  Literatur  und  die  Schul- 
lektüre. Human.  Gymn.  21  (1910),  S.  166—176 
sagt  über  Quintil  i  an  (S.  173):  „Plinius  übt  die  Kunst,  das 
Einfache  auf  nicht  einfache  Weise  zu  sagen  ;  darum  ist  er  für  die 
Schule  nicht  gemacht.  Anders  Qiiintilian,  dessen  Sprache  und 
geistige  Kultur  das  Beste  ist,  was  auf  Ciceros  Boden ,  auf  den  er 
zurücktrat,  gediehen  ist.  Große  Abschnitte  sind  allerbeste 
Schullektüre.  Im  Gefolge  der  Reaktion,  die  er  gegen  den 
herrschenden  Stil  unternahm ,  mit  großem  Erfolg  für  die  Schule 
und  nicht  dauerndem  für  die  Literatur,  steht  der  jüngere  Plinius 
und  Tacitus  mit  dem  Dialogus."  In  dem  treflPlichen  'Lateinischen 
Unterricht'  von  Fr.  Gramer  kommt  Quintilian  nicht  recht  zur 
Geltung,  entsprechend  den  gegenwärtigen  Schulordnungen. 

Bei  der  antiken  Lektüre  ist  viel  mehr  als  bisher  die  Form, 
die  ästhetische  Seite  zu  betonen.  Unter  Berufung  auf  eine  Stelle 
aus  Schopenhauers  Parerga  führt  dies  an  einigen  Beispielen 
(Reden,  Beschreibungen)  näher  aus 

P.  Becker,  Wie  kann  die  Lektüre  der  antiken  Schrift- 
steller lebendiger  und  nutzbringender  gemacht 
werden?  In  der  Monatsschrift  für  höh.  Schulen  21  (1922), 
129—138. 

Er  verweist  u.  a.  auf  die  suasoriae  der  antiken  Rhetoren- 
schulen.  Für  den  Lehrer  ist  und  bleibt,  füge  ich  bei,  Quintilian 
einer  der  verlässigsten  Führer  durch  die  lateinische  Kunstprosa,  ja 
durch  Rede,  Aufsatz,  Lektüre  (nach  Inhalt  wie  Form)  überhaupt. 
Und  doch  wird  er  von  den  Schulmännern,  namentlich  den  jüngeren, 
so  wenig  gelesen  und  ausgenützt. 

Jeder  Sprachunterricht  soll  auch  ein  Sach-,  ein  Kultur- 
unterricht  sein;    eloquentia   und    sapientia   dürfen  nach  Cicero  und 


XIII.   Quintilians  Bedeutung  für  die  Gegenwart.  307 

Quintilian  nicht  getrennt  marschieren:  Curam  verborum  rerum 
volo  esse  sollicitudinem  (inst.  or.  VIII  prooem  20).  Samter,  Der 
Sprachunterricht  als  Kulturunterricht,  die  Teubnerischen  Sammel- 
werke 'Vom  Altertum  zur  Gegenwart',  2.  Aufl.  1921  —  hier  S.  127 
bis  137  auch  über  Pädagogik  von  Jul.  Ziehen  —  und  'Das 
Gymnasium  und  die  neue  Zeit'  bewegen  sich  in  dieser  Richtung-, 
ebenso  viele  andere. 

Hatte  Bennett  in  seinem  Aufsatz  'An  Ancient  Schoolmaster's 

Message  to  the  Present-Day  Teachers'  im  Class.  Journ.  1909  Febr. 

die  Forderung    Quintilians  (I  4,    22) :    'nomina    declinare    et    verba 

imprimis    sciant'  etc.    den  modernen  Lehrern  vorgehalten ,    so  zeigt 

Roy    K.    Hack,    'Quintilian    again'  im  Classical  Journal  5 

(1909),  S.  161—164, 
daß  Bennett  und  Quintilian  unter  Grammatik  nicht  das  gleiche 
verstehen.  'If  we  desire  to  conserve  in  the  United  States  the  form 
and  essence  of  liberal  education,  we  must  by  our  Instruction  make 
Greek  and  Latin  live  again  in  the  minds  of  our  pnpils'  ...  'A 
careful  study  of  Quintilian  and  such  Humanists  as  Maffeo  Vegio 
and  Vittorino  da  Feltre  would  go  far  to  dissipate  any  preiudice 
against  their  methods  and  ideals  in  education.  Let  us,  as  Professor 
Mahafiy  urges,  „teach  all  languages  as  living  vehicles  of  human 
expression".  Hörst  du,  Volk  der  Denker,  diese  Stimme  aus  den 
Landen  des  'Amerikanismus'  ? 

Wie  in  der  Zeit  der  ersten  Sophistik,  nach  dem  Zusammen- 
bruch Athens,  so  stehen  auch  in  der  zweiten  Sophistik  beim  mora- 
lischen Zusammenbruch  der  weltbeherrschenden  Roma  Aufbau-  und 
Erziehungsfragen  im  Vordergrund.  Dort  sucht  der  Homer  der 
Philosophen  Fundament  und  Halt  zu  schaffen,  hier  der  'unphilo- 
sophische' Quintilian.  Einen  geistvollen,  klaren  Überblick  über  Grund- 
fragen (Wert,  Begabung,  Vererbung  usw.)  der  antiken  Pädagogik  gibt 
Otto  Stählin,  Grundfragen  der  Erziehung  bei  Piaton 

und    in    der    Gegenwart.     Rektoratsrede   Erlangen  1921. 

4".    S.  3 — 17,  Anmerkungen  S.  17 — 20  (reiche  Auswahl  der 

neuesten  Literatur). 
Die  Rede  ist  auch  für  die  Institutio  Quintilians ,  mag  mau 
diese  systematisch  oder  in  ihrer  geschichtlichen  Stellung  nach  auf- 
und  abwärts  betrachten,  ein  weitblickender  Wegweiser.  Ein  Wort 
Hermann  Hesses  (S.  4)  paßt  auch  auf  die  von  Juvenal  charakte- 
risierten Übermodernen :  'Leicht  erscheint  ihnen  jedes  Gesetz  als 
Konvention,  leicht  erscheint  ihnen  jeder  Gerechte  als  Philister, 
leicht    überschätzen    sie  jede   Freiheit    und  Absonderlichkeit,    allzu 

20* 


gQg  Ammon:  Quintil.  inst.  or.  1910 — 21. 

verliebt  hoi-chen  sie  auf  die  vielen  Stimmen  in  der  eigenen  Brust'. 
(Quintilian  über   Seneca.) 

Heinrich  Faßbinder,  Die  leitenden  Ideen  der  Ge- 
schichte des  Volksbildungswesens  in  ihrem  kultur- 
und  geistesgeschichtlichen  Zusammentaug.  Paderborn  1922, 
Schöningh.     36  S.  8. 

Die  grundlegende  Bedeutung  des  griechisch-römischen  Bildungs- 
wesens wird  S.  75  ff.  gebührend  betont  (Seneca,  Quintilian).  Nicht 
für  Gelehrte. 

Auf  die  wissenschaftlichen  Werke,  die  auch  die  Brücke  zwischen 
Altertum  und  Gegenwart  schlagen  helfen ,  auf  Barba gallo, 
P.  Barth  und  andere  ist  oben  hingewiesen. 

Zum  Nachleben  Quintilians  gehört  auch  das  Fortwirken 
seiner  reichen,  anschaulichen  Bildersprache  für  Erziehung  und 
Unterricht ,  zwar  vielfach  ein  Erbgut  früherer  Jahrhunderte ,  aber 
doch  durch  die  Institutio  zur  Landmünze  geworden  bis  auf  den 
heutigen  Tag,  wie  'verdauen',  'vorkauen'  (X  1,  19),  'die  lebendige 
Stimme'  des  Lehrenden,  'verekeln'  —  classem  ducere  12,  24  —  vas- 
cula  oris  angusti  I  2,  28  —  instillare  (ib.)  —  ad  iutellectum  audientis 
descendere  1  2,  27  usw.  Eine  zusammenfassende  Bearbeitung  wäre 
angezeigt ;  ebenso  für  unsere  pädagogisch-didaktische  Terminologie 
nach  Quintilian. 

„Es  steht  fest,  daß  ein  neuer  Mensch  geboren  werden  soll. 
Und  bisher  ist  noch  immer ,  Avenn  auf  deutschem  Boden  ein  neuer 
Mensch  geboren  wurde,  die  Antike  dabeigewesen,"  sagt  Ed.  Spranger 
(1922),  und  K.  Burdach  zitiert  in  seiner  Deutschen  Eenaissance 
im  Hinblick  auf  gewisse  Strömungen  der  Gegenwart  Goethes 
Xenion  für  Autochthoniesüchtige : 

'Gern  war'  ich  Überliefrung  los 
Und  ganz  original! 
Doch  ist  das  Unternehmen  groß 
Und  führt  in  manche  QuaP. 


PA      Jahresbericht  über  die  Fort- 
3  schritte  der  klassischen 

J3        Altertumswißsenschart 
Bd  .191-192 


PLEASE  DO  NOT  REMOM' 


CARDS  OR  SLIPS  FROM  THIf    , 
UNIVERSITY  OF  TORON'    "^       ^ 

—.     #